Der Sehnsucht einen Namen geben. Über den Poeten und Theologen Huub Oosterhuis (Ra­dio­sen­dung RBB 2003).

Eine Ra­dio­sen­dung im RBB 2003,von Chrhistian Modehn
(Die Darstellung des Textes entspricht den Formen der Hörfunk-Produktion. )

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Übersetzer und Zitator

20 O TON Zuspielungen,.
10 musikal. Zuspielungen.

1.SPR.:
Sonntag morgen im Amsterdamer Grachtenviertel. Aus den Kabinen ihrer Hausboote treten junge Leute ins Freie und reiben sich die Augen. Die Stadt ruht noch. Ein paar japanische Touristen stehen staunend vor 400 Jahre alten Giebelhäusern, schmal und schief, aber immer standfest. Kein Autolärm stört die Stille. Einige Menschen eilen über die kleinen Brücken an der Brouwersgracht…

Pünktlich um 11 wollen sie im Kulturzentrum “De rode hoed” (de rode hut) sein, ein schönes Haus aus Backstein an der Keizergracht. Im großen Saal haben 200 Menschen, junge und alte, haben Platz genommen. In der Mitte steht ein Altar. Rechts daneben erheben sich gerade die 40 Sängerinnen und Sänger des Kirchenchors. Der Gottesdienst beginnt.

musikal. Zusp.,

2. SPR.:
Streck deine Hände nach mir.
Streck dein Wort nach uns aus.
Ein Mensch hat von dir gesagt:
Du bist kein Gott der Toten.
Alle leben doch durch dich.

1. musikal. Zusp., noch einmal 0 10″ freistehen lassen.

1. SPR.:
Mitten unter den Gläubigen sitzt Huub Oosterhuis. Er ist der Leiter der Gemeinde, die seit 15 Jahren einen Konzertsaal für den Gottesdienst mietet. “De Rode Hoed”, auf Deutsch: ” Der rote Hut”, ist ein angesehenes Kulturzentrum; das Prädikat “rot” sagt alles über die politische Orientierung des Hauses. Während der Woche finden Lesungen und Podiumsdiskussionen statt, Ra­dio­sen­dungen werden life übertragen. Aber sonntags von 11 bis 1 kommt eine multi-konfessionelle Gemeinde zusammen: Protestanten und Katholiken, Gläubige, Skeptiker und Humanisten feiern zusammen Gottesdienst. Sie gehören zur “Studentenecclesia”, zur Studentengemeinde, ein traditionsreicher Name, der bis heute beibehalten wird, auch wenn die meisten Mitglieder längst ihre Studien abgeschlossen haben. Sie kommen vor allem wegen der Poesie und der Lieder, die ihr Gemeindeleiter Huub Oosterhuis geschrieben hat:

1. musikal. Zusp.noch mal ca.0 10″ freistehen lassen.

1. SPR.:
Huub Oosterhuis, 69 Jahre alt, ist einer der bekanntesten holländischen Dichter. Sein literarisches Werk umfasst mehr als 30 Bücher. Seine Gedichte, Psalmen und Meditationen sind auf 25 CDs versammelt. Kürzlich wurde er von der theologischen Fakultät der Freien Universität in Amsterdam mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Geehrt wurde ein Theologe, der nicht abstrakt, schon gar nicht historisch oder systematisch von Gott und der Bibel spricht, sondern poetisch: Huub Oosterhuis:

1. O TON ZUSP.: Ca. 0 28″.
2. SPR.:
Die Poesie ist die älteste liturgische Sprache. Und Poesie ist von selbst rituell gestaltet und musikalisch. In allen alten Liturgien lebt die Poesie, man denke nur an die Litaneien, die Bittgesänge. Die Bibel selbst besteht zu 90 Prozent aus Poesie.

2. musikal. Zusp.

2. SPR.:
Hör mich,
sei nicht Totenstille,
gib Antwort,
Gott: Sieh uns.
Welt voller Gewalt,
Fronten, Gettos.
Sieh uns.

2. musikal. Zusp.

1. SPR.:
Poesie im Gottesdienst. Abgenutzte Begriffe und religiöse Floskeln können die frommen Leute im Roten Hut nicht ertragen. Sie lieben die zum Fragment verkürzte Sprache; sie schätzen die Worte des Dichters, der das tastende Suchen nach dem Unendlichen mehr liebt als die überlieferten Bekenntnisformeln. Huub Oosterhuis spricht in Bildern, die zu Denken geben. Für unkritische Frömmelei gibt es hier keinen Platz.

2. musikal. Zusp., noch einmal 0 10″ freistehen lassen.

1.SPR.:
Die Komponisten Antoine Oomen)und Tom Löwenthal haben den Texten von Huub Oosterhuis ihre musikalische Form gegeben, auf hohem Niveau! Sie orientieren sich an Vorbildern des 20. Jahrhunderts, wie Kurt Weill, und an Traditionen der Romantik. Das Trallala des Sakro-Pop hat hier keine Chance. Es ist ernste, vielleicht schwermütige spirituelle Musik. In jedem Fall: Es sind Melodien, die bewegen und berühren. “Der Gott in uns verborgen” wird angesprochen und voller Sehnsucht erwartet:

3. musikal. Zuspielung.

SPR.:Mindestens 7 Lieder werden während eines Sonntags-Gottesdienstes im Roten Hut gesungen, die Bibel wird vorgetragen, Brot und Wein werden gereicht in einer schlichten Abendmahlsfeier, zu der selbstverständlich Christen aller Konfessionen eingeladen sind. Die Predigt steht im Mittelpunkt, immer geht es Huub Oosterhuis um eine zeitgemäße Deutung des Alten und des Neuen Testaments:

2. O TON ZUSP.:
2. SPR.:
Unser Ausgangspunkt ist die Bibel. Das war doch die grosse Entdeckung des 20. Jahrhunderts, dass die Bibel der wichtigste Quelle ist noch vor allen kirchlichen Sonder-Traditionen. Früher haben die Kirchen diese Quelle eher verstopft und blockiert; jetzt bringen wir sie wieder zur Geltung. Aber es ist selbstverständlich, dass wir die Bibel nur als Ausgangspunkt für unsere Poesie nehmen. Wir deuten die Bibel doch nicht fundamentalistisch! Denn die Menschen von heute bringen ihre eigenen Gedanken mit, ihre Philosophie, ihre Lebenserfahrung. Das zählt doch auch. Der moderne Mensch soll sich in den Liedern wiederfinden. Darum sage ich: Die Bibel bleibt ein Eckpunkt, aber sie nicht das Ein und Alles. Es kann doch nicht sein, dass wir nur noch Worte verwenden, die in der Bibel vorkommen.

1. SPR.:
Eine Position, die auch in den traditionsreichen christlichen Kirchen der Niederlande Zustimmung findet, etwa bei den Lutheranern. Ilona Fritz ist deren Synoden-Vorsitzende:

3. O TON Zusp., Ilona Fritz.
“Was mich bei Huub Oosterhuis anspricht ist, dass er eine Sprache gefunden hat, die an der einen Seite Jesus näher bringt. Auf der anderen Seite findet er durch die poetische Sprache auch einen Rahmen, in dem das Geheimnis des Glaubens noch gewahrt bleibt. Und das finde ich das Starke an Huub Oosterhuis.

3.musikal. Zusp.:

1. SPR.:
Nicht nur in Amsterdam, in vielen Kirchen-Gemeinden der Niederlande werden seit 30 Jahren an jedem Sonntag Gedichte und biblische Texte von Huub Oosterhuis gelesen oder gesungen. Wenn der Begriff nicht so altertümlich wäre, könnte man ihn einen holländischen “Kirchen-Vater” nennen, so groß ist sein Einfluss. Der Katholische Pastor Ricus Dullaert (sprich Ricüs Düllart) aus Amsterdam erzählt gern eine kleine Anekdote:

4. O TON Zusp. Ricus Dullaert. 0 29″.
Es gibt einen Ausdruck in Holland: Warom hebt uw uit mijn huis een Oosterhuis gemaakt? Das heißt: Warum hast du aus meinem Haus ein Oosterhaus gemacht? Das heißt, dass in fast alle Kirchen in Holland, katholische Kirche, holländisch-reformierte Kirche, reformierte Kirche, was auch für eine Kirche, werden die Lieder von Oosterhuis gesungen. Das sagt so, dass man aus Haus Gottes ein Oosterhaus gemacht hat.

1. SPR.:
Das “Oosterhaus” ist ein besonders feines und anspruchsvolles: Hier wird das persönliche Gebet als literarische Form gepflegt. Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet in Amsterdam Beten als kultureller Wert wieder-entdeckt wird: Die niederländische Hauptstadt gilt als gottlos, nur 10 Prozent der Einwohner sind noch Mitglied einer Kirche. Aber Beten, als persönliche Poesie, wollen viele: Beten ist die innere Sammlung des Menschen vor Gott, das “Sich zu Wort melden” vor dem Unendlichen. In einem der wenigen Interviews, die er jemals in deutscher Sprache gab, beschreibt Oosterhuis seine grundlegende Überzeugung:

5. O TON Zusp., Oosterhuis, 0 32″.
“Worte sind Lebensrettung. Ich würde mich selber verlieren, ich würde verwelken und chaotisch werden, verschüttet unter der schweigenden Mehrheit und der wortlosen Gewalt, wenn ich nicht mehr aussagen kann, wer ich bin. Wer darauf verzichtet, sich selbst und andere auszusagen, kommt niemals mehr zu Wort, ist verloren, ist namenlos.

1. SPR.:
Wer betet, entwickelt seine persönliche Mystik. Der lebendige Mensch steht im Mittelpunkt, nicht der Sieger, nicht der Held oder der Erfolgreiche. Zu Wort kommt der Kleine, der Unbedeutende, der Leidende. Ihm soll Gerechtigkeit widerfahren! Eine Perspektive, die Pierre Valkering hilfreich findet. Er ist Pastor in Amsterdam:

6. O TON Zusp., Valkering 0 36”.
Ich erkenne wieder in den Texten von Huub Oosterhuis: der Mensch in der Wüste, also der ungeborgene Mensch auf der Suche nach Geborgenheit, nach Gott. Aber verunsichert. Wir sind nicht erlöst, viele Gefahren von allen Seiten auf sich zukommen sieht und von dort aus Gott sucht. Also, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es Gott gibt. Also in die Lieder von Huub Oosterhuis erkenne ich wieder Zweifel.

1. SPR.:
Den Zweifelnden und Skeptikern innerhalb der christlichen Gemeinde Raum geben: Eine Aufgabe, die angesichts der vielen “unkirchlichen Menschen” in Holland besonders wichtig ist. Auch Prinz Claus aus der königlichen Familie der Niederlande fühlte sich als “Suchender am Rande der Kirche”. Er hatte noch Wochen vor seinem Tod mehrmals längere Gespräche mit Huub Oosterhuis führen können. Schließlich bat er ihn noch darum, bei seinem Totengedenken, dem Abschiedsgottesdienst, das Wort zu ergreifen. Am 15. Oktober 2002 hielt Huub Oosterhuis in der Amsterdamer Nieuwe Kerk eine viel beachtete Predigt.

7. O TON. 0 46″ .
2. SPR. :
Claus war kein regelmäßiger Kirchgänger. Das Wort Gott kam nie über seine Lippen. Jede dogmatische Festlegung war ihm fremd. Er hatte mehr Fragen als Antworten, so, wie viele außerhalb der Kirche lebende Christen auch. Über schwierige religiöse Erfahrungen sprach er nicht. In seinen späteren Jahren hatte er aber doch Kontakt gesucht mit dem Buch der Bibel, er hat Verbindung zu ihm gefunden und er erkannte die große Geschichte der Bibel.

1. SPR.:
Ein theologischer Poet, der Brücken baut; der den richtigen Ton findet für Menschen, die sich von dogmatischen Bindungen befreit haben, aber an der Botschaft der Bibel festhalten wollen. Zornig sein und wütend werden über Gott- auch das hat bei Oosterhuis einen Platz: Tom Löwenthal setzt diese Erfahrung musikalisch um:

4. musikal. Zusp., Die zegt God te zijn.

2.SPR.:
Der da sagt, Gott zu sein.
So lass er doch zum Vorschein kommen
was wir denn an seinem Namen haben.
Soll er doch auftreten, damit wir ihn sehn.
Die Stimme aus der Feuerwolke in der Ferne
reicht nicht aus
für diese Erde aus Scherben und Rauch
wo uns kein Leben gegönnt wurde.

4. musikal. Zusp.

1.SPR.:
Seit mehr als 20 Jahren werden die Gebete von Huub Oosterhuis auch in deutscher Sprache gesungen; im “Gotteslob”, dem katholischen Gesangbuch für den deutschsprachigen Raum und auch im Evangelischen Gesangbuch sind drei seiner frühen Lieder vertreten. Und die Schola der “Kleinen Kirche” von Osnabrück sorgt heute dafür, daß immer mehr neue, auch provozierende Lieder des theologischen Poeten hierzulande im Chor einstudiert und in den Gottesdiensten gesungen werden.

5. musikal. Zusp., 0 15″ freistehen lassen, und wirklich AUSBLENDEN, um Kürzungsmögl. zu schaffen:

1.SPR.:
Unmittelbar neben dem Dom von Osnabrück befindet sich die “Kleine Kirche”. Seit 30 Jahren treffen sich hier Katholiken und auch einige Protestanten, die sich in ihren Ortsgemeinden nicht mehr zu Hause fühlen; sie finden in den Gottesdiensten der “Kleinen Kirche” eine zeitgemässe Verkündigung sowie eine verbindliche Gemeinschaft der Gottesdienstbesucher untereinander. Günter Doetsch ist dort einer der Kirchenmusiker:

8. O TON Zusp., 0 30″.
“Die Kleine Kirche bedeutet für mich ein Ort, wo ich getrost zur Kirche gehen kann und mich nicht immer ärgern muß über vieles, was in anderen Kirchen passiert. Da stört mich, dass die Musik, der ich ja besonders verbunden bin, in den meisten Kirchen nur schmückendes Beiwerk ist. Die Musik überbrückt irgendwelche Leerläufe in der Kirche. Während die Musik in unserer Kirche mit Liturgie ist, sie gehört dazu, sie ist Bestandteil des Gottesdienstes.

1.SPR.:
Zur Schola gehören 30 Frauen und Männer. Sie stehen hinter dem Altar im Halbkreis: Chor und Gemeinde können sich in die Augen sehen, sie sind miteinander verbunden. Klassische kirchenmusikalische Traditionen werden zwar auch gepflegt, aber die Lieder von Huub Oosterhuis werden an jedem Sonntag in der “Kleinen Kirche” gesungen. Vor allem jüngere Chormitglieder sind darüber froh. Birgit Eilers:

9. O TON Zusp., 0 30″.
“Bis Mitte Zwanzig Jahre habe ich gern auch Sacro-Pop gesungen, ich denke, das passt auch zu seinem eigenen Alter dann. Ich singe auch gern jetzt mit den Kindern Kinderlieder, geistliche Kinderlieder. Aber irgendwann mit 25, 30, überlegt man sich: Passt das noch zu einem. Und da bin ich eben in die Schola der Kleinen Kirche gekommen und mit Oosterhuis Gesängen auf das gestoßen, was jetzt als Nächstes kommen kann, was mich auch den Rest meines Lebens begleiten kann. Ich kann viele Lieder jetzt nach 10 Jahren natürlich auswendig singen.

6. musikal. Zusp., auf Deutsch, “Siebenmal”.

2.SPR.:
Siebenmal neugeboren
kleingekriegt und ausgeworfen
wird ein Mensch, um Mensch zu werden.
Siebzigmal sieben Bäume
werden blühen, wo wir wohnen…
Licht wird auf dem Wasser strömen….

6. musikal. Zusp. noch einmal ca. 0 15″ freistehen lassen.

1. SPR.
Ein Lied der Hoffnung: Die tödlichen Mächte werden nicht das letzte Wort haben. Die musikalische Gestalt entspricht dem Inhalt; von der typisch beschaulichen Sanftheit eines traditionellen Chorals ist keine Spur. Günter Doetsch:

10. O TON Zusp., 0 26″.
“Am letzten Samstag war eine Taufe, da haben wir das Lied gesungen: Halt mich am Leben. Da habe ich also Tagelang nachgedacht, was heißt eigentlich Leben, ist es das körperliche Leben, ist es das geistige Leben? ist es Lebendigkeit. Und wenn so ein kleines Kind getauft wird und die Gemeinde singt Halt mich am Leben, was steckt dahinter, wie steht die Gemeinde zu diesem Kind. Also, das hat mich in der letzten Woche durchaus maßlos beschäftigt.

1.SPR.:
Huub Oosterhuis und sein Komponisten-Team haben die Liturgie maßgeblich geprägt. Verglichen damit sieht die zeitgenössische Szene der deutschsprachigen Kirchenmusik eher bescheiden aus, meint der Leiter der Schola Ansgar Schönecker:

11. O TON Zusp., 0 40”.
“Es gibt meiner Ansicht nach schon zwei Leute, die man nennen könnte, das sind Lothar Zenetti und sicher Kurt Marti. Aber Texte und die dazugehörigen Kompositionen klaffen meiner Ansicht nach unglaublich auseinander. Weil die Liedkompositionen nicht das wiedergeben, was eigentlich diese Texte nun wirklich an Aussage bedeuten. Da gibt es ganz ganz wenige Leute, die das adäquat machen können. Aber dieses Gesamtkonzept, was es in Amsterdam gibt, die Dichtung und dazugehörig Komponisten, die was von ihrem Fach verstehen und das dann umsetzen und zwar für die Gemeinde umsetzen. Das ist etwas Einmaliges. (Stimme oben)

1.SPR.:
Bemerkenswert ist auch die theologische Wirkungsgeschichte der Lieder von Huub Oosterhuis: Die Gemeinschaft der getrennten Christen wird betont; konfessionelle Eigenheiten bleiben außen vor, etwa die Heiligenverehrung, der Lobpreis der Kirche oder gar des Papstes. Thielo Zwartscholten ist Lutheraner und eifriges Mitglied der katholischen Kleinen Kirche zu Osnabrück:

12. O TON Zusp., 0 17”.
“Ich finde mich in den Oosterhuis Gesängen wieder, hab damit überhaupt keine Probleme. und bin auch in dieser Gemeinde herzlich willkommen. Und sehe in jeder Hinsicht ökumenische Tendenzen. Ich denke über Ökumene dann gar nicht nach, über unterschiedliche Konfessionen, das macht mir Oosterhuis so sympathisch.

7. musikal. Zusp., bleibt ca 0 15″ freistehen,

1. SPR.:
Größer als das Herz der Menschen ist Gott: Ein Lied wie dieses weitet das Denken, es führt zum Wesentlichen, zur Gottesfrage. Einige andere Gemeinden in Deutschland folgen diesem Impuls. Karin Gastell ist Kantorin der katholischen Hedwigs-Gemeinde in Bremen:

13. O TON Zusp., 0 50”.
“Es ist so, dass das Repertoire ja so groß ist, dass man wirklich für jeden Sonntag etwas finden kann. Die Resonanz ist sehr gut. Ich glaube, dass es ein Bedürfnis gibt, das im Augenblick durch keine andere Musik in Deutschland auch aufgegriffen wird. Ich glaube, daß die Gemeinde an die Musik auch höhere Ansprüche stellt. Sie will nicht nur in eine bestimmte Stimmung gebracht, sondern auch für den Kopf zum Nachdenken mit nach Hause nehmen. Viele Texte erschließen sich ja auch nicht beim ersten Lesen oder beim ersten Singen, sondern oft auch erst nach einigen Jahren, wenn man an bestimmte große Gesänge von Karfreitag oder Ostern denkt. Diese Musik verbraucht sich nicht. Man kann sie auch nach Jahren mit neuen eigenem Erleben und Inhalten auch füllen.

1.SPR.:
Huub Oosterhuis übermalt alte Glaubens-Bilder, ahnungsweise werden neue Bedeutungen sichtbar. Er schafft Fragmente, wo früher ein perfekt durchdachtes Glaubenssystem stand. Er liebt den Essay, den Versuch, mehr als das fertige Werk. Der katholische Pfarrer Hans Kessler hat Oosterhuis in Deutschland bekannt gemacht:

14. O TON ZUSP., 1 01”.
“Was er versucht, ist, feste Klischees, wie allmächtig, allwissend, allgütig, allbarmherzig, allgerecht, das in Frage zu stellen. Und wenn er das in Frage stellt, wie kann man das, was damit gemeint sein könnte, wie kann man das heute noch ausdrücken. Und mit allmächtig: Ja, angesichts der Welt, kann man das Wort so nicht gebrauchen. Wenn ich die Welt begucke, wie sie ist. Da fällt das Wort allmächtig einem heutigen Zeitgenossen schwer, das über die Lippen zu bringen. Mit fällt das schwer, anderen fällt da auch schwer. Ist damit aber das, was damit gemeint war, ist das erledigt? Das glaube ich nicht. Aber wie drückt man das Nichterledigte aus? Und da meine ich, da kommen wir in den Texten zu Wendungen und Ausdrucksmöglichkeiten, die vieles von dem retten und auch wieder neu sagen.

1. SPR.:
Auch in Berlin werden einige Oosterhuis-Lieder im Gottesdienst gesungen, zum Beispiel in der evangelischen Kirche zum Heiligen Kreuz im Stadtteil Kreuzberg: Reinhard Hoffmann ist der Kantor:

16. O TON, auf Deutsch.
Das ist eine Musik, die wir hier nie zustande bringen, sie hat eine andere Tiefe. Er hat eine ganz eigene musikalische Sprache. man spürt die Weltläufigkeit. Das ist verblüffend. Das ist so anspruchsvoll, das kann man nicht ohne weiteres vom Blatt spielen, muss man schon genauer hingucken”. (Stimme oben)

1. SPR.:
Beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin hat der Chor aus Osnabrück Lieder von Oosterhuis präsentiert. Kees Kok, ein enger Mitarbeiter der Studentenecclesia in Amsterdam, war dabei:

17. O TON Kees Kok.
“Die Leute, die da waren in der Kirche, das waren zweimal 250 Leute, die waren alle Fans. Vielleicht hundert, die sowie schon Oosterhuis kennen, die anderen waren von Kirchentag, aus ganz Deutschland natürlich. Mein Eindruck war, dass sie ehr beeindruckt waren. Die haben auch ziemlich applaudiert, die hörten nicht auf. Ich denke nicht, dass es etwas typisch Holländisches ist. Ich denke, das ist etwas ganz Universales. Das habe ich in Berlin so erfahren.

8. musikal. Zuspielung. !!, als “Rückkehr” nach Holland. bleibt ca. 0 20″ freistehen.

1. SPR.:
Huub Oosterhuis ist sozusagen ohne Konkurrenz. Längst werden seine Lieder auch in Skandinavien und den USA gesungen. Und in seiner niederländischen Heimat kann keine Kirchen-Gemeinde mehr auf ihn verzichten. Dabei wissen Holländer aller christlichen Konfessionen, dass der Amsterdamer Dichter-Theologe alles andere ist als ein Mann der offiziellen katholischen Kirche:
Huub Oosterhuis, 1933 in Amsterdam geboren, trat nach dem Abitur in den Jesuitenorden ein. Er studierte Theologie, als junger Priester gehörte er seit 1965 zum Team der Amsterdamer Studentenseelsorger. 1970 entschied sich der Jesuit Huub Oosterhuis zu heiraten. Die Studentengemeinde und die übrigen Pastoren waren überzeugt, dass er auch als verheirateter Priester weiterhin der Leiter der Eucharistiefeier sein könne. Aber Rom untersagte das Experiment des verheirateten katholischen Studentenpfarrers. Doch der beugte sich nicht römischen Befehlen! Die Wege trennten sich: Oosterhuis und die “Studentenecclesia” sind seit 1970 nicht mehr Teil der offiziellen römisch-katholischen Kirche. Oosterhuis ist nun ein freier Theologe und Dichter. Ohne jegliches Reglement von offizieller Seite kann er seine theologische Poesie entwickeln und seine Liturgie gestalten. Einige katholische Gemeinden der Niederlande sind seinem Weg gefolgt, sie haben sich zu unabhängigen ökumenischen Gemeinden entwickelt und von Rom gelöst.
In einem seiner biografischen Bücher, dem niederländischen Werk “Twee of drie”, auf Deutsch “Zwei oder drei”, schreibt er:

2.SPR.:
Ich mache mir keine Illusion, dass man die offizielle Kirche von innen heraus erneuern könnte. Wir gehören als Studentenecclesia zum Netzwerk der Basisgemeinden und Kritischen Gemeinden, die am Rande, wenn nicht außerhalb der Institution stehen. Durch diese Selbständigkeit haben wir viel Energie frei bekommen.

1. SPR.:
Die Entwicklung der römischen Kirche betrachtet Oosterhuis mit kritischer Gelassenheit. Er kann sich zentralistisch geleitete Kirchen, die Gesetze und Normen für die ganze Welt festlegen, schlechterdings nicht mehr vorstellen. Dabei weiß er sich mit der urchristlicher Tradition verbunden:

18. O TON: Oosterhuis
2. SPR.:
Die Gemeinde ist immer eine bestimmte Ortsgemeinde. An einem bestimmten Platz kommen Menschen zusammen, mit einem ganz bestimmten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hintergrund. Unsere Situation ist doch ganz anders als die einer Gemeinde in Rom oder Nordafrika. Wir haben die Rechte der Ortsgemeinde wiederbelebt, dabei haben wir unsere eigenen Weise, dem Glauben eine Form zu geben. Das ist einer der ältesten theologischen Gedanken.

1.SPR.:
Die Amsterdamer Studentenecclesia lebt von Spenden. Und es ist wohl typisch für Holland, dass ausgerechnet katholischen Ordensgemeinschaften dieses Projekt einer “freien ökumenischen Gemeine” finanziell unterstützen. Oosterhuis` Gemeinde ist seit Anbeginn für die Friedensbewegung engagiert, soziale Projekte in Nicaragua werden unterstützt, ein breites Netzwerk aus der Öko- und Solidaritäts-Arbeit wurde geschaffen. Mit diesen Menschen fühlt sich die Studentenecclesia verbunden: Schon 1969 schrieb Oosterhuis im Blick auf die vielen engagierten Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen:

2.SPR.:
Es gibt in dieser Welt auch eine verborgene Gemeinde. Eine Gemeinschaft Geist-verwandter Menschen, die wachsam ist und betet und die Gerechtigkeit liebt. Diese Gemeine ist überall und nirgends. Aber die Menschen erkennen einander als Geist-Verwandte, sie haben dieselben Visionen.

1.SPR.:
Dieser Geist des Miteinanders und der Solidarität wird sichtbar im Ritus des Teilens von Brot und Wein, so nennt Oosterhuis die Eucharistie bzw. das Abendmahl; Das Brot brechen und den Wein reichen: Ein Zeichen für eine gerechte Welt, eine Gesellschaft aus Gleich-Berechtigten.

Es sind nicht die amtlich anerkannten und offiziell ordinierten katholischen Priester, die in der Studentenecclesia den Gottesdienst leiten, sondern aus dem römischen System entlassene Pfarrer, wie Huub Oosterhuis, oder Laien-Theologen, wie Kees Kok. Wo andernorts “Geistliche” und ordinierte Pfarrer die sogenannten Einsetzungsworte sprechen, singen sie mit der Gemeinde zusammen den Kanon, also die Gesänge, die unmittelbar auf die Eucharistie bzw. das Abendmahl bezogen sind.

9. musikal. Zusp. ca. 015″ freistehen lassen.

1.SPR.:
Diesen Gesang nennt Oosterhuis “Tafelgebet”: In zahlreichen Kirchen der Niederlande wird es während des Ritus von Brot und Wein gesungen. Theologischer Kernpunkt ist: Der Chor “verwandelt” mit der Gemeinde das Brot in den Leib Christi. Als 1985 der Papst die Niederlande besuchte, hatten Katholiken es gewagt, bei einem landesweiten Treffen ein Tafel- bzw. Tisch-Gebet von Oosterhuis zu verwenden: Pastor Ricus Dullaert erinnert daran:

19. O TON Zusp., 0 25″.
“Er hat ein sehr schönes Tischgebet geschrieben, das ist wunderbar. Natürlich, die Bischöfe lieben das nicht, denn das ist nicht der offizielle römische Kanon. Aber in diesem Tischgebet wird wunderbar gesungen und auch gebetet für Flüchtlinge, für Fremde, für all diese Leute, die zu leiden haben und die werden verbunden mit dem Opfer, das Christus gebracht hat. Aber das ist viel Krach drüber gewesen.

1.SPR.:
Doch die Aufregung hat sich wieder gelegt. Oosterhuis` Tafelgebete werden auch in katholischen Gemeinden gesungen, mögen jetzt auch einige Bischöfe noch so sehr darauf dringen, dass seine Lieder in der römischen Messe keinen Platz mehr haben dürfen! Aber viele holländische katholische Gemeinden scheren sich nicht um diese Verbote: “Typisch niederländisch” könnte man denken…

XII.. musikal. Zusp. noch einmal 0 10″ frei stehen lassen.

1. SPR.:
Das religiöse Interesse in Holland hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Die alten Traditionen der Gregorianik werden wieder beliebt, und bei etlichen jungen Leuten kommt auch Sacro-Pop wieder gut an. 
Aber: Zu Huub Oosterhuis gibt es heute keine ernsthafte Alternative. Pastor Ricus Dullaert:

20. O TON Zusp., 0 18″. Deutsch
Poesie ist stärker als Ideologie oder Dogma. Er weiss, das Herz der Leute anzurühren. Seine Poesie natürlich, in Art ist er einer der Größten, oder der Größte, den die holländische Kirche hervorgebracht hat.

10. musikal. Zusp., ca. 0 10″ freistehen lassen.

Der Streit der Kirchen um die rechte Auslegung dogmatischer Traditionen interessiert Oosterhuis nicht mehr. Er glaubt, den EINEN Mittelpunkt der biblischen Botschaft erkannt zu haben, den einen Kern einer menschenfreundlichen Glaubenslehre:

21. O TON, Oosterhuis,

2. SPR.:
Am Anfang war das Wort, das ist keine philosophische Aussage, sondern eine prophetische Stimme, die uns sagt, dass wir einander respektieren sollen und uns menschenwürdig begegnen. Hab lieb den Menschen, der neben dir ist; Liebe, nicht gemeint nicht als warmes Gefühl, sondern als praktische Solidarität. Dass man einen anderen Menschen nicht im Stich läßt, nicht zerbrechen, läßt, dass man alles tut gegen das Verhungern, Martern, Verschwinden. Hab lieb den Fremden, der dir gleichwertig ist; er ist ein Mensch wie du.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Benedikt XVI. und Leonardo Boff: “Ein Papst der vergangenen europäischen Christenheit, 
mit ihrem Pomp und ihrem politisch-religiösen Machtanspruch”. Ein Beitrag von Leonardo Boff.

Von Leonardo Boff, Brasilien. Am 5. Januar 2023.

Ein neuer Text, von Norbert Arntz, Kleve, übersetzt.

(Zur Erinnerung: Der Brasilianer Leonardo Boff (Geb. 1938) ist einer der wegweisenden, international hoch geschätzten katholischen Befreiungstheologen, er wurde von Kardinal Ratzinger als Chef der vatikanischen Glaubensbehörde zuerst 1985, dann 1991 von Kardinal Ratinger ausgegrenzt und mit Rede -und Schreibverbot bestraft. Ins Abseits des Vergessens konnten ihn Ratzinger und auch Papst Joahnnes Paul II. nicht drängen, im Gegenteil: Als offiziell von Rom Diskriminierter, als Ketzer, entfaltet er eine große kreative Theologie und Religionsphilosopie. Christian Modehn.)

“Jedes Mal, wenn ein Papst stirbt, ist die gesamte weltweite kirchliche Gemeinschaft und die Weltgemeinschaft bewegt, weil sie in ihm den sieht, der im christlichen Glauben bestärkt und die Einheit zwischen den verschiedenen Ortskirchen gewährleistet. Das Leben und die Taten eines Papstes können auf vielfältige Weise interpretiert werden. Ich werde eine Interpretation aus Brasilien (Lateinamerika) anbieten, die wahrscheinlich unvollständig ist.

Es ist wichtig zu wissen, dass nur 23,18 % der Katholiken in Europa und 62 % in Lateinamerika leben, die übrigen in Afrika und Asien. Die katholische Kirche ist eine Kirche der zweiten und dritten Welt. Künftige Päpste werden wahrscheinlich aus diesen Kirchen kommen, voller Vitalität und mit neuen Möglichkeiten, die christliche Botschaft in nicht-westlichen Kulturen zu verkörpern.
Wenn man sich auf Benedikt XVI. bezieht, muss man zwischen dem Theologen Joseph Ratzinger und dem Papst Benedikt XVI. unterscheiden.

Der Theologe Joseph Alois Ratzinger war ein typischer mitteleuropäischer Intellektueller und Theologe, brillant und gelehrt. Er war kein kreativer Geist, konnte aber hervorragend die offizielle Theologie erklären. Das wurde besonders in den verschiedenen öffentlichen Dialogen deutlich, die er mit Atheisten und Agnostikern führte.
Er entwickelte keine neuen Gesichtspunkte, sondern vermittelte die traditionellen Ansichten in einer anderen Sprache, die sich vor allem auf den heiligen Augustinus und den heiligen Bonaventura stützte. Ein wenig neu war vielleicht seine Vorstellung von der Kirche als einer kleinen, sehr treuen, heiligmäßigen Gruppe, die das Ganze „repräsentiert“. Für ihn war die Zahl der Gläubigen nicht entscheidend. Die kleine, zutiefst spirituelle Gruppe, die stellvertretend für alle da ist, genügte. Das führte dazu, dass sich in dieser Gruppe von Reinen und Heiligen auch Pädophile und in Finanzskandale verwickelte Personen befanden. Damit zerschlug sich seine Repräsentationsidee.

Benedikt XVI. träumte von einer Re-Christianisierung Europas unter der Führung der katholischen Kirche. Dieser Traum aber galt als unrealistisch, weil das heutige Europa mit seinen verschiedenen Revolutionen und der Einführung demokratischer Werte nicht mehr der Vorstellung des Mittelalters mit seiner Synthese von Glaube und Vernunft entspricht. Sein Ideal fand keine Resonanz, weil es seltsam aus der Zeit gefallen schien.

Eine andere eigenartige Position, die zum Gegenstand endloser Polemik mit mir wurde und breite Resonanz in der Kirche hervorrief, war die Behauptung, dass die „allein die katholische Kirche die Kirche Christi“ sei. Die Debatten während des Konzils und der ökumenische Geist hatten das Wort “ist” durch das Wort “besteht in” verändert. Damit wurde der Weg frei für die Vorstellung, dass die Kirche Christi auch in anderen Kirchen „bestehen“ konnte. Ratzinger dagegen behauptete stets, das „besteht in“ sei nur ein Synonym für das „ist“. Das wurde jedoch durch eine detaillierte Erforschung der theologischen Akten des Konzils nicht bestätigt. Aber er bestand weiterhin auf seiner These. Ferner behauptete er, dass die anderen Kirchen keine Kirchen seien, sondern nur über kirchliche Elemente verfügten.
Er ging sogar so weit, mehrfach zu behaupten, man habe meine Position unter den Theologen als Gemeingut verbreitet, so dass sich der Papst zu weiterer Kritik an mir veranlasst sah. Allerdings geriet er zunehmend in die Isolation, denn er hatte die anderen christlichen Kirchen wie die Lutheraner, Baptisten, Presbyterianer und weitere schwer enttäuscht dadurch, dass er die Türen zum ökumenischen Dialog verschloss.

Er verstand die Kirche als eine Art Festung gegen die Irrtümer der Moderne und machte den rechten Glauben zum entscheidenden Bezugspunkt, der stets an die Wahrheit gebunden sei (sein tonus firmus). Obwohl man ihn persönlich als nüchtern und höflich charakterisieren kann, war er als Präfekt der Glaubenskongregation äußerst hart und unnachgiebig. Etwa hundert Theologinnen und Theologen, darunter einige der bedeutendsten, wurden entweder verurteilt und verloren ihren Lehrstuhl, oder ihnen wurde verboten, Theologie zu lehren bzw. theologische Texte zu veröffentlichen, bzw. ihnen wurde, wie in meinem Fall, „ein Schweigegebot“ auferlegt. Dazu gehören in Europa bekannte Namen wie Hans Küng, Edward Schillebeeckx, Jacques Dupuis, Bernhard Häring, José Maria Castillo und andere. In Lateinamerika sind es der Begründer der Befreiungstheologie, der Peruaner Gustavo Gutiérrez, der spanisch-lateinamerikanische Theologe Jon Sobrino, die Theologin Ivone Gebara, die man mit Zensur belegte, sowie der Autor dieser Zeilen. In den Vereinigten Staaten gab es weitere, wie Charles Curran und Roger Haight. Sogar die Bücher des verstorbenen indischen Theologen Pater Anthony de Mello wurden verboten, ebenso wie die von Tissa Balasurya aus Sri Lanka, der exkommuniziert wurde.
Wir Theologinnen und Theologen Lateinamerikas haben nie ganz verstanden, warum er die auf 53 Bände angelegte Sammlung „Theologie und Befreiung“ verbot. Dutzende Theologen waren daran beteiligt (etwa 26 Bände wurden veröffentlicht). Das Ziel dieser Text-Sammlung war es, Seminare, kirchliche Basisgemeinschaften und christliche Gruppen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, zu unterstützen. Zum ersten Mal hatte man hier außerhalb Europas ein großes theologisches Werk zustande gebracht, das weltweite Resonanz fand. Doch das Projekt wurde sehr bald abgebrochen. Der Theologe Joseph Ratzinger erwies sich als Feind der Freunde der Armen. Das wird in die Theologiegeschichte eingehen.
Viele Theologinnen und Theologen behaupten, er sei vom Marxismus besessen gewesen, obwohl dieser in der Sowjetunion gescheitert war. Er veröffentlichte ein Dokument über die Befreiungstheologie, Libertatis nuntius (1984), voller Warnungen, aber ohne ausdrückliche Verurteilung. Ein späteres Dokument, Libertatis conscientia (1986), hebt zwar mehr die positiven Elemente hervor, allerdings mit erheblichen Einschränkungen.

Wir können sagen, dass er den Markenkern dieser Theologie nie verstanden hat: die „Option für die Armen gegen ihre Armut und für ihre Befreiung“. Sie machte die Armen zu Protagonisten ihrer Befreiung statt zu bloßen Empfängern von Wohltätigkeit und Paternalismus. Das eben war die Auffassung der Tradition und die von Papst Benedikt XVI. Er hatte den Verdacht, dass sich in diesem Protagonismus der historischen Macht der Armen der Marxismus verbarg.
Als Papst leitete Benedikt XVI. die „Rückkehr zur strengen Disziplin“ ein, mit einer eindeutig restaurativen und konservativen Tendenz, bis hin zur Wiedereinführung der Messe in Latein und mit dem Rücken zum Volk. In der Kirche selbst sorgte er für allgemeines Erstaunen, als er im Jahr 2000 das Dokument „Dominus Iesus“ veröffentlichte. Darin bekräftigte er die alte, mittelalterliche, vom Zweiten Vatikanischen Konzil beendete Lehre, dass es „Außerhalb der katholischen Kirche kein Heil“ gebe. Nichtchristen waren in großer Gefahr. Erneut verweigerte er den anderen Kirchen die Bezeichnung „Kirche“, sie seien nur kirchliche Gemeinschaften. Das rief allgemein Irritationen hervor. Bei all seiner Scharfsinnigkeit polemisierte er mit Muslimen, Evangelikalen, Frauen und der fundamentalistischen Gruppe, die gegen das Zweite Vatikanum war.

Seine Art, die Kirche zu führen, hatte nicht das Charisma, das Papst Johannes Paul II. so stark auszeichnete. Er war mehr von Rechtgläubigkeit und wachsamem Eifer für die Glaubenswahrheiten geprägt als von Weltoffenheit und Zärtlichkeit für die einfachen Christen, wie es Papst Franziskus deutlich zeigt.
Er war ein echter Repräsentant der alten europäischen Christenheit mit ihrem Prunk und ihrer politisch-religiösen Macht. Aus der Perspektive der neuen Phase der Planetarisierung hat sich die auf so vielen Gebieten reiche europäische Kultur in sich selbst verschlossen. Nur selten hat sie sich als offen gegenüber anderen Kulturen erwiesen wie z.B. für die alten Kulturen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Das wurde im Prozess der Evangelisierung bewiesen, den man als Okzidentalisierung des Glaubens betrieb. Man hat sich nie von einer gewissen Arroganz befreit, der Beste zu sein, und mit diesem Anspruch die ganze Welt kolonisiert. Diese Tendenz ist immer noch nicht ganz überwunden.
Trotz aller Begrenzungen wird er aufgrund seiner persönlichen Tugenden und seiner Demut, mit der er auf das Papstamt verzichtet hat, als er die Grenze seiner Kräfte verspürte, gewiss zu den Seliggepriesenen zu zählen sein.”

Quelle: https://leonardoboff.org/2023/01/05/benedicto-xvi-un-papa-de-la-vieja-cristiandad/
Übersetzung aus dem Spanischen: Norbert Arntz, Kleve

Annie Ernaux: Ihre Spiritualität, ihr Glaube und ihr Unglaube…

… Annie Ernaux und der Katholizismus.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Annie Ernaux hat den Literaturnobelpreis 2022 erhalten. In Frankreich werden ihre Arbeiten schon seit längerer Zeit nicht nur gelesen, sondern auch vielfach kritisch untersucht. Ihre Werke erscheinen bei Gallimard, eine Auszeichnung! Zur Geschichte von Annie Ernaux gehört auch zweifelsfrei, wie sie selbst schreibt, ihre Verbindung mit der katholischen Kirche seit der Kindheit. Ihre Ausbildung erhielt sie bei Nonnen in Yvetot; als sie in Rouen an der Universität studierte, wohnte sie in einem Wohnheim der Nonnen. Ihre Verbundenheit mit Kirche, Religion und Spiritualität ist also kein Nebenthema im Werk der Autorin. Ein Mittelpunkt ihrer Bücher bleibt die Darstellung der französischen Gesellschaft radikal aus der Sicht einer Frau, die aus „einfachen Verhältnissen“ kommt, für die Rechte der Frauen kämpft, die beruflichen Erfolg hat… und den totalen Konsum heute heftig attackiert.

2.
Es ist für deutsche Verhältnisse schon erstaunlich: Als bekannt wurde, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhält, nahm sogar ein ziemlich prominenter katholischer Erzbischof, Pascal Wintzer von Poitiers, Stellung: In der katholischen Tageszeitung „La Croix“ (Paris) am 6.10.2022 sowie auch zuvor in der Presse des Bistums Poitiers. Nun ausgerechnet einen Bischof als einen Literaturkritiker zu erwähnen, soll hier nur bedeuten, dass der hohe Klerus in Frankreich sich offenbar nicht nur permanent mit sich selbst beschäftigen muss, vor allem wegen des sexuellen Missbrauchs auch in den eigenen bischöflichen Reihen. Pascal Wintzer, Jahrgang 1959, wurde wie Ernaux in der Normandie geboren, als bischöflichen Wahlspruch wählte er: „Löscht den Geist nicht aus“. Wintzer schreibt in dem genannten Artikel: „In ihren Büchern gebraucht Annie Ernaux eine direkte Sprache, oft roh, geradeheraus („cru“). Es geht ihr darum, eine Sprache abzuwehren, die von dem Realen, Wirklichen, distanziert oder die (nur) den sozialen Abstieg betont. Sondern Ernaux bevorzugt eine „écriture plate“, eine flache Schreibweise, also einfache Worte aus dem Alltag und von jedermann, diese Worte verlangen keine abstrakte Hermeneutik“.
Dann erinnert der Bischof weiter an das Buch „L` Evénement“ (veröffentlicht 2000), in dem Annie Ernaux auch von einer Beichte spricht, in der sie ihre Abtreibung dem Priester bekennt. “Ich fühlte mich im Licht, in der Wahrheit („dans la lumière“), für den Priester war ich eine Verbrecherin. Als ich die Kirche verließ, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war“. (Übers. C.M.) Der katholische Bischof beendet seine Würdigung des Werkes Annie Ernaux`: „Sie ist eine kämpferische Schriftstellerin, sie kann Ablehnung hervorrufen, sie hat Verleumder; mir scheint indessen, dass sie eine der großen französischen Autoren der Gegenwart ist – damit drücke ich meine normannische Solidarität vielleicht auch aus – … Sie spricht zu den Frauen; sie kann die Männer über die Frauen aufklären (éclairer à leur propos“)“. Nebenbei: Erzbischof Wintzer hatte schon wohlwollend kritisch das Werk des Schriftstellers Michel Houellebecq gewürdigt. LINK

3.
Annie Ernaux beschreibt nicht nur ihren individuellen Abschied von der Religion., d.h von der katholischen Kirche in ihrem „Hauptwerk“ genannten Buch „Les années“. Erschienen ist dieses Buch 2008 in Frankreich, seit 2017 liegt eine deutsche Übersetzung vor. Ernaux` Erinnerungen und Einschätzungen des Katholizismus Anfang und Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre sind etwas ausführlicher (in der Suhrkamp Ausgabe S. 161 f.) Annie Ernaux beginnt mit dem klaren und soziologisch treffenden Urteil: „Der Katholizismus verschwand aus dem Alltag. In den Familien wurden Bibelkenntnisse und die religiösen Bräuche nicht mehr überliefert. Man benötigte die Religion nicht mehr, um die eigene Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen und so blieb außer ein paar Ritualen nichts von ihr übrig… Außerhalb des Philosophieunterrichts konnte man nicht mehr ernsthaft über Gott und den Glauben diskutieren“. Wenn Ernaux von Religion/Katholizismus spricht, tritt sie, so sagt sie, „ins Museum unserer Kindheit“ ein (S. 223). Geblieben ist ihr trotz allem „eine Vorliebe für Bach und Kirchenmusik“ (S. 186).
Und Annie Ernaux fügt als gute Beobachterin und Gesellschaftskritikerin hinzu: Es gab 1984 bekanntlich große, man möchte sagen, gewaltige Demonstrationen für den Erhalt der katholischen Privatschulen. Ernaux kommentiert sehr zutreffend … und ihre Worte gelten auch für die Verteidiger der konfessionellen Privatschulen in Deutschland und anderswo: „Nicht der Glaube trieb die Eltern auf die Straße, sondern die weltliche Überzeugung, sie hätten ein Produkt (katholische Privatschule) erworben, das den Erfolg ihrer Kinder garantierte“ (S. 162).
Annie Ernaux kennt die katholische Kirche genau: Sie wurde von ihrer Familie, besonders der Mutter, kirchlich unterwiesen, die werktags zur Abendmesse geht (S. 104). „Der Kirchenkodex stand über allem“ (S. 46), sie erwähnt Wallfahrten (S. 25), sie spricht von der Erstkommunion (S. 46), nennt einen in Frankreich durchaus zurecht berühmten Jesuiten, Père Michel Riquet, (S. 38), sie beklagt die eher rassistisch gefärbten Unterweisung zum Islam (S. 46).
Schon in der Einführung zum Buch „Les Années“ betont sie, dass der Verlust der Religion für den einzelnen wie für die Gesellschaft nicht umstandslos Ausdruck eines „Fortschritts“ sein kann. Sie schreibt ganz Anfang, in dieser „Einleitung“: „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“ (S. 17). Wahrscheinlich könnte eine lebendige, z.B. nicht-frauenfeindliche Religion wie der Katholizismus, einen Beitrag leisten, die totale Konsumwelt einzuschränken, die Ernaux in „Les Années“ heftigst beklagt.
Man lese nur ihre Einschätzung des kommerzialisierten Weihnachten und die dabei sichtbare völlige Hilflosigkeit der Kirche, Weihnachen prägend spirituell zu gestalten: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, „der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten, zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“ (ebd.)
Etwas kryptisch bleiben ihre Worte, wenn sie an die Auseinandersetzungen mit dem Islamismus denkt: „Die Religion war zurück, aber es war nicht mehr unsere, nicht die, an die man nicht mehr glaubte, die man nicht weitergegeben hatte und die letztlich die einzig richtige war, oder wenn man so wollte die beste…“ (S. 223).

4.
Ihre eigene Geschichte, auch ihren Abschied vom Katholizismus, deutet Ernaux als typisch für die heutigen Menschen, die Frauen zumal. Entscheidend ist für Ernaux: Die Kirche bestimmt nicht mehr das Denken über die Sexualität, sie bestimmt nicht mehr die Praxis der Sexualität, „der Bauch der Frauen ist von der Herrschaft der Kirche befreit. Die Kirche hat ihr wichtigstes Aktionsfeld, die Herrschaft über die Sexualität, verloren. Dadurch hat sie alles verloren“ (Gallimard, Quarto, P. 1025). Das weiß Rom, und deswegen führt der Vatikan den sinnlosen Kampf, irgendwie noch die allerletzte Bastion, die Vorherrschaft über die Sexualität zu behalten, etwa im Verbot der Ehe für Homosexuelle oder wenigstens der Segnung von homosexuellen Paaren. Sehr gern segnet der katholische Klerus seit Jahrzehnten hingegen Autos, Pferde, Handys, natürlich auch Waffen, darauf hat der religionsphilosophische Salon schon vor Jahren hingewiesen, Erzbischof Heße aus Hamburg hat sogar ein Walross im Zoo gesegnet. Zu Erzbischof Heße: LINK.

5.
Ihre bleibende Spiritualität – außerhalb der Kirchen – deutet Annie Ernaux an: Sie wollte mit dem Buch („Les Années) „ihren Beitrag zur Revolte leisten. Von diesem Vorhaben ist sie zwar nicht abgerückt, aber mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, das jetzt auf unsichtbare Gesichter fällt…ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war…“(S. 254).
Das Licht“ einfangen“, es bewahren, sich an das Licht halten…la lumière, dieses große französische Wort, das nicht nur (philosophische) Aufklärung und philosophische Kritik bedeutet, sondern eben hier auch „Licht, das bleibt“, „Licht, in dem wir stehen und leben“. Als Gabe (vom wem?) sozusagen.

6.
Aber es wäre natürlich viel zu einschränkend, die Spiritualität von Annie Ernaux nur in einem explizit religiösen oder gar dogmatischen Zusammenhang zu bedenken. Man muss sagen: Ihre Spiritualität ist ihr Eintreten als Schriftstellerin für die Rechte und die Würde der Frauen vor allem. Und ihr Kampf gegen die bornierte Männer-Welt IST geistvoll, also spirituell. Und darin zeigt sich Ernaux` umfassender sozialer Humanismus: Als trotzige geistige Haltung, die sich als letztlich dann doch hilflose Kritik des Konsumismus äußert, aber auch in ihrer Sehnsucht nach den gelungenen Feiern im Kreis der Familie, dem gemeinsamen Essen, dem Sprechen und Reden und Streite und eben auch der vielen banalen Worte, auch der Langeweile, die bei solchen Familienfeiern bekanntlich nahezu üblich sind.

7.
Zum Schluss ein politischer Hinweis: Anders als viele führende PolitikerInnen, auch in Deutschland, erkannte Annie Ernaux schon beim Schreiben von „Les Années“ (also in den Jahren 2006, 2007, veröffentlicht wurde das Buch 2008) den wahren Charakter von Wladimir Putin. Sie nennt ihn (S. 219) einen „kleinen, eiskalten Mann mit undurchschaubaren Ehrgeiz“, „sie blickt jetzt nur noch mit Verzweiflung auf Russland“. Eine kluge vorausschauende Einschätzung, die man sich von angeblich kompetenten Politikerinnen Europas gewünscht hätte, sie haben aus ökonomischen Gründen Putins Sprüchen geglaubt… und preisen ihn gar im Zustand geistiger Verwirrung als einen „lupenreinen Demokraten“ bis heute. Und diese „Verwirrten“ werden dafür nicht bestraft…

Annie Ernaux, “Die Jahre”. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, 2022 (7.Auflage), 256 Seiten, 11€

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Advent – eine Erfahrung in Kiew, Ende November 2022.

Über ein Foto aus Kyjiw (Kiew), Ende November 2022.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. Das Foto

Es ist eines von drei Fotos aus Kyjiw (Kiew) Ende November 2022, veröffentlicht in „Die Zeit“ am 1. Dezember 2022 auf Seite 8.
Der Titel des Beitrags auf einer ganzen Seite: „Eine Stadt macht weiter“. Der Artikel enthält zehn Zeugnisse von Menschen inmitten der Bombardements der russischen Verbrecher. Ein Zitat: „Egal, wie Russland eskaliert, die Bereitschaft, sich zu ergeben, liegt bei null“, sagt Anastasia Radina, Abgeordnete der Selensky Partei Sluha naradu.
„Sich nicht ergeben“ und „Weitermachen“: Man muss nur auf der Seite etwas nach links schauen, um in der Mitte ein Foto zu entdecken mit dem Titel „Kerzenschein im 16. Stock. Ein Journalist und seine Mutter beten gemeinsam in ihrer Wohnung“. Die beiden sitzen in der Stube bei einem Licht aus drei bescheidenen Kerzen. Die Stimmung verführt, an die friedlichen Gemälde Rembrandts zu denken, wegen der auch dort vorherrschenden ins Feierliche führenden Farbe Hellbraun. Aber auf historische Beziehungen soll es hier nicht ankommen. Man sollte dieses aktuelle, politische Foto betrachten und bedenken. Ich will versuchen, etwas von der Atmosphäre in Worte zu übersetzen.

2. Zwei Menschen beten.

Dies ist eine Provokation für das säkularisierte Westeuropa: Zwei Menschen beten bei Kerzenlicht. Das praktizieren spirituelle Menschen öfter. Hier aber beten Menschen in größter Not, wegen der Angriffe der Russen fällt die Versorgung mit Elektrizität aus. Die beiden sitzen am Tisch. Gesammelt, man möchte sagen ruhig und beruhigt. Die Mutter hört zu, wie der Sohn aus einem Buch, einem Gebetbuch, einer Bibel vielleicht, laut vorliest. Inmitten der Wohnung gibt es eine Art bescheidenen Hausaltar, mit einer Ikone an der Wand. Der Sohn ist ganz ins Buch vertieft, in die Botschaft, die Gebete, die die Mutter still, mit verschränkten Armen, in einer meditativen Haltung, vernimmt. Wieder eine Erinnerung an den Rembrandt friedlichen Zeiten: Es gibt ein Rembrandt Gemälde aus dem Jahre 1641, darin erklärt der Mennonitenprediger Cornelis Claes seiner Frau Aalte die Bibel. Förmlich eine Idylle dieses Bild.
An die Bibel denken, sie lesen oder gemeinsam beten: Das führt in eine andere Welt. Keine illusorische Welt, sondern eine Welt, die über die alltägliche hinausweist. Die von der Bindung an die gegenwärtige Welt befreit. Die Fenster in der Wohnung von Kyjiw sind mit Vorhängen verdeckt, der kleine Raum wirkt wie eine Krypta. Dass es die 16. Etage ist, spielt keine Rolle: Krypten als Orte der Zuflucht kann es auch in großer Höhe geben. Sie sind Schutzräume eigener Art. Sie schützen nicht materiell, nicht körperlich, sondern geistig. Sie führen ins Weite, ins Andere, das Friedliche wenigstens für ein paar Minuten.

3. Beten inmitten der Zerstörung.

Vielleicht wird ihr Haus bald von den Russen attackiert. Vielleicht werden sie von den Russen weggebombt. Die beiden harren aus in ihrer Krypta in der 16. Etage. Sie sind nicht naiv, auch nicht selbstmörderisch aufs Sterben fixiert. Sie harren aus, weil sie eine andere Sicherheit spüren, weil sie einen Grund im Leben kennen, einen Grund, der trägt, im Leben wie im Sterben. Christen nennen diesen Grund Gott. Und an ihn wenden sich die beiden inmitten der Dunkelheit. Das bedeutet ja Beten: Die eigene Lebenserfahrung im Angesicht des Unendlichen und des Ewigen zur Sprache bringen. Nicht verstummen, sondern die Tiefe des eigenen Lebens, die Angst und die Verzweiflung, aussagen: Das ist Beten. Vielleicht auch Schreien. Vielleicht nur noch Schweigen, auch das ist Beten. Dies tun Mutter und Sohn, nicht weil sie sich in Illusionen flüchten, sondern weil sie selbst in den Katastrophen des Krieges nicht im Alltäglichen aufgehen wollen.

4. Ein Foto, das den Advent zum Vorschein bringt.

Mutter und Sohn leisten sich im Gebet die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Sie verzweifeln nicht, selbst wenn ihr Haus von Bomben bedroht ist.  Sie wollen sich sich behütet wissen, trotz allem. Klammern sich im Gebet an den Frieden, der alsbald oder irgendwann beginnen wird. Vielleicht denken sie an Helfer, nah und fern. An Deutsche vielleicht, die noch in relatuv warmen Stuben wohlgenährt sitzen, die in ihrer naiven Russland-Politik vor wenigen Jahren (Merkel usw.) das ganze Unheil des Putin-Krieges irgendwie (?) zugelassen haben.

Sehnsucht ist die Haltung von Menschen, die Advent spirituell und christlich verstehen: Advent ist ein Name für den Wunsch: Möge sie doch kommen, die freundliche Herrschaft des menschlichen, des friedfertigen Gottes! Übersetzt für jene, die das Wort Gott schon nicht mehr hören können: Möge sie doch kommen, die umfassende Friedens-Welt eines sinnvollen Lebens, der Brüderlichkeit, der gleichberechtigten Geschwisterlichkeit im Frieden

Die beiden, Mutter und Sohn, im Halbdunkel vor der Ikone, sammeln sich, sie konzentrieren ihren Geist auf das Kommende hin, das sie ersehnen, das aber heute und morgen nicht Realität sein wird: Ihre Lebenspoesie, das heißt: ihr gemeinsames Beten, ist ein Ausgriff auf diese Zukunft, auf die bessere, die friedliche Zukunft, in der der Feind vertrieben ist, damit dann eine neue Gemeinschaft der Versöhnten entstehen kann. Manche mögen beim Betrachten dieses Fotos (es ist mehr, es erscheint als ein Gemälde) selber beten: „Mögen die beiden, Mutter und Sinn, in ihrer Stube, vor ihrem Hausaltar, doch behütet bleiben. Wie auch immer.”

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das genannte Foto wie auch zwei weitere Fotos wurden realisiert von Johanna Maria Fritz, Agentur Ostkreuz.
Der Text des Artikels in der „ZEIT“ wurde verfasst von Alice Bota, Simone Brunner, Olivia Koras und Michael Thumann.

„Wir brauchen eine ökologische Klasse, die für die Rettung der Welt kämpft“.

Der Philosoph Bruno Latour und der Soziologe Nikolaj Schultz verfassen ein Memorandum zugunsten eines neuen, eines ökologischen Klassenkampfes.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine Buchempfehlung, für Menschen, die noch an eine Zukunft der Menschheit glauben. Also für alle, für die Vernunft noch eine Bedeutung hat!

1. Klassenkampf.

Jetzt also das letzte Buch des französischen Philosophen Bruno Latour, verfasst zusammen mit dem jungen dänischen Forscher Nikolaj Schulz. Und sicher ist es keine nur „theoretische“ Studie, sondern ein wegweisendes Buch, weil es praktische Vorschläge macht, die ökologische Katastrophe vielleicht doch noch „kämpferisch“ zu verhindern. Ein Memorandum eben, eine Denkschrift, die ins Handeln führen will. Ein Memorandum als Aufruf, gemeinsam, in einer neuen, breit aufgestellten ökologischen Bewegung politisch die Welt zu retten. Die Autoren verwenden den alten sozialistischen Begriff der Klasse, einer Klasse allerdings, die diesmal nicht aus Proletariern zusammengefügt ist, sondern aus allen Menschen „guten Willens“. Sie verbünden sich in einem alle Ideologien übergreifenden Klassenkampf zugunsten der Rettung dieser Welt.
Als Erinnerung: Für Bruno Latour gilt wahrlich das Prädikat „bedeutend“ oder „weltbekannt“. Latour, Autor zahlreicher Studien aus den weiten Fragen der Soziologie und Philosophie ist am 9. Oktober 2022 in Paris im Alter von 75 Jahren gestorben. Seine besondere Liebe galt immer der Philosophie, dies betonte er kürzlich noch ausdrücklich.

2. Die ERDE.

Latour und Schulz legen also ein Memorandum vor, einen dringenden Appel. Er besteht aus 76 Kurz-Texten und einem Nachwort, das Ganze überschaubar auf 90 Seiten dargestellt. Die Autoren schreiben von der noch möglichen Rettung der Erde. Um dem allen Nachdruck zu verleihen, erscheint ERDE im Buch immer in Großbuchstaben. ERDE: Das Wort erinnert an den spirituell wichtigen Begriff Gaia: Er spielt nicht nur in esoterischen Sondertraditionen eine Rolle, sondern auch für viele andere, die an eine gewisse Heiligkeit dieser den Menschen anvertrauten „Mutter Erde“ denken.

3. Einen neuen Sinn des Lebens entdecken.

Der Klassenkampf der vielen Menschen guten Willens muss die bisher übliche Fixierung auf Ökonomie, aufs Produzieren und auf das stetige Wachstum überwinden. Es geht also um eine andere Emanzipation, um das Wahrnehmen: Wir Menschen leben nicht nur VON der Erde, sondern wir vor allem IN der Erde, sind Teil der Erde. Diese Erkenntnis soll sich durchsetzen, was nicht einfach ist, das wissen Bruno Latour und Nikolaj Schultz. Aber die Verheißung dieser neuen Erkenntnis und der ihr folgenden Praxis, dem ökologischen Klassenkampf, heißt: Es wird ein neuer Sinn des Lebens für diese ökologischen Klassenkämpfer sichtbar, durchaus auch – so die Autoren – ein neuer Sinn der Geschichte.

4. Das Christentum muss sich inmitten des ökologischen Klassenkampfes neu definieren.

Für unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es von besonderer Bedeutung, dass die Autoren in Nr. 46 (Seite 56) auch von den Religionen bzw. speziell vom Christentum leider nur kurz sprechen. Latour und Schultz zeigen, dass die Ökologie jetzt der Gesamtrahmen des Weltverstehens ist. Alles Denken, Fragen, Forschen ist von ökologischen Themen „durchdrungen“. Das gilt auch für das Christentum, die Kirchen und die Christen. „Nun sehen sie in der Ökologie einen Appell, der ihre Dogmen erneuern könnte“, schreiben die Autoren (S. 56). Die alte Position der Herrschaft des Menschen (des Mannes) über die Natur, im Buch Genesis von Gott selbst vorgeschrieben, wird also hinfällig. Die Autoren nennen keine Details, sie sind aber überzeugt, dass die Kirchen und die Theologien „Faden für Faden“ bisheriger Stränge der Dogmen „ganz neu entwirren“ müssen (ebd.). Zu einem ökologischen Weltbild des Miteinanders passt ohnehin die Hierarchie gar nicht mehr. Hierarchisches Verhalten, wie in der römischen Kirche üblich, die ohne jeden Respekt für die Demokratie nach wie vor agiert, hat keine Zukunft mehr. Auch dagegen wendet sich der ökologische Klassenkampf.

Nebenbei: Bruno Latour war in seiner Jugend aktives Mitglied der politisch linken katholischen Studentenbewegung “Jeunesse étudiante chrétienne” und ein eifriger Leser der Werke Charles Péguys, Sozialist und Katholik (siehe dazu Le Monde, 11.oct. 2022, Seite 28 und 29).

5. Die „letzte Generation“.

Die Autoren sprechen nicht unmittelbar von der Bewegung der „letzten Generation“, sie schreiben aber in voller Sympathie für junge Menschen, die sich ganz dem ökologischen Klassenkampf verschrieben haben: „Die plötzliche Revolte der Jugendlichen, die sich von den Alten verraten fühlen, besteht darin, die Babyboomer (die einstigen Jugendlichen) als verwöhnte und unreife Teenies zu betrachten“ (S. 54). Oder noch einmal: Die jungen Menschen haben den Eindruck, „von den Alten verraten zu sein“. Sie finden sich als junge Menschen „im buchstäblichen Sinn ohne Zukunft wieder“ (ebd.).

6. Vom ökologischen Klassenkampf.

Manche gut bürgerlichen Leute werden sich an dem Begriff Klassenkampf stören. Aber ohne die Schärfe, die in diesem Begriff aus sozialistischen Zeiten aufscheint, hätten die beiden Autoren, alles andere als die „letzten Kommunisten“, die Radikalität der ökologischen Herausforderung nicht ausdrücken können. Es geht wirklich um ein neues Klassenbündnis, das Mitglieder der vielen bisherigen, „traditionellen“ Klassen neu vereint. Wozu denn eigentlich? Zum Kampf gegen die Ideologien der alten Welt, die von der Herrschaft der Produktion, des Wachstums und der Ungerechtigkeit bestimmt ist. Dabei wissen die Autoren, dass die alten, immer noch etablierten herrschenden Klassen „einen Höllenlärm veranstalten, den gesamten Medienraum in Beschlag nehmen“ (S. 59), um die neue ökologische Bewegung zu schädigen. Man denke jetzt, Ende November 2022, an die Polemik etablierter Kreise vor allem aus dem Lager der CDU, FDP und SPD gegen die Aktionen der Mitglieder der letzten Generation. Es muss noch die Hegemonie der ökologischen Klasse errungen werden, das wissen die Autoren des sehr lesenswerten Memorandums „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“.

7. Einige Merk-Sätze.

„Die ökologische Klasse ist also diejenige, die sich der Frage der Bewohnbarkeit der Erde annimmt“ (S. 31).

„Eigentum ist nicht das Eigentum der Menschen an der Welt, sondern das Eigentum einer Welt an den Menschen“ (S. 41).

„Wir Menschen sind die Natur, die sich verteidigt“ (S. 42).

„Man hat den fatalen Eindruck, dass der Kampf (der ökologische Kampf) noch gar nicht richtig begonnen hat“ (S. 59).

„Die einfachen. Leute haben immer schon als erste zum Widerstand gegriffen. Sie sind es, die mit voller Wucht die Folgen des (kapitalistischen)
Zerstörungssystems zu erleiden haben“ (S. 84).

„Es wäre so tröstlich, wenn Ökologie und Zivilisation gleichbedeutend sind“. (S. 92).

Bruno Latour, Nikolaj Schultz
Zur Entstehung einer ökologischen Klasse
Ein Memorandum
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag
Broschur, 93 Seiten, 14 euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Superyachten – Obszöne Kapitalisten.

Ein Buch über Milliardäre, die auf den Weltmeeren den Normen der Menschheit entgleiten.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Zur Einstimmung:
Es gibt ganz wenige Leute, die stellen sich allen Ernstes die Frage: Wie kann am besten aus den Duschen ihrer Superyacht außer Wasser auch Champagner sprudeln? Um dieses Problem kümmern sich spezielle Firmen, die ausgefallene Wünsche von Eigentümern der Luxusyachten gewöhnt sind. Die Fachleute für Luxus-Duschen fragen dann nur: Wie stark gekühlt oder wie warm soll denn der Champagner sein, mit dem sich die nackten Herren und Damen Milliardäre erfrischen wollen.
Davon berichtet der Soziologe Grégory Salle in seiner Studie „Superyachten“ auf Seite 24. (Suhrkamp Verlag 2022).

1.
Der Wahnsinn des Neoliberalismus, d.h. der Wahnsinn in der ungerechten Verteilung des Eigentums, ist ein philosophisches Thema. Über die These Proudhon „Eigentum ist Diebstahl“ wurde schon ein viel beachteter Beitrag auf dieser website publiziert. LINK.

2. Das Obszöne ist ethisch und deswegen politisch
Nun wird es noch spannender und von der Lektüre-Erfahrung durch viele Fakten anschaulicher und deswegen schockierender, aber auch fast unterhaltsamer, weil die Tatsachen an eine absurde, surreal wirkende Welt erinnern.
Das Thema ist die Gegenwart des Obszönen in unserer Welt. Das Obszöne ist, ästhetisch gesehen, das Ekelhafte, Abstoßende. Und zugleich für die klassische Moral vor allem das sexuell definierte Schamlose. Die bürgerliche Ethik war bisher so begrenzt und legte das Obszöne auf angebliche oder tatsächliche sexuelle Verfehlungen fest.
Nebenbei: Die heutige Fixierung auf die schamlosen sexuellen Übergriffe durch den Klerus ist zwar notwendig, aber sie lässt auch keine Zeit, sich mit dem Schamlosen des Kapitalismus, etwa mit dem Obszönen der Milliardäre, kritisch zu befassen.
Ein neues Buch sorgt dafür, das Obszöne in dieser Welt des totalen Kapitalismus wahrzunehmen.

3. Eintausend Quadratmeter Wohnfläche
Eine sachlich dokumentierende Recherche berichtet vom schamlosen, schon üblichen Verhalten unter Multi-Milliardären. Es geht nicht um deren sexuelles Vorlieben, es geht um deren SUPERYACHTEN. Diese sind obszöne Symbole des Exzesses einiger Milliardäre.

Superyachten müssen als Symbole gedeutet werden, als Symbole dafür, dass Exzesse, die sich kaum noch steigern lassen, das Lebensgefühl der Milliardäre sichtbar machen. Die eher noch bescheidene Superyacht „Octopus“ hat 235 Millionen Euro gekostet. (S. 35), eine Kleinigkeit für Multi-Milliardäre.
Superyachten – ein Phänomen also, das wahrscheinlich sehr vielen schon irgendwie aufgefallen ist, die sich an der Cote d Azur (speziell St-Tropez) oder in der Ägäis oder im spanischen Mittelmeer aufgehalten haben. Sie sahen Luxusyachten … oder auch vom Untergang bedrohte Kähne von Flüchtlingen aus Afrika. Auf den Luxusyachten von 75 bis 100 Meter Länge mit ca. 1000 Quadratmeter Wohnfläche auf mehreren Etagen wohnen ca. 30 Personen, davon 20 Angestellte in Kabinen, auf den Kähnen aus Afrika kauern manchmal 70-100 Menschen zusammen, alle in Gefahr, kurz vor dem Ertrinken. An eine Champagner-Dusche denken sie nicht. Die Luxusyachten steuern mit Selbstverständlichkeit Häfen an, wo die Luxusrestaurants die internationalen Gäste mit Freuden begrüßen und als alte Bekannte umarmen. Die Flüchtlinge, kurz vor dem Verdursten, sind froh, wenn sie von NGO – Schiffen gerettet werden, die auf der Suche sind nach einem Hafen. Aber am liebsten würden etwa die jetzt regierenden rechtsextremen Politiker Italiens diese „störenden Menschen“ wieder in die „schöne“ afrikanische Heimat zurückschicken…

4. Endlich: Beschlagnahmen!
Manchmal wird von dem eher hilflosen Versuch der westlichen Demokratien berichtet, nach dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine die Superyachten der russischen Milliardäre zu beschlagnahmen. Beschlagnahmen: Was für ein Wort für die biedere Öffentlichkeit: Die Beschlagnahme! Unerhört, dieses Wort, wo wir doch alle immer an das heilig verstandene Privateigentum glauben.
Der Krieg Putins hat zumindest den bescheidenen positiven Aspekt, dass nun über „Beschlagnahmung von Milliardärs-Eigentum“, also der Superyachten, öffentlich und zwar zustimmend die Rede ist. Welch ein Gewinn! Welch eine Chance, dadurch die Umrisse unserer Zeit als Epoche des finanziellen Exzesses zu verstehen. Die Plutokratie wird zwar fortbestehen, aber eben noch kritischer betrachtet als vorher. Beschlagnahmung also als gerechte Handlungsform eines demokratischen Staates, wenn er sich denn in dem Wirrwarr seiner eigenen Gesetze zum Thema Superyachten auskennt.. In der geistigen Nähe zu diesem Stichwort befindet sich bekanntlich das noch umstrittenere Wort „Enteignung“…Wird man darüber in absehbarer Zeit differenziert diskutieren können, ohne gleich von konservativen und sich FDP-liberal nennenden Herren – auch Herren der Kirche – als Kommunist verdammt zu werden?

5. KAPITALOZÄN
Der französische Soziologe Grégory Selle hat jetzt eine gut lesebare und sehr gut dokumentierte Recherche zu den Luxusyachten von Milliardären vorgelegt, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16 Euro. Das Buch verdient viel Aufmerksamkeit vieler Leser. Der Untertitel deutet den Wandel an in der Deutung der globalen Weltstruktur: Grégory Salle spricht von „Kapitalozän“, anstelle des üblichen Begriffs „Anthropozän“: „Luxus und Stille im Kapitalozän“ ist also der Untertitel dieses Buches, das man durchaus eine politische, ökonomische Variante eines authentischen Kriminalromans nennen könnte. Luxus und Stille – ein merkwürdiger Untertitel: Gibt’s diesen Luxus „Superyachten“ vielleicht nur, weil es um ihn bisher in der Öffentlichkeit so viel Stille herrschte, weil die Öffentlichkeit sich um diesen Wahn der Superyachten nicht kümmerte?

6. Grenzenlose Freiheit
Das Buch handelt also von notorischen (nicht nur russischen) Kleptokraten, die ihre Milliarden gern in letztlich bescheidene Multi-Millionen-Objekte investieren, wie eben die Luxusachten mit den hübschen Namen „Graceful“ oder „Scherzende“. Der Vorteil dieser Millionen-Fahrzeuge für ihre Eigentümer: Mit einer Luxusyacht ist man auf den Meeren überall und nirgendwo zuhause, man lebt förmlich außerhalb überschaubarer nationaler Gesetze, kann Steuern enorm sparen, Geldwäsche betreiben, kann zusätzlich Geld machen, wenn man denn die Yacht später teuer vermietet. Und man hat nette gleichgesinnte Milliardärs-Menschen um sich, wenn man sich auf Messen trifft, wie im Amsterdamer „Global Superyacht Forum“.

7. Milliardäre als Zerstörer der Umwelt
Mit einer Luxusyacht kann man ungestraft auch viele gravierende Umweltschäden anrichten, die Natur im Meer zerstören und die Klimakatastrophe beschleunige. Aber das ist den Herrenmenschen, den Plutokraten, völlig egal, dass sie mehr als 20 Liter Treibstoff für ihre Superyachten pro Kilometer verbrauchen, ist ihnen völlig schnuppe. Ihre Öko-Verbrechen werden nicht untersucht und bestraft.

8. Verantwortungslos
Das Buch Superyachten mag zunächst wie ein bizarres Sonderthema erscheinen in der so drängenden Frage nach extremem Reichtum und extremer Armut in dieser neoliberalen globalisierten Welt. Aber die Superyachten sind ein Symbol für die obszöne Mentalität der totalen Verantwortungslosigkeit, der Gier nach „immer mehr“, der ungebremsten egoistischen Haltung der Milliardäre (man lese, wie diese Herrenmenschen mit den Untergebenen umgehen).
Es ist ein Buch, das zu der philosophischen Einschätzung führt: Diese Welt der Eigentümer der Superyachten ist eine nihilistische, von Sinnlosigkeit zersetzte und zerfressene Welt einiger Herrenmenschen. Ihnen steht die demokratische Welt leider bis jetzt weitgehend hilflos gegenüber.

8.
Das Buch „Superyachten“ ist auch ein denkwürdiges Weihnachtsgeschenk.

9. Über die Angestellten auf den Superyachten:
„Das wenige, was durchsickert, entlarvt die Kehrseite dieser Traumwelt: Disziplin, Sonderregelungen bei Arbeitszeiten, strikte Folgsamkeit, beengte Unterbringung in winzigen Kabinen und ein eng getakteter Arbeitsrhythmus, um ständige Verfügbarkeit zu gewährleisten. Und das lächelnd, selbst bei den abstrusesten Aufgaben. In der Karibik verlangte eine Frau einmal auf der Stelle 1000
weiße Rosen, um die Superyacht ihres Ehemanns zu schmücken. Das Personal ließ die Blumen von Miami mit dem Hubschrauber einfliegen“. (S. 60).

Was eine humane Menschheit mit den Ausgaben für die Superyachten machen könnte? 
„In einem Artikel vom Mai 2018 wies der Journalist Rupert Neate darauf hin, dass die kumulierten jährlichen Ausgaben für die ungefähr 6000 in Betrieb befindlichen Superyachten die gesamten Schulden der sogenannten »Entwicklungsländer« tilgen könnten“. (S. 54).

Grégory Salle, „Superyachten. Luxus und Stille im Kapitalozän“, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16€. Übersetzt von Ulrike Bischoff.

Grégory Salle ist Soziologe und Politikwissenschaftler.
Er ist Research Fellow am Centre national de la re-cherche scientifique.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der orthodoxe Bischof von Wien, Arsenios Kardamakis, plädiert für die Absetzung des Kriegstreibers Patriarch Kyrill, Moskau.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Endlich, möchte man sagen, plädiert eine prominente Stimme der Orthodoxie für die Absetzung des Putin-Ideologen Patriarch Kyrill I. Wann endlich wird das geschehen? Will das auch der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf? Die suchen immer noch das Gespräch mit Kyrill…

Metropolit Arsenios Kardamakis, Wien, sagt u.a.:

“Die weltweite Orthodoxie muss sich zusammenfinden und entscheiden, ob etwas gegen den russischen Patriarchen unternommen werden soll. Meiner Meinung nach, ja!”, so der Metropolit, also der Erzbischof. Dazu könnte Patriarch Bartholomaios (Konstantinopel) alle Häupter der orthodoxen Kirchen einberufen, um eine Amtsenthebung vorzuschlagen. Jedoch müssten in der Orthodoxie alle Entscheidungen einstimmig getroffen werden. “Aber auch, wenn nicht alle einverstanden sind oder manche politisch nicht zustimmen können, so wissen doch alle, dass dieser Krieg nicht legitimiert werden kann und dass jener, der diesen Krieg rechtfertigt, außerhalb des Geistes der orthodoxen Kirche ist”, unterstrich Kardamakis.

Die russische Kirche brauche “Umkehr, Buße und Neuevangelisierung, so der Metropolit weiter. Sie soll nicht an die Macht oder an das Geld glauben. Eine Kirche, die im Luxus lebt und sich wie die politische Klasse präsentiert, hat ihren Ruf verloren”, so der Geistliche. Die Erneuerung der Kirche werde von den einfachen Menschen kommen, die an Christus glauben”. (Quelle: https://www.domradio.de/artikel/metropolit-kardamakis-sieht-wende-russland-kommen)

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