Wenn Gott schwarz wäre…Ein Buchhinweis

Wenn ein katholischer Pfarrer aus der „Demokratischen Republik Kongo“ von Rassisten aus München vertrieben wird

Ein Buchhinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 25.9.2017

So schlimm ist es bereits gekommen: Rassisten gelingt es, mit ihren Attacken einen katholischen Priester aus seiner Gemeinde in München – Zorneding (9.000 Einwohner) zu vertreiben: Über die Ereignisse berichtete 2016 sogar das ERSTE in den Tagesthemen. Nun hat der betroffene Pfarrer und habilitierte Philosoph Olivier Ndjimbi-Tshiende eine Art Rückblick auf die Ereignisse in München – Zorneding geschrieben und dabei die Chance genutzt, auch einige seiner theologischen Überzeugungen vorzutragen unter dem Titel „Und wenn Gott schwarz wäre…“

Im September 2012 wird Pfarrer Olivier, wie er allgemein wohl genannt wird, in Zorneding in sein Amt eingeführt. Nicht allen gefällt die Anwesenheit dieses afrikanischen Geistlichen im so gut katholischen, aber eben weiß – blau bayerischen Bayern. Vor allem die Ortsvorsitzende der CSU im Kreisverband Zorneding Sylvia Boher, eine promovierte Politologin, beginnt im Oktober 2015 in ihrem Parteiblättchen gegen Flüchtlinge einerseits zu hetzen und Pfarrer Olivier zu attackieren: Er hat sich erlaubt, die humane Geste in der frühen Flüchtlingspolitik von Angela Merkel öffentlich zu loben und richtig zu finden. Die AFD unterstützt die Äußerungen der CSU Frau (S. 25). Der 2. führende CSU Mann dort, Johann Haindl, nennt den Pfarrer „unseren Neger“ (S. 23).

Aus dieser Polemik der CDU Ortsvorsitzenden entwickeln sich heftige verbale Attacken gegen Pfarrer Olivier, bis hin zu unsäglichen Beleidigungen und Drohungen, die um Leib und Leben fürchten lassen. Anonyme Morddrohungen werden abgeschickt, später wird ein Rentner zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte gedroht, den Pfarrer während der Messe zu ermorden. Aber in Zorneding ist die Bevölkerung keineswegs geschlossen aufseiten des attackierten Opfers. „Die Leute machen ihn und seinen Pfarrgemeinderat dafür verantwortlich, dass der ganze Aufruhr um den Text der CSU Frau Boher solche weiten Kreise zieht“ (s. 34). Und das Ergebnis? Das Opfer, der afrikanische Priester, soll schuld sein am öffentlichen Streit über Flüchtlinge und „den Neger – Priester“. Pfarrer Olivier will in diesem widerlichen Milieu nicht weiter leben und arbeiten: Am 6. März 2016 kündigt er seine Abreise aus Zorneding an. Heute arbeitet der Theologe und Philosoph an der katholischen Universität Eichstätt über Flucht und Migration.

Offen bleiben in dem Buch zu den Zornedinger Ereignissen einige Fragen: Wie stark war die Unterstützung der Pfarrer Kollegen für ihren afrikanischen „Mitbruder“? Wie stark war von Anfang die Unterstützung des Münchner Kardinals Marx? Hat er dazu Stellung genommen? Wie hat sich die Parteiführung der CSU in München zu dem rassistischen Skandal verhalten? Warum wagt man es nicht in der Kirchenverwaltung des Erzbistums München, Pfarrer Olivier eine andere Stellung als Pfarrer zu geben, wenn er denn das noch will. Offenbar sind Christen in Deutschland oft nur in der Lage, Geld für Afrika zu spenden, für die armen Heidenkinder, wie man früher sagte. Aber sie sind nicht bereit, sich darüber zu freuen, dass nun aus Afrika selbst ein kompetenter Theologe seine spezielle Sicht des Glaubens erläutert. Diese Leute in Zorneding und anderswo haben offenbar wenig Interesse am Dialog, am Fragen, am Neues Entdecken. Ich hätte mir noch sehr viel mehr harte Fakten in dem Buch gewünscht. Aber offenbar ist der Autor so betrübt, dass er die Zusammenhänge rassistischer Überzeugungen von Katholiken über die CSU bis zur AFD nicht weiter ausführlich freilegen will. Angesichts der Bundestagswahlergebnisse in Bayern wäre darüber erneut zu sprechen.

Pfarrer Olivier ist so höflich, dass er seine eigenen theologischen Vorschläge zur Reform der Katholischen Kirche sehr vorsichtig formuliert. Der 2. Teil des Buches, also ca. 140 Seiten, handelt davon. Es geht um die “ewigen” katholischen Reformthemen, wie Abschaffung des Pflichtzölibates, Zulassung von Frauen zum Priestertum, mehr Barmherzigkeit, und auch dies ist wichtig für den Autor: Weniger Dogmen in einer Kirche, die tausend und einen Lehrsatz kennt und predigt.

Dies sind alles Themen, die in der europäisch dominierten Theologie seit Jahrzehnten – ohne Erfolg selbstverständlich – vorgeschlagen werden. Denn gäbe es nicht den Pflichtzölibat, bräuchte kein polnischer, indischer oder nigerianischer Priester in Deutschland die Lücken stopfen, die der Priestermangel in Deutschland und ganz Europa erzeugt. Und Pfarrer Olivier hätte von vornherein, seiner Ausbildung angemessen hierzulande die afrikanischen Formen des Christentums erklären können….

Bei dem Titel des Buches „und wenn Gott schwarz wäre“ erwartet der Leser zudem auch Hinweise zu afrikanischen Theologien und Spiritualitäten, etwa Berichte über die Inkulturation des Glaubens in den afrikanischen Kulturen. Über die Rolle des Tanzes in der katholischen Eucharistiefeier. Oder Hinweise zu den unterschiedlichen Strömungen afrikanischer Philosophien. Oder Hinweise zu dem von Rom verbotenen Ritus der „Messe von Kinshasa und Zaire“. Oder Stellungnahmen zur heftigen und in Europa als absurd empfundenen Abweisung von gelebter Homosexualität durch die allermeisten katholischen und evangelischen Bischöfe in Afrika. Das Buch „und wenn Gott schwarz wäre“ hinterlässt den Leser also nach großen Erwartungen bei dem Titel sehr ratlos. Das muss bei allem Respekt fürs Leiden Pfarrer Oliviers in Zorneding gesagt werden. Wenn Gott schwarz wäre: Würden dann die weißen Europäer den schwarzen Gott verehren? Jesus von Nazareth, geboren in Kinshasa, warum eigentlich nicht? Aber welchen Sinn haben überhaupt, philosophisch betrachtet, Farbzuweisungen zur geheimnisvollen Wirklichkeit Gottes? Unseres Erachtens gar keinen. Gott und das Göttliche haben keine Farbe und kein Geschlecht. Zentral bleibt die jesuanische Botschaft von der prinzipiellen gleichen Werthaftigkeit aller Menschen! Dies ist die Mitte des Glaubens, auch die politische. Sie passt nur all jenen Christen nicht, die sich als Europäer und CSU Mitglieder für etwas Besseres halten. Und das bedeutet: Vom Christentum haben diese Herrschaft eigentlich nichts verstanden, trotz der Predigten, Wallfahrten, Messen usw., die seit 1000 Jahren im Land der Bayern und anderswo gefeiert werden. Sind alle diese kirchlichen Veranstaltungen wirkungslos geblieben? Manchmal möchte ich das glauben.

In jedem Fall würde ich mir wünschen, wenn Pfarrer Olivier die Kraft fände, die oben genannten Themen zur Inkulturation des Christentums und des Katholizismus in Afrika oder wenigstens rund um den Kongo in einem weiteren Buch zu besprechen. Klar ist, dass uns Lesern hier dann auch die Frage dringend bewegt, wie es denn weiter geht mit der Diktatur in der „Demokratischen Republik Kongo“? Wann wird sie von wem vertrieben und verschwinden? Welche Europäer profitieren von den vielen Diktaturen in Afrika? Braucht Europa das elende Afrika für den eigenen Profit? Diese Fragen sind endlos. Sie werden selbst von aufgeschlossenen Politikern in Europa kaum noch gestellt. Und selten von Kirchenleuten, die es eigentlich wissen (müssten). Zurecht kritisiert Pfarrer Olivier,so wörtlich, die Prunksucht einiger Bischöfe hierzulande. Interessant wären seine Schilderungen, wie denn afrikanische katholische Bischöfe leben? Wie diese dann wahrscheinlich eher armen Bischöfe die Prunksucht ihrer so netten Bischofskollegen in Deutschland erleben? Denken sie dann vielleicht zu recht an Klassenunterschiede in der einen, angeblich so brüderlichen Kirche. Heiße Themen, an die sich niemand heranwagt. Weil die armen Bischöfe, wenn sie denn relativ, auf ihre Bevölkerung bezogen, tatsächlich arm sind, die paar Euros brauchen, die ihnen die Prunkbischöfe mit ihrem Milliardenhaushalt in Deutschland zuwerfen. Und man fragt sich zum Schluss, was die einst kolonisierten und misshandelten Völker Afrikas eigentlich an die Religion, also das Christentum, ihrer gar nicht so lieben Kolonialherren damals wie heute innerlich und spirituell bindet.

Olivier Ndjimbi – Tshiende, „Und wenn Gott schwarz wäre…“ Gütersloher Verlagshaus, 2017. 17,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Die Katholische Kirche ist gespalten“: Aktuelle Analysen aus dem Vatikan und den USA

Hinweise von Christian Modehn am 21. 7. 2017

Heutige Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie bezieht sich als Nachdenken über Religionen und weltanschauliche Ideologien, also auch auf den „atheistischen Glauben“, immer auch, als ein Thema neben anderen !,  auf die faktisch bestehenden Religionen und beobachtet kritisch deren Entwicklung. Ein Hinweis zur Kirchenspaltung in der römischen Kirche.

Die neusten Studien zu der de facto bestehenden Spaltung der römischen Kirche heute kommen Weiterlesen ⇘

Neues zur Erbsünde: Muss der christliche Glaube Angst machen?

Einige weiter führende Thesen von Christian Modehn am 20.7. 2017

Meinen zuerst veröffentlichten Beitrag, in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum, Heft 11/2017, lesen Sie hier mit einem weiteren Thesenpapier, das aus einer Diskussion hervor gegangen ist. Dass selbst Mitglieder des Augustinerordens heute wenigstens leise, aber deutliche Kritik an Augustins Erbsündenlehre äußern, lesen Sie bitte am Ende dieses Beitrags! Und sogar der treu-katholische Theologe und Historiker der frühen Kirche und der so genannten Kirchenväter, Pater Joseph Barbel, kritisiert den “kaum begreiflichen Eifer Augustins zur Widerlegung seines theologischen, die Freiheit verteidigenden Gegners, des Bischofs Julian von Eclanum”. Auch dazu mehr, siehe am Ende dieses Beitrags.

Die Diskussion über Sinn und Unsinn der christlichen Erbsünden-Lehre geht weiter, das zeigen die vielen Weiterlesen ⇘

Über den Begriff der Geschichte. Von Walter Benjamin.

Eine kleine „Verstehenshilfe“ zu einem manchmal schwierigen Text von Christian Modehn. Diskutiert im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 14. 7. 2017.

Der Text Walter Benjamins gehört in das weite Feld der Geschichtsphilosophie.

Es geht um die Fragen: Was ist Geschichte? Noch grundlegender: Was ist Zeit? Was ist unsere Erfahrung mit den Zeitstrukturen? Wie entsteht Geschichte unter den Menschen? Ist sie eigentlich als solche ein letztlich unsichtbares Objekt? Nur in den Produktionen der geistvollen Menschheit im Laufe der Zeit wird Geschichte also sichtbar?
Was ist unser inneres Erleben von Geschichte, auch von meiner Lebensgeschichte? Wer macht Geschichte, wer liest und interpretiert die Geschichte? Was ist mit dem Opfern in der Geschichte, die keine Chance zum menschenwürdigen Leben hatten? Was zählt der einzelne in einer Geschichte, die als Fortschritt, technischer Fortschritt zu immer Mehr und vielleicht immer Besserem und vielleicht immer Gerechterem wird? Und: Wenn ein Gott die Welt geschaffen hat, also auch die Menschen, die Geschichte gestalten in ihrer Freiheit, ist dann Gott anwesend auch in der Geschichte? Wie ist Gott mit der Geschichte unterschiedlich verbunden im Judentum und im Christentum?

Benjamins Thesen sind im Kern eine Kritik der herrschenden Fortschritts-Philosophie (- Ideologie). Sie plädieren für einen neuen „Zugriff“ auf die Geschichte in der Stunde höchster Not, im Falle Benjamins: Bei dem machtvollen gewalttätigen Faschismus und der Zerstörung einer letzten Hoffnung, dass irgendetwas Humanes von der Sowjetunion noch zu erwarten ist, wo doch der Hitler – Stalin – Pakt alle letzten positiven Erwartungen zerschlagen hat! Für Benjamin gab es fast keine Hoffnung mehr auf Rettung in der weltgeschichtlichen Lage im Jahr 1940.

Walter Benjamin stellt sich der Universalgeschichte: Weil er den Begriff der Erlösung denkt, den er die künftige Gegenwart des “Messianischen”, nennt.

Benjamin will die Vorstellung überwinden, Geschichte sei ein bloß ins Unendliche dahin laufender, eher monotoner Entwicklungsverlauf. Er will sich der Herausforderung stellen: Was ist der Sinn des Daseins im Jetzt, in der Ausweglosigkeit des Faschismus. Das war seine persönliche Leidenssituation 1940! Er hatte zudem schon in früheren Jahren geahnt und deutlich gesagt, dass eine neue Katastrophe, auch ein weiterer Weltkrieg bevorsteht.

Die 18 kurzen Kapitel wirken zwar sehr in sich gekehrt,”geschlossen”. Tatsächlich aber sind sie eng mit einander verflochten. Im 1. Kapitel tritt der schon aus der „Berliner Kindheit“ bekannte „bucklige Zwerg“ auf, diesmal in einer positiv erlebten Rolle: Er lenkt nämlich – ungeahnt für die Sozialisten – ihr Tun. Wie er diesen Einfluss hat und haben kann, wird von Benjamin nicht gesagt!

Höhepunkt ist das berühmte und viel besprochene 9. Kapitel zum „Engel der Geschichte“. Ganz am Ende, eher versteckt im Anhang B, stehen die ungewöhnlichen, letzte Hoffnungen weckenden Sätze: Es gebe in jeder „Sekunde, eine kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“.

Was uns vor allem ins Nachdenken bringt, ist die Behauptung einer geheimen Steuerung des Sozialismus/ Marxismus (trotz Stalin ?) durch die Theologie, Kapitel I. Wenn denn der „historische Materialismus“, also der Marxismus im Sinne Benjamins, die Theologie „in ihren Dienst nimmt, dann könne der Marxismus es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen“. Auch wenn die Theologie im Augenblick „klein und hässlich ist“. Sie ist wohl un–ansehnlich, sie hat gerade in der jüdischen Tradition keine Bilder, sie hat keine Macht. Aber stimmt das für die an kirchliche Institutionen gebundene Theologie? Sicher nicht!

Aber: Haben diese Sätze auch eine Bedeutung nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“? Sollte ein von Partei – Dogmen gereinigter Marxismus mit Hilfe der Theologie (welcher ?) „es mit jedem wieder aufnehmen können“ ? Diese Frage müsste aktuell diskutiert werden.

Die Lektüre dieses knappen Textes der 18 Thesen erschließt sich, wie alles in der Philosophie, nicht im Tempo einer Zeitungslektüre.

I.Kapitel

Es geht hier grundlegend um den Zusammenhang von historischem Materialismus (so nennt Benjamin seine Philosophie, in ihrem Bezogensein auf den Marxismus) und Theologie (im jüdischen Sinne der Erwartung des Messias).

Versteckt ist, im Bild gesprochen, unter dem Tisch, im Zusammenhang des „Spiels“, der Geschichte also, die Theologie, also der theologische Gedanke, der unsichtbar ist und die sichtbare Puppe, den historischen Materialismus als Täter der Geschichte und des Geschehens, mit – bestimmt und zum Sieg führt. Die Theologie wird erwähnt, nicht etwa die institutionelle Religion, also eher der „freie theologische Gedanke“. Er wird von Benjamin als klein und hässlich beschrieben, in seinem unsichtbaren Untergrund. Aber der Marxismus soll die Theologie „in (seinen) Dienst nehmen“, wie Benjamin sagt.

ALSO: Ohne Theologie als Erwartung der Erlösung gibt es keine erfolgreiche Geschichtsgestaltung im Sinne des Marxismus. Dies muss wohl so verstanden werden: Im Sinne der Befreiung der Armen. Denn das ist das Wesentliche und Befreiende im Marxismus – Begriff von Benjamin. Er will ja bekanntlich Hoffnung artikulieren, „für die, die keine Hoffnung haben“. Nur das Mitspielen der Theologie ermöglicht eine Durchsetzung des historischen Materialismus, des Marxismus. Durch die Präsenz des Theologischen IN der Geschichte wird schon auf das später genannte Spirituelle hingedeutet.

II.Kapitel

Gemeint ist im Zitat am Anfang Herman Lotze. (1817 – 1881, einer der damals bedeutenden und viel zitierten Philosophen zur Zeit Benjamins)

Das Zitat geht weiter, es wird von Benjamin abgebrochen. Lotze sagt: „Wir opfern uns auf für die Herstellung eines Besseren in der Zukunft, eines Besseren, das wir nicht genießen können, darin zeigt sich entweder eine Liebe für die Zukunft oder ein unbewusster Trieb“. (Quelle: LINK.

Das Wort „tingiert“ bedeutet gefärbt. Unser Denken, so Benjamin, ist also von der Zeitstruktur gefärbt. Alles Denken ist von der Zeit geprägt.

Die Grundaussage ist: Wir Menschen wollen das Gute für die Zukunft der Menschen. Wir wollen das Glück. Es geht Benjamin wirklich darum, das Glück zu fördern. Wir wollen das Glück der Zukunft der anderen. Das wollen wir ohne Neid, ohne neidisch zu werden. Neid (im Sinne von schlechte, schuldhafte Stimmung) hingegen entsteht nur, wenn wir an unsere Versäumnisse in der Vergangenheit denken (etwa mit Menschen, mit denen wir hätten reden können).

Was zeigt sich da: Wir leiden zwar unter den Versäumnissen unseres eigenen Lebens, sind aber bereit, das Gute für die Zukunft zu wollen. Darin zeigt sich eine Art Sehnsucht, darin zeigt sich ein Sehnen nach Erlösung im Sinne der vollständigen und glücklichen Existenz in der Zukunft.

Wir sind verbunden mit der Geschichte, mit der Geschichte unserer Verwandten und Vorfahren. Wir hören in den Stimmen heute auch die Stimmen von einst.

Wir sind also mit der Vergangenheit verbunden. Es gibt eine „geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem Geschlecht“. Das heißt: Wir sind keine isolierten Existenzen. „Wir wurden auf der Erde erwartet“, sagt Benjamin dann: Erwartet von wem? Von einem Vorgänger, von einem früheren Menschen. Dieses Erwartetwerden gilt für alle Menschen. Alle wurden erwartet … von anderen. Das ist wohl eine zurückhaltende Aussage für die Erkenntnis: Alle Menschen wurden gewünscht, alle wurden gewollt, kann man sagen: alle haben einen Sinn. Dies anzuerkennen bedeutet: Den Menschen ist eine schwache messianische Kraft eigen, das heißt eine Kraft, die auf den Messias hindeutet, also auf eine umfassende Erlösung hin. Auch die Vergangenheit (das vergangene Leben der Menschen früher) hat an dieser messianischen Kraft Anteil. Diese messianische Kraft kann kein historischer Materialist, also ein Marxist im Sinne Benjamins leugnen: „Der historische Materialist“ (also der Marxist) weiß darum“.

III. Kapitel

Jetzt steuert Benjamin seine Kritik an der herrschenden Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie an. Hier zeigt er zunächst ein partielles berechtigtes Verständnis für den Chronisten, also für den Historiker, der fein und säuberlich alle Ereignisse, auch die unbedeutend erscheinenden, aufzeichnet und bewahrt. Nichts darf für die Geschichte verloren gehen, schreibt Benjamin.

Aber der Gesamt – Überblick über die gesamte (Welt-) Geschichte und damit über die Menschenwelt im ganzen ist erst der erlösten Menschen, in der messianischen Zeit also, am Ende der Geschichte, möglich. Benjamin spricht von dem „jüngsten Tag“, an dem alle Ereignisse zitierbar, also klar vor Augen eines jeden, treten. Das ist die große Übersicht der Erlösten über die Geschichte.

IV.Kapitel

Der völlig irritierende, nach Marx klingende Vorspruch, also das Hegelzitat von 1807 „Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen“ ist tatsächlich von Hegel. Das Zitat wirkt wie ein materialistischer Ausrutscher des Idealisten Hegel möchte man sagen.

Dieses Zitat hat Benjamin von Ernst Blochs Hegel Studien entnommen: Bloch schreibt: ….ein unbewachter Satz des großen Idealisten Hegel gehört hierher, und nicht nur der junge, auch der entschieden materialistische MARX hätte ihm wohl zugestimmt. Denn 1807 schrieb HEGEL aus Bamberg, wo er als Redakteur sich durchschlug, an seinen Jenenser Freund, den Major KNEBEL: «Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen» (XVII, S. 629 f). Der Spruch lautet in der Bibel (Matth. 6, 33) bekanntlich genau umgekehrt. Quelle: aus dem Beitrag von Bloch, Marx und die idealistische Dialektik: http://www.trend.infopartisan.net/trd0411/t290411.html.

Der Text wurde entnommen aus:
Bloch, Ernst, Karl Marx und die Menschlichkeit, Reinbek 1969, S. 139-149.

Zum Kapitel IV selbst:

Benjamin steht als Marxist, trotz der Distanz zu Moskau, der marxistischen Grundidee vom Klassenkampf positiv gegenüber. Die Weltgesellschaft ist ein Kampf der Klassen.

Und dieser Klassenkampf ist ein „Kampf um die rohen Dinge, Nahrung und Kleidung“, siehe das Hegelzitat.

Dann aber folgen hoch interessante Einsichten:  Aber „ohne diese rohen Dinge gibt es keine feinen und spirituellen“.D.h. ohne den Kassenkampf um materielle Güter gibt es keine spirituellen Güter. Es gibt also im Sinne des Marxisten Benjamin durchaus spirituelle Dinge!! Die Klischee – Vorstellung des „Materialisten“ stimmt also nicht, es gibt im Klassenkampf spirituelle Dinge! Das verweist wieder auf die erste These mit dem Schachspiel.

Benjamin sagt: Diese spirituellen Dinge dürfen nicht dem Herrscher als Beute zufallen, das heißt: Die Herrschenden dürfen nicht die spirituellen Dinge missbrauchen und sie sich aneignen. Was sind spirituelle Dinge? Sehr lehrreich noch heute für uns: „Zuversicht, Mut, Humor, List, Unentwegtheit im Kampf“. Diese Haltungen und Tugenden sind menschliche, humane Tugenden, es sind keineswegs explizit religiöse. In einem christlichen Sinne könnte man ja denken: Gebet, Meditation, Gottesverehrung sind die typisch spirituellen Dinge. Nein, für Benjamin sind im Sinne der AT – Botschaft der Propheten, eben weltliche Dinge spirituelle Dinge!

Dann die merkwürdige Formulierung Benjamins: „Diese spirituellen Dinge wirken in die Ferne der Zeit zurück“. Sie sind rück – wirkend. Was heißt denn rück wirkend sein: Sie gelten auch in der Vergangenheit, und sie verändern unser Bild der Vergangenheit. Spirituelle Dinge sind also auch in der Vergangenheit anwesend, in jeder Vergangenheit, also in der Geschichte. Die Geschichte ist geprägt von spirituellen Dingen, Zuversicht usw.. Mit diesen weltlichen spirituellen Werten ( also der Unentwegtheit im Kampf der Klassen zugunsten der Leidenden) wird jeder Sieg der Herrschenden, wie er schreibt, „in Frage gestellt“. Weil jeder Sieg gemessen wird an den Werten der weltlichen Spiritualität.

Jetzt wird es „mystisch“ bei Benjamin: Er glaubt an eine Sonne, die aufgeht und den Leidenden im Klassenkampf Licht und Hoffnung bringt. Das Gewesene (in der Geschichte im Klassenkampf) strebt der Sonne zu, „die am Himmel der Geschichte am Aufgehen ist“, so wörtlich ein eher hoffnungsvoll stimmendes Zitat aus Benjamins Thesen. Auf dieses Hin-Streben zu der letztlich siegreichen Sonne muss der historische Materialist, so wörtlich, „sich verstehen“. D.h.: Er muss diese geheime spirituelle Kraft sehen lernen!

V. Kapitel

Wer die Vergangenheit sucht und darin eben das wahre Bild (!), wie Benjamin sagt, erlebt, also das Bild von einst, das die damalige Wahrheit des Klassenkampfes zeigt: Der nimmt wahr: Dass dieses wahre Bild von einst (gerade als hilfreich für heute) nur „vorbeihuscht“. Es ist „ein Aufblitzen“ (im Sinne einer plötzlichen geschenkten Erkenntnis, einer Einsicht), in diesem Aufblitzen ist jedoch ist „die Vergangenheit festzuhalten“.

Ganz anders denkt die bürgerliche Geschichtsforschung, die meint über alles Vergangene fixierend ständig verfügen zu können. „Die Vergangenheit läuft ja nicht davon“, sagen die bürgerlichen Historiker, als Historismus, verstanden. Die Vergangenheit steht uns als gleichförmig fließende Zeit mit ihren vielen tausend „interessanten“ Ereignissen immer zur Verfügung, meinen diese Historiker.

Für Benjamin hingegen gilt: Jede Gegenwart muss erkennen, ob ein Bild der Vergangenheit zu meiner Gegenwart (immer im Sinne des Klassenkampfes als des Kampfes der Unterdrückten um Gerechtigkeit) „passt“. Die Gegenwart muss erkennen: Ich bin „gemeint“, wie Benjamin sagt, in dem Bild der Vergangenheit.

Jeder wird Beispiele etwa der jüngeren Geschichte, etwa der Befreiungskämpfe in Lateinamerika. finden: man wird sich des Mordes an dem Menschenrechtler Bischof Oscar Romero El Salvador erinnern, mit seinem Einsatz zugunsten der Armen. Und man wird denken, vielleicht: „Da bin ich gemeint“ als Teil der ausbeuterischen Welt….

VI. Kapitel

Diese These macht noch einmal deutlich, dass Benjamin diesen für ihn selbst so ungemein wichtigen Text schreibt „im Augenblick einer Gefahr“ (eben des Faschismus, des Krieges). Die Gefahr ist für ihn und so viele Juden, Kommunisten, Freidenker, Homosexuelle, total. Sie bedroht den Bestand der Tradition, also die Kultur. Und bedroht ist die Qualität der Religionen, und bedroht sind die Empfänger dieser Tradition, also die jetzt lebenden Menschen. Die Gefahr ist auch, dass sich Kultur und Menschen heute „zum Werkzeug der herrschenden Klasse hergeben“. Diese Haltung ist der auch heute bekannte „Konformismus“ mit den Herrschenden. Der dumme Konformismus überwältigt, zerstört die gute Tradition. Dieser Konformismus mit den Herrschenden ist für den Juden Benjamin interessanterweise das Anti-Christliche: Diesen Antichrist, so wörtlich, gilt es zu überwinden durch die Gestalt des Messias, der kommen wird. Es gilt zu beachten, dass für jüdisches Verständnis der Messias immer der kommende ist. Die reale Weltgeschichte ist total – versteckt, wie der Zwerg in Kapitel I andeutet – bezogen auf den künftigen Messias.

Nebenbei: Im Christentum ist der Messias (Jesus Christus) schon als Mensch da gewesen, hat seinen heiligen Geist in der Welt hinterlassen, so dass die Weltgeschichte immer schon prinzipiell und wesentlich Heilsgeschichte ist. Der kommende Messias ist für die Christen nur die Vollendung der schon begonnenen Heilsgeschichte.

Zu Benjamin: Es gilt, für den Historiker in seinem Sinne, so wörtlich: Funken der HOFFNUNG (!) anzufachen. Sie gelten auch den Verstorbenen, zumal sich der Feind, also die Herrschenden, selbst der Verstorbenen noch bemächtigt (das Gedächtnis auslöscht, etwa die Friedhöfe schändet…)

„Dieser Feind (der Faschismus) hat zu siegen nicht aufgehört“, so die letzten Worte dieses Kapitels VI.

VII. Kapitel

„Wir leben im Dunkel“, darauf weist das Motto am Anfang hin, von dem engen Benjamin Freund Bert Brecht.

Hier geht es noch einmal um die Geschichtsphilosophie Benjamins in seinem marxistischen Sinne. Es geht für ihn der Geschichtsforschung nicht darum, die Herrschergeschichte möglichst total zu re-konstruieren, so, wie sie selbst einmal als Herrschergeschichte für diese Herrscher war. Benjamin nennt diese Methode die Methode der Einfühlung, das hat nichts mit der psychologischen Compassion zu tun. Sondern Einfühlung ist für Benjamin nur ein anderer Begriff für das bürgerliche, hermeneutische Verfahren des Sich Hineinversetzens, des mitdenkenden Verstehens mit allen und jeden in der Vergangenheit. Benjamin vermutet, es gehe dieser Geschichtsforschung nur darum, “sich nur in den Sieger“ einzufühlen.

Diese herrschende Haltung nennt Benjamin eine träge und traurige Haltung. Wer sich dieser Geschichtsdeutung anschließt, „marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die Menschen hinwegführt, die heute am Boden liegen“. Das heißt, es kommt auf etwas ganz Anderes an: Auf eine Geschichtsdeutung, die die heute am Boden Liegenden respektiert!

Die Herrschenden haben im Kampf Beute gemacht und diese Beute schleppen sie mit sich herum. Diese Beute sind die Kulturgüter. Es sind die offiziellen, großen Kulturgüter der Mächtigen. Diese Kulturgüter werden, so Benjamin, von den historischen Materialisten, distanziert, also kritisch betrachtet. Denn diese angeblich große Kultur entstammt für Benjamin aus der Fron der Menschen, Benjamin muss mit Grauen an den Werdeprozess der Kulturgüter denken. Kulturzeugnisse sind immer auch Zeugnisse der Barbarei. (Man denke vielleicht an das Schloss in Versailles, an andere Luxus bauten heute, an die Paläste eines Mister Trump, an Kaufhäuser und Konsumtempel, an die gängige, hoch erfolgreiche Massen – Musik, Theater, Oper…

Der historische Materialist muss die Geschichte gegen den Strich bürsten. So Benjamin!

VIII. Kapitel

Wer die Geschichte betrachtet und dabei an die Unterdrückten in den Focus der Betrachtung nimmt, muss feststellen: Angesichts der permanenten Unterdrückung ist immer „Ausnahmezustand“ (die Menschenrechte werden eigentlich immer und fast überall unterdrückt). Unser Begriff der Geschichte muss zum Begriff des Ausnahmezustandes kommen (d.h. aber auch: Es sollte diesen aktuellen Zustand eigentlich nicht geben, das meint ja die „Ausnahme“). Wir müssen, fordert Benjamin, einen wirklichen Ausnahmezustand anstreben, der den Faschismus (hier wird Faschismus von Benjamin explizit eingeführt) überwindet.

Die Gegner Benjamins betrachten den Faschismus gar als Fortschritt und Norm der Geschichte…

Dann spielt Benjamin noch auf den alten Definitions-Begriff des philosophischen Staunens an, in der klassischen Philosophie ist ja bekanntlich Staunen, to taumazein, der Beginn der Philosophie. Nicht Staunen über den Faschismus heute also ist angesagt, da gibt es gar nichts zu bestaunen, da gibt es nur etwas zu verstehen und zu bekämpfen;. Mit der Erkenntnis: Der Faschismus und die Unterdrückung gehören zur Geschichte (der Herrschenden).

IX. Kapitel

Dieses Kapitel ist das berühmteste und am häufigsten zitierte aus Benjamins Werken. Und es ist das am schwierigsten, in seiner offenen Aussage zu deutende Kapitel.

Nur einige Hinweise auf das Bild vom Engel „Angelus Novus“ von Paul Klee aus dem Jahr 1920. Das Aquarell hat Benjamin als begeisterter Sammler und Kunstkenner 1921 gekauft und ist nie mehr von diesem Bild denkend und fragend losgekommen. Benjamin bietet keine kunsthistorischen Erläuterungen zu dem Bild!

Ein Engel guckt entsetzt beim Fliegen den Betrachter an.

Für Benjamin ist dies der Engel der Geschichte. Der Engel hat den Überblick über die Geschichte. Er ist sozusagen in der Rolle des Philosophen. Die haben in der Reflexion, dem „Raufschauen“ auf das Denken, den Überblick.

Der Engel/Philosoph blickt auf die Geschichte als einer Abfolge von Katastrophen. Er möchte wohl heilen und verweilen, aber der Wind aus dem Paradies, also aus dem Ursprung der Welt, treibt den Engel in die ferne Zukunft, dies ist ja das messianische Reich. Diese ferne Zukunft sieht der Engel nicht, weil er auf die Vergangenheit starrt. Und er sieht nur die Trümmer in der Geschichte.

Der Sturm vom Paradiese her, der den Engel in die ferne Zukunft treibt, also für Benjamins ins messianische Reich des Endgültigen, „dieser Sturm ist das, was wir Fortschritt nennen“. D.h.: Fortschritt ist ein vom Urzustand, dem Paradies, ausgehende Bewegung, der selbst ein Engel nicht widerstehen kann.

Im Fortschritt werden viele Trümmer erzeugt. Ist das Paradies für die Trümmer mitverantwortlich, also der Gott, der das Paradies geschaffen Hat? Fortschritt ist dann nicht mehr Tat des Menschen, wir sind dem Fortschritt als Erzeugung von Trümmern und Elend sozusagen ausgesetzt (diesem Wind ausgesetzt) und werden aber in den Endzustand getrieben. Da erwartet uns der Messias. Ein anderer, besserer Gott?

X. Kapitel

Der Gedankengang ist: „Das politische Weltkind“, also die politisch bewussten Bürger, gilt es aus der Verklammerung, aus den „Netzen“ zu lösen, in die die Faschisten das Weltkind hinein verflochten haben.

Diese Politiker folgen einem blinden Fortschrittsdenken, sprechen von Massenbasis. Alles das ist Lüge, meint Benjamin. Mit diesem herrschenden Denken der Herrschenden darf man nicht gemeinsame Sache machen, darf man nicht Komplize werden. Diese Haltung kommt dem Oppositionellen aber „teuer zu stehen“. Sie gefährdet sein Leben und das der anderen. Widerstand ist gefährlich.

Diese Denkhaltung des Marxisten nennt Benjamin Weltabgewandtheit in den ersten Sätzen des Kapitels X. D.h.: Wir müssen dieser Welt der Herrschenden entziehen und ihrem Treiben ,wie die Mönche einst, „abhold“ werden.

XI. Kapitel

Dies ist sicher eines der politisch besonders problematischen Kapitel; sicher auch von pauschaler Ungerechtigkeit Benjamins gegenüber der SPD bestimmt.

Die SPD sei konformistisch mit den Herrschenden, sagt Benjamin pauschal. Als Marxist lässt Benjamin auch 1940 nichts Gutes an der SPD. Die Kommunistische Partei, zu der er als Mitglied nie gehörte, erwähnt er nicht in ihrer taktischen Haltung; die KP Frankreichs hatte ja 1939 den Hitler Stalin Pakt unterstützt.

Jedenfalls meint Benjamin: Die SPD – Arbeiterklasse glaubt, es sei richtig, mit dem großen Strom der Herrschenden zu schwimmen, also mit den Strukturen der Herrschenden mitzutun. Durch die Fabrikarbeit würden die SPD Proletarier zum Fortschritt gelangen. Durch die Arbeit der SPD Proletarier würden Reichtum und Kultur auch für die SPD Arbeiter entstehen. Dabei wird, so behauptet Benjamin, nicht gesehen, dass diese Arbeiter keinen Anteil haben an den Produktionsmitteln. Verbesserung der Arbeit (nicht etwa Neuorganisation der Eigentumsverhältnisse) bringe ERLÖSUNG, meint für Benjamin irrtümlich Josef Dietzgen, ein SPD Philosoph (1828 bis 1888 im Exil in Chicago!).

Die DDR feierte übrigens Dietzgen! Der SPD gehe es um Ausbeutung der Natur, sie sei technokratisch, so der Marxist Benjamin.

XII. Kapitel

Noch einmal wird von Benjamin eine Abgrenzung von der SPD betrieben: Die SPD will nicht die Befreiung der unterdrückten Klassen. Benjamin behauptet, die SPD will den Arbeitern nur die Erlösung künftiger Generationen versprechen… nebenbei: Als würde die KP diese Erlösung jetzt schon realisieren. Blanqui (Louis Auguste B., 18195 – 1881 gestorben) wird von Benjamin lobend erwähnt, er war einer der ersten Theoretiker des Sozialismus in Frankreich…

Benjamin meint: In der SPD verlernte die Arbeiterklasse den Hass wie den Opferwillen, sie beziehe ihre Kraft aus dem geknechteten Vorfahren. Die SPD verspreche nur eine Erlösung künftiger Generationen, meint Benjamin. Meine Frage: Machen es denn die KPs anders? Und ist das messianische Reich nicht auch nur eine Erlösung in der fernen Zukunft? Der letzte Satz in Anhang B deutet jedoch auf etwas anderes hin.

XIII. Kapitel

Noch einmal kritisiert Benjamin die Haltung der SPD zum Fortschritt. Zu pauschal, zu dogmatisch sei dieses SPD Fortschrittsdenken. Darin zeigt sich der Gedanke einer ständig ganz nach vorn dringenden Kraft, einer Geschichte als einer Linie nach vorn. Dies ist für Benjamin eine homogene, das heißt gleichmäßig gemachte Zeit und Geschichte, die keine Höhepunkte kennt, und deswegen „leer“ ist, also bedeutungslos für ihn ist.

Diese Deutung muss die materialistische Geschichtsdeutung überwinden!

XIV. Kapitel

Jetzt kommt Benjamin zu seiner eigenen Sache, zu seiner Deutung der Geschichte!

Für ihn wird Geschichte heute KONSTRUIERT, diese Geschichtsdeutung geht aus von dem JETZT. Da wird aus dem Kontinuum der Geschichte, vom Jetzt ausgehend, Wichtiges und Hilfreiches, für das JETZT „HERAUSGESPRENGT“, so wörtlich.

(Robespierre sprengte für sein Revolutionsverständnis das Bild vom antiken Rom heraus, meint Benjamin).

Man muss das Aktuell – Hilfreiche in der Geschichte „wittern“. Man muss in die Geschichte wie mit einem Tigersprung reinspringen und sich das Wichtige entreißen. Solch ein Sprung ist die Revolution.

XV. Kapitel

Es gilt das von den Herrschern suggerierte gleichmäßig dahin strömende „Kontinuum der Geschichte aufzusprengen. Wenn das geschieht, dann geschieht die revolutionäre Aktion.

Dann werden neue Zeitrechnungen eingeführt. In der Juli Revolution in Frankreich 1830 wurde auf die Uhren geschossen, um das Erlebnis großer Zeit deutlich zu machen, einer Zeit, die man festhalten will.

XVI. Kapitel

Stillstand ist ein merkwürdiges, aber das entscheidende Wort:

Benjamin meint, die Geschichte komme im JETZT, dem Kairos, zu einem Stillstand, nur so kann das messianische Element gesehen werden. Gegenwart ist eine neue Dimension, man möchte sagen eine Dimension der Heils-Zeit. Darauf kann der historische Materialist, also der Marxist, nicht verzichten.

Es geht Benjamin um den in seinem Sinne positiven und notwendigen Stillstand der Zeit. Der Stillstand der Zeit ist Gegenwart. Das so beliebige und immer wieder zitierbare „Es war einmal“ als allgemeine Erinnerung gilt nicht mehr. Das Kontinuum der Geschichte wird aufgesprengt, es wird die wesentliche Vergangenheit sozusagen vor Augen gehalten.

XVII. Kapitel

Ich sprenge das in der Not Wichtige für mich heraus aus der Geschichte. Darin ist alles „aufbewahrt und aufgehoben“….

Noch einmal setzt sich Benjamin von der bürgerlichen Geschichtsforschung, Historismus genannt, ab. In dieser fließt alles in die ewige Zukunft dahin und alles ist gleich – gültig, alles ist gleich viel wert. Der historische Materialist wählt aus, er wählt aus der Geschichte Wesentliches aus. Er legt die Elemente, die für ihn wichtig sind, dann förmlich still. Da wird im Sinne Benjamins dann Wichtiges aus „dem homogenen Geschichtsverlauf heraus gesprengt“, ein bestimmtes Leben wird aus dem Geschichtsverlauf herausgesprengt. Darin kann sich dann das Wesentliche eines Geschichtsverlaufes sammeln.

XVIII. Kapitel

In der Jetzt-Zeit kann die Geschichte der ganzen Menschheit versammelt werden. Es gibt eine Gesamtfigur der Geschichte, die die ganze Geschichte der Menschheit zusammenfasst. Dies aber in der Endzeit, der Messianischen Zeit.

Im Anhang A wird nochmals die historistische Geschichtsdeutung abgelehnt; da werden, so meint Benjamin, alle Begebenheiten gleichförmig. Daran sieht man, wie wichtig für Benjamin der neue Umgang mit Geschichte ist!

 Im Anhang B wird unterstrichen, dass die authentische jüdische Haltung nicht die Zukunft in allen Details wissen will. Also nichts Genaues über die Zukunft, messianische Zeit usw., wissen will. Da braucht man keine detaillierten Kenntnisse des absolut endgültig Zukünftigen

Dann folgt eine schöne, trostreiche Einsicht für alle: Keine Zeit ist eine total messiasferne Zeit! „Vielmehr ist jede Sekunde der Jetztzeit „eine kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“. D.h. immer kann der Messias kommen.

Einige Aphorismen von Walter Benjamin…

„Der Ernährer aller Menschen ist Gott. Und der Staat ihr Unterernährer“.

„Menschen suchen das ewige Reisen. Sie sind Melancholiker, da sie die Berührung mit der Muttererde (zu Hause) scheuen…“

Im „Kaiserpanorama“:
„Die Leute haben ihre Privatinteressen an erster Stelle, folgen aber dem Massentrend.

Oder:„Die Freiheit des Gespräches geht verloren….unabwendbar drängt sich in jede gesellige Unterhaltung das Thema… des Geldes“

Im ganzen sieht Benjamin: Die Menschen wollen das alte, längst verlorene Leben starr erhalten, sie sehen nicht die Gefahren; es gibt eine Ohnmacht, einen Verfall des Intellekts.

Es gilt, die messianischen (d.h. die erlösenden) Momente in der Geschichte wahrzunehmen: “Die Elemente des Endzustands liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdeste Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.”

Sehr interessant der Unterschied zwischen einer Spur (etwa auf einem Weg) und der Aura einer Sache: In dem unvollendetem „Passagenwerk“ stellt Benjamin Aura und Spur gegeneinander: „Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ohne Erbsünde glauben!

Warum sich das Christentum von dieser verhängnisvollen Lehre befreien sollte.

Hinweise von Christian Modehn. Zu meinem Beitrag, dem auch historisch argumentierenden Plädoyer für die Befreiung von diesem Lehr-Konstrukt Erbsünde, hat Eugen Drewermann in Publik Forum ebenfalls eine Entgegnung geschrieben, mit dem verstörenden Titel, der eher an philosophische Naturalisten denn an Psychotherapeuten erinnert: “Der Mensch ist nicht frei”. Weil dieser Beitrag zum Schluss sogar polemisch auf mich Bezug nimmt, ist Drewermanns Beitrag unten abgedruckt.

…..

Meine Perspektive orientiert sich auch an der Philosophie Immanuel Kants in dem Zusammenhang. Der französische Philosoph André Comte-Sponville fasste diese Position, die ich teile, in dem knappen Satz zusammen: “Nach Kant ist die Eigenliebe die Quelle alles Bösen” (in: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Rowohlt Verlag, 2001, S. 62). Indem das Böse in dieser Welt als Objektivierung von Eigenliebe(n) verstanden wird im Laufe der Geschichte, bleibt das Böse eben auch korrigierbar und letztlich auch einschränkbar und überwindbar! Eben indem man die einseitige Eigenliebe erkennt und mutig schrittweise überwindet. Und diese praktische Überwindung deuten Christen als Gnade, als Gabe des heiligen Geistes. Christen brauchen überhaupt nicht die Lehre von der furchtbaren unüberwindbaren (!) Erbsünde aus den Zeiten des Augustinus. Diese Lehre, auch als Dogma, ist mitgeschleppte Ideologie einer  Angst machenden Theologie.

Die Menschen mit ihren Fehlern sollten also nur an ihrem eigenen Egoismus arbeiten. Das wäre ein hübsches gemeinschaftliches Kirchenprojekt: Anstelle der Gottesdienste sonntags etwa psychologische Hilfen bieten zur Einübung in ein Leben jenseits des Egoismus! Das wäre vielleicht so etwas wie erlebte “Erlösung”, von der die orthoxoxen, dogmatischen Kirchen ständig plaudern und eine Messe nach der anderen feiern.

Diese neue Praxis aber ist schwerer zu realisieren als über die Last der Erbsünde zu jammern und tausend Bücher über die Mythen im Buch Genesis hin und her zu wälzen, wie es Eugen Drewermann tut und der dabei nur die veraltete Theologie/Ideologie in psychologischen Formulierungen wiederholt.

Für alle, die Kant in dem Punkt mißverstehen, weil sie mal schnell irgendwas vom “Hang zum Bösen” bei Kant aufgeschnappt haben: Der Hang zum Guten gehört für Kant NOTWENDIG zur Möglichkeit des menschlichen Wesens! Während der “Hang zum Bösen” nicht wesentlich ist für den Menschen. Das sollte man auch bei allen Leserbriefen beachten.

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Warum sich das Christentum von dieser verhängnisvollen Lehre befreien sollte. Von Christian Modehn. (Inzwischen fanden auch Gespräche und Dispute zum Thema “Abschied von der Erbsünde” statt: Dazu weitere Informationen.

Der Beitrag vom 11.7. 2017:

Ein Hinweis vorweg: Dieser Beitrag ist das, leider vom Zeitschriftenformat her bedingte viel zu kurze Plädoyer, an einem “Punkt”  theologisch “aufzuräumen”! Mit der Bereitschaft Weiterlesen ⇘

Jesuitisches Fragwürdiges: Wem gehorcht ein Jesuit, wenn er Papst ist?

Hinweise von Christian Modehn

Drei interessante Fragen wurden in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin diskutiert, die ich gern in eine etwas breitere Öffentlichkeit stelle. Die Fragen mögen – auf Weltebene – eher etwas marginal erscheinen, aber sie sind kirchenpolitisch (im Sinne einer römisch – katholischen Kirchenpolitik heute) durchaus relevant, auch religionskritisch natürlich. Denn eine selbstverständlich konfessionsunabhängige Religionskritik ist ja bekanntlich eine wichtige Dimension jeder Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

Also: Eine erste Frage: Was bedeutet es, wenn jetzt ein Jesuit, Pater Luis Ladaria Ferrer, Chef der obersten Glaubensbehörde im Vatikan wird, wo doch Jesuiten durch ihr zusätzliches viertes Gelübde sich zu besonderem Gehorsam Weiterlesen ⇘

Kardinal Meisner gestorben: Ein Kirchenfürst ist tot!

Einige wenige Hinweise von Christian Modehn am 5. Juli 2017. Siehe auch den aktuellen Beitrag vom 18.3.2021: LINK

Zum Tod eines Kirchenfürsten passt sehr gut ein lateinisches Zitat: „De mortuis nil nisi bene“ (Über Verstorbene darf nur gut gesprochen werden).

Aber bei diesem verstorbenen Kardinal Joachim Meisner kann dieser Grundsatz nicht gelten, wenn denn auch nur im Ansatz historische Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit eine Geltung haben sollen in einer demokratischen Öffentlichkeit.

Meisner war – milde gesagt – ein Kirchenfürst, der Weiterlesen ⇘