Katholikentag in Leipzig: „Ich bin normal“. Es gibt (fast) keine „Atheisten“ in den „neuen Bundesländern“.

Von Christian Modehn, zum ersten Mal veröffentlicht am 24. 5. 2016. Auf das Buch “Forcierte Säkularität” wird am Ende des Beitrags hingewiesen (2.6.2016)

Etliche LeserInnen haben gefragt, ob man diesen Beitrag in drei Thesen zusammenfassen kann:

1.”Angesichts der religiösen Gleichgültigkeit derer, die sich (im Osten wie im Westen) in ihrer Lebensphilosophie als `normal` definieren und angesichts der Unkenntnis in Fragen des Christlichen bei den normalen Christen, ist weiterführend: Sich miteinander über die vielfältigen Dimensionen des “normalen Lebens” austauschen und selbstkritische Fragen stellen. Wie man hört, ist es auch auf dem 100. Katholikentag in Leipzig nicht gelungen, Nähe, Freundschaft, Dialog mit den so genannten Nicht-Religiösen zu bewirken. Die Gründe dafür finden Sie weiter unten in dem Beitrag”.

2. “Und im Blick auf die katholische Hierarchie, die sich selbstherrlich immer noch als Meisterin “der” Lehre betrachtet: Sie soll nur dazu ermuntern, dass jeder selbst die Anwesenheit des Göttlichen, des persönlich “absolut Wichtigen” usw. in sich selbst entdeckt und Kirche als Ort des Austauschs darüber erlebt. Die dicken und angestaubten Handbücher der Dogmatik und Moral sollten beiseite gelegt werden. Denn “Glauben ist einfach” mit einem einfachen, für alle nachvollziehbaren Inhalt. Siehe etwa die Gleichnisreden Jesu”.

3. Wenn die Kirchenführer und die mit ihnen verbundenen, also gehorsamen Laien den Dialog mit Nichtglaubenden, Atheisten, “Normalen” wirklich und im Ernst, und nicht als Spiel bzw. Propaganda, wollen: Dann muss das ein Dialog auf Augenhöhe sein, bei dem alle, selbstverständlich auch die Bischöfe und die Laienfunktionäre, etwas lernen von den Gesprächspartnern. Wie diese von den Theologen natürlich auch. Dialog heißt von einander lernen. Wer das nicht will, sollte sich in seiner Gruppe (Sekte?) einschließen und viel Geld sparen und dies den Armen in Afrika geben …und seinem eigenen, geistigen Ende entgegensehen. Leben ist voneinander Lernen…   CM.

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Wer in diesen Tagen spontan unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Alters anspricht, etwa in Leipzig oder in den östlich gelegenen Stadtbezirken Berlins, und sie nach ihrer weltanschaulichen oder religiösen Bindung/Orientierung befragt, erhält oft das stillschweigende und manchmal peinliche „Schulterzucken“ als körperlichen Ausdruck für das „Ich weiß es (selbst) nicht“. Oder er/sie hört die knappe Antwort: „Ich bin normal“. Dieses „Ich bin normal“ als Antwort auf die Frage nach der persönlichen Religion habe ich schon vor 15 Jahren oft gehört, als ich für die ARD Filmaufnahmen zum Thema „Glauben in der EX-DDR“ machte, etwa in Berlin-Lichtenberg, Treptow, Pankow oder Rostock, Leipzig, Dresden…

Ich finde das Bekenntnis „Ich bin normal“ hoch interessant und bedenkenswert. Es ist das Bekenntnis zur bislang wenig erforschten „Religion der Normalen“. Und dies sind natürlich nicht die Christen, nicht die Juden, nicht die Muslime, nicht die Buddhisten: Denn diese Religionen sind kleine Minderheiten in den neuen Bundesländern. Können denn Minderheiten „normal“, also auch „üblich“, gar gewöhnlich sein? Wer dort sagt, „ich bin normal“, fühlt sich ganz selbstverständlich als Mehrheit der angeblich an keine Ideologie Gebundenen. Er schließt also auch die aktive Mitgliedschaft in humanistischen oder freidenkerischen oder atheistischen Gruppen und Verbänden aus. Man will sich also nicht festlegen, weder für Gott noch gegen Gott. Man lebt sein Leben offenbar einfach so dahin, “ganz üblich”, ganz normal, meint man, mit allem Kummer, allem Alltag, allen kleinen und großen Freuden. Es ist deswegen meines Erachtens Unsinn, “die” Menschen in der ehemaligen DDR pauschal “Atheisten” zu nennen. Atheisten sind Menschen, die sich mit der Frage nach einem letzten, tragenden Lebenssinn auseinandergesetzt haben, die gefragt haben, die gezweifelt haben. Und dann eben Nein sagen, Nein sagen zu einer göttlichen Wirklichkeit. Die “Normalen” tun das überhaupt nicht. Sie leben in der als Frage gar nicht auftauchenden Überzeugung: Es lohnt sich nicht, tiefer auf das eigene Leben zu schauen, es lohnt sich nicht grundsätzlicher, vielleicht sogar philosophisch, weiter zu fragen. Auf diese Fragen wird meines Erachtens auch gar nicht ausdrücklich verzichtet, man lehnt diese Fragen ja gar nicht explizit ab: Sie kommen im Alltag einfach nicht vor. Das eben ist normal. Es ist letztlich eine Welt ohne Transzendenz. Es ist ein Leben, das einfach von tiefer Müdigkeit geprägt ist, von einer Abweisung tieferer Neugier. Man ist offenbar satt und zufrieden, obwohl sozial eher auf der unteren Stufe steht oder sich dort fühlt. Darum sagt man sich: Sollen doch die verrückten Minderheiten tiefer fragen, die Gothics oder die Astrologen, die Zeugen Jehovas oder die Christen. Die Mehrheit der Normalen schließt sich in sich selbst ein.

Also heißt das Motto: “Bleiben wir in der Welt”. Das Wort Immanenz (anstelle von “Welt”) wird vermieden. Denn es ist nur in dialektischer Abhängigkeit von Transzendenz sinnvoll zu verwenden. Man bleibt als Normaler sozusagen in der flachen Ebene des Vertrauten und Gewöhnlichen. Bloß nichts Spinöses, bloß nichts Religiöses, das reimt sich. Man interessiert sich dafür nicht, aus purer gepflegter Unkenntnis, aus Müdigkeit: “Der Alltag ist schwierig genug”. Der Himmel ist darum auch kein tiefgründiges Symbol, sondern eben nur die riesige, oft blau erscheinende Wölbung über uns, wo die Wolken so hübsch dahin ziehen usw. Und wenn Tote zu beklagen sind, tröstet man sich mit der umgebenden Pflanzenwelt, der Natur, die blüht, verwelkt und eben auch vergeht: „So geht es uns eben auch. Basta“. Gott sei Dank, möchte man sagen, wird das eigene Menschenleben nicht am Beispiel der anderen Natur, also der Tierwelt, durchbuchstabiert, da geht es ja bekanntlich, in der Wildnis, fast nur ums Fressen und Gefressenwerden.

Diese knappen Interpretationen des „Ich bin normal“ sind keineswegs zynisch gemeint. Es sind Hinweise auf einen überwältigend mehrheitlichen Lebensstil, der sozusagen in der Welt aufgeht. Und der auch das vitale Interesse hat, möglichst viel von dieser Welt zu Lebzeiten noch (“wann denn sonst?”) “mitzubekommen”.

Diese Haltung (sich mit der Welt zu begnügen) ist ja auch in der tatsächlichen Lebenspraxis normal für sehr viele, die auch Mitglieder der Kirchen sind und sich gläubig oder eben humanistisch/atheistisch nennen. Insofern ist der Wunsch nach einem gewissen Welt-Genuss für alle oder die meisten eben „normal“. Für die oben genannten „Normalen“ ist nur die überirdische, religiöse oder atheistische Lehre nicht normal.

Warum aber lehnen diese mehrheitlich Normalen dann aus Unkenntnis die Religionen, Philosophien, Atheismen ab? Wenn sie diese religiöse Welt einmal von außen betrachten, was ja manchmal vorkommt, erscheint sie den Normalen als aufgesetzt, befremdlich, “gewollt”. Das heißt ja nicht, dass diese Normalen nicht auch gern allerhand Mysteriöses mögen, etwa Science-Fiction oder ähnliche Verzauberungen im Fernsehen und im Computer-Spiel. Und man liebt die Musik, nicht unbedingt die h-moll-Messe, sondern eher die Songs und Lieder, ja auch dies: die deutschen Schlager. Aber das ist nun einmal das entspannende Tralala am Abend beim Glas Bier. Das ist die schlichte, die normale Lebenswelt. „Ich bin normal“ – diesem Bekenntnis ist – nun doch bewertend – eine gewisse Biederkeit, “Kleinbürgerlichkeit” nicht abzusprechen. Zu dieser Mehrheit der Menschen gehören in den neuen Bundesländern etwa um die 75 Prozent (15 Prozent der Menschen dort sollen evangelisch sein, 5 Prozent katholisch). Damit ist nicht gesagt, dass es viele Nicht-Religiöse gibt, die durchaus Interesse an Formen der etablierter erscheinenden “Hoch-Kultur” haben, also Oper, Konzert, Theater usw. Aber der “Osten” Deutschlands, sicher auch bald der “Westen”  ist religiös äußerst verstummt, verschwiegen, nicht anspruchsvoll, nicht metaphysisch interessiert. Nur eben politisch oft ausrastend, weil man die Selbst-Reflexion, die Selbstkritik ja nicht so mag. Als Normaler hat man das ja auch nicht nötig, glaubt man. Gefährlich werden etliche “Normale” im Hass gegen jene, die nicht so sind, wie man selber ist, also die Fremden, die Flüchtlinge. Darin zeigt sich die Begrenztheit des Normalen als eine schandhafte Borniertheit. Die Normalen sind also nicht so normal, wenn denn zum Menschsein immer (!) elementar Respekt, Nicht-Totschlagen, Nicht die Häuser der Armen/Flüchtlinge anzünden, Nicht-Pöbeln und Diffamieren usw. usw. gehört. Die guten Normalen (die all das nicht tun in ihrem biederen Alltag) befinden sich also auch in schlechter Gesellschaft der gewalttätigen Leute, die sich normal (“Deutsch”, “Nationalist”) verstehen.

Aber täuschen wir uns nicht: Hinsichtlich der möglichst genießenden, möglichst immer lustvollen Lebensgestaltung, sind sich „Normale“ wie auch kirchliche Gebundene Menschen sicher einig, und dies gilt auch für etliche Christen in „Westdeutschland“. Es gibt also doch eine gemeinsame Basis sehr vieler, die hier in Deutschland leben, egal ob im Osten oder im Westen, egal ob sie eine Transzendenz, einen Gott, für wichtig halten oder nicht. Es ist dann doch das allgemeine Aufgehen im Alltag, mit gelegentlichen Unterbrechungen, die man Event, Fest usw. nennt, also Urlaub, Wochenende, Sport,  Schlagerfestival. Und vor allem Fußball, dies ist der absolute Gott, dem man alles opfert: Zeit, Geld, intellektuelle (Gedächtnis) Anstrengung (“wer hat von Bayern München im Jahr 2012 Tore geschossen?”) usw. Mögen die obersten Fußball Manager noch so korrupt sein, am Gott Fußball wird festgehalten. Wenn in den Kirchen Korruption frei gelegt wird, bekommen diese normalen Herrschaften -zurecht- Tobsuchtsanfälle. Bei korrupten Fußball-Millionäre (Managern) nicht so sehr; dem Fußball bleibt man treu. Sonst hat man ja nichts. Fußball bietet offenbar mehr als der religiöse Gott. Meint man. Das Fernsehen (auch ARD und ZDF) fördert heute diesen Fußball-Gott maßlos, zum Schaden des öffentlichen Bildungsauftrags der beiden Sender, aber das nur nebenbei.

Sind eigentlich also die meisten Menschen „normal“ im beschriebenen Profil? Das scheint mir so zu sein. Denn die metaphysischen Aufschwünge, die glühenden Glaubensgespräche, sind auch unter Christen eher selten. Man geht vielleicht noch zur Messe, hört etwas vom armen Jesus von Nazareth, “all das war ja früher so” und ist danach wieder “normal”. Wie sollte man auch die Bergpredigt heute leben können, leben wollen? Selbst diese Frage wird kaum gestellt. Selbstverständlich gibt es viele solidarische Christen, solidarisch mit Armen, Flüchtlingen, aber es ist die Minderheit.

Der Unterschied ist: Viele westliche christliche Normale (oder eben die wenigen Christen im Osten) sind zwar auch die das Leben-normal-Genießenden;  aber sie haben oft noch einen spirituellen (man könnte auch sagen ideologischen) Überbau, den sie noch etwas fragmentarisch kennen: Etwa die Grundlehren des Christentums, das Vater Unser, das klassische Glaubensbekenntnis. Aber selbst dieses ganz elementare ideologische Gerüst der Christlich-Normalen gerät bekanntermaßen immer mehr ins Wanken. Fragen Sie mal einen katholischen Rheinländer, was Fronleichnam bedeutet. Oder einen Protestanten in Hamburg, “wer” denn zur Trinität gehört. Sonst eigentlich gebildete Menschen meinen im Ernst, mit ihrem Wissen in religiösen und theologischen Fragen auf infantilem Kinderniveau bleiben zu dürfen. Und sie schämen sich dafür nicht einmal. Und verbreiten ihre Weisheiten leidenschaftlich -dumm in Diskussionen: “Gott ist doch bärtig”…

Damit will ich sagen: Diese religiösen Lehren, die noch bei den “christlich Normalen” vorhanden sind, haben tatsächlich schon etwas Künstliches. Denn diese Lehren sind aufgesetzt und angelernt und deswegen eben schnell wieder vergessen. Sie haben die Seele und den Geist nicht in Bewegung gebracht. Im Blick auf den Tod sagen viele christliche Normale oft dieselben Sprüche wie die weltlich Normalen: „So geht es halt in der Natur“. Von der Freude, gemäß der einst gelernten Auferstehungs-Lehre, dann bei Gott zu sein, habe ich in letzter Zeit wenig gehört.

Der einzige Unterschied noch zwischen christlichen Normalen und weltlichen Normalen ist: Die christlichen Normalen haben oft noch einen Bezug zu einer größeren und großen Gruppe, Gemeinde genannt. Das ist von größter Bedeutung für die Kommunikation gerade in der Anonymität der Städte. Aber die katholische Kirche in Deutschland (und ganz Europa) unternimmt alles, diese Kommunikation in einer wunderbar bunt zusammengewürfelten Gemeinde stark einzuschränken, indem die Gemeinden zu administrativen Großräumen „zusammengelegt“ werden. Denn die Priester (die wenigen, die bald kaum noch vorhanden sind, also de facto “aussterben”, das sagen Religionssoziologen) sind für die Hierarchie wichtiger, als die Orte der Kommunikation zu pflegen: Nur ein Priester darf Gemeinden leiten, und seien es 10 Gemeinden gleichzeitig. Ein Skandal ist diese “Herrschafts-Theologie” auch für alle, die an sozialer Kommunikation interessiert sind.

So wird also, soziologisch betrachtet, ganz Deutschland allmählich „normal“, sehr weltlich, sehr “flach”, nicht “metaphysisch”. Und das heißt: Die Traditionen der überlieferten Transzendenz von einst verschwinden. Und sie sind oft schon verschwunden. Und darin sind die Kirchen selbst schuld: Sie halten in blinder Sturheit an den Jahrhunderte alten Formeln und Floskeln der alten Transzendenz-Deutung in Gebet, Theologie und Gottesdienst auch heute fest. Man stelle sich vor: Die Sprache der römischen Messe, bis heute weltweit zwanghaft von Rom vorgeschrieben, stammt aus dem 11. Jahrhundert in Rom: Das offizielle Glaubensbekenntnis kommt aus dem 4. Jahrhundert und wird immer noch so gesprochen wie zu Zeiten des heiligen Augustinus. Einige Prälaten sind sogar noch stolz darauf auf diese musealen Begriffe. Man muss schon Neoplatoniker werden, um diese mysteriösen Worte ohne lange Bedenkzeit zu verstehen, etwa: „Gezeugt, nicht geschaffen“ sei der Logos…Die übliche religiöse Lehre ist keine Auslegung unseres Lebens mehr. Deswegen ist sie so langweilig, so irrelevant.

Hinzu kommt bei den nicht religiösen wie christlichen Normalen eben auch die Abwehr der Institution Kirche, darüber sind tausendfach kluge Bücher geschrieben, Reformvorschläge unterbreitet worden: Nichts hat sich geändert.

Nicht nur eine neue Sprache ist wichtig, sondern vor allem eine neue,  inhaltlich neue Theologie! Das heißt: Die Kirchen sollten endlich vieles beiseitelassen. Sollten sich endlich von unverständlichen Traditionen befreien. Und der Mut ist wichtig, der Mut zum experimentellen, neuen poetischen Sprechen in der Gottesrede. Die katholischen Theologieprofessoren, bestens bezahlt als Beamte, erstarren heute vor Angst, die Inhalte des Christlichen neu und sebstverständlich auch anders zu sagen. Aber sie haben Angst vor der Hierarchie. Sie repetieren und paraphrasieren weitgehend den alten Formelkram und betreiben kaum interdiszipliär Theologie als immer neue Rede von Gott. Und das erzeugt dann eben die desinteressierte Normalität derer, die von Transzendenz nichts mehr wissen wollen.

Die beiden großen Kirchen, Protestanten und Katholiken, haben sich noch nicht versöhnt und als gleichberechtigt anerkannt. Sonst würde man ja etwa beim Katholikentag in Leipzig (4 Prozent Katholiken dort, also 26.000 Katholiken, oft aus dem Westen zugezogen) den vernünftigen Vorschlag einer neuen Ökumene hören: Lasst uns, Protestanten und Katholiken, von nun an und ab sofort (worauf warten wir eigentlich?) möglichst alles gemeinsam machen. Also: Besuchen wir sonntags wechselseitig unsere Gottesdienste, pflegen wir den Kanzeltausch, laden wir einander ständig zum gemeinsamen Abendmahl, der Kommunion, ein. Lassen wir den Schrott (das sind bekanntlich unbrauchbar gewordene, verfallene Gegenstände) der Traditionen beiseite.

Es könnte sein, dass sich dann die nichtreligiösen Normalen (in Leipzig z.B. fast alle, nämlich 480.000 der Einwohner) wundern und staunen, dass dieser alte Kirchenclub doch noch etwas Vitalität und Mut hat. Gerade im (bevorstehenden) Reformationsgedenken. Vielleicht würden diese “normalen” Kreise ihre von Fragen befreite Müdigkeit überwinden.

Und alle Normalen, ob religiös oder nicht, könnten sich sagen: Wenn wir schon diesen Titel „normal“ gemeinsam als Basis der Menschen beanspruchen, dann wollen wir uns eben, normalerweise, gemeinsam für die Menschenrechte einsetzen, für die Flüchtlinge, die Fremden, die Armen und gegen die dummen Sprüche der so harmlos genannten Populisten und ihrer Parteien argumentieren und kämpfen. Lasst uns also gemeinsam Menschen werden. Eben endlich wahrhaft Normale, könnte man ja sagen.

Monika Wohlrab-Sahr, Prof. für Soziologie an der Universität Leipzig, hat mit anderen Soziologen 2009 das hoch interessante, leider kaum beachtete Buch “Forcierte Säkularität” veröffentlicht (Campus Verlag). Darin werden ausführliche Interviews mit Menschen in den neuen Bundesländern dokumentiert und auch bewertet. Interessant ist, dass zum Schluß des Buches von “eigenen Transzendenzen” der Menschen in dem Gebiet der ehemaligen DDR gesprochen wird. Die Säkularität ist also soziologisch gesehen nicht als total zu bewerten, geht ja auch nicht, philosophisch gesehen. In dem Buch werden explizit “mittlere Transzendenzen”, also  “Gemeinschaft und Ehrlichkeit, aber auch “Arbeit als idealisierter Bezug” (S. 351) genannt. Ausdrücklich wird von Bezogenheit auf Werte gesprochen, aber auch von der Schwierigkeit, emotional und intellektuell die seit 1989 neue ökonomische (!) und politische Situation zu verarbeiten. Warum haben die Kirchen im Osten Deutschlands also so wenig Anklang gefunden, trotz der demokratischen Leistungen in der Wendezeit? “Die Kirchen des Ostens leiden unseres Erachtens an dem Gestaltwandel, den sie im Zuge der Einbindung in die kirchlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland mit einer gewissen Zwangsläufigkeit durchgemacht haben. Die Kirchen im Osten bekommen zu spüren, dass dieser Prozess von vielen ehemals Aktiven als Abkehr von einer kirchlichen Gemeinschaft (!) hinzu einer Organisation (!) erfahren wird, von der sich die an gemeinschaftliche Strukturen Gewöhnten entfremdet fühlen … In gewisser Weise sind die Kirchen die Leidtragenden einer gesellschaftlichen Transformation, zu der sie als Kirchen selbst beigetragen haben” (S. 352). Darüber sollte man sprechen und sich deutlich fragen, ob Kirche als Gemeinschaft, selbstverständlich als offene, undogmatische Gemeinschaft, und nicht moralisierende, sondern solidarische, wie in den Jahren der Wende, wiederzugewinnen ist. Und ob nicht im Westen seit Jahren bereits diese Gemeinschaftserfahrung von der Hierarchie selbst bereits gestört und zerstört wird (siehe “Gemeindezuzsammenlegungen” etc.)

Einige Zitate aus einem Interview mit Prof. Monika Wohlrab-Sahr, das ich im März 2010 mit ihr in Leipzig führte, die Aussagen sind immer nich treffend:

1.”In einem Teil dieser Gespräche haben wir eine Frage gestellt an die Familien, was glauben Sie, kommt nach dem Tod. Und in diesem Zusammenhang fällt eben diese Äußerung: Ich würde mir das offen lassen. Das ist gewissermaßen so eine Zwischenstellung zwischen einer klar entweder atheistischen oder christlichen Positionierung und in der Mitte eben diese Haltung: ich lass mir das offen. Man sagt klar nicht mehr dezidiert: Da kommt gar nichts. Also man ist nicht mehr klar atheistisch positioniert. Eine Tür steht offen im Hinblick auf das, was da vielleicht kommen könnte. Aber es deutlich eine Grenze da gegenüber einer klar inhaltlichen Füllung”.

2. “Es gibt aber natürlich auch Umfrageergebnisse, die sich auf 19 bis 29 beziehen. Da ist deutlich, dass sich eine spirituelle Öffnung andeutet. Oder eine Öffnung gegenüber religiösen Denkräumen. Das zeigt sich auf statistischer Ebene insbesondere daran, dass diese Altersgruppen wieder stärker von sich sagen, dass sie an ein Leben nach dem Tod glauben. Also die Zahlen sind stark angestiegen. Und interessant ist, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod oder der Glaube dass da was könnte, um es mal vorsichtig auszudrücken, nicht unbedingt was zu tun hat mit christlicher Orientierung oder hinduistischer Orientierung, also mit einer inhaltlichen rel. Orientierung! Sondern eher einen Denkhorizont aufstößt”.

3. “Dieses Spekulieren über das Leben hat etwas mit Transzendenz zu tun. Das Leben ist nicht begrenzt auf das, was hier und jetzt erfahrbar ist. Ob da was Göttliches mitspielt, da wäre ich vorsichtig. Ich hab den Eindruck, dass eher gedacht wird in Vorstellungen, es gibt vielleicht eine höhere Macht, aber dass diese höhere Macht doch in der Abstraktion belassen wird und nicht personlaisiert im Sinne einer christlichen Gottesvorstellung etwa gedacht wird”.

4. “Die SED hat es doch geschafft, einen Gegensatz zu erzeugen zwischen Religion und Wissenschaft insbesondere, den man bis in die Gegenwart spürt. Das man sehr viel stärker, glaube ich, als es im Westen der Fall ist, hier auf ein Selbstverständnis stößt der ostdeutschen Bevölkerung: Wer ein klar denkender, rationaler Mensch ist, dass der eigentlich mit Religion nichts zu tun haben kann, in den mittleren und älteren Generationen fühlt man das nach wie vor sehr stark”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Humanistin predigt in protestantischem Gottesdienst in Amsterdam

Ein Hinweis und ein Impuls von Christian Modehn

Am Sonntag, den 29. Mai 2016, predigt die neue Direktorin des Humanistischen Verbandes der Niederlande, Christa Compas, im Sonntagsgottesdienst der protestantischen Gemeinde der Remonstranten in Amsterdam, die Kirche heißt “de Vriburg”. “Gebt mir Brot und auch Rosen” ist das Thema. Christa Compas ist Politologin und in vielfältiger Weise auch für die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft aktiv. Der “Humanistische Verband Hollands” ist eine bekannte Organisation, in der sich agnostische und atheistische Menschen zusammenfinden; sie haben z.B. eine eigene Universität in Utrecht. Uns freut es sehr, dass die Remonstranten eine prominente Humanistin zur Predigt im Sonntagsgottesdienst einladen. Und fragen uns natürlich, ob solches in Deutschland, etwa in Zusammenarbeit mit dem Humanistischen Verband Deutschlands (HVD), möglich wäre. Vonseiten des HVD bestimmt… Übrigens: Eine führende Mitarbeit des theologischen Instituts der Remonstranten in Amsterdam, Christa Anbeek, war als Theologin auch Dozentin an der genannten humanistischen Universität in Utrecht. Sicher kommen sich auf diese Weise, durch gemeinsame christlich-humanistische Veranstaltungen, Glaubende und Skeptiker (Agnostiker, Atheisten…) näher und entdecken: Was uns verbindet ist größer als das,was uns trennt: Uns verbindet die Sorge um die Menschen, etwa, dass sie alle  “Brot und Rosen” haben und diese teilen und sich daran erfreuen, um den Titel der Predigt von Christa Compas in der Amsterdamer Kirche noch einmal aufzugreifen.

Ich möchte hoffen, dass der universale humanistische Geist (der ja nie ein explizit antireligiöser und atheistischer war und ist) allmählich als gemeinsame menschliche Basis wieder entdeckt und gepflegt wird. Die entscheidende Erkenntnis: Zuerst kommt der allen gemeinsame Humanismus. Und erst dann die speziellere Interpretation des Menschen, die religiöse oder eher agnostische.  Aber dies ist die zweite Ebene! Und sie sollte auch als solche (eben nicht so dringende Dimension) gelebt und gelehrt werden, gerade jetzt.

Weitere Informationen zur Predigt von Christa Compas und der protestantischen Kirche de Vrijburg in Amsterdam finden Sie hier.

Christian Modehn, religionsphilosophischer salon berlin

Pfingsten: Wie der Geist, der heilige, zu politischer Kritik führt. Eine philosophische Predigt.

Wie der heilige Geist heute zu politischer Kritik ermuntert

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht zu Pfingsten 2016! Zugleich die Skizze einer philosophischen Predigt.

1.

Muss man daran erinnern, dass Pfingsten das Fest des Geistes ist? Muss man daran erinnern, dass der Geist (nennen wir ihn philosophisch auch kritische Vernunft) als etwas Heiliges zu gelten hat, als eine Kraft, die absolut und unbedingt hoch zu schätzen, zu pflegen und zu entwickeln ist? Die Kraft, die den Menschen als Menschen auszeichnet bzw. auszeichnen sollte?

2.

Wenn die Menschen sich am Pfingstfest auf den Geist besinnen, auf ihren Geist und den, den sie mit allen Menschen  gemeinsam haben und teilen, dann liegt darin immer auch eine politische Dynamik. Christen, denen der Geist ja traditionell heilig, sogar göttlich ist, bleiben unter ihrem theologischen und religionsphilosophischen Niveau, wenn sie Pfingsten nur “inner-religiös”, nur als seelische Bereicherung ihrer hoffentlich schönen Seele begreifen.

3.

Der Geist der Kritik verweist heute selbst auf Themen, an denen wir uns geistvoll abarbeiten sollten, er zeigt die drängenden Aufgaben nämlich in den aktuellen Kontrast-Erfahrungen: Das heißt: In den Erlebnissen und Erkenntnissen so vieler, die ihr Wissen aussprechen oder noch schamhaft für sich behalten: Unsere Welt im ganzen, auch unsere Gesellschaft hier, wird nicht nur eine grundlegend andere; sie sollte auch als eine gerechtere, bessere, gestaltet werden. Den Kontrast zum Bestehenden gilt es im kritischen Denken zunächst auszuhalten und dann zu überwinden. Wir stehen an einer Wende. Sie ist in ihrer globalen Dimension nur mit dem Fall der Mauer 1989 vergleichbar. Diese Wende wird als Abschied von einer alten, selbstverständlichen Ordnung bzw. wohl eher Unordnung erfahren, in der wir hier in Europa und Nordamerika meinten, mit unseren Konzepten, auch ökonomischen Konzepten, die Welt beherrschen zu können. Kontrasterfahrungen also heißen: Nein sagen zur bestehenden ungerechten Gestalt dieser Welt; dieses Nein ist keine theoretische Konstruktion, es wird immer schon von uns erlebt, oft ausgesprochen, selten aber in den berühmten kleinen oder größeren Schritten von Reform und Revolte praktisch gestaltet. Dieses Nein ist eine Leistung unseres Geistes, der uns als Grenzen überwindende Dynamik immer schon über das jeweils Bestehende hinausführt. Diese im Neinsagen  in Umrissen sichtbare neue Welt ist eine Leistung des Geistes. Und sie sollte in Gruppen und Gemeinden besprochen werden.

4.

Darum ist in christlicher Tradition Geisterfahrung und Ernstnehmen des Geistes immer an Gruppen und Gemeinden gebunden. In der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels ist der Geist, der heilige, ohne Gemeinde gar nicht denkbar. Der Verlust von Gemeinde-Erfahrungen als menschlicher, geistvoller Gemeinschaften, natürlich in Freiheit, ist eine Art Katastrophe für eine lebendige und soziale Geist-Erfahrung. Wenn Kirchenleitungen aufgrund rigider Gesetze diese Gemeinden heute in Deutschland und anderswo reduzieren (etwa wegen des Fehlens von zölibatären Priestern im römischen Katholizismus), dann verhindern diese Kirchenleitungen selbst geistvolle Erfahrungen, sie verhindern den Aufbau einer gerechteren Welt. Und die Grundidee von Pfingsten ist: Gottes Geist ist in allen Menschen, deswegen sind alle Menschen von unendlichem Wert: Dafür muss politisch gekämpft werden! Etwa: Dass der finanzielle Abstand zwischen Reichen und Armen nicht immer größer wird. Auch in Deutschland.

5.

Jetzt wird wohl alles grundlegend anders: Die Armen im Süden dulden nicht noch länger das Elend. Die menschenwürdigen Verhältnisse sind   dadurch bewirkt, dass die westliche Ökonomie und Politik ständig so genannte Politiker, meist Diktatoren in Afrika und Lateinamerika und im Mittleren Osten, hätschelt und pflegt. Und den dort lebenden Menschen keine Demokratie “gegönnt” wird. Die armen Bootsflüchtlinge aus Afrika können – überlebend angekommen – ökonomisch im Westen ausgeplündert werden, man braucht sie hier, in Kneipen und anderswo als Putzhilfen, auch wenn man nach außen so tut, als wolle man sie eher abweisen. Wenn jetzt Flüchtlinge nach Europa kommen, und es werden viele kommen, wenn man nicht mit europäischen Waffen auf diese Flüchtlinge schießt, was Frau von Storch (AFD) unsäglicherweise für denkbar hält, dann wird diese unsere Welt eine andere: “Das Elend der Welt”, kommt zu uns und wird hier bleiben. Und damit kommt zu uns “die Welt des Elends”, die Europa seit der Kolonialzeit in modernen ausbeuterischen Verhältnissen geschaffen hat, vor unsere Haustür. Aber der längst politisch etablierte Egoismus der Reichen (auch durch sich christlich nennende Parteien) wehrt mit aller Kraft die Armen ab, im eigenen Land, wie die Flüchtlinge aus der Ferne.

6.

Und damit die kritische Frage: Was haben wir aus dieser Welt gemacht, in der 1 Prozent der Bevölkerung etwa 60 Prozent aller so genannter „Vermögens-Werte“ besitzen? Wie viel Ungerechtigkeit haben wir über all die Jahrzehnte zugelassen, bloß weil sie uns „im Westen“ nützte und den heiligen Profit brachte? Wie sehr haben wir uns aus der Affäre gezogen, indem wir von Barmherzigkeit und milder Güte sprachen, die ja nicht mehr sind als: nette Opfergroschen für die Elenden. Opfergroschen verändern nicht ungerechte Strukturen. Aber das wurde und wird uns hier eingeredet. Darum ist, nebenbei gesagt, die Propaganda-Rede von Papst Franziskus zugunsten der Barmherzigkeit recht nett, strukturell aber wirkungslos…Soll der barmherzige Papst doch die Milliarden, die in den Vatikan-Banken ruhen und die Milliarden aus dem römischen Immobilienbesitz einmal den Armen zugute kommen lassen, ehe er von Barmherzigkeit so nett schwadroniert.

7.

Was sagt der kritische Geist in dieser Situation: Nimm diese neue Lage der Präsenz der Flüchtlinge an. Und heiße sie willkommen, das verlangt die Menschlichkeit. Diese Situation ist endlich einmal anzuerkennen, und: Sie ist friedlich und endlich einmal human zu gestalten, wenn es denn noch geht.

Was sagt der kritische Geist zu Pfingsten 2016 noch? Es gibt keine (linke oder sozialdemokratische) Partei, die dieser Situation gewachsen ist, keine Partei, die diesen grundstürzenden Wandel tatsächlich den Bürgern erklären kann oder auch erklären will. Die Politiker, sofern sie etwas verstehen, haben Angst, „dem Volk“ die Wahrheit zu sagen,nämlich: Wir müssen eine andere Gesellschaft hier aufbauen oder wir gehen im Wachstumswahn unter.

Die meisten Einwohner im alten Westen wollen, im verkalkten und bekanntlich tödlichen nationalstaatlichen Denken immer mehr befangen, weiter machen, wie bisher;  sie wollen die nationalen Grenzen verriegeln und Schlimmeres tun. Und die Mehrheit der dumm gehaltenen Bürger spendet Beifall. Angesichts der globalen Veränderung herrscht Angst oder „Weitermachen wie bisher“. Werden wir Populisten und äußerst Rechtslastige noch mit Argumenten von ihrem Irrtum befreit werden können? Leben wir überhaupt noch in einer Gesprächskultur, die für mentale Korrekturen Raum lässt?

Was hilft vielleicht? Natürlich der kritische und der selbstkritische Geist, der auch zum Austausch unter den Menschen führt, die diese globale Analyse teilen und nach neuer Orientierung suchen.

8.

Christliche Gemeinden und philosophische Clubs, Salons, sollten zu „Schools of life“ werden: Dieser wunderbare Titel ist zwar schon vergeben. Aber die Sache kann doch auch grenzenübergreifend gelebt werden: In diesen „schools of life“ wird eben zuerst vom Leben gesprochen, auch dem politischen, auch dem sozialen, da werden gemeinsam Auswege gesucht, da wird Neues erprobt. Das heißt etwa bezogen auf die Kirchen: Die ewige Form des immer gleichen Gottesdienstes, mit der ewig gleichen Form des Ritus, der uralten Formeln und Floskeln, diese Einfallslosigkeit im Umgang mit dem göttlichen Geist, zeigt ihre Wirkung: Fast niemanden interessiert das. Aber die Kirchen machen unbeirrt und wie erstarrt weiter wie bisher… Gibt es noch Hoffnung für die dogmatisch fixierten Kirchen in Europa? Können sie lebendig werden, und in der Mitte ihrer Veranstaltungen, d.h. im Gottesdienst, politisch werden, d.h. lebendig auf die Gegenwart antworten? Können Sie Gottesdienst als Menschendienst verstehen und leben? Ich glaube manchmal: eher nicht, es ist zu spät. Da bleibt nur die religiöse Poesie, die da ureinst in dem schönen poetisch-religiösen Text “Veni creator spiritus” formulierte: “Komm heiliger Geist…” Ob Philosophen auch die religiöse Poesie als Form ihrer Refelxionen wiederentdecken? Das wäre auch ein (selbstverständlich überkonfessionell-vernüftiges) Ereignis des Geistes.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

Theologie der Befreiung: Neue Erkenntnisse zur Option für die Armen, zur Rolle des Hilfswerkes ADVENIAT usw. .

Neues zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung

Hinweise von Christian Modehn am 9.5.2016 anlässlich eines Buches von Kardinal Aloisio Lorscheider, Brasilien.

Theologen und Bischöfe, vor allem aus der katholischen Kirche, neigen bekanntermaßen dazu, ehrlich und ungeschützt erst dann bestimmte Wahrheiten auszusprechen, wenn sie pensioniert sind und im Ruhestand leben, zurückgezogen von allen offiziellen Ämtern. Also außerhalb der Schusslinie der römischen Glaubenskongregation leben…

Kardinal Aloisio Lorscheider aus dem Franziskaner-Orden hatte höchste amtliche Funktionen inne: Er nahm am 2. Vatikanischen Konzil teil, war Generalsekretär und Vorsitzender der bedeutenden brasilianischen Bischofskonferenz (bis 1978) und Vorsitzender der gesamt-lateinamerikanischen Bischofskonferenz CELAM von 1976 bis 1979; er führte 1979 den Vorsitz der Generalversammlung in Puebla, Mexiko, und nahm auch an der späteren CELAM- Konferenz in Santo Domingo teil. Er war Theologiedozent in Rom, seit 1973 Erzbischof von Fortaleza, danach in Aparecida. 2004 wurde sein altersbedingter Rücktritt vom Papst angenommen. Er ist sozusagen ein Top-Kenner der kirchlichen Verhältnisse in Lateinamerika. Er ist schon und gerade als Bischof immer ein Freund der Befreiungstheologie gewesen, er lobte und unterstützte die Basisgemeinden. Einen solchen aufrechten, immer selbstkritischen, bescheiden lebenden lateinamerikanischen Bischof findet man nicht so oft…

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 (geboren wurde Aloisio Lorscheider 1924 in Südbrasilien) gab der pensionierte Erzbischof noch 2006 ein längeres Interview für eine Gruppe von Christen in Fortaleza. Dieses wichtige theologische Zeugnis ist jetzt, 9 Jahre nach der brasilianischen Veröffentlichung, auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Lasst euer Licht leuchten“. Der Untertitel ist schon treffender bzw. provozierender und weniger lyrisch: „Rückblicke in die Zukunft der Kirche“. Erschienen in der edition ITP-Kompasse, Münster. Das Buch hat 184 Seiten, es wurde von Conrad Berning übersetzt. Es enthält auch wichtige kurze Stellungnahmen kompetenter Befreiungstheologen und Freunde des Kardinals.

Das Interview selbst ist in meiner Sicht sehr inspirierend, weiterführend, weil da von einem Insider in aller Deutlichkeit druchaus neue Fakten zur Theologie der Befreiung genannt werden, die sicher das weitere Interpretieren dieser nach wie vor lebendigen Theologie (obwohl von Rom oft genug kaputt geredet) bestimmen sollte.

Ich nenne in aller Kürze nur einige Tatsachen, die Kardinal Lorscheider in dem Buch mitteilt:

Zu seinem Umgang mit Basisgemeinden in Fortaleza, Nordostbrasilien: „Ich höre dort einfach nur hin. So gestaltet sich heute der Weg der Kirche. Dieses Miteinander ist uns abhanden gekommen“ (S. 28).

„Bischöfe und Priester müssten sich in der historisch-kritischen Methode der Bibelinterpretation weiterbilden. Dies geschieht in der Tat jedoch nicht“. (S. 42).

Rom will keine Diskussion zum Zölibat:
„Als ich als einer der Präsidenten des CELAM nach Puebla zur Generalversammlung der Bischöfe fuhr, erhielten wir die Order, nicht über den Zölibat zu diskutieren und über die Frage, ob die Theologie mehr spekulativen oder mehr einen praktischen Charakter besäße. Trotzdem sprach Bischof Hypólito aus Nova Iguacu das Problem des Zölibates in Puebla an“ (S. 46).

„Tatsache ist, dass wir 20 Jahrhunderte lang keine Frauen im Priesteramt hatten. Aber auch wenn es das in zwanzig Jahrhunderten nicht gab, ist es kein Grund, dass es heute nicht anders werden könnte“ (S. 49).

Zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla zum Papst 1978: „Die Deutschen (Kardinäle) hatten dabei großen Einfluss. Auch wegen der damaligen Sorge um den Marxismus. Innerhalb Europas galt Karol Wojtyla als eine der Koryphäen im Kampf gegen den Marxismus….Es gab im Konklave eine gewisse fundamentalistische Tendenz. Man wollte Sicherheiten… Der Vorgänger, Papst Paul VI., wurde von einigen als ambivalent gesehen, weil er nicht genau wisse, was er wolle“ (S. 57). Überhaupt müsste man weiter untersuchen, wie die panische Angst des Klerus vor “dem” Sozialismus seit Pius XII. allbestimmend wurde, bis hin zur Rücksichtnahme gegenüber dem Faschismus (als dem angeblich gerungeren Übel). Diese panische Angst vor dem (angeblich atheistischen) Sozialismus bestimmte den Umgang mit Befreiungstheologen, diese Haltung war sicher auch von den Mächtigen in den USA erwünscht, siehe die Beziehungen Reagan-Papst Johannes Paul II. Leider wird das Thema in dem Buch nicht vertieft.

Der Beitrag des belgischen, in Brasilien lebenden Theologen José Comblin unterbricht das Interview mit Lorscheider. Comblin schreibt, dass Kardinal Lorscheider als Celam Chef den reaktionären kolumbianischen Generalsekretär des CELAM Bischof Lopez Trujillo „ertragen“ musste. „Lorscheider allein weiß, wie viele Demütigungen er von Trujillo hinnehmen musste und zu ertragen hatte“ (S. 59). Auch das gehört dazu: Lorscheider spricht in dem Buch davon, dass er seit langer Zeit schon schwer herzkrank ist: „Ich habe vier Bypässe und einen Herzschrittmacher“ (S. 31). Darf man vermuten, dass u.a. der Umgang mit reaktionären Kirchenfürsten wie Lopez Trujillo krank machen kann?

Ich meine: Lopez Trujillo, dem Opus Dei sehr nahe stehend und in etliche nie geklärte Finanzgeschäfte mit dem CIA und den Drogenbossen verwickelt, wurde durch römische Protektion dann sogar Chef des CELAM (1979-1983) und später Chef der obersten päpstlichen Familienbehörde im Vatikan. Dort verbreitete er viel Merkwürdig-Dummes, etwa, dass Kondome Löcher enthielten, deswegen kämen Kondome als Schutz gegen AIDS überhaupt nicht in Frage. Solch ein Mann war Chef des päpstlichen „Familienministeriums…“   Sein schädlicher Einfluss kann kaum überschätzt werden, dazu sollten endlich religionswissenschaftlich-politologische Studien über Herrn Lopez Trujillo verfasst werden, Theologen sind für diese Studien zu befangen und eben kirchen-abhängig….

Zurück zum Interview mit Kardinal Lorscheider: „Wir Bischöfe müssen auch Ankläger ungerechter Strukturen sein, nicht nur Verkünder der frohen Botschaft“ (S. 66).

Besonders wichtig sind die Hinweise Lorscheiders zur viel besprochenen Option für die Armen, die sozusagen ein Motto ist in weiten Kreisen der lateinamerikanischen Kirche: Die Frage wird gestellt: „Sie meinen also, diese Option sei weniger pastoral und evangeliengemäß als vielmehr strategisch-politisch motiviert?“ Die Antwort von Kardinal Lorscheider: „Ja, das glaube ich. Diese Option war mehr strategisch-politisch innerhalb des damaligen politischen Kontextes“ (S. 68). Zuvor weist Lorscheider auf die in kirchlichen Kreisen starke Angst vor dem Kommunismus und dem Marxismus hin. Mit der kirchlichen Option für die Armen wollte die Kirche also Marxismus und Kommunismus schwächen. Dass in den Evangelien die Armen selig gepriesen werden, war den Bischöfen also aus strategischen Gründen erst mal nicht so wichtig.

Interessant sind die Hinweise von Kardinal Lorscheider zum katholischen Hilfswerk ADVENIAT (auf Seite 69).

Es wurde ja immer von Adveniat heftig und polemisch bestritten, dass unter dem damaligen ADVENIAT Chef, Bischof bzw. dann Kardinal Franz Hengsbach aus Essen, (zudem dem Opus Dei nahe stehend, Ehrendoktor der Opus die Uni Navarrra in Pamplona, er erhielt auch einen Preis von Diktator Banzer in Bolivien usw.) eine entschiedene und finanzstarke Institution GEGEN die Befreiungstheologie gearbeitet hat. Also aus Spendengeldern der braven deutschen Katholiken finanziert. P.S.: Ich selbst habe als Journalist, Mitarbeiter im WDR Fernsehen,  die Wut von ADVENIAT Leuten zu spüren bekommen, als ich in einem Bericht dies nachwies (durch ein Interview mit dem damaligen Weihbischof und Opus Dei Mann Karl Josef Romer, Rio de Janeiro). Solche berufsschädigenden Attacken von Adveniat wurden selbstverständlich nie zurückgenommen, niemand hat sich für diese blödsinnige Kritik, durch KNA obendrein treu verbreitet, bei mir entschuldigt…

Nun also sagt einer, der es wissen muss, nämlich Kardinal Lorscheider: „Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von ADVENIAT, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz Adveniats, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte. Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine REGELRECHTE VERSCHWÖRUNGSWELLE, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld…“ Eines der anti-befreiungstheologischen Büchern von Hengsbach trägt den Titel: “Utopie der Befreiung”, Mitherausgeber ist der oben genannte Bischof Lopez Trujillo…

Die 4. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischof 1992 in Santo Domingo nennt Erzbischof Lorscheider – als Teilnehmer dort – „einen Reinfall“, “weil Rom begann, massiv zu dominieren“ (S. 69). „Reinfall“ auch noch einmal auf Seite 71. „Ich habe mich dort (in Santo Domingo) geschämt, ich sehe noch einen Theologen in unserer Gruppe, der wusste gar nichts. So waren auch die anderen, alle waren sehr schwach“ (71).

Was will Rom, d.h. der Vatikan eigentlich in der gesamten Kirche und der Welt erreichen? „Das Hauptinteresse Roms ist immer, die Kirche zu verteidigen“ (S. 70)

Welche Gruppen und Klassen spricht die Kirche heute noch an? „Es gibt viele in der Kirche, die fühlen sich am wohlsten in der High Society. Unsere Kirchgänger sind nicht die Armen“ (s. 72).

Kardinal Ratzinger hat in seinem zähen Kampf gegen die Befreiungstheologie immer den Begriff Heil (umfassend) gegen die Befreiung (nur politisch, wie er meint) ausgespielt. Dagegen betont Kardinal Lorscheider: „Aber wir wollen eine Befreiung, die zugleich Heil bedeutet, d.h. den Blick auf den Körper und die Seele richten. Wir wollen, dass es dem Menschen materiell gut geht und spirituell auch….Gnade zusammen mit menschlicher Leistung“ (S. 76).

Zur Theologie heute insgesamt: „Zur Zeit befinden wir uns theologisch in einem Stillstand. Unsere Theologen sind nicht müde, aber ziemlich verzweifelt und verängstigt“ (S. 78).

Mit einer philosophischen Weisheit sollen diese Hinweise beendet werden. Lorscheider sagt im Blick auf die Kirche und den Vatikan: „Das Sich-Hinterfragen ist eine der Voraussetzungen, um sich entwickeln zu können“ (S. 99).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

“Der Mensch ist ein Grenzgänger”. Hinweise zu einem religionsphilosophischen Salon

Der Mensch ist ein Grenzgänger: Philosophische Hinweise aus aktuellem politischem Anlass

Diese 19 Thesen wurden im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 29.4. 2016 vorgetragen und diskutiert.

Von Christian Modehn.

1. Unser philosophischer Ansatz angesichts der aktuellen Verwirrungen hinsichtlich der Grenzen heute: Wir gehen von einer philosophischen Analyse des Daseins aus, um von dort aus begründet die Wirklichkeit der Grenzen zu verstehen. Jede Person ist immer eine bestimmte, d.h. eine begrenzte. Sie muss sich um sich selbst kümmern, will sie selbst ihr eigenes leben „führen“. Das heißt auch, dass wir uns um unserer selbst willen auch abgrenzen sollen. Wir können uns nicht selbst total ent-grenzen, indem wir uns etwa für unsere Arbeit auflösen, Wir müssen unsere persönliche Eigenart und Einmaligkeit pflegen und schätzen.

2. Jeder einzelne Mensch ist also – vermittelt durch sein Bewusstsein und Selbstbewusstsein – immer ein einzelner, begrenzter. In dieser Einmaligkeit hat er, wie es in der Erklärung der Menschenrechte heißt, eine absolute Würde und einen absoluten Wert. Aber diese Begrenztheit, Bestimmtheit des einzelnen, wächst, wandelt sich im Laufe des Lebens. Diese Wandlung, Reifung, ist nur durch Überschreitung seiner bisherigen Begrenztheiten möglich. Wir sind immer mehr als nur einzelne; wir sind keine Inseln, so sehr wir uns auch „abkapseln“, „ein-igeln“: Wir teilen immer gemeinsame Sprachen, leben im Mitsein mit anderen in der einen Welt: Also Kommunikation, Lernen, Verwerfen bisheriger Überzeugungen ist die ständige Grenzüberschreitung geistvollen Lebens. Wir sind immer schon, sofern wir leben, Grenzgänger im Sinne von „Grenzen Überwinder“. Und stehen so von vornherein vor der Aufgabe der Pflege des eigenen, nun einmal begrenzten Wesens und der GLEICHZEITIGEN Offenheit für die ständige Grenzenüberwindung. Die Reflexion auf unser Bewusstsein zeigt: Wir sind immer schon ins Grenzenlose des Bewusstseins verwiesen. D.h.: Der Mensch ist in seinem Geist immer schon „offene Grenze“, „offene Begrenztheit“. Wir sind mit der Grenzen sprengenden Weite des Bewusstseins konfrontiert, wenn wir wahrnehmen, dass wir VOR aller Reflexion auf uns selbst, also noch vor dem Wissen und dem Selbstbewusstsein, bereits und immer schon auf eine weite „Ebene“ des Bewusstseins als einer ständig fließenden Gefühlswahrnehmung verwiesen sind. Diese immer anwesende weite Ebene des Bewusstseins noch vor aller Reflexivität ist für uns immer vorgegeben, nicht machbar, „ungreifbar“ und nicht zu umgreifen. „Ich weiß mit unerschütterlicher Gewissheit, dass ich bin, und dies kraft meiner Selbstvertrautheit. Aber weder weiß ich mit ebensolcher Gewissheit, woraus und woher ich bin, noch weiß ich, wozu und woraufhin ich bin“. So Saskia Wendel in ihrem Buch „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie“, Reclam, S. 36, darin folgt sie den Einsichten des große Philosophen Dieter Henrich. Das heißt, im wachen Selbstwahrnehmen und der elementaren Selbstvertrautheit bin ich über mein kleines Ego, auch über mein im Augenblick aufblitzendes Selbstbewusstsein bezogen auf eine offene Dimension, die größer ist als ich und mein Ego. Ich bin sozusagen verwiesen in einen ganz anderen, einen gründenden Grund. Mit den Worten von Dieter Henrich: „Ich bin in meiner eigenen Beschränktheit also Begrenztheit verwiesen auf mein Bewusstsein, aus etwas begründet zu sein, dem eine ganz andere Verfassung (anders als meine Begrenzheit CM) zuzuschreiben ist“. Ludwig Wittgenstein wird in seinem späteren Werk zeigen, dass die Tendenz der Naturwissenschaften, uns in ihre enge wissenschaftliche und „beweisbare“ Welt einzuschließen, falsch ist, sie führt geradewegs in ein „Gefängnis“. “Der tiefe Denker bringt uns zu der Erkenntnis, dass es etwas gibt, was nicht gesagt werden kann“, so Wittgensteins Freund Drury über Wittgenstein. Das wahre Wesen kann nicht (definierend) gesagt werden, aber es zeigt sich. Das heißt: Im geistigen Erkennen werden immer schon Grenzen gezogen, um sie zu überwinden. (zu Wittgenstein, siehe Friedo Rocken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, S. 34 ff.)

3.Entscheidend ist: Das menschliche, geistvolle Leben ist ständige Suche nach der Balance im Umgang mit Grenzen.

Erst in der Auseinandersetzung mit meiner Grenze (über die ich immer schon hinaus – lebe und hinaus – schaue) wächst ein immer wieder neues lebendiges, strukturiertes Ich. Auch das Sich Abgrenzen geschieht nur um der Lebendigkeit des eigenen Daseins willen. Im Dasein geschehen ständig Grenzverschiebungen des eigenen Selbstverständnisses.

4. Geistige (und politische) Erstarrung tritt ein, wenn ein Mensch sich definitiv in bestimmte Grenzen, die er etwa in der Jugend festgelegt hat, für die ganze Lebenszeit einschließt. Da werden die anderen zu Fremden und Feinden. Darüber später mehr im Zusammenhang des Nationalismus.

5. Sich selber bestimmen und sich abgrenzen ist ein ständiger Prozess des gleichzeitigen Sich-Öffnens und damit alte Grenzen Überwindens. Das verlangt Unterscheiden lernen. Und diese Unterscheidung wird geleistet, indem ich nur bestimmte neue Wirklichkeiten in mein strukturiertes Bewusstsein einlasse, andere eben nicht. (Ich kann mich z.B. begrenzen, indem ich Pop-Musik absolut nicht hören will). Ich muss mich auch mit Grenzen sprengenden, oft unerwarteten Ereignissen auseinandersetzen, darf sie nicht abwehren und aus-grenzen, etwa wenn sie mein bisheriges Dasein in seinen alten Grenzen erschüttern: Etwa das Leiden von Angehörigen, eigene Krankheiten, Rentnersein, Alleinsein usw.

6. Dabei muss vor einem zeitlosen Verständnis von Definition, also Festlegungen des Selbst, Begrenzungen des Selbst, gewarnt werden: Auch in den Naturwissenschaften sind Definitionen immer vorläufige Grenzziehungen; um so mehr im geistigen, philosophischen Zusammenhang: Da hat eine und dieselbe „Sache“ immer mehrere gleichberechtigte „Definitionen“, auch im Laufe der eigenen Lebenszeit: Der Mensch als animal rationale, Da-Sein, Subjekt, Person, „Ebenbild Gottes“ sind alle zeitlich bedingte und deswegen begrenzte „Definitionen“, an die man sich selbstverständlich nicht dogmatisch binden darf. Die jeweiligen Inhalte ändern sich, je nach dem, wie ich meine geistigen Grenzen weite und öffne, auch bezogen auf die Inhalte von Staat, Heimat, Nation, Fremde usw.

7. In der Auseinandersetzung mit der Kunst, der Literatur, der Religion geschieht Erweiterung der je eigener Grenzen. Wer die Schönheit islamischer Kunst wahr – nimmt, ihre Symbole, Farben, ihre Abstraktheit, wird auch sein begrenztes Verstehen „des“ Islam überwinden. Das heisst: Wir überschreiten unsere Grenzen, wenn wir als einzelne Menschen mit unserem nun einmal begrenzten Weltbild ein Kunstwerk eines einzelnen Malers betrachten, der vielleicht vor 500 Jahren lebte, aber ein universal ansprechende Werk geschaffen hat, man denke etwa an Mona Lisa, vielleicht auch Nofretete: Beim Betrachten dieser Kunst geschehen Grenzüberwindungen unseres begrenzten Menschenbildes. Kunst ist immer lokal bezogen und auch global.

8.Wichtig zur Religion: Der einzelne kann heute nicht mehr nur einer und das heißt immer einer begrenzten Religion/Spiritualität „angehören“. Er sollte die eigene jeweils vertraute Religion/Weltanschauung, auch Atheismus, entgrenzen im Dialog. Entgrenzte Religion/Weltanschauung wird „multireligiös“. Wir sind immer schon, oft unbewusst, multi-religiös, indem etwa fromme Christen doch an die Astrologie glauben oder zu Maria beten usw. Heute kommt es auf eine anspruchsvollere multireligiöse Entgrenzung an, etwa durch Übernahme buddhistischer Meditationspraxis.

9.Dialog geschieht ständig, Dialog ist Überwindung meiner bisherigen Grenzen und dies ist mehr als Konfrontation und Dahersagen unterschiedlicher Meinungen, was leider meistens in „Dialog – Konferenzen“ geschieht. Dialog ist vielmehr Öffnung und Lernen und reflektierte, kritische Übernahme (!) des bisher Fremden. Das nennt man „Grenzen überwindendes Wachstum“.

10.Wer nur das begrenzte Ich (im Sinne von unwandelbar, immer dasselbe erleben, sich klammern an seinen Besitz, „Stammtisch-Ideologie“ usw.) fördert, möchte eine Gemeinschaft von vielen Ichs, aber kein vielfältig geprägtes Wir. Die populistischen (oft rechtsextremen) „Kameradschaften“ sind nur EGO – Ansammlungen zur Verteidigung des routinierten Immer Selben, d.h. des Erstorbenen. Sie suchen aber auch ideologische Grenzen überschreitend Bündnispartner, etwa AFD und FPÖ, Le Pen und Putin usw. Hintergrund ist die Angst vor Verlusten, auch materiellen Verlusten. Diese Angst drückt sich aus als Hass und unsägliche verbrecherische Aggression gegenüber Fremden und Flüchtlingen, etwa in der Gewalt gegen die Unterkünfte usw.

11. Bestimmung im Leben bleibt hingegen immer die Lebendigkeit, als immer zu suchende, nie total zu erreichende Balance zwischen der immer notwendigen Abgrenzung (gegen den Selbstverlust) und dem Austausch als Grenzüberschreitung. Vorbild dafür die NGOs, die bezeichnenderweise die Titel haben „Ärzte OHNE GRENZEN“, „Reporter OHNE GRENZEN“, „Ingenieure OHNE GRENZEN“ usw. „Philosophen OHNE GRENZEN“ sind jene, die die universal und immer gültigen Menschenrechte verteidigen.

12. Durch die Ankunft von Flüchtlingen wird das Thema Grenzen plötzlich politisch neu äußerst brisant. Dieses Ereignis der Fluchtbewegungen ist wohl DAS bestimmende Ereignis der nächsten Jahrzehnte. Die Fluchtbewegungen sind auch Resultat verfehlter, geistig begrenzter Politik des Westens, siehe George W. Bushs Irak-Krieg; siehe das kurzsichtige Verhalten Obamas, nicht schon sehr früh Assad schon auszuschalten usw…

13.Es ist seit Anfang 2016 längst Tatsache, dass sich heute Europa, die EU, einmauert, also neu ein – grenzt. Dabei droht die EU zu zerfallen. (Mauernbau ist in jeder Weise tödlich auch für die Mauerbauer selbst, siehe DDR – Führung). Auch die einzelnen europäischen Länder mauern sich ein, siehe etwa jetzt Österreich, dort wird z.B. sogar am Brenner-Pass ein „Grenzmanagment –Leitsystem“ (mit Zaun) errichtet. „Grenzmanagment –Leitsystem“: Dieser Begriff der bürokratischen Gewalt sagt alles über die nationalistische Mentalität. EU Staaten haben im Alleingang nationale Grenzen als wichtiger durchgesetzt als die Verbundenheit mit der EU. Die stramm rechtslastigen Parteien fördern in ihrer populistischen Propaganda stark den Nationalstaatsgedanken. So sagte Alexander Gauland in einem Interview mit DIE ZEIT vom 14.4. 2016 Seite 7 auf die Frage: Wo ist ihr Limes, also ihre Grenze, heute: „Der Limes ist an jeder nationalen Staatsgrenze. Dass Österreich in der Lage war, die Balkanroute zu schließen, war eine große Tat“. Dann auf die Frage: Nun sitzen aber die Flüchtlinge in Griechenland fest, wo ist denn da der Vorteil? Da heißt die Antwort Gaulands: „Dass die Flüchtlinge nicht in Deutschland sind und nicht in Österreich sind, ist der Vorteil“. Damit ist indirekt gesagt: Also kann es doch durchaus zu Auseinandersetzungen kommen zwischen Griechenland und Deutschland, wenn dieses alte/neue nationalistische Denken sich weiter durchsetzt.

Das Wort Ober-Grenze markiert in aller Deutlichkeit die bewusste Eingrenzung und Abgrenzung eines Nationalstaates, das Sich-Verklammern angstvoller Art in die eigenen Begrenztheiten, das Wort Obergrenze markiert, ideologiekritisch betrachtet, eine gewisse Hoffnungslosigkeit eines europäischen Nationalstaates. Das Wort Obergrenze wird sicher zum Unwort des Jahres 2016 erklärt werden. Zu diesem Begriff gibt es bei Google bereits 2,3 Millionen Einträge, gezählt am 26.4.2016.

14. Es wird wieder die Vorstellung vom „Nationalstaat“ in ganz Europa und weltweit herrschend. Die Geschichte zeigt: Jeder Nationalstaat muss per definitionem kriegerisch und gewalttätig sein. Wir erleben einen Rückfall ins 19. Jahrhundert. „Der Nationalismus wurde zum treibenden Faktor bei einer Neuordnung der politischen Grenzen, die nicht selten mit Krieg und Vertreibung verbunden war… Der Nationalismus legte auf eine einheitliche Sprache wert, es wurde eine mentale Nationalisierung der Bürger gepflegt bei der Durchsetzung nationaler Zugehörigkeiten“, so Herfried Münkler u.a. in „Politische Theorie und Ideengeschichte“, Beck Verlag, 2016, S. 75,

15. Die europäische Politik heute folgt ängstlich den Ängstlichen und uninformierten Populisten, die nur in ihren vertrauten und vermauerten mentalen Grenzen verweilen wollen. Damit wird die zu Beginn genannte Balance zwischen Selbstbewahrung UND Öffnung einseitig und gefährlich in die Richtung der Selbstbewahrung verlagert. Es gibt keine Balance mehr im Umgang mit Grenzen.

16. Die vielen noch kommenden Flüchtlinge (in Libyen warten noch ca. 1 Million Menschen auf die Flucht) zeigen mit aller Deutlichkeit: Die Menschen in Afrika z.B. sind heute nicht länger bereit, ihre extreme Armut in ihren Ländern zu ertragen. Das mögliche Ertrinken im Mittelmeer erscheint ihnen als ein geringeres Übel, als in den Ländern Afrika vor Hunger dazudämmern… Die Balance muss wieder gefunden werden. Die Tatsache, dass Europa auf Dauer mit Flüchtlingen leben wird, ist anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass nun total offene Grenzen geschaffen werden soll, das würde zu einem Selbstverlust Europas führen, aber es kommt auf eine Öffnung gegenüber den Flüchtlingen an, die den Menschenrechten entspricht und nicht dem nationalen Egoismus der Bewahrung des alten Besitzstandes.

17. Aus der Verklammerung des EGO-Europa, der sich Abschließenden und erneut Begrenzenden, gilt es sich wieder zu befreien, indem man sich an die Grundstruktur des Daseins erinnert: Ohne Öffnung als ständige eigene Grenzüberschreitung gibt es kein geistvolles, menschenwürdiges Leben für den einzelnen Menschen, die Gesellschaft, den Staat. Die Flüchtlinge sind nun einmal da! Und weitere werden kommen. Wir sollten die Chance ergreifen, mit ihnen zu leben, sie zu integrieren und auch eigene Selbstverständlichkeiten (unseren Wohlstand, warum und wodurch haben wir ihn eigentlich (?) in Frage zu stellen… Wenn sich rechtsextreme Populisten auf das (tatsächlich angebliche) christliche Abendland berufen, sollte man sie an die philosophische Einsicht (und religiöse Einsicht) von Selbstliebe und der gleichzeitigen Nächstenliebe erinnern.

18. Zwei Aufgaben sind besonders dringend: Qualitative Verbesserungen der politisch-sozialen Verhältnisse etwa in Afrika, mit der Erkenntnis der Mitschuld Europas an diesen Verhältnissen. Kritik an den verbrecherischen Politikern in Afrika selbst. Veränderung einer kolonialen Wirtschaftspolitik Europas, die immer noch die Wirtschaften dieser afrikanischen Länder schwächt und die Menschen ins Elnd führt. Die Flüchtlinge kommen nach Europa, auch wegen der heutigen kolonialen Wirtschaftspolitik Europa. Zynisch gesagt: Europa ist selber schuld, dass diese Menschen ihre Länder verlassen müssen.

Es geht also um die weitere Aufnahme der Bedrohten und Verfolgten in Europa. Im Sinne der Weitung des eigenen Bewusstseins, auch der Anerkennung, dass wir Einwandererland sind, dass wir viele Menschen „brauchen“, wenn sie denn die universal gültigen Menschenrechte verstehen lernen und anerkennen.

19. Das Thema „Wir sind Grenzgänger“ gehört in die Mitte einer Philosophie der Lebens-Kunst, des Leben-Könnens. Deutlich ist meiner Meinung nach: Weder die angstvolle Verkapselung (Borniertheit) noch die totale Freigabe jeglicher Grenze (Auflösung des Selbst, des Eigenen) entsprechen der Balance zwischen Selbstsein und Offensein. Diese Balance muss immer neu gesucht und miteinander besprochen werden. Wenn man in der Sprache der Theorie der philosophischen Ethik will: Es kommt auf einen Ausgleich an zwischen der Gesinungsethik und der Verantwortungsethik. Wobei bei der Verantwortungsethik eine gewisse Vorsicht geboten ist: Hinter einer nach außen dargestellter Verantwortungsethik kann sich ideologische nationale Borniertheit verbergen.

Copyright: Christian Modehn

 

Meinungsfreiheit – die Basis aller anderen Freiheiten. Zum “Internationalen Tag der Pressefreiheit”

Meinungsfreiheit – die Basis aller anderen Freiheiten.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die Freiheit der Presse ist weltweit immer mehr bedroht, darauf macht die NGO “Reporter ohne Grenzen” auch zum 3. Mai 2016 wieder aufmerksam, dem Welttag der Pressefreiheit. Mit der Einschränkung und dem Verbot der Pressefreiheit wird die Meinungsfreiheit insgesamt schrittweise abgeschafft;  Meinungsfreiheit aber ist die Basis ALLER Freiheiten. Wir leben also in einer Situation, in der weltweit mit der Abschaffung der Meinungsfreiheit auch die Menschenrechte insgesamt in Frage gestellt, bedroht und abgeschafft werden. Die “Errungenschaften” der philosophischen Aufklärung werden nur noch in einigen Staaten respektiert. Eine schlimme Erkenntnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Der “Welttag der Pressefreiheit” ist also ein Tag des kritischen politischen Nachdenkens … und der Aktion, d.h. in dem Fall: der helfenden Unterstützung für Journalisten, die um der Menschenrechte willen in zahllosen Ländern bedroht sind und ermordet werden. Man beachte und beobachte auf Dauer, in welcher Weise heute populistische und rechtslastige Gruppen und Parteien (AFD, FPÖ, Le Pen Partei, Putin und CO. usw.)  in Europa mit dem Respekt vor der Pressefreiheit und den Journalisten umgehen. Man beachte, wie etwa in Brasilien durch die Übermacht einer bestimmten Presse (“O GLOBO”, TV und Print, erreicht mit seiner Propaganda über die Hälfte der Bevölkerung) der Staatspräsidentin so zugesetzt wird, dass sie aus ihrem Amt vertrieben werden soll – aus parteipolitischen Gründen. Die Lage ist insgesamt dramatisch. Ein Auszug aus einem Interview mit Christian MIHR von Reporter ohne Grenzen: „Pressefreiheit: Die Lage ist viel schlimmer“    © Reporter ohne Grenzen

Frage: Die neue Rangliste der Pressefreiheit 2016 zeichnet ein düsteres Bild. In allen Weltregionen sind im Jahr 2015 die Freiräume zurückgegangen. Ist das nur eine Verstetigung eines bereits bestehenden Trends?

Antwort: Unsere jährliche Rangliste der Pressefreiheit vergleicht in erster Linie den Zustand der Pressefreiheit in den verschiedenen Staaten miteinander. Insofern zeigt er vor allem, ob sich die Lage in den einzelnen Ländern im Verhältnis zu Ländern mit einer ähnlichen Ausgangslage verbessert oder verschlechtert hat. Da spielen ja sehr viele Entwicklungen in den derzeit 180 bewerteten Staaten hinein: zum Beispiel Änderungen in der Gesetzgebung, in der Rechtspraxis, in den Rahmenbedingungen für Medienunternehmen und natürlich Fragen der Sicherheit für Journalisten. Seit 2013 errechnen wir aus den Daten der Rangliste allerdings auch einen Indikator für den weltweiten Stand der Pressefreiheit. Und der zeigt tatsächlich eine eindeutige Verschlechterung – allein seit dem vergangenen Jahr um 3,7 Prozent und seit 2013 um insgesamt 13,6 Prozent. Am deutlichsten ist der Rückgang beim Teilindikator für die Produktionsmittel von Medien. Einige Regierungen schrecken nicht vor Blockaden des Internets oder der Zerstörung von Redaktionsräumen, Sendetechnik oder Druckpressen zurück, um unliebsame Berichterstattung zu unterbinden. Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich weltweit gesehen verschlechtert. Dies spiegeln die vielen Gesetze wider, die Präsidentenbeleidigung, Blasphemie oder Unterstützung des Terrorismus unter Strafe stellen und damit in einigen Ländern zu zunehmender Selbstzensur beitragen.

Frage: Ein Grund für die Verschlechterung sind die zunehmend autokratischen Tendenzen in einigen Ländern und die vielen Bürgerkriege. Besteht da immer ein direkter Zusammenhang: Also alle autoritären Regime handeln repressiv und in allen Bürgerkriegen werden Reporterinnen und Reporter ermordet?

Antwort: Einerseits kann man das wohl tatsächlich so sagen. Unser altes Motto lautet ja „Keine Freiheit ohne Pressefreiheit“, und das lässt sich immer wieder sehr anschaulich beobachten. Wo Regierungen einen autoritären Weg einschlagen wie derzeit etwa in Ägypten, Russland oder der Türkei, da werden unabhängige Journalisten als Störenfriede oder Verräter behandelt. Präsidenten wie Abdelfattah al-Sisi, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan reagieren sehr empfindlich darauf, wenn kritische Kommentatorinnen oder hartnäckige Rechercheure an ihrer Fassade als stets erfolgreiche, allseits beliebte Staatsmänner kratzen. Im Fall der Türkei erfahren die ständig neuen Auswüchse dieser repressiven Grundhaltung derzeit ja viel Aufmerksamkeit, aber in Ägypten zum Beispiel ist die Lage noch viel schlimmer. Und in Kriegen stellt sich die Frage der Repressionen natürlich noch viel schärfer – zumal dann, wenn sich die Kriegsparteien wie in Libyen oder Syrien nicht um das Völkerrecht scheren und Journalisten im Zweifelsfall als lästig oder als Faustpfand für internationale Aufmerksamkeit betrachten…

Frage: Deutschland hat sich von Rang 12 auf Rang 16 verschlechtert. Wie ist das zu erklären?

Antwort: Deutschlands aktuelle Verschlechterung ist ganz klar auf die erschreckend gestiegene Zahl von gewaltsamen Übergriffen auf Journalisten, aber auch von Anfeindungen und Drohungen zurückzuführen – vor allem bei den Pegida-Demonstrationen und ihren Ablegern, aber auch bei rechtsextremistischen Aufmärschen und gelegentlich bei Gegenkundgebungen. Dass in manchen Städten regelmäßig Hunderte, manchmal Tausende Menschen „Lügenpresse“ skandieren, fassen manche Menschen offenkundig als unmittelbare Aufforderung zum Handeln auf. Sorge bereiten uns aber auch Entwicklungen wie die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung und die immer neuen Erkenntnisse über geheimdienstliche Überwachung, die die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen ganz grundsätzlich in Frage stellen. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr gegen den Bundesnachrichtendienst geklagt und sind nun sehr gespannt auf die Reaktion der Justiz…

Wir empfehlen dringend, dauernd die Publikationen von Reporter ohne Grenzen zu lesen und zu diskutieren.

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Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin von unserem Interesse für die Religionen und Kirchen dauernd das Problem: In den Kirchen z.B. wird die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit nicht umfassend respektiert. Fast alle Publikationen, die von den Kirchen selbst herausgegeben sind, zeigen sich eher als Propaganda-Informationen, nicht aber als unabhängige, einzig der Freilegung von Wahrheiten verpflichtete Veröffentlichungen. Mit anderen Worten: Pressefreiheit gibt es in den Kirchen weitgehend auch im Jahr 2016 nicht. Und darüber wird öffentlich kaum gesprochen.

Interessant ist sicher noch die philosophische Überlegung zur primären Bedeutung der Meinungsfreiheit für alle weiteren Freiheiten. Diese Stellungnahme haben wir im Jahr 2015 veröffentlicht:

Salman Rushdie hat in seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse am Dienstag, den 13. Oktober 2015, in aller Deutlichkeit erklärt: “Ohne die Meinungsfreiheit muss jede andere Freiheit scheitern”. Die Freiheit des Wortes, selbstverständlich des angstfreien, des öffentlichen Wortes, sei überhaupt kein kulturelles Konstrukt, also von einigen Kulturen gutgeheißen, von anderen eben nicht. Diese relativistische, angeblich klug und angeblich höflich auf kulturelle Differenzen bedachte Haltung, ist falsch! “Wir Menschen sind sprechende Tiere. Wir erzählen, und das macht uns aus. Darum sollte Redefreiheit wahrgenommen werden wie die Luft, die wir atmen: als selbstverständlich”. Meinungsfreiheit ist ein absolut geltendes Menschenrecht. Die Angst, sich frei zu äußern, auch unbequem zu den Menschenrechten zu äußern, ist weit verbreitet. Noch schlimmer ist die Angst in den westlichen Ländern, sozusagen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber autoritären (arabischen) Staaten, Kritik an diesen Regimen in den eigenen westlichen Ländern besser zu unterlassen.

Meinungsfreiheit als Basis aller Freiheiten, auch der Religionsfreiheit, ist eine evidente philosophische Erkenntnis.  Wird die Meinungsfreiheit als Basis demokratischen Lebens respektiert, dann heißt das nicht, dass die Aussagen aller Feinde der Meinungsfreiheit und damit der Menschenrechte unwidersprochen (und ohne strafrechtliche Verfolgung) hingenommen werden dürfen. Das gilt etwa im Zusammenhang der rechtslastigen Feind der umfassenden Meinungsfreiheit. Maßstab der Kritik bleibt die universale Gültigkeit der Menschenrechte.Und diese Kritik muss öffentlich geäußert werden.

Wir haben in drei Beiträgen im Februar und im April 2015 ausführlicher diese philosophische Evidenz auf dieser website erläutert: Meinungsfreiheit ist die Basis aller anderen Freiheiten.

copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

Panama Papers und Legionäre Christi

Die Panama Papiere und die Legionäre Christi

Ein Hinweis von Christian Modehn

Religionskritik ist eine philosophische Aufgabe, gemäß den guten Traditionen der Aufklärung. Bisher ist es den Forschungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin nicht gelungen zu klären, (Stand 6.4.2016), in welcher Weise auch kirchliche und andere religiöse Institutionen von den Briefkastenfirmen in Panama profitieren. Das ist eigentlich ein Thema für einen investigativen Journalismus, der sich mit Religionen selbstverständlich kritisch und im Abstand befasst…Gibt es diesen umfassend kritischen, kirchenunabhängigen Journalismus en in Deutschland? Carsten Frerk vom Humanistischen Verband Deutschlands hat das viel Wichtiges Erhellendes publiziert.

Man muss sich nur mal die Mühe machen und die Bücher des mexikanischen investigativen Journalisten Raul Olmos lesen (2015 publiziert: „El Imperio financiero de los Legionarios de Cristo“, Grijalbo), um festzustellen: Eigentlich ist das Thema Steueroasen bzw. Panama-Papiere auch ein Thema, das den einflussreichen und äußerst finanzstarken, gleichzeitig theologisch äußerst konservativen katholischen Orden der Legionäre Christi betrifft. Details zu diesem Orden und zu Pater Marcial Maciel, ihrem, gelinde gesagt, „unmoralischen“ (so nannte ihn Papst Benedikt XVI.) Gründer und Freund von Papst Johannes Paul II., kann man in meinen Beiträgen seit 2009 auf dieser website nachlesen.

Im Dezember 2015 wurde ein neuer Beitrag über das Buch von Raul Olmos publiziert, auch zur Tatsache, dass diesem Orden, extra,  von Papst Franziskus der päpstliche Ablass gewährt wurde. Klicken Sie hier.

Jetzt nur so viel, noch einmal, zu den Recherchen von Raúl Olmos, es sind Ergebnisse fünfjähriger Arbeit. Zweifelsfrei, und von den Legionären Christi selbst unwidersprochen hingenommen, ist das Recherche-Ergebnis: Dieser Orden (mit nur ca. 1000 Mitgliedern) verfügt über ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. „Die Legionäre Christi könnten bei ihrem Finanz-Vermögen den ganzen Hauhalt des Vatikans finanzieren… Der Orden der Legionäre Christi verfügt über mindestens 500 Organisationen und Unternehmen, die viel Vermögen erzeugen“, so Raul Olmos in „Aristegui CNN“ am 27.1.2016. Olmos noch einmal wörtlich: „Diese Unternehmen haben nichts mit einer pastoralen Aufgabe zu tun haben, Unternehmen wie etwa in Panama, die schon von Marcial Maciel gegründet wurden. Es handelt sich dabei auch um Unternehmen imaginärer Art („empresas fantasma“, sagt Olmos), es gibt Unternehmen auf einer Insel, und dies wegen der Steuerflucht oder um Geld zu waschen“ („es para evasion fiscal o lacado de dinero“, so Olmos wörtlich).

In einem weiteren Beitrag, publiziert in Eldiario, Madrid, vom 6.1.2016, wird Raul Olmos genauso deutlich: „Im übrigen arbeitet der Orden mit Steuerparadiesen zusammen, etwa mit Jersey oder Panama bis in die Schweiz. Der Orden der Legionäre Christi hat seine Milliarden investiert in die United Technologies Corporation und Ametec Inc.; in die Alkoholproduktion, wie Diageo und Constellation Brands und Heineken sowie in die Produktion von Antibabypillen, wie Johnson & Johnson sowie Pfizer, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Frage, die immer noch nicht umfassend beantwortet wurde: Warum wurde der Orden de Legionäre Christi nach den Enthüllungen zahlreichen sexuellen Missbrauchs, nicht nur durch den Ordensgründer, sondern durch etliche andere Legionäre Christi, nicht aufgelöst, wie man es im 17. Jahrhundert schon einmal mit dem Orden der Piaristen, der Priester der frommen Schulen für einige Jahre getan hatte, weil auch dieser Orden des heiligen José de Calasanz von pädophilen Vergehen geprägt war.

Bei den Legionären kommt hinzu: Sie haben aufrund der Geldgier Pater Maciels Millionen durch Erbschaften und Schenkungen erhalten. Wer würde diese Milliarden dann erhalten, wenn der Orden aufgelöst worden wäre? Die verbliebenen Mitglieder? Oder vielleicht der Vatikan? Aber der Vatikan und mit ihm der Papst haben doch selbst ein Milliarden schweres Vermögen, allein schon durch den Immobilienbesitz in der „heiligen Stadt“ Rom… Nebenbei: Trotzdem sollen die Katholiken aber bitte brav für den Vatikan weiter spenden, den so genannten „Peterspfennig“ entrichten. Und auch die Legionäre Christi erlauben es sich noch, um Spenden zu bitten, etwa durch Einlagen in Kirchenzeitungen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin