Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

Der wahnsinnige Mönch als Künstler: Hugo van der Goes

Überlegungen zu dem Gemälde von Emile Wouters: „Hugo van der Goes“

Hugo van de Goes, Krank Wouters
Hugo van der Goes als kranker Mönch (im Vordergrund). Gemälde von Emile Wouters

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Zum Gemälde:
Ein Mönch, am Rande des Wahnsinns, verstört, in sich geschlossen, so sitzt er angstvoll da. Umgeben von anderen Mönchen und einem Knabenchor mit Musizierenden. Ein einsamer Mönch, in tiefer Depression. Ein Mönch, der Suizidgedanken geäußert hat. Nun soll er musikalisch geheilt werden.

2. Ein peinliches Thema
Der seelisch schwer kranke Mönch: Nicht gerade ein häufiges Thema in der Kunst, nicht in der Literatur oder der Theologie. Eher ein peinliches Thema für die Oberen der Klöster und Bistümer bis heute.

3. Bemerkenswertes
Vieles ist bemerkenswert an diesem Gemälde des belgischen Künstlers Emile Wouters (1846 [Brüssel] – 1933 [Paris])
Das Gemälde (1872) führt in die spätmittelalterliche Klosterwelt des 15. Jahrhunderts.
Die leidende Person ist ein sehr bedeutender Künstler der Niederlande: Hugo van der Goes (um 1440 [Gent] bis 1482[Oudergem bei Brüssel]. Und er ist als angesehener Künstler, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er im Jahr 1475 in das Kloster der „Augustiner-Chorherren“ , das so genannte „Roode Klooster“ bei Brüssel, eintritt. Es galt als eher strenges „Reform-Kloster“ der sogenannten „Windesheimer – Kongregation“. Diese Kongregation besteht heute wieder, sie verweist aber auf der eigenen website nicht auf ihren berühmten Mitbruder.

4. Im Kloster die Askese pflegen
Hugo van der Goes lebte vor dem Eintritt ins Kloster recht üppig, er war Mittelpunkt der Kunstszene, ständig beschäftigt, seine Kunst war begehrt in den höchsten Kreisen, am Hof, auch in Italien. Er war hoch angesehen als „Dekan der Malergilde“. Aber nach dem plötzlichen Tod seiner innig Geliebten, berichtet Adolphe Wouters, (S.12, Fußnote 1) war er so tief verwundet und erschüttert, dass er sich aus der Welt zurückziehen wollte.
Weil er nicht mit der Frau verheiratet war, nahm in das Kloster auf. Hugo wollte dort eigentlich bescheiden als Laien-Mönch leben, also nicht als angesehener Priester. Aber das Kloster war so stolz, einen der bedeutendsten Künstler als Mitglied zu haben und gewährte ihm, dem eher untergeordneten Laien-Bruder die Teilnahme am Leben der höher gestellten Priester. Er durfte etwa in deren separatem Speisesaal essen. Und vor allem: Hugo konnte im Kloster weiter als Künstler arbeiten, dort hat er viele seiner berühmten und hoch begehrten Werke geschaffen. „Die Anbetung der Hirten“ (in einer Ruine wird Jesus geboren !) ist dort entstanden oder der „Tod Mariens“ (jetzt im Groeningen Musselin Brügge). Diese Gemälde zeigen, wie viele Goes-Arbeiten, Menschen in starker und durchdringender seelischer Anspannung.

5. Klosterleben als Krise
Diese Frage wird wohl bei der geringen historischen Kenntnis von Hugo van der Goes Leben nie geklärt werden: Ob ihm, dem spirituell Erschütterten und Suchenden, diese Bevorzugung im Kloster auch entsprochen hat. Vor allem: Ob der Eintritt ins Kloster also dem Künstler tatsächlich seelisch gut getan hat oder ob die schmerzlichen Erfahrungen des Verlustes seiner Geliebten „unbearbeitet“ blieben.

6. Suizid-Gedanken
Der Künstler – Mönch Hugo hatte sich 1481 in Köln aufgehalten und war dort und während der Rückreise ins Kloster seelisch zusammengebrochen. Er versuchte unterwegs, seinem Leben ein Ende zu setzen, berichten seine Begleiter. Im Kloster angekommen, wird der erkrankte Mönch von der Leitung seines Klosters betreut. Es gibt den Versuch, damals schon, die Idee, Musik als Therapie einzusetzen. Wie einst König Saul nach den Berichten des Alten Testaments vom Zitherspiel Davids (1 Sam 16,14-23) seelisch geheilt wurde, so erhoffte man sich auch Heilung von der Musik, im Gemälde Wouters ist auch der fürsorgliche Prior des Klosters Pater Thomas van Vossem zu sehen.

7. Musiktherapie
Hugo van der Goes wurde durch die Musik-Therapie und die Fürsorge im Kloster wohl ein wenig beruhigt, aber der Wunsch nach einem asketischen Leben war stärker. Er lehnte nun die übliche Bevorzugung im Kloster ab: Er nahm seine Mahlzeiten nun im Kreise der einfachen Laien-Brüder ein, die als schlichte Arbeiter für das Leben des Klosters und der entscheidenden betenden, studierenden Priester-Mönche sorgten.

8. Historisches
Ein Verwandter des Malers Emile Wouters, Alphonse Wouters, hatte 1872 die Schrift „Hugues Van der Goes, sa vie et ses œuvres“ veröffentlicht. Darauf bezog sich Emile Wouters. LINK 

Ab Seite 12 werden die Erinnerungen eines anderen Mönches, Gaspar Ofhuys aus Tournai (gestorben 1523), an Hugo van der Goes publiziert, es sind Überlegungen eines Mitbruders im Kloster, kurz nach dem Tod von Hugosgeschrieben, aber bis 1872 nicht veröffentlicht. Sie bieten wohl authentische Hinweise.

9. Ein Genie, dem Wahn verfallen?
Wurde Hugo van der Goes wahnsinnig oder depressiv, weil er ein Genie war, wie manche behaupten? Ich vermute aufgrund der Erlebnisse im Kloster wurde Hugo eher seelisch überfordert und zerrissen. Das gesuchte einfache Leben der Askese fand Hugo im Kloster jedenfalls nicht.

10. Ausstellung in Berlin
Die Ausstellung fast aller der wenigen erhaltenen Werke des Maler Hugo van der Goes werden in der Berliner Gemälde-Galerie (bis 16. Juli 2023) ausgestellt.

11. Religiöse Krise bei katholischen Künstlern
Im Mittelalter (und in der Barock-Zeit) widmeten sich die meisten Künstler äußerst häufig den klassischen christlichen Themen vor allem des Neuen Testaments, der Geburt Jesu, der Kreuzigung, der Auferstehung, der Himmelfahrt, dem Tod Marias, der Trinität mit der Taube als dem Symbol des nicht darstellbaren Heiligen Geistes.
Wer als Künstler immer auf diese Themen fixiert blieb, dazu gedrängt von den Aufträgen frommer, aber finanzkräftiger HerrschaftenDie „älteste Tochter der Kirche“ (etwa Kaiser Maximilian), musste der nicht bei dieser Monotonie der Themen irgendwie leiden, sich eingeschränkt fühlen: Immer dasselbe Thema malen in immer neuen Variationen. Es wurde in der Kunstgeschichte meines Wissens nicht untersucht, welche Belastungen Künstler in sich verspürten bei dieser gewissen Monotonie. Sie durften natürlich keine Kritik äußern, sonst wären sie – im Mittelalter – auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Mit anderen Worten: Wenn sich Künstler, aber auch Literaten und Schriftsteller allzu deutlich verpflichten, immer wieder dieselben Themen der offiziellen Kirchenlehre darzustellen, können sie sich aufgrund der Monotonie des Themas, also der Übermacht des Heiligen und ineins des Leidens (Jesu am Kreuz) aus den Bahnen des gesunden Verstandes geworfen werden. Mystik und Wahn sind bereits ein Thema der Forschung, etwa am Beispiel der „Konvulsionäre“, der Frommen auf dem Friedhof von St. Médard in Paris im 18. Jahrhundert, die in der göttlichen Ekstase unter heftigen Zuckungen litten… Aber das Thema „thematische Monotonie“ (oder schädliche Routine) als krankmachendes Erleben wird bisher nicht auf Künstler, auf Maler, bezogen…
Welche große Befreiung geschah in der Renaissance, welch große Befreiung dann in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, als endlich das alltägliche Leben dargestellt wurde, freilich immer mit moralischem Fingerzeig!

Fußnote: (1)
Adolphe Wouters, „Hugo van der Goes. Sa vie et ses oeuvres“, Bruxelles 1872.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Freiheit – ist immer auch eine Freiheit FÜR andere: Lea Ypi.

Zur Philosophie der albanischen Autorin und Philosophin Lea Ypi
Ein Hinweis von Christian Modehn

Welcher Inhalt zum Begriff Freiheit zeigt sich für eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend im kommunistischen Albanien erlebte?

1.
Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi hat ein viel beachtetes autobiographisches Sachbuch veröffentlicht. Der Titel: „Frei“. Der Untertitel: „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“.
Lea Ypi, 1979 in Tirana geboren, beschreibt in dem Buch „Frei“ sehr ausführlich ihr äußerst beschwerliches Leben und das ihrer Familie und ihrer Freunde im „Sozialismus“ des Diktators Enver Hoxha. Die Zeit der so genannten „Transformation“ als mühevoller Abschied vom „Sozialismus“ wird aus subjektiver Sicht beschrieben. 1997 verlässt Lea Ypi das Land Richtung Italien, sie studiert zunächst in Rom, später u.a. in Paris, Berlin Philosophie und Literatur, seit 2016 ist sie Professorin an der angesehenen Universität „London School of Economics“.

2.
Die Geschichte des Mädchens Lea Ypi ist ein Ringen um Freiheit, wobei die Autorin nicht verschweigt, wie sie als Kind durch die Propaganda und Indoktrination in der Schule durchaus zu einem naiven Glauben an den Kommunismus fand und den Diktator – ehrfürchtig -„Onkel Enver“ nannte.

3.
Im expliziten Sinne philosophische Reflexionen zum Thema des Buches, also „Freiheit“, bietet das Buch vor allem im letzten Drittel.
Bedenkenswert etwa die Einsichten zu Widersprüchen im alltäglichen menschlichen Leben, etwa am Beispiel des Wunsches auszureisen, das eigene Land zu verlassen: Im Sozialismus wurde man verhaftet, wenn man ausreisen wollte. Im Kapitalismus ist der aus Albanien Ausreisende alles andere als willkommen, wie etwa in Italien, von dort wurden viele albanische Boots-Flüchtlinge wieder zurückgeschickt. Lapidar heißt es auf S. 199: „Welchen Wert hat das Recht auf Ausreise noch, wenn es kein Recht auf Einreise gibt?“ Und die Freiheit zu bleiben besteht auch nicht in Albanien damals (S. 200). Denn das Verbleiben im kapitalistischen Albanien bietet angesichts der Arbeitslosigkeit keine Lebenschancen. Weggehen oder Bleiben – beides bietet keine Lebenschancen.

4.
Zu denken geben die Reflexionen Lea Ypis zu zentralen politischen Begriffen: Die herrschenden Leitbegriffe der Lebensorientierung werden ausgetauscht. Der im Kapitalismus übliche Begriff „Zivilgesellschaft“ hat den sozialistisch – kommunistischen Begriff „die Partei“ ersetzt (S. 230). Zum Umfeld der „Zivilgesellschaft“ gehört für Ypi auch der Begriff „Liberalisierung“, der den Begriff „demokratischer Zentralismus“ abgelöst hatte“ (S. 231). „Privatisierung nahm die Stelle von Kollektivierung ein und Transformation die Stelle von Selbstkritik… Antiimperialistischer Kampf wurde durch Kampf gegen Korruption ersetzt“. (ebd.) Die Marktwirtschaft muss nun angekurbelt werden. (S. 261). Wie im Sozialismus gibt es also auch im liberalen Kapitalismus ein MUSS „Es gibt einen vorgeschriebenen Weg, der einzuhalten ist“ (S.261), sagt der Vater der Autorin, der nach dem Ende des Sozialismus Generaldirektor des Hafens wurde. „Er war weniger frei als er es sich vorgestellt hatte“ (S. 263). „Der Klassenkampf war nicht vorbei, das hatte der Vater begriffen!, (S.264), als er gezwungen war, aufgrund von so genannten neoliberalen „Strukturreformen“ (S. 242) Arbeiter im Hafen zu entlassen. Aber: Der Vater will sich die Namen der Entlassenen merken, er will sich stemmen gegen das Vergessen, er wehrt sich gegen eine Welt, in der Menschen nur noch als Zahlen in Statistiken vorkommen. Der Vater glaubt noch an ein Körnchen Güte in jedem Menschen.

5.
Entscheidend die Erkenntnis der Philosophin Lea Ypi: „Alle diese neuen Konzepte handelten von Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums“ (S. 231). Der einzelne steht nun absolut im Mittelpunkt der demokratisch – kapitalistischen Ordnung. Lea Ypi lässt keinen Zweifel daran, dass die Ideologie der Herrschaft des Individuums ergänzt und kritisiert werden muss durch die Erkenntnis: Freiheit ist immer auch Freiheit, FÜR andere und MIT anderen zusammen eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

6.
Es sind die Zweifel am Leben, an der Gesellschaft, am Staat, an der „Ordnung“ des Zusammenlebens überhaupt, die Lea Ypi zur Philosophie führen. „1990 hatten wir nichts außer Hoffnung gehabt; 1997 (dem Jahr des Krieges in Albanien aus ökonomischen Gründen) hatten wir selbst die Hoffnung verloren. Die Zukunft sah trostlos aus“ (S. 318). „Ich hatte nichts als Zweifel“ (S. 319).

7.
Als Philosophin zeigt Lea Ypi, dass der Mensch „trotz aller Zwänge nie die innere Freiheit verliert, die Freiheiten das Richtige zu tun“ (s. 323). Selbst im totalitären Kommunismus von Enver Hoxha war die Reflexionskraft der Eltern und der Großmutter noch schwach und ungebrochen da, sie wussten, wie sie in in einer Diktatur überleben konnten, etwa durch den Einsatz von Lügen gegenüber ihren Kindern bzw. Enkeln. Die Familie Ypi ist ein (seltenes) Beispiel dafür, dass Menschen, die sich die innere Freiheit der stillen Selbstreflexion bewahrt haben, selbst die stalinistische Diktatur relativ menschlich überleben können, ohne dabei mit dem Diktator zu paktieren.

8.
Lea Ypi verschweigt überhaupt nicht, dass sie sich als Philosophin und Autorin als Sozialistin versteht. Sie will sich die humanen Werte der sozialistischen Idee nicht nehmen lassen, nur weil so viele Diktatoren, sich sozialistisch nennend, nur auf autoritäre Herrschaft und Bereicherung bedacht waren. Mit dem üblichen westlichen Liberalismus kann Ypi wenig anfangen: „Ich setzte Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“.

9.
Lea Ypi will im Sinne ihres umfassenden Verständnisses von Freiheit (Freiheit ist immer auch Freiheit FÜR andere sich einzusetzen) den Werten und Idealen des Sozialismus treu bleiben, sie will, wie wie ganz am Ende ihres Buches schreibt, „den Kampf fortführen“(S. 329). Aber, wie sie im Interview des SRF Fernseh-Interviews „Sternstunde Philosophie“ (am 18.9.2022) sagte, sie verstehe Marx auch mit den ethischen Prinzipen Kants.

10.
Aber was kann der Untertitel des Buches bedeuten? „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“? Ist damit das Ende des albanischen Sozialismus bzw. Kommunismus gemeint? Oder nimmt Ypi ironisch Bezug auf ein Ende der Welt-Geschichte, das schon prominent verwendet wurden von dem us-amerikanischen Historiker Francis Fukuyama, der sein Buch 1992 „Ende der Geschichte“ nannte. Fukuyama behauptete: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion gebe es nur noch die Herrschaft der liberalen Demokratien. Dies käme dem Ende der Geschichte gleich, weil es nun keine Dialektik Ost-West mehr gibt. Diese Dialektik bewegte die Zeit, schuf Geschichte. Dieses Denkmodell „Ende der Geschichte“ bezieht sich auch auf die Hegel-Interpretation des Franzosen Alexandre Kojève. Er sagte, wie einige andere auch: Hegel meine tatsächlich, in seinem Denken an eine Art Endpunkt gekommen zu sein, und gezeigt zu haben, dass nun im Preußischen Staat alle Widersprüche aufgelöst seien, dass alles begriffen ist, dass die Versöhnung real wurde Und dies könnte eine Art „Ende der dialektisch bestimmten Geschichte“ sein.
Aber Fukuyama blieb skeptisch: Es bleibt die Versuchung, zurück zum Krieg zu degenerieren.

Lea Ypi, „Frei“. Suhrkamp Verlag 2022, 7.Aufl. 2023, auch als Taschenbuch, 333 Seiten, übersetzt von Eva Bonné.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Ravier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Die Auferstehung Jesu: Ostern ist das Fest des Ewigen im Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (März 2023).

Ostern ist mit der entscheidenden Einsicht verbunden: Jeder Mensch hat Anteil am Ewigen, am Göttlichen. Nur deswegen kann der Tod ein Übergang sein in eine neue geistige Wirklichkeit. Diese Einsicht hat Jesus von Nazareth vermittelt.

1.

Das Thema “die Auferstehung Jesu von Nazareth“ verweist auf die schwierige Frage: Gibt es eine Form der Überwindung des Todes, also ein „Weiterleben“ nach dem Tod?
Theologien und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können auf das Thema nicht verzichten,  sie haben es mit der Lebensgestaltung, auch mit Sterben und Tod, zu tun. Hier wird eine der Vernunft verpflichtete Interpretation des Auferstehung Jesu von Nazareth vorgestellt. Und diese vernünftige Deutung ist einfach, verglichen mit dem Wortschwall der vielen bloß subjektivistischen, fundamentalistischen streng – kirchlichen Deutungen der Auferstehung Jesu.

2.

Am häufigsten wird bis heute in den Kirchen gelehrt und gepredigt: „Jesus ist seinem Grab entstiegen, und er ist als der leibhaftig Lebendige der Gemeinde erschienen.” Er ließ sich sogar körperlich berühren (vgl. die Erzählung vom „ungläubigen Thomas“)… Und später ist der Auferstandene “leibhaftig in den Himmel aufgefahren“. Diese sehr schlichte, aber regelmäßig bis heute verkündete Lehre hat den christlichen Glauben zu einer mysteriösen “verzauberten” Angelegenheit gemacht. Die üblichen Worte der Kirchen zur Auferstehung wecken kein nachvollziehbares Verstehen, sondern sie verbreiten den Nebel des Mysteriösen. So rutscht der christliche Glaube an die Auferstehung Jesu in den Bereich der Märchenerzählungen ab, aus Angst der Prediger und Theologen vor der Vernunft!

Man denke auch an die zahllosen Gemälde etwa aus der Barockzeit, die den Auferstandenen leibhaftig in der Welt herumlaufend zeigen oder das leere Grab mit schlafenden Grabeswächtern und siegreichen Engeln. Angesichts so viel wunderbaren Zaubers sagen dann viele Gläubige verzaubert: „Nach meinem Tod gibt es für mich im Himmel das große Wiedersehen mit den Eltern und dem lieben Onkel Heinrich und der Tante Charlotte“.
Man muss diese private Spiritualität als Meinungsäußerung respektieren, aber sie hilft nicht zu einer reflektierten Spiritualität der Menschen im 21. Jahrhundert. Sie hilft nicht zu einer reifen Spiritualität reifer, d.h. kritisch nachdenklicher, vernünftiger Menschen des 21. Jahrunderts.

3.

Die Frage ist also: Soll die Auferstehung Jesu von Nazareth ein zauberhaftes Ereignis in einer wunderbaren Welt des Ostermorgens voller frommer Phantasien bleiben? Oder sollte die Auferstehung Jesu von Nazareth mit dem einen Satz erläutert werden: „Die Freunde Jesu erkennen bald nach seinem Tod: Wie Jesus als der “Auferstandene” haben alle Menschen in ihrem Geist Anteil am Ewigen, es ist der Geist des Ewigen, der göttliche Geist, der den Tod eines jeden, auch den Tod Jesu, überwindet. Es geht um ein ewiges, geistiges „Leben“, nicht um ein leibliches.“

4.

Die zentrale Erkenntnis heißt: Nach seinem Tod wird Jesus von der Gemeinde, nach einer Phase der Trauer und des Entsetzens über seinen Tod am Kreuz, als der Lebendige erkannt. In ihrem Nachdenken über Jesus von Nazareth wendet sich die Gemeinde noch einmal dem Leben und den Lehren ihres Propheten Jesus von Nazareth zu: Und sie entdeckt: Dieser Jesus von Nazareth war von außergewöhnlicher geistiger Kraft in seinem Umgang mit den Menschen, in ihm selbst wurde die göttliche Wirklichkeit deutlich. Die Gemeinde erkennt also das Göttliche, das Ewige, im “irdischen” Leben Jesu von Nazareth. Und dieses Göttliche, dieses Ewige kann nur eine geistige Realität sein, sie kann als das Ewige im Menschen nicht sterben. Jesus nannte den Ewigen stets seinen Vater, er fühlte sich als sein „Sohn“, und lehrte zugleich: “Ihr Menschen seid – im Bild gesprochen – ebenfalls Söhne und Töchter des Göttlichen, des Ewigen, meines und unseres „Vaters“ im Himmel”.

Weil die Menschen Anteil haben am Ewigen, sind sie in der Lage, Jesus als den Auferstandenen zu erkennen.
Im „Neuen Testament“ gibt es vier unterschiedliche Erzählungen über diese Einsicht der Gemeinde: „Unser Freund und Lehrer Jesus von Nazareth, der „Menschensohn“, ist nicht in das Nichts des Todes verschwunden. Wir erfahren und verstehen kraft unseres Geistes IHN als eine bleibende, geistige Präsenz über den Tod hinaus.“

5.

Diese Erzählungen von der Auferstehung Jesu im Neuen Testament sind keine Tatsachenberichte! Kein Journalist, kein Historiker, hat die Auferstehung Jesu gesehen. Die Auferstehungs-Erzählungen des Neuen Testaments beziehen sich nicht auf ein datierbares Ereignis. Sie sind Mythen, d.h. Erzählungen von Menschen, die mit diesem Jesus persönlich und voller Liebe verbunden waren und nach seinem Tod gemeinsam zu neuen, überraschenden Erkenntnissen kommen.

6.

Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind Mythen. Der Theologe Rudolf Bultmann nannte sein Programm das „Entmythologisieren“ der biblischen Erzählungen, und er meinte damit überhaupt nicht die Zerstörung des Inhalts von Mythen, sondern die Übersetzung der Mythen in nachvollziehbare moderne Sprache. Nur dann können etwa die Mythen der Auferstehung als Lebensorientierung uch heute gelten.
Lebensorientierung anbieten – das ist der Sinn von christlichen Erlösung. Von Erlösung spricht die Kirche ständig, aber was Erlösung inhaltlich nachvollziehbar bedeutet, wird meist ins Imaginäre, Phantastische geschoben, etwa in die Ideologie der Befreiung von der sogenannten Erbsünde.
Die Erkenntnis vom „Ewigen“ in jedem Menschen kann als Erlösung verstanden werden, im Sinne der Befreiung von der Angst, im Tod ins Nichts zu versinken. Es ist der Geist als die Präsenz des Ewigen, der als Geist den Tod eines jeden Menschen überwindet. Weitere Details zum „himmlischen Weiterleben“ zu nennen, würde nur zu haltlosen phantasievollen Spekulationen führen.

7.

Es bleiben Fragen zu den Mythen der Evangelisten: Etwa zum leeren Grab Jesu: Das Grab Jesu kann gar nicht leer sein, Auferstehung ist, wie gerade betont, ein geistiges Geschehen. Jesu Körper blieb also im Grab, und er wurde – geistig – als der Lebendige erfahren. Die Kirchen erlauben seit einiger Zeit auch die Feuerbestattung, offenbar wissen sie: Der Verstorbene lebt, geistig, auch wenn sein Körper zu Asche wurde.
Und nebenbei: Wäre der Auferstandene mit seinem alten, gekreuzigten Körper „auferstanden“, hätte er ja als ein Mensch noch einmal sterben müssen, was wäre dann aber passiert? Ein erneuter Prozess gegen ihn, den Kritiker des strengen religiösen Systems? Sinnlose Spekulationen sind das.
Der katholische Theologe Hans Kessler, Autor einer umfassenden Studie zum Thema, schreibt: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu, ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet das Menschsein Jesu Christi. Aber dass Jesus ganz Mensch ist, bleibt eine unaufgebbare Einsicht der Christenheit“. Zum Buch von Hans Kessler: LINK

8.

Die erste schriftliche Äußerung hat der Apostel Paulus im Jahr 50 in seinem „Ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich“ notiert, also knapp 20 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Auch Paulus nennt kein Datum der Auferstehung. Er kennt aber den bereits lebendigen Auferstehungsglauben der Gemeinde, er spricht von der gemeinsamen, alles entscheidenden Überzeugung: „Wenn Jesus gestorben ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zu Herrlichkeit führen“ (4. Kapitel, Vers 14). Mit anderen Worten: Die Verstorbenen werden wie Jesus „auferstehen“. Damit sagt Paulus in seinen Worten das aus, was oben gezeigt wurde: Weil alle Menschen im Geist mit dem Ewigen verbunden sind, werden auch sie – wie Jesus – “zur Herrlichkeit Gottes” gelangen. Der katholische Theologe Giuseppe Barbaglio von der Universität Mailand schreibt in der theologischen Zeitschrift CONCILIUM (2006): „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.

9.

Die Rede vom „Ewigen im Menschen“ hat als notwendigen theologischen Hintergrund eine vernünftige Deutung des biblischen Bildes von der „Schöpfung“ der Welten durch Gott oder das Göttliche oder den Ewigen.
Nur diese kurze Erläuterung: Wenn „Gott“, der Ewige, die Welten „schafft“, dann kann Gott, der Ewige, dies nur realisieren, wenn diese Welten mit ihm, dem Göttlichen, verbunden sind. Wären die geschaffenen Welten total selbstständig, also außerhalb der Wirklichkeit des Ewigen, dann wäre Gott nicht mehr der Göttliche, der Alles Stiftende und Umfassende. Die gottlose Welt wäre eine Konkurrenz zu einem Gott, der dann keine göttlichen Qualitäten mehr hätte.
Die Welt und die Menschen können also nur in einer tiefen geistigen Verbundenheit mit Gott, dem Ewigen, dem lebendigen GEIST, verstanden werden. Eine Überlegung, die vor allem der Philosoph Hegel vorgetragen hat.

10.

Die Welt als eine „Schöpfung des lebendigen göttlichen Geistes“ verstehen: Dies ist das einzige Wunder, mit dem sich kritisches theologisches Denken beim Verstehen der Auferstehung auseinandersetzen muss. Andere „Wunder“ braucht kein Christ, kein religiöser Mensch. Der evangelische Theologe Prof. Stefan Alkier (Uni Frankfurt.M) schreibt in seinem Buch „Die Realität der Auferstehung“ (2009) diese entscheidenden Sätze: „Die Welt, alles Leben und auch das je meinige Leben entspringen […] nicht einem blinden Zufall, sondern der intentionalen Kreativität des sich liebevoll in Beziehung setzenden Gottes…Wer diese Hypothese nicht teilt, kann auch nicht mit den Schriften des Neuen Testaments […] von der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten sprechen“ (S. 238).

11.

Die Gegenwart des Ewigen wird inmitten des Lebens erfahren und nicht nur theoretisch gedacht. Das ist die Überzeugung der frühen Christengemeinde, die der  Autor des 1. Johannesbriefes im Neuen Testament ausspricht, es ist ein Text, der am Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde. Der Autor schreibt:
„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod”. (1 Joh 3, 14). Und im 4. Kapitel, Vers 12, heißt es: “Niemand hat Gott je geschaut, wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet”.

Mit anderen Worten: In der Liebe wird das Ewige in diesem menschlichen Leben erfahren.

Nur weil die Menschen lieben, also Liebe (er)leben (und Liebe ist immer mehr als Caritas, sie ist immer auch erotische Liebe), erfahren sie und denken sie das Göttliche, das im Menschen lebt. Dieses inmitten des Lebens präsente Göttliche wird den Tod überdauern. Diese Erkenntnis spricht der 1. Johannes Brief lapidar aus im Vers 6, Kap. 4: „Wir aber sind aus Gott”.

12.

Die Auferstehung Jesu sollte eine Lebensphilosophie inspirieren. Die Theologin Elisabeth Moltmann – Wendel schreibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.

13.

Kann die hier angedeutete Interpretation der Auferstehung Jesu von Nazareth “trösten”?
Sterben und Tod gehören zwar zum „Wesen“ der Menschen, aber das Sterben wird verschieden erlebt und erlitten: Im Krieg viel brutaler genauso auch in Hungerkatastrophen, dieses Sterben ist gewalttätiger als in einem gepflegten Hospiz in Europa. Immer sollte es dabei um die gemeinsame Frage gehen: Wie hätte das vorzeitige Sterben noch verhindert werden können? Durch eine Friedenspolitik, durch eine solidarische Politik…
Aber selbst wenn diese Fragen durchgearbeitet sind, drängt sich die eine Frage auf: Ist mit dem Tod alles vorbei? Ist das Versinken im Nichts die Antwort? Waren die jungen Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine nichts als „Kanonenfutter“, nur „lebendes Fleisch“, das dann durch den „Fleischwolf“ des Krieges geschickt wurde, wie kürzlich ein Kriegsreporter in einer Talkshow sagte?
Wer an das Versinken des Verstorbenen im Nichts behauptet, verkündet seine Glaubensüberzeugung, genauso wie es eine Überzeugung, eine Glaubenshaltung ist, die Ewiges im Menschen, in jedem Menschen, erkennen kann.
Angesichts des Todes denken – dabei kann man, wie immer bei existentiellen Fragen, keine Evidenz erreichen, wie man sie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik gewöhnt ist. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit.

14.

Diese Überlegungen haben auch politische Bedeutung. Wenn die Menschen wissen, sie sind mit dem Ewigen verbunden, dann haben alle Menschen eine besondere Würde. Dabei ist die wesentliche Gleichheit aller Menschen der Mittelpunkt der Menschenrechte, eine Gleichheit, die im Zusammenleben in einer gerechten Weltordnung realisiert werden muss.
Inspirierend bleibt dabei das „Auferstehungsgedicht“ des Schweizer Dichters Kurt Marti (1921-2017).
„Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!“

15.

Die vielen Millionen und Milliarden Leidender, Verfolgter, vor Hunger Sterbender, von den Kriegstreibern Getöteten: Was bedeutet für sie die Auferstehung? Darauf wird es keine evidente Antwort geben. Aber der in diesem Beitrag mitgeteilten Überzeugung folgend kann man denken: Sie haben als Menschen am Ewigen Anteil . Wer solches denkt, ist empört, dass für so viele Millionen Menschen auch heute nur der Gedanke an ein “ewiges Leben des Geistes”  sinnstiftend sein kann. Weil die herrschenden Menschen, die “Herrenmenschen” in der reichen Welt und die Herrenmenschen (Diktatoren) in der armen Welt, weiterhin weithin ohne Einschränkung so viel Unmenschlichkeit anrichten dürfen – vor den Augen der weithin hilflos gemachten “Bürger” dieser Länder.

16.

Ostern sollte also auch ein politisches Fest sein, das Fest der universalen gleichen Würde aller Menschen.
Dass diese gleiche Würde aller Menschen endlich Realität wird, ist die zentrale Aufgabe der Kirchen, wenn sie behaupten, dem Auferstandenen zu folgen. Aber die Kirchen sind zur Zeit fixiert auf sich selbst, zumal die katholische Kirche („Synodaler Weg“, Zölibat etc.), so dass sie ihre entscheidende Aufgabe der Weltgestaltung beinahe vergessen. Diese Weltgestaltung wird in dem schönen biblischen Symbol „Reich Gottes“ ausgedrückt, als einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Darin liegt der Lebenssinn für Menschen, die sich Christen nennen.

17.

Gilt die Auferstehung auch für die schlimmsten Verbrecher, Kriegstreiber, Mörder, Diktatoren? Dass sie als Menschen die Chance hatten, der vernünftigen Kraft ihres Geistes und ihrem Gewissen zu folgen, steht außer Frage. Nur: Sie haben sich dann im Laufe des Lebens stets für das Böse entschieden. Und sie sind dabei selbst böse geworden und haben sich damit selbst bestraft. Was mit diesen Leuten sozusagen post mortem passiert, entzieht sich jeder ernsthaften philosophischen oder theologischen Aussage… Die klassische Theologie kennt die neutestamentliche Erzählung vom “Endgericht” – und da wird eine deutliche Sprache gesprochen.

18.

Ich habe schon mehrfach Hinweise zum Thema “Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen” publiziert, etwa in einer Ra­dio­sen­dung für den RBB im April 2016, der TEXT: LINK

Und speziell ein Hinweis “Kant und die Auferstehung Jesu”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.