Julian Barnes Bekenntnisse: Propaganda für den Polytheismus und das Heidentum.

Der neue Roman von Julian Barnes „Elizabeth Finch“
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine neue religionsphilosophische und theologische Debatte steht bevor: Die Diskussionen werden sich – wie manchmal schon zuvor – mit dem Rühmen des Polytheismus (Heidentum) befassen und der schon üblichen Verurteilung „des“ Monotheismus, also auch der christlichen Kirchen.

1.
Julian Barnes, weltweit bekannter englischer Autor und Essayist, hat einen neuen Roman publiziert: “Elizabeth Finch“ ist der Titel. Auf Französisch liegt der Roman schon seit dem 1. September. Deswegen hat „Le Monde“ Barnes in London besucht, einen langen Artikel veröffentlicht mit wichtigen Zitaten von Barnes (veröffentlicht am 26. August 2022, S. 12, in der Beilage „Le Monde des Livres“.) Der Roman “Elisabeth Finch” von Julian Barnes liegt nun (Mitte November 2022) auch auf Deutsch vor.

2.
Barnes zeigt sich in dem Beitrag als leidenschaftlicher Verteidiger des Polytheismus, für ihn identisch mit dem Heidentum. Und konsequenterweise als leidenschaftlicher Gegner „des“ Monotheismus. Das Christentum erwähnt er ausdrücklich, er denkt aber wohl auch an die beiden anderen monotheistischen Religionen, das Judentum und das Islam. Aber es ist wohl auch die Verachtung der gegenwärtigen Kirchen (auch der Kirche in England), die ihn zur Verurteilung des Monotheismus motiviert.

3.
Im Roman ist die Protagonistin, Elizabeth Finch, eine Kulturwissenschaftlerin, eine explizite Verehrerin des römischen Kaisers Julian Apostata: Er wandte sich als Christ wieder dem alten römischen und griechischen Glauben des Polytheismus bzw. dem Heidentum zu und wollte die sich herausbildende Vormachtstellung des Christentums zurückdrängen. Er lebte von 331 bis 363, als Kaiser regierte er von 360 bis 363, er starb am Tigris, damals im persischen Reich, im Kampf gegen das Sassanidenreich.
Die Begeisterung der Professorin Finch für den „abtrünnigen“ („Apostat“) Kaiser Julian wird von ihrem Schüler Neil erzählt. Er erinnert sich, wie Elizabeth Finch davon öffentlich sprach, wie der Monotheismus (gemeint ist das Christentum) eine Katastrophe für die Menschheit war, wie der Monotheismus als „Herrschaft und Korruption zur Auszehrung des europäischen Geistes führte“. Auch dies: Dass Julian Apostata moralisch viel höher stand als die ganze Reihe der Päpste. Und dass mit dem Ende des Heidentums, mit seinem Propagandisten Kaiser Julian, die Lebensfreude aus Europa verschwand…

4.
Sehr verwunderlich ist, dass Julian Barnes in dem Interview mit „Le Monde“ selbst sehr heftig Partei ergreift für den Polytheismus und das Heidentum. Zu Beginn gesteht Barnes: „Ich bin überhaupt nicht religiös, alle Religionen sind Fiktionen. Aber ich glaube, unter allen Religionen sind diejenigen, die sich auf den Polytheismus gründen, am besten erfolgreich“. Kaiser Julian Apostat habe mit seiner Toleranz gegenüber allen bestehenden, also heidnischen Religionen, so wörtlich, einen „Supermarkt der Religionen“ erfunden. Das findet Barnes gut, deutet das als Toleranz, laut „Le Monde“.
Das ist der Gipfel der Phantasie: Wenn Kaiser Julian Apostata länger gelebt hätte, dann hätte unsere Welt eine andere, eine bessere Richtung genommen. Julian hätte dann, so der Wunsch des Autors Barnes, das Christentum marginalisiert. Christliche Priester hätten nur noch „eine bescheidene Rolle gespielt neben den Heiden und Druiden, den Anbetern der Bäume usw.“ Dann „träumt“ (so wörtlich) sich der weltbekannte Autor Barnes laut „Le Monde“ in eine heidnische Welt, in der es dann aufgrund der angeblichen Toleranz des Heidentums keine Kriege gegeben hätte, eine bessere Förderung der Wissenschaft ebenso, behauptet Barnes. Und vor allem hätten die Menschen in einer Hoffnung gelebt, die sich ganz ausschließlich aufs irdische Dasein bezieht und nicht, so wörtlich, dem „absurden himmlischen Disneyland im Jenseits nach dem Tod“ geglaubt.
Julian Barnes erinnert sich in dem Gespräch mit Le Monde an die Romanschriftstellerin Anita Brookner (1928-2016), sie hätte so hübsch gesagt: „Monotheismus. Monomanie. Monogamie. Monotonie: Nichts Gutes im menschlichen Zusammenhang beginnt mit der Vorsilbe MONO“.

5.
Die Auseinandersetzung mit diesen Lobeshymnen auf Kaiser Julian Apostata und die angeblich enormen menschlichen und wissenschaftlichen Vorzüge des Heidentums, des Polytheismus, muss ausführlich geführt werden.
Es ist bekannt, dass der Polytheismus auch in philosophischen Kreisen ein gutes Ansehen genießt, man denke an an den Philosophen Odo Marquard, der 1978 einen vielbeachteten Vortrag hielt „Lob des Polytheismus“ (in: „Abschied vom Prinzipiellen“, Reclam, 1981, S. 91 -116). Man denke an die Vordenker der „Neuen Rechten“, etwa an den Franzosen Alain de Benoît, der auf Deutsch 1982 sein Buch „Heidesein. Zu einem neuen Anfang. Eine europäische Glaubensperspektive“ veröffentlichte (Graber Verlag in Tübingen). Zuvor war schon in dem genannten Verlag der Sammelband „Das unvergängliche Erbe“ erschienen, mit dem bezeichnenden Untertitel „Alternativen zum Prinzip der Gleichheit“ (herausgegeben von Pierre Krebs). Damit wurde schon im Untertitel angedeutet: Der zu überwindende Monotheismus, etwa das Christentum, setze stark auf das Prinzip der prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Und das wollen die genannten Herren rund um Alain de Botton nun gar nicht. Antisemitismus und Heidentum/Polytheismus gehören oft zusammen…

6.
Auch das gilt: Der Monotheismus kann selbstverständlich nicht pauschal verteidigt werden. Monotheistisch-fromme Menschen, etwa Christen, Theologen, Päpste usw .haben im Laufe der Kirchengeschichte ihre Haltung bewiesen: „Wir besitzen die absolute Wahrheit, und wir drängen diese unsere absolute Wahrheit allen anderen auf, durch Kolonialismus, Mission, Bekehrung“. Da hat sich also die Überzeugung durchgesetzt, subjektiv etwas Wahres erkannt zu haben, total auf objektive Welt, in die Gesellschaft, die Staaten übertragen. Und die Kirchen als Institutionen haben die nur für den einzelnen Menschen privat mögliche absolute Wahrheit ins Objektive, ins Allgemeine, als allgemeine Lehre, übertragen. Und dann begann die Katastrophe des Kolonialismus usw.

7.
Es muss hier nicht ausführlich besprochen werden, dass selbstverständlich innerhalb des Monotheismus, also der Kirchen, einzelne und Gruppen lebten und leben, die den Respekt der universalen Menschenrechte über ihre subjektive Glaubensform stellen. Man denke an Franz von Assisi oder auch an den Verteidiger der Indigenas, Pater Bartolome de las Casas.
Eine pauschale Verurteilung des Monotheismus, wie sie Julian Barnes versucht, ist schlicht und einfach historisch falsch. Genauso, wie es auch falsch ist, den Polytheismus pauschal gut und prächtig zu finden. Tatsache ist, dass heidnische Religionen, man denke an die Azteken, in ihrer rituellen Praxis nicht gerade ein Inbegriff der Menschlichkeit und Sanftheit waren. Ob der polytheistische Hinduimsus pauschal so menschenfreundlich ist, bleibt angesichts der jetzigen Hindu-Nationalisten sehr fraglich. Und ob die germanischen heidnischen Stämme einst nun große wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht hätten, wie Barnes hofft, ist auch fraglich.
Und kann man heute gar nicht davon davon absehen, dass viele Soziologen und Politologen von den neuen Göttern des Kapitalismus und Neoliberalismus sprechen, Götter, die das permanente Wachstum gebieten und die Herrschaft der „Alternativlosigkeit“ predigen. Diese neuen materiellen Götter des polytheistischen Kapitalismus haben bei vielen jedenfalls keine gute Presse. Gott sei Dank, oder den Göttern sein Dank!

8.
Allein differenzierendes Argumentieren hilft bei dem Thema weiter und eine genau Kenntnis der Geschichte des spätrömischen Reiches, als es um das Zusammenleben von Heiden und Christen (und Juden) ging. Dazu gibt es vorzügliche historische Studien von bedeutenden Historikern, ich nenne nur den Engländer E.R. Dodds, Gräzist in Oxford, von ihm liegt auf Deutsch u.a.vor: „Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst“ (Suhrkamp, 1985).

9.
Es wäre im einzelnen zu zeigen, dass die universal geltenden Menschenrechte erst im Zusammenhang des Monotheismus möglich wurden. Die Menschenrechte sind ein Produkt der philosophischen Aufklärung, aber diese lebte von dem Gedanken, dass es ein oberstes Prinzip (manche nannten es noch Gott, die Deisten) geben muss als schöpferische Kraft fürs Entstehen aller Menschen. Über diese oberste schöpferische Kraft (Monotheistisch) sind also alle Menschen über die eine gemeinsame Herkunft miteinander verbunden, als Brüder und Schwestern.

10.
Es muss weiter untersucht werden, wie sich vor allem im Katholizismus eine offiziell nicht eingestandene polytheistische Tradition entwickelt hat, man müsste also ernsthaft über den Marienkult reden als Form der Verehrung einer weiblichen Gottheit; man müsste über den Kult der Engel sprechen, heute sehr beliebt, nicht nur bei den geschätzten 20 Engelbüchern von Pater Anselm Grün, sondern auch bei „kirchenfernen“ Leuten. Man müsste sprechen die Heiligenkulte, die Reliquienkulte, die Segnungen von Bäumen und Autos und Handys und Tieren im Katholizismus. Und vor allem: Allen Ernstes müsste endlich gezeigt werden, wie polytheistische Inhalte im Glauben an die Trinität enthalten sind, der Theologe Edward Schilleeeckx hat drauf hingewiesen. Für Kirchenchefs ein peinliches Thema!

11.
Man ist aber insgesamt sehr erstaunt, wie ein „weltbekannter“ Autor wie Julian Barnes (40 Bücher, übersetzt in 30 Sprachen und vielfach mit Preisen überschüttet) sich derart fürs Heidentum heute einsetzen kann.
Aber Religionsphilosophen können auch dankbar sein, dass durch die ziemlich oberflächlichen Behauptungen und „Träume“, wie Barnes selbst sagt, das Thema „Wie böse ist denn nun =der= Monotheismus“ gründlicher diskutiert wird. Und deutlich werden muss auch: Alle rechtsextremen Kreise heute wie damals schmücken sich gern mit heidnischen Ideologien oder Versatzstücken von Edda und Wotan usw. Und sie sind oft Antisemiten!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Demokratie braucht Religion! Behauptet Hartmut Rosa.

Ein Hinweis auf eine Broschüre mit dem gleichen Titel.
Von Christian Modehn.

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Ein Motto, am 19. Juni 2024 von Christian Modehn notiert:

Die Pyramide ist immer das Bild, um Diktaturen zu beschreiben.

Der Faschismus Italiens z.B. war als Pyramide konzipiert und organisiert, an der Spitze konzentrierten sich alle Gewalten. So ähnlich ist auch der Vatikan, die Leitung der katholischen Kirchem bis heute organisiert. Alles dreht sich um den – bis jetzt noch – allmächtigen Papst. (vgl. den Aufsatz “Antithese des Faschismus”, von Roberto Scarpinato, in “Lettre International”, Nr. 145, S. 7).

Kann eine solche “pyramidal gestaltete Religion” die Demokratie verteidigen? Wir glauben auch aufrund historischer Erfahrungen: NEIN!

Diese Frage und diese Antwort gilt auch für andere Religionen, wie den Islam, jüdische Traditionen, den Hinduismus usw… Die Demokratie enthält so viel Potential, auch so viel geistvolle Spiritualität, dass sie sich selbst verteidigen und schützen kann. Sie braucht zu, Sufau und Erhalt religiöse Menschen, aber solche, die zuerst demokratisch denken und handeln und NICHT zuerst religiös oder kirchlich orientiert denken und handeln. Religiöse Bindung steht immer an zweiter Stelle! So, wie die allgemeinde Vernunft (der Menschenrechte und der Demokratie) immer an erster Stelle steht gegenüber Weisheiten aus religiösen Traditionen und sich heilig nennenden Büchern.

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1.
Der Titel der Broschüre von Hartmut Rosa „Demokratie braucht Religion“ ist verwirrend: Denn die größte, auch quantitative Aufmerksamkeit des Soziologen gilt der Analyse der heutigen westlichen Gesellschaft, einer Analyse, die als Wertung zu den umfassenden wichtigen Studien Rosas zur Redundanz führt.

2.
Wenn der Autor hier von Religion spricht, dann meint er explizit immer auch die „starke Stimme der Kirche“ (S. 25), Religion und Kirche(n) werden also ziemlich unbefangen identifiziert. Abgesehen davon: Der Autor betont sehr allgemein und sehr knapp: „Kirche hat … eine verdammt wichtige, sehr wichtige Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen. Ganz einfach weil ich glaube, dass sie einer Gesellschaft etwas anzubieten hat“ (S. 26f.) Bei diesen Allgemeinheiten bleibt es denn auch, vielleicht noch der ebenso allgemeine Hinweis, dass wir in der „ernsthaften Krise“ der „religiösen Einrichtungen, Traditionen, Praktiken, Riten usw. bedürfen“ (S. 27). Die Kirche kann das in dieser Gesellschaft fehlende „hörende Herz“ (S. 27) pflegen und bereiten, heißt es dann noch.

3.
Kein Wort dazu, dass gerade die katholische Kirche in Deutschland und tatsächlich weltweit in mehrfachen selbst gemachten, eigenen, gravierenden Krisen steckt, allen voran der tausendfache sexuelle Missbrauch durch den angeblich zölibatären Klerus; der Niedergang von Pfarr-Gemeinden durch den Priestermangel; die Abweisung der Frauen vom Priesteramt; die Abweisung der Ehe für homosexuelle Paare; das Verbot des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken mit Protestanten und so weiter und so weiter. Da ist es schon sehr mutig und sehr gewagt, wenn ein prominenter Soziologe (und Christ bzw. auch Organist in einer evangelischen Kirche im Schwarzwald) solche Allgemeinheiten zu der angeblichen Notwendigkeit der Kirche verbreitet.

4.
Der Text der Broschüre Hartmut Rosas geht auf eine Einladung des Bistums Würzburg im Jahr 2022 zurück, das Bistum hatte einen Diözesan-Empfang organisiert, den sie mit einem akademischen Vortrag schmücken wollte: Tatsächlich hatte der Vortrag in Würzburg einen anderen Titel als das Buch, er lautete in Würzburg: „Rasender Stillstand. Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen – ein soziologischer Bestimmungsversuch.“

5.
Das Thema der Broschüre wird als herausfordernde These, nicht als Frage, formuliert „Demokratie braucht Religion“. Und es ist nicht nur meine Meinung, wenn diese Erkenntnis diskutiert würde: Die Demokratie braucht zumindest nicht diese Religion, also diese katholische Kirche in Deutschland. Die Demokratie muss sich aus eigener Kraft, durch gerechte Gesetze und unabhängige Richter sowie nicht korrupte Politiker selbst stärken und selbst verteidigen, denn sie ist eine Demokratie in einem religiös, weltanschaulich pluralistischen Staat. Da braucht man auch nicht die Hilfe etwa des konservativen Islams oder der orthodoxen Juden usw. Denn die römisch-katholische Kirche kann aufgrund ihrer Verfassung gar nicht wirksam Demokratie fördern und glaubhaft Menschenrechte verteidigen. Denn sie ist bekanntlich selbst in keiner Weise demokratisch organisiert, sie lässt die Menschenrechte in der eigenen Institution nicht gelten, siehe auch das verzweifelte Bemühen einiger Unentwegter im „Synodalen Prozess“. Diese Kirche ist ein Club, in dem Männer alles Wichtige definitiv aufgrund angeblicher göttlicher Vollmacht entscheiden. Und dieser Männerclub ist insgesamt sehr extrem moralisch belastet und kaum noch glaubwürdig, ist eingezwängt von berechtigten Anklagen, Prozessen… und diese Kirche stinkt trotzdem vor Geld – verglichen mit anderen Kirchen, etwa in Frankreich. Denn trotz der stetig steigenden hohen Austrittszahlen fließen die vielen Millionen Euros an Kirchensteuer. Diese Kirche lebt materiell also von “nicht-praktiziernden Katholiken”, das sind ca. 80 Prozent aller, die sich als Mitglieder dieser Kirche bezeichnen.

6.
Also, in dieser aktuellen Situation zu behaupten, „Demokratie braucht Religion“ ist geradewegs verwegen, zumal nicht die private, möglicherweise innige mystische Religion und Frömmigkeit gemeint ist, sondern die römisch katholische Kirche als Institution. Meine Meinung: Diese muss erst eine Reformation (nicht Reform, sondern Reformation) erleben, um wieder „gebraucht“ zu werden, Das heißt ja nicht, dass einzelne Pfarrer, Ordensleute oder ehrenamtliche Frauen und Männer an der Basis Hilfen etwa im caritativen Bereich leisten, aber das „Gesamtimage“ der Kirche ist zu beschädigt, als da noch von „Gebrauchtwerden“ die Rede sein könnte. (Ergänmzung am 15.11.2022: Siehe dazu unter Nr. 11 einen Hinweis auf eine katholische Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus” am 14.11.2022)

7.
Das heißt nun wiederum nicht, dass die ca. 40 Seiten der Broschüre, die sich auf die soziologische Analyse und die Präzisierung des Begriffes Redundanz beziehen, nicht lesenswert seien. Im Gegenteil, wegen dieser komprimierten Zusammenfassung DES Forschungsthemas von Prof. Hartmut Rosa lohnt es sich, das Büchlein zu lesen. Ich brauche hier diese Kurzfassung der Rosa Thesen zur Redundanz nicht zu wiederholen, die Broschüre bietet sie leicht nachvollziehbar an.

8.
Am Ende dieser Darstellung wird noch einmal auf die Religion verwiesen, merkwürdigerweise sogar auf das Dogma der Dreifaltigkeit (S. 69), in dem Rosa ein „Resonanzverhältnis zwischen Vater, Sohn und Heilige Geist“ entdeckt, der Philosoph Hegel hätte sich über diesen Hinweis sehr gefreut. Wesentlich hilfreicher sind dann die schon ins Theologische greifenden Thesen Rosas: „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung“, Rosa denkt dabei vielleicht an einen schöpferischen Gott, absoluten Geist, an eine unendliche Kraft von allem?

9.
Wie Jürgen Habermas schon seit 2000 ist auch Hartmut Rosa überzeugt: Religionen und Kirchen haben doch noch ein „Ideenreservoir“ (S. 74), das unsere Gesellschaft niemals vergessen darf. Denn sonst „ist sie (die Gesellschaft, diese Welt) endgültig erledigt“ (S. 74). Man schaue aber nur auf die Russisch-orthodoxe Kirche und ihren Kriegstreiber Patriarch Kyrill von Moskau, um dann doch Zweifel zu formulieren: Ist diese Welt nicht gerade wegen dieser korrupten Kirche und anderer korrupter Kirchen (solcher, die Menschenrechte missachten, den Faschismus dulden etc.)„erledigt“. Darüber würde man sich weitere Ausführungen bei weiteren „Diözesanempfängen“ wünschen….

10.
Zu der Broschüre hat der Politiker Gregor Gysi (Partei Die Linke) ein kleines Vorwort verfasst. Gysi, der „Nichtglaubende“ (S. 13) wiederholt seine These: Der befreiende (!) Gehalt religiöser Ideen sollte nicht verloren gehen“ (ebd.) Der bekannte Politiker muss sich eingestehen, dass die Linke jetzt keine grundlegenden Moral – und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft“ (S. 14) anbieten kann. Das ist schlimm genug, zumal der Markt (also der Kapitalismus) „auch keine Moral-und Wertvorstellungen hervorbringen“ kann (S. 15), meint Gysi. In einer Gesellschaft ohne Moral soll also die Kirche helfen? Gysi lobt bei diesen trüben Aussichten das ehrenamtliche Engagement vieler Mitglieder der Kirche zugunsten der Humanität, „auch wenn bei den Kirchen nicht alles im Lot“ ist. Wenn man diese Zeilen Gysis liest, könnte man sich wünschen: Ein Dialog Gysi – Rosa beim „Diözesanempfang“ wäre in jedem Fall spannend gewesen, wenn sich denn auch der Bischof in diese Runde diskutierend begeben hätte… Dann wäre danach sogar noch ein Buch entstanden.

11. Aus der katholischen Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus”: Am 14.11.2022:

Der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Frank Schwabe (SPD), forderte die Entlarvung religiös begründeter Populismen – sonst werde Religion am Ende “wirklich weltweit in ganz unterschiedlichen Systemen der Treiber für Unfreiheit”. Ideologische Abgrenzungen und einfache Wahrheiten seien eng verwoben mit rechtspopulistischen Ansichten: “Und das zusammen wird eine ganz, ganz gefährliche Melange, die am Ende dazu geeignet ist, Demokratien in Diktaturen zu verwandeln.“

ONLINE-Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus“ am 14.11.2022 um 14.30 Uhr.

Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Kösel Verlag München, 2022, 75 Seiten. 12 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Von der Erschaffung der Welt durch Gott: Aktuelle Deutungen des Mythos.

Gott grenzt das Übel und das Ungeheuer nur ein, er begrenzt es. Das ist seine Schöpfungtat.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Über die Erzählungen, also die Mythen der Bibel im Buch „Genesis“ wird noch heute gestritten. Etwa über die Frage: Wie ist die Weisung Gottes an die Menschen zu verstehen, sich die „Erde untertan“ zu machen? (vgl.Gen 1,28, Menschen dürfen Tiere töten Gen 9,1-4). Wird da eine totale Herrschaft der Menschen über Natur und Tiere von Gott gutgeheißen? So wurde der Text oft verstanden: Der Mensch ist der „Unterwerfer der Erde“ (Gen.1, 28). Jetzt bemühen sich Theologen und Kirchenleitungen, diese Herrschaft des Menschen über die Natur korrekt zu verstehen und damit die Herrschaft des Menschen erheblich einzuschränken. Die Öko-und Klimakatastrophen haben die Theologen also auch etwas aufgeweckt.

2.
Es gilt insgesamt, dass endlich viele theologisch Ungebildete mehr über die biblischen Schöpfungsmythen lernen, theologische Naivität darf nicht länger das Denken verstören. Es gilt also zu lernen, beim Thema „Schöpfung der Welt und der Menschen durch Gott“. Davon erzählt der Mythos im Buch Genesis gleich zweimal. Das Thema war lange ein Kampfplatz zwischen naiver Theologenherrschaft und Natur-Wissenschaft. Heute wird selbst in populären Aufsätzen zum Thema Schöpfung von katholischen Theologen betont: In den biblischen Mythen der Genesis ist überhaupt nicht die Rede von einem absoluten Anfang der Welt, also einer Art Schöpfung aus dem Nichts, klassisch „creatio ex nihilo“. Jegliches „wortwörtliches Verstehen“ der Bibel, auch der Mythen im Buch Genesis, ist schlicht und einfach Unsinn. Wer als evangelikaler Fundamentalist solche Bibel – Deutungen verbreitet, trägt nur zur Verwirrung und Verblödung der Menschen bei. Leider sind diese Leute auch (rechtsextrem) politisch aktiv.
Zur kritischen Information zu einigen Aspekten siehe die Aufsatzsammlung „Christlicher Schöpfungsglaube heute“ (Grünewald-Verlag 2020).

3.
Die neun Beiträge in dem Buch wollen auch eine zeitgemäße Schöpfungsspiritualität fördern.
Mir erscheint es aber wichtig, hier eine zentrale Erkenntnis in den Mittelpunkt zu stellen:
Der Begriff Schöpfung der Welt durch Gott will keine kausalen Zusammenhänge aussprechen. Also: Gott ist nicht der „Macher“ der Welt. Er ist „nur“ der Ordner des vorgefundenen Chaos. „Der erste Vers der Genesis bezeichnet NICHT den Anfang der Schöpfungstätigkeit Gottes“, schreibt der katholische Theologieprofessor Georg Steins (S. 19). „Mit dem Erschaffen ist also NICHT die Idee eines absoluten Anfangs verbunden, sondern der AUFBAU GEORDNETER VERHÄLTNISSE“ (ebd., Hervorhebungen von CM).
Georg Steins betont weiter: Gott findet also (um in dieser mythologischen Redeweise zu verblieben CM) ein tohu wabohu vor, eine Welt der Finsternis und Unordnung lebensfeindlicher Mächte. Und was tut Gott in dieser Interpretation des Mythos? Gott zieht (nur) Grenzen, er hegt diese schädlichen Gefahrenquellen (nur) ein. Diese Eingrenzung des Übel sei die entscheidende Schöpfungsaktivität Gottes, sagt Steins: „Das Chaotische wird zu einem Teil der Schöpfung und verliert an bedrohlicher Macht“ (S. 21). Oder noch einmal: „Das Chaotische, tohu wabuhu, muss nicht vernichtet, sondern eingefügt und eingehegt werden“ (S. 22) „Nicht von der Idee der Herstellung aus wird Schöpfung konzipiert, sondern in der Perspektive des Anordnen und Ordnens“ (S. 23). Für diese Erkenntnis bietet Georg Steins seine eigene, neue Übersetzung von Genesis 1,1-4 an, mit entsprechenden Zeilenverschiebungen:
„Anfangs
als Gott den Himmel und die Erde schuf –
… die Erde war unwirtlich und unheimlich,
… Finsternis über der Chaosflut
… Gotteswind hin und her fahrend über der Wasserfläche
Sprach Gott…“

4.
Die Autoren des Buches Genesis haben also offenbar kein Interesse zu erklären, woher die ungeordnete Welten-Masse denn selbst stammt. Diese findet Gott (immer noch als der Allmächtige gedacht?) vielmehr vor. Georg Steins beantwortet nicht die Frage: Wer hat dann diese ungeordnete chaotische Masse „geschaffen“, gab es sie schon „vor dem Auftreten Gottes“, möchte man wissen. Oder ist dieses Fragen schon vermessen? Der katholische Theologe Steins gibt darauf keine Antwort. Die Autoren dieses Textes der Genesis lebten im babylonischen Exil und mussten in ihrer Niederlage einen starken Gott konzipieren, einen das Chaos ordnenden Gott erschaffen! Gott zur Stunde Null im Weltganzen interessierte nicht.
Ebenso vermeidet er eine Auseinandersetzung mit der Erbsünde, dieser Ideologie des alt gewordenen heiligen Augustinus, die in der kirchlich noch immer gelehrten Form in den Mythen der Genesis keine Begründung findet.

5.
Das im Mythos angesprochene Bild der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen erwähnt Georg Steins. „Sie ist funktional verstanden, nicht essentiell. Nicht etwas IM Menschen macht ihn gottgleich, sondern seine Rolle in der Schöpfung, konkret die umfassende Sorge für die Ordnung“ (S. 24).
Da hätte meines Erachtens eine Auseinandersetzung mit Hegel gut getan, für den klar ist: Nur weil Gottes Geist IM Menschen, in dem endlichen Geschöpf, lebt, kann überhaupt eine Versöhnung von Gott und Welt gedacht werden. Die Welt ist zwar das „Andere“ zu Gott, aber ein Anderes, das mit Gott eng verbunden, „identisch“ ist, sagt Hegel. Wäre das anders, könnte Gott nicht als Gott gedacht werden, denn dann hätte er als unvollkommener Gott noch eine gottlose Welt stets neben sich… „Es ist unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem ihm Fremden, (also der Endlichkeit des Menschen, CM) identisch gesetzt hat“, sagt Hegel in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Suhrkamp Ausgabe Band 17, S. 292.

6.
Auch ein Beitrag über die Enzyklika von Papst Franziskus „Laudatio si“ (2015) von Ottmar Edenhofer und Christian Flachsland ist in dem genannten Sammelband enthalten. Dieser Aufsatz endet mit dem Kapitel „Herausforderung an die Kirchen“, dazu gehört auch die „Überprüfung kirchlichen Wirtschaftens“ (S. 48). Dabei beklagen die beiden Autoren die geringen Befugnisse der Umweltbeauftragten in den Kirchenleitungen.
Die Autoren hätten auch eine ausführliche Forderung formulieren sollen: Wie kann der Vatikan ab sofort mit der Vielfliegerei der Bischöfe und Kardinäle umgehen, und sie wenn möglich abschaffen, wenn ständig irgendwelche Konferenzen mit dem Papst und der vatikanischen Bürokratie stattfinden und sich Bischöfe z.B. aus Chile oder dem Pazifik in Rom einfinden müssen. Die Frage drängt angesichts einer in nicht so fernen Zeit bevorstehenden Bestattung des EX-Papstes Benedikt XVI. und einer neuen Konklave: Wieviel CO2 Emissionen geschehen dann durch diese Herren Kardinäle in ihrer Hin und Her Fliegerei. Erst wenn solche Fragen ernsthaft diskutiert werden in theologischen Büchern über die „Bewahrung der Schöpfung“, können diese Texte wirkliche kritische Aufmerksamkeit finden.

Stefan Voges (Hg.), “Christlicher Schöpfungsglaube. Spirituelle Oase oder vergessene Verantwortung?“ Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern, 2020, 153 Seiten, 32 Euro.

Die einzelnen Beiträge:
Georg Steins
Wovon sprechen die biblischen Erzählungen „am Anfang“?

Ottmar Edenhofer/Christian Flachsland
Laudato si’. Die Sorge um die globalen Gemeinschaftsgüter

Andreas Benk
Schöpfung als Befreiung
Plädoyer für eine visionäre Schöpfungstheologie

Klaus Müller
„Schöpfung“ – philosophisch gegen den Strich gebürstet

Gotthard Fuchs
„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ … in deiner Urständ fröhlich ist“
Thesen zur christlichen Schöpfungsspiritualität

Bärbel Wartenberg-Potter
Plädoyer für eine grüne Reformation

Daniel Munteanu
Schöpfungsspiritualität als kosmische Liturgie

Franz Neidl
Die universale Schöpfungsgemeinschaft
Eine Botschaft in zwei Varianten, mit Blick auf das Verbindende

Stefan Voges
Tiere, unsere Mitbewohner im gemeinsamen Haus
Eine Konkretisierung von Laudato si’ in der Spur einer theologischen
Zoologie

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Heiliges Privat-Eigentum. Weil einige viel zu viel Privateigentum haben, müssen heute 3 Milliarden Menschen hungern.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.10.2022. ZUR “BÜRGERBEWEGUNG FINANZWENDE”: Siehe die Informationen am Ende dieses Beitrags (Nr.11)

Das Leitwort: “330 Milliarden US-Dollar könnten helfen, um Hunger und Armut zu beenden, laut einer von der deutschen Regierung unterstützten Studie. Dies betont Thomas Rath,  vom “Fond für landwirtschaftliche Entwicklung”, IFAD, im Tagesspiegel, 18. Oktober 2022. Und ich füge hinzu: Diese 330 Milliarden könnten die vielen Milliardäre zusammen mit solidarischen Millionären heute weltweit mit Leichtigkeit aufbringen. Und ethisch korrekt gesagt: Wenn diese Herren Milliardäre ein soziales Gewissen hätten… Und eine entsprechende politische Debatte geführt würde. Aber die demokratischen Politiker sind dazu zu feige…

1.
Die Fixierung aufs Privat-Eigentum ist eine der leidenschaftlichsten Energien der meisten Menschen, sie ist mit grenzenloser Gier und Habsucht verbunden. Und die äußern sich aggressiv, kriegerisch, tötend. Auch Nationalismus ist Gier, wird zum Wahn, siehe Putin, siehe Xi. Wer viel Eigentum hat, etwa die Millionäre und Milliardäre, denkt bestenfalls daran, mit den üblichen Spenden das elende Leben von hungernden Millionen Menschen zu verbessern. Dabei könnte, pauschal gesagt, die gesetzliche Halbierung des Privateigentums von Milliardären den Hunger in der Welt besiegen, abgesehen von vielen anderen Wohltaten für die Menschheit. Aber nein, diese gesetzliche Halbierung will fast niemand, spricht fast niemand an, so krepieren Millionen Hungernder weiterhin und die Milliardäre zählen ihr Geld. Geld als Geldvermehrung ist ihr Lebenssinn. Die Welt dieser Leute ist auch erbärmlich, diese Leute sind ausgehungert an Geist und humaner Vernunft.

2.
Wer philosophisch – kritisch denkt, von christlichem Geist des Teilens soll gar keine Rede mehr sein, weil selbst die reichen Kirchen auch meist zu bescheidenen Spenden bereit sind, wer also philosophisch-kritisch denkt, beachte diese Erkenntnis: Sie wird von der seriösen und gar nicht marxistisch angehauchten „Enzyklopädie Philosophie“ mitgeteilt: „Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften… Es gibt jedenfalls wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte. Und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie es sich in der Geschichte der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gezeigt hat“, „Enzyklopädie Philosophie”, Band I, S. 454, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, der Beitrag „Eigentum“ ist verfasst von Helmut Rittstieg.
Der Psychoanalytiker und Philosoph hat daran erinnert, welche seelischen Schäden die Fixierung aufs Eigentum bewirkt, man denke an sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er klar die Alternative formulierte: Erstarrtes Ego-Leben in der Fixierung aufs Haben (Eigentum) ODER lebendiges Miteinander im Sein, in der umfassenden Bejahung des geistigen Lebens und des Teilens. Wer allen Wert aufs Eigentum, aufs Haben legt, meint: Ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet meine Identität. Ich kontrolliere dann alles, was ich habe, auch Menschen. Der aufs Eigentum fixierte Mensch definiert sich durch seine Bindung an die Objekte, ans Eigentum. Er verliert sich selbst als Subjekt.

3.
Trotz dieser üblichen Verbindung von Gewalt und der maßlosen Liebe zum Privat-Eigentum bleibt für die reiche Welt, inklusive der Frommen und der religiösen Führer aller Religionen, Eigentum wichtigster Lebenssinn. Die Privateigentümer legen wert auf ein undifferenziertes Verständnis des Eigentums, es wird so getan, als wäre das maßlose Privateigentum der Milliardäre genauso ein unstrittiger Wert wie das selbstverständliche Eigentum der Bürger: Diese nutzen ihr bescheidendes Privateigentum als persönliches Gebrauchseigentum nur für die individuelle Lebensgestaltung. Ethisch steht fest: Nur dieser überschaubare, praktische Gebrauch meines Eigentums zur privaten Lebensgestaltung ist ethisch sinnvoll. Eigentum ist nicht automatisch und in jedem Umfang und immer etwas Gutes, eine geradezu banale Aussage, die längst nicht selbstverständlich ist. Das Eigentum muss, das lehrte schon Aristoteles, in den Dienst des Lebens aller Menschen gestellt werden. Privateigentum in extremem Auswuchs darf nicht das Menschenrecht aushebeln, dem folgend alle Menschen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben, und nicht nur einige. Darauf haben jetzt u.a die Philosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen immer wieder hingewiesen.

4.
Falls man noch christlich interessiert ist im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth, könnte als Motto zu diesem philosophischen Hinweis ein Zitat des außergewöhnlichen sozialkritischen Bischofs und Theologen Johannes Chrysostomos (349-407) stehen: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”. Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (2020), dort unter Nr. 119 mit dem Titel: “Über die Geschwisterlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (349-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt… Bekanntlich haben sich die Kirchenleitungen nicht an die Weisungen von Johannes Chrysostomos gehalten… Die Päpste haben die Etablierung des Adels geduldet, sie haben die oberen Klassen des Klerus selbst dem Adel reserviert, sie haben die Gier der Priester zum üblichen Alltag gemacht und Armutsbewegungen wie die Franziskaner erst dann geduldet, als diese sich den Päpsten unterwarfen. Und heute? Die Gehälter der Bischöfe und Erzbischöfe, der Landesbischöfe und Generalsuperintendenten in Deutschland sind auch Beweis, dass es diesen hohen Herren und auch protestantischen kirchenleitenden Damen doch sehr auf ein sehr reichlich bemessenes Eigentum ankommt. Kürzlich hat Kardinal Marx aus seinem „Privateigentum“ 500.000 Euro in eine soziale Stiftung umgewandelt, aus Ersparnissen seines Gehaltes von 13.654,43  Euro monatlich kann solch eine Summe kaum entstehen… Leider hat Kardinal Marx in seiner Großzügigkeit unter seinen „Mit-Oberhirten“ keine Nachfolger gefunden. (Quelle: https://juedischerundschau.de/article.2020-05.corona-elftausend-euro-mannbedford-strohm-fordert-verzicht-von-anderen.html)
5.
Die Gesellschaft und die Staaten sind jetzt, in diesen Zeiten vielfältiger Krisen gespalten, katastrophal gespalten, nicht Kooperation, sondern Feindschaft ist die Ideologie der um Eigentum an Land, Bodenschätzen, Einflusssphären kämpfenden Staaten. In den demokratischen Gesellschaften kämpfen die vielen prekär lebenden, eigentumslosen Menschen mit den eher wenigen, die auch in Krisenzeiten ökonomisch privilegiert dastehen. Weltweit wird die ungerechte Verteilung des Eigentums immer bedrohlicher: Arme gegen Reiche, Millionen Bettelarmer gegen einige tausend Milliardäre. Millionen Menschen mit einem Dollar pro Tag stehen schwach und ausgehungert gegen Leute mit einer Million Dollar pro Tag als „Taschengeld“. „Die armen Länder sollten Anrecht auf einen Teil der Steuern multinationaler Konzerne und der Milliardäre dieser Erde haben. „Denn der Wohlstand der reichsten Akteure ist völlig dem globalen Wirtschaftssystem und der internationalen Arbeitsteilung geschuldet“ (Thomas Piketty, „Ungleichheit“, C.H.Beck Verlag 2022, S. 232). Die „reichen Länder verdienen an den armen Ländern aufgrund des von der Welt der Reichen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems.

6. Erinnerung an einige Fakten:
Die internationale Hilfsorganisation OXFAM schreibt am 12.1.2022:
Die Reichsten verdoppeln ihr Vermögen – während über 160 Millionen zusätzlich in Armut leben. Die einen verdienen, die anderen sterben: Wie die Covid-19-Pandemie Ungleichheit befeuert. Während der Covid-19-Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen verdoppeln, auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.
Ungleichheit ist zudem eine Frage von Leben und Tod: Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Oxfam fordert von den Regierungen weltweit, Konzerne und Superreiche zur Finanzierung sozialer Grunddienste stärker zu besteuern, für globale Impfgerechtigkeit zu sorgen und die Wirtschaft am Gemeinwohl auszurichten“. (Quelle: OXFAM, 12.1.2022)

7.
Zur dramatischen Nahrungsmittelkrise: „Wir entfernen uns immer weiter von der Beendigung des Hungers“. Zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022 zeichnet sich ab, „dass die globalen Ernährungssysteme versagen. Die Lage verschlechtert sich drastisch“. (Tagesspiegel 16.10.2022)
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande, in DEUTSCHLAND, derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
Die Öffentlichkeit weiß mehr über Armut und Arme als über die Reichsten, sie sind diskret. Es gibt Armutsforschung, aber fast keine Reichtums Forschung. Das kann sich ändern, wenn sich mehr Leute informieren: Über die Top 20 deutschen Milliardäre: LINK https://www.merkur.de/wirtschaft/reichste-deutsche-vermoegen-geld-deutschland-milliardaere-gehalt-thiele-aldi-lidl-sap-plattner-bmw-albrecht-zr-90101849.html
Die reichsten Milliardäre weltweit: LINK: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181482/umfrage/liste-der-top-25-milliardaere-weltweit/

8.
Wie kann Gerechtigkeit gesetzlich geschaffen werden in einer Welt zunehmender Ungleichheit in der Verteilung des Privateigentums? An die gesetzliche Halbierung des Milliardärs-Eigentums ist kaum zu denken. ABER:
Die Frage wird eher selten gestellt. Wer sind konkret namentlich diejenigen, die über eine offenbar allmächtige Lobby auch weltweit verfügen und über bestimmte, sich in Europa liberal nennende Parteien durchsetzen, um ihren luxuriösen Luxus-Standart gesetzlich festschreiben lassen: Also Parteien, die als Vertretungen eher von Minderheiten so mächtig sind, dass sie etwa in Deutschland gerechte Vermögenssteuer verhindern und gerechte Erbschaftssteuer, gerechte Verfolgung von Milliardären, die sich als Oligarchen aus autokratischen Regimen in Demokratien niederlassen usw.

9.
Der Religionsphilosophische Salon befasst sich mit dem Thema „Eigentum“, weil Privat-Eigentum, in welcher Form auch immer, in weiten Kreisen als heilig gilt, also als unantastbar, als verehrungswürdig, als Phänomen, vor dem man förmlich niederkniet, dem man als Geld und als Wachstum des eigenen Vermögens alles opfert … an eigener Lebens-Zeit und geistiger Energie: Dieses Privateigentum ist also göttlich. Eigentum also ein dringendes religionsphilosophisches Thema. Ein Thema der Religionskritik: Zu den vielen Göttern der kapitalistischen Gegenwart gehört als einer der Ober-Götter das Privateigentum.Vor ihm knien alle nieder. Insofern ist unsere „säkulare“ Gesellschaft frei vom Glauben an den Gott der Bibel, aber es gibt genug Ersatz-Götter.

10.
Im August 2021 hatte ich einen etwas ausführlicheren Hinweis zu Pierre-Joseph Proudhon veröffentlicht unter dem Titel, auf sein Werk bezogen: Eigentum ist Diebstahl“. Dieser Beitrag hat viel Aufmerksamkeit gefunden: LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/13911_eigentum-ist-diebstahl-proudhon-1809-1865_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher

11.

Ist die Debatte über Eigentum überhaupt die richtige Diskussion? Müsste man sie nicht umlenken auf die Debatte über Reichtum und über das Vermögen?, so fragt der Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ. Er ist Mitbegründer einer wichtigen Initiative: “Finanzwende”: https://www.finanzwende.de/ueber-uns/wer-wir-sind/

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Abschied vom klassischen Herrscher – Gott in der Höhe. Und dabei den schwachen Gott entdecken.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von John D. Caputo.
Von Christian Modehn.

Das Buch von John D. Caputo „Die Torheit Gottes“ ist sicher eines der besonders anregenden (und „zugänglichen“) Bücher über Religion und Glauben in diesem Herbst 2022. Endlich ein theologisches Buch (von einem Philosophen !), das etwa die ewigen Debatten über Strukturreformen der katholischen Kirche beiseite setzt, weil es zeigt: Auf etwas ganz anderes kommt es an: Auf die Korrektur des Gottesbildes, also auf die Korrektur der üblichen herrschenden Dogmatik der klerikalen Herrscher.
Es geht in diesen jetzt existentiell hoch belastenden Zeiten also um viel Wichtigeres, es geht um die Frage: An welchen Gott (des Christentums) kann ich und will ich vielleicht noch glauben? Welcher Gott erdrückt mich nicht mit seiner absoluten Last der Gesetze, welcher Gott ist förmlich sanft und machtlos, welcher ruft in ein Leben der Freiheit? Dies ist der Ausgangspunkt des Buches „Die Torheit Gottes“ von John D. Caputo.

1.
Darüber besteht für Caputo – und nicht nur ihn – völlige Gewissheit: Wer heute mit klarer Vernunft an Gott glauben will, sollte sich von den klassischen Gottesbildern befreien. Das tun Gott sei Dank allmählich viele. Denn eine dauerhafte Bewusstseinsspaltung zwischen einem naiven Kinder – Glauben und einem kritischen Bewusstsein wollen nur die vielen Evangelikalen, Pfingstler, konservativen Katholiken und Putin-gläubigen Orthodoxen hinnehmen. Vor allem das Bild von Gott als oberstem Sein selbst, als Gott in der Höhe, an der obersten Spitze aller denkbaren Hierarchien, allmächtig und von Engeln umgeben und so weiter, kann ein Mensch mit klarer Vernunft nicht akzeptieren. Dort startet Caputo mit seinen Reflexionen, die in 10 Kapiteln immer wieder die eine Grund-These umrunden: Nur ein schwacher Gott eröffnet heute lebendiges, freies Leben.

2.
Dabei ist der „schwache Gott“ für jene Leute, die immer noch an einen göttlichen Tyrannen im Himmel glauben, die größte Provokation. Caputos Buch ist insofern der Aufruf zur Reform, mehr noch: Zur Reformation des christlichen Denkens und Handelns. Alles kommt darauf an, die materiell gar nicht greifbare Stimme des schwachen Gottes im Gewissen (im Geist) zu vernehmen. Dort und nur dort ereignet sich der Unbedingte, der Gott, der leise die Menschen zum ethisch guten Leben und politischen Handeln aufruft. Diese Stimme des schwachen Gottes ist unbedingt, kann aber vom Menschen ignoriert und überhört werden, was ja faktisch ständig geschieht bei so vielen Verbrechern in der Politik in dieser verrückten Welt.
Das ist der Mittelpunkt des Plädoyers Caputos für den schwachen Gott. Wer dieses Zentrum erreichen will, lese zu Beginn die letzten Zeilen unter dem Titel „Genug gesagt“ in dem Buch, S. 149 bis 152.

3.
Hier aber noch einige weitere Hinweise und Bemerkungen zu dem Buch mit dem provozierenden Titel „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“.
Der US-Amerikaner John D. Caputo wurde 1940 geboren, er ist katholisch gebildet, er war einige Jahre Mitglied des Ordens der „La Salle-Schul-Brüder“ (Quelle: Revista Hispanoamericana T.O.R., Num. 2, 2021, P. 69 ff)
Eine lange Liste Englisch sprachiger Bücher dokumentiert die philosophische Leidenschaft Caputos, die Bibliographie nennt 13 Titel (S. 153).

4.
Caputos Buch„Die Torheit Gottes“ hat den Untertitel „Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Und auf S. 100 werden wir informiert: „Die Torheit Gottes besteht darin, dass Gott nicht existiert“. Das ist ein typischer Caputo-Satz. Der Philosoph mit einer starken Kompetenz für theologische Probleme neigt auch zu sperrigen Formulierungen, manchmal sind sie etwas flapsig, leicht ironisch, so auch hier: Der gerade zitierte Satz könnte (von mir) also übersetzt werden, leicht provozierend wie bei Caputo selbst: „Der klassisch verehrte Gott ist so dumm (so töricht, Torheit!), dass dieser klassische Gott gar nicht existiert“. Auf S. 67 stellt Caputo die eher rhetorische Fragen: „Was ist Gott anderes als die Möglichkeit des Unmöglichen, das Wort für das Ereignis des (Un)Bedingten?…“ Das „Ereignis“ ist das überraschende Geschehen der Öffnung des Daseins aus den Verklemmtheiten und Versperrungen im Denken: Im Ereignis spricht uns etwas Unbedingtes zu, „die Aussicht auf etwas, das im Kommen ist und das den Horizont der Gegenwart erschüttert“ (S. 119).

Im „Ereignis“ also zeigt sich das Unbedingte, ein Wort, das Caputo sehr schätzt in seiner Hochachtung für den Theologen Paul Tillich! Und dieses Unbedingte als das lebendig Göttliche existiert nicht, sondern, und das ist mehr als ein Sprachspiel: Dieser Gott in-sistiert, d.h. er drängt sich auf inmitten des Lebens. Er ruft – im Gewissen, so interpretiere ich – den Menschen auf, lebendiger als bisher zu leben, Verantwortung zu übernehmen, zu lieben… Aber es ist keine objektiv greifbare Wesenheit, die da ruft, betont Caputo etwas verschlüsselt, sondern eine „nicht-existierende Unbedingtheit“ (S.151). Es ist ein niemals zu greifender Gott, der in seinem sanften In-sistieren im Geist der Menschen „auftritt“ und insgesamt schwach ist und nicht herrschend und mächtig. Der schwache Gott ist DAS Thema Caputos, ein Thema, das ihn mit dem italienischen Philosophen Gianni Vatttimo verbindet (vgl. etwa Gianni Vattimo, „Glauben-Philosophieren“, Reclam 1997).

5.
Dieser Gott, der nicht „greifbar“, nicht definierbar ist, der nicht existiert, führt die glaubenden Christen zur Einsicht: Sie, die den nicht-existierenden („objektiv vorhandenen“) Gott ablehnen, sind eigentlich auch Atheisten, weil sie den klassisch – dogmatisch vermittelten Gott zurückweisen. Und die klassischen, „aufklärerischen“ Atheisten, die gerade diesen angeblich objektiv existierenden Gott ablehnen, müssen sich nun auch neu orientieren, wenn denn der „wahre Gott“ der jeweils neu mitten im Leben insistierende schwache Gott ist!
Man möchte fast den Gedanken in Formulierungen der etwas flapsiger Art fortführen, ein Stil, den auch Caputo in dem Buch schätzt und dann sagen: Vielleicht werden angesichts des schwachen Gottes auch die Atheisten schwach und… beginnen an den schwachen Gott zu glauben?

6.
Caputo ist einer der wenigen katholischen Philosophen und Theologen, die sich explizit zustimmend und lernend auf den Philosophen Jacques Derrida beziehen. Auch in diesem Buch! Caputo hatte zuvor intensiv Heidegger studiert, Thomas von Aquin ebenso und Augustinus und Kierkegaard… Derrida ist (neben Tillich) sozusagen die wichtigste Quelle der Inspiration für Caputo. Über Derrida hat Caputo mehrere Tagungen an der Villanova-Universität (Philadelphia, USA, geleitet vom Augustiner-Orden) organisiert.

7.
Caputo liebt die philosophische Spekulation, das Hin und Her der Begriffe, er begibt sich auf seine Art in die Abgründe der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, die ewig die Frage diskutiert: Welcher Gott ist denn nun wirklich göttlich und kann als solcher von den kritischen Menschen akzeptiert werden. Auch den Menschen in Indien, in Tokio, am Amazonas? Diese Frage stellt Caputo nicht. Er ist als westlicher, klassisch gebildeter Philosoph mit seiner Liebe zur Postmoderne und zur „Dekonstruktion“ (die wichtigste philosophische Aktivität von Jacques Derrida) immer noch auf der alten europäischen Fährte der Suche nach einem göttlichen Gott, dem ganz Anderen, der alle Begriffe sprengt.
So will Caputo im Denken freien Raum schaffen, er muss alte Gottesbilder entfernen, nur so kann er auch neu über den Zentralbegriff der biblischen Botschaft nachdenken, das Reich Gottes. Bei dem Thema kommen dann zum ersten Mal etwas politisch bestimmte Aspekte zur Sprache.

8.
Letztlich ist für Caputo das Reich Gottes eine Welt der Menschen, die sich ganz der Nächstenliebe verschrieben haben. Nur darauf kommt es an! Wahrscheinlich hat Caputo dieses Buch vor allem geschrieben, um zu dieser Einsicht die Glaubenden, auch die Kirchen, aufzufordern: Menschlichkeit ist das Wichtigste, sie zu fördern ist die einzige und wahre Antwort auf den „schwachen“ Ruf des Unbedingten im Menschen. Denn wenn der Ruf des schwachen Gottes im Gewissen eines jeden Menschen sich ereignet, ist ja – wie gesagt – die universelle humane Dimension des Gewissens gemeint. Denn es wäre ja verfehlt, den Ruf des Gewissens als ein explizit religiöses Ereignis zu verstehen, der Ruf des Unbedingten im Gewissen ist etwas Humanes. Wer Caputo so versteht, muss ihm förmlich eine notwendige Säkularsierung des göttlichen Rufes zugestehen. Mit anderen Worten: Es geht in dem langen Text nur um die eigentlich schlichte Einsicht: Die Menschen sollen – um Gottes willen – endlich ihrem Gewissen praktisch folgen. Kant sprach vom Kategorischen Imperativ, viele religiöse Traditionen sprechen von der „Goldenen Regel“.

9.
Es wäre weiterführend und hilfreich gewesen, wenn Caputo noch Stellung genommen hätte, zu der Frage: Wenn die Menschen diesem Ruf des Unbedingten überhaupt nicht folgen, sich also in Kriegen abschlachten und wenn die reiche kapitalistische Welt das Verhungern von Millionen Menschen einfach so hinnimmt mit wortreichen Statements, was bedeutet dann der schwache Gott? Ist er also schwach mit den (moralisch, geistig, politisch) schwachen Menschen? Von der Klimakatastrophe, von Menschen gemacht, hätte Caputo auch ein paar Worte sagen können, als Beispiel, wie der schwache Gott im Menschen wirkt oder eben nicht gehört wird.
Man möchte meinen: Vielleicht ist der schwache Gott mit seinem stillen Ruf, wie Caputo lang und breit immer wieder umschreibt, doch hoffnungslos zu schwach… und lässt es zu, dass sich die Menschen ihr eigenes und der Welten Ende bewirken. So könnte man förmlich von einer Art neuen negativen Theodizee sprechen, also von einer ungewöhnlichen Rechtfertigung Gottes angesichts des Elends der Welt!
Wer dann aber noch an dem Mythos der Schöpfung der Welt und der Menschen durch einen Gott festhält, muss angesichts des schwachen Gottes sagen: Der schwache Gott hat schwache Menschen erschaffen, die in der Lage sind, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Könnte man das ganze Geschehen eine göttliche Katastrophe nennen? Ein tröstlicher Gott ist der schwache Gott, der Gott als Torheit, jedenfalls nicht. Beruhigendes Opium ist dieser schwache Gott nun absolut gar nicht. Der Mensch steht nun angesichts des schwachen Gottes nackt und schutzlos da. Wird diese Einsicht viele Menschen, auf göttlichen Trost fixiert sind, bewegen, d.h. zur Zustimmung zu Caputos Corsxchlägen führen?

10.
Der frühere allmächtig genannte Gott, so laut und innig in so vielen theologisch dummen Kirchenliedern besungen („Großer Gott wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke“, oder: „Ein feste Burg ist unser Gott…“ usw. usw.) war ja auch schon schwach. Er hat sich gegenüber den damals schon schwach glaubenden Menschen auch nicht „stark“ durchgesetzt. Alle Lieder und Bekenntnisse waren Trallala, nette naive Poesie zur Abwechslung in den ewigen Kriegszeiten. Der Große Gott im Himmel hat das Elend der Welt auch nicht überwunden. Diese Lieder vom allmächtigen Gott waren also Ideologie der Herrscher, Beruhigung, Opium…

11.
Nebenbei: „Großer Gott wir loben dich“ wurde auf Befehl der Kaiserin Maria Theresia 1774 ins „katholische Gesangbuch“ aufgenommen. Maria Theresia war eine innenpolitisch reaktionäre, intolerante Herrscherin, sie führte drei Kriege und pries dann den großen Gott für ihre Siege… Auch Angela Merkel schätzte übrigens sehr den Song „Großer Gott wir loben dich“, siehe Zapfenstreich…Heute wissen wir, dass so vieles Löbliches bei Angela Merkel auch nicht übrig bleibt, angesichts ihrer jetzt offenkundigen Naivität und Nachlässigkeit im Umgang mit dem schon seit 2006 bekannten Diktator und Kriegstreiber Putin.

13.
Noch einmal gefragt: Kurz gesagt: Welchen Sinn hat der Glaube an einen schwachen oder auch an einen starken Gott eigentlich, wenn die Menschen diese Welt (eine Schöpfung Gottes?) In vielfacher Hinsicht systematisch zerstören und vernichten. Und die Kirchenführer sind hilflos, dem Faschismus, dem Rechtsextremismus usw. Parole zu bieten und ihre frommen Schäfchen zur politischen Vernunft, also zum praktischen Respekt der universal geltenden Menschenrechte, zu bringen.

14.
Die Übersetzer des Buches „The Folly of God“ (2016) bieten im Buch zusammen mit dem Theologen Prof. Michael Schüßler, Tübingen, noch „Resonanzen“, Reflexionen persönlicher Art, zu Caputos Einsichten (S. 157 – 166)

John D. Caputo, „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Übersetzt von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz, Grünewald-Verlag, 2022. 167 Seiten, 19€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Auch Gott untersteht dem Recht und der universellen Gerechtigkeit!

Für Abraham ist Gott nicht das „Wichtigste“!
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Das Motto:
Wenn die Erkenntnis der Bibel, mitgeteilt in einigen Geschichten über Abraham, von den Religionen und Kirchen beachtet würde: Dann wäre die wahre Religion die ethische Haltung, die Gerechtigkeit für alle fordert und lebt. Dann wäre ein Ende der offenbar allmächtigen Klerus-Herrschaft (Klerus gibt es bekanntlich in allen Religionen) absehbar…

1.
Erich Fromm, Psychologe und Philosoph, hat in seiner Studie „Psychoanalyse und Religion“ (1950) eine grundlegende Erkenntnis zum Verhältnis des Menschen zu Gott (in der Überlieferung des Alten Testamentes) formuliert.
Diese Erkenntnis hat leider im Laufe der Geschichte des jüdischen Volkes und der Kirchen nur wenig Beachtung gefunden.
Und das sollte sich ändern. Nun hat sich auch der Philosoph und Kenner der hebräischen Bibel (Altes Testament) Omi Boehm in seinem neuen Buch „Radikaler Universalismus“ (2022) dieser Erkenntnis von Erich Fromm angeschlossen.Sie wird in gewisser Weise unterstützt im neuen Buch des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo „Die Torheit Gottes“.

2.
Worum geht es? In den Erzählungen des Alten Testaments verpflichtet sich Gott selbst, niemals alles Leben auf Erden zu vernichten (Gen. 9,11). Gott schließt einen Bund mit den Menschen, und diese sollen sich ihrerseits verpflichten, niemals einen anderen Menschen zu töten. Gott bindet sich also in einen Vertrag, an „ein Prinzip, das er, Gott, nicht verletzen darf, nämlich das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben….Der Mensch kann auch Gott zur Rechenschaft ziehen, wenn er sich der Verletzung des Prinzips schuldig macht“ (betont Erich Fromm, Gesamtausgabe Band VI, S. 253).
Als Gott die Städte Sodom und Gomorrha wegen der Sünde der Menschen dort vernichten wollte, wird er von Abraham daran erinnert: Er, Gott, wollte sich selbst unter das Gesetz der Gerechtigkeit stellen. Und Gott lässt sich durch Abraham an seinen Grundsatz erinnern. (Vgl. Die Erzählung Genesis, 18, Vers 25).

1966 ist Erich Fromm erneut auf dieses Thema zurückgekommen, in seinem Beitrag „Ihr werdet sein wie Gott“ (1966): „Mit der Kühnheit eines Helden fordert Abraham (im Fall von Sodom und Gomorrha) Gott auf, sich an die Grundsätze der Gerechtigkeit zu halten. Abraham verhält sich also nicht wie ein demütiger Bittsteller, sondern wie ein stolzer Mann, der das Recht hat, von Gott zu verlangen, dass dieser sich an das Prinzip der Gerechtigkeit hält“ (S. 99).

3.
Abraham ist der Vater der (monotheistisch) Glaubenden, er lehrt: Über Gott steht die Gerechtigkeit, stehen die Gesetze, zu denen er sich selbst verpflichtet hat. „Weil Gott durch die Normen von Gerechtigkeit und Liebe gebunden ist, ist der Mensch nicht länger sein Sklave. Beide Mensch und Gott, sind an festgelegte Prinzipien und Normen gebunden“, so Erich Fromm (ebd.).

4.
Auch in der späteren Erzählung über Abraham und seinen Sohn Isaac zeigt sich, dass Abraham sich dem Befehl Gottes widersetzt, seinen Sohn Isaac abzuschlachten. (Vgl. Genesis, Kap. 22, bes. Verse 9 ff.) Es sind die gründlichen Studien des Philosophen Omri Boehm, die uns von dem Klischee befreien, Abraham sei der total Gehorsame, der sich nur von einem Engel (Vers 11) davon abhalten lässt, seinen Sohn Isaac zu töten. Denn mit dem „Engel des Herrn“ wird noch unterstellt, dass Gott selbst noch die Initiative ergreift, um Abrahams Gehorsam nicht bis zur tödlichen Konsequenz zu treiben. Boehm weist nun nach, dass die beiden Verse 11 und 12, also die Verse, die vom Eingreifen des göttlichen Engels sprechen, später eingefügt wurden. Nimmt man diese beiden Verse aus der Erzählung sinnvollerweise heraus, dann ist es Abraham selbst, der zur Erkenntnis kommt: Ungehorsam gegen Gottes Tötungsbefehl ist das Wahre. Abraham entdeckt selbst den Widder, den er anstelle Isaacs tötet.

5.
Immanuel Kant hat in seiner Publikation „Streit der Fakultäten“ (1798) als einer der ersten Philosophen deutlich gefordert, dass Abraham seinen Sohn niemals hätte töten dürfen, Nur Ungehorsam gegen Gott wäre also richtig und ethisch wahrhaftig gewesen. Kant schreibt: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: Dass ich meinen guten Sohn nicht töten soll, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden“.

6.
Der Philosoph Omri Boehm hat sich ausführlich, auch von dem jüdischen Philosophen Maimonides inspiriert, mit dem ethisch richtigen Ungehorsam Abrahams befasst. „Abrahams Punkt ist, dass eine universalistische Moral nur über der Gottheit stehen kann“ (in „Radikaler Universalismus“, S. 54). Aufgrund der universellen Gerechtigkeit (die ausnahmslos ALLEN Menschen immer gilt) ist es wahr, „Gottes Autorität zu widersprechen“ (ebd.)

7.
Die revolutionäre, sozusagen Gott-kritische Erkenntnis heißt also:
„Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschließend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen“ (von Omri Boehm kursiv gesetzt, S. 21) Abraham ist der Vater aller Völker, eine Bedeutung, die ihn über Moses erhebt, betont Boehm. “Es gibt nur einen wahren Gott, doch die Autorität der universellen Gerechtigkeit steht über ihm“ (Omri Boehm, S. 22).

8.
Dies ist eine provozierende, wenn nicht unangenehme Erkenntnis für die Religionen und Kirchen. Denn ihre Theologen und Kirchenleiter und Religionsführer bedienen sich ständig mit göttlicher Autorität der Weisungen, die angeblich von Gott selbst stammen. Die Religionsführer brauchen förmlich Gott und seine begrenzten Gebote, um ihre eigene Herrschaft zu zementieren. Tausend Beispiele wären zu nennen, etwa: Israel ist nur der Staat der Juden; Frauen dürfen niemals katholische Priesterinnen werden; Frauen sind den Männern im Islam untertan usw… Es wäre wichtig, eine große Studie in Gang zu bringen, die die – geringe – Bedeutung Abrahams im Laufe der Geschichte der drei monotheistischen Religionen aufzeigt, Gehorsam gegen Gott erschien immer die den Religionsführern bequemere Lösung als das Eintreten für einen universellen religiösen Humanismus.

9.
Die entscheidende und dringend geforderte Reformation der drei monotheistischen Religionen kann nur gelingen, wenn die Religionsführer und die von ihnen geführten Gläubigen wahrnehmen und in der Praxis anerkennen: Über Gott und seinen von den Religionsführern interpretierten Gesetzen steht die universale Gerechtigkeit für alle Menschen überall und immer. Abrahams Erkenntnis könnte also heute die drei monotheistischen Religionen in ihrer Beton-Mentalität aufsprengen und endlich aus den Religionen humane Institutionen werden lassen. Aber das setzt vor aus. Dass die Religionsführer der drei monotheistischen Religionen lernfähig werden und sich endlich um die Erkenntnisse Abrahams kümmern. Aber die Konsequenzen wäre Machtverlust des gesamten „Klerus“ der drei Religionen. Und diesen Machtverlust wollen diese Herren (es sind fast immer Männer) überhaupt nicht hinnehmen. Also bleibt Abrahams entscheidender, humaner Ungehorsam gegen Gott auf Dauer doch marginal … und fast vergessen.…

10.
… So, wie die entscheidende Rede Jesu „Vom Weltgericht“ (Matthäus-Evangelium, 25. Kap., Verse 31 bis 46) als Umsturz alles nur „Religiös-Frommen“ und als Durchbruch einer humanen ethischen Haltung ALS Religion von den Religionen, Kirchen, nicht respektiert wird. Die Aussage Jesu gipfelt bekanntlich in einer Lehre umfassender Humanität: „Was ihr Menschen für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Vers 40). Das heißt: Der wahre Gottesdienst im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth ist Nächstenliebe. Alles andere ist zweitrangig, das Zweitrangige, also das Religiöse, die Gottesdienste, Liturgien, Kirchengesetze etc. werden aber vom Klerus als erstrangig gefordert und durchgesetzt. Und die Gläubigen glauben in ihrer autoritären Bindung dem Klerus auch noch und folgen nicht den Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth..

11.
Nur einige gebildete religiöse Menschen werden die Kraft haben, sich aus dieser Herrschaft der Religionsführer zu befreien und sich einer humanen Vernunft-Religion anschließen, die schon Immanuel Kant beschrieben und gefordert hat in seiner sehr lesenswerten Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. LINK

12.
Auch die Studien des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo folgen einer Erkenntnis, die der Erzählung über Abrahams Einsicht entspricht: In seinem Buch „Die Torheit Gottes“ (Grünewald-Verlag, Ostfildern 2022) befreit Prof. Caputo das religiöse Denken vom Glauben an den allmächtigen Gott in der Höhe oder auch in der Tiefe. In seinen durchaus provozierend gemeinten Überlegungen zeigt Caputo: Gott existiert nicht (als ein vorzeigbares „Objekt“), Gott existiert nicht, aber er INSISTIERT: Das heißt das göttliche Leben insistiert im Menschen als Ruf, als Aufforderung, human zu leben. Das Bild „Reich Gottes“ sagt diese Möglichkeit aus, einen universal geltenden Humanismus zu leben. (Vgl. bes. das Kapitel „Dein Reich komme“ in „Die Torheit Gottes, S. 137 ff.) Auch Caputo erinnert eindringlich an die revolutionäre Kraft der Rede Jesu vom Endgericht (S. 143).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Gegen den Wahn, sich in „Identitäten“ abzukapseln. Für einen radikalen Universalismus.

Über ein wichtiges neues Buch des Philosophen Omri Boehm. In manchen Aussagen geradezu sensationell. Haben das die Theologen endlich bemerkt?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Am 30.9.2022 veröffentlicht.

1.
Nun haben sich schon wieder Nationalisten als stärkste Parteien durchsetzen können: die Rechtsextremen und die Post-Faschisten in Italien bei den Wahlen am 25.9.2022. Ihnen gemeinsam ist die Fixierung auf die „Identität“, die sich immer über das entscheidende Wort „zuerst“ definiert: Also nun auch „Italien zuerst“, wie die postfaschistische Girorgia Meloni betont, wie früher schon Madame Le Pen mit ihrem „Frankreich zuerst“ (Le Pen) oder auch „America first“ von Mister Trump.

2.
In dieser Situation einer zunehmenden nationalen und ins Faschistische abgleitenden Identitäts-Politik ist das neue Buch des Philosophen Omri Böhm von besonderer aktueller Bedeutung. Der Titel „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“ (Propyläen-Verlag, 2022) beschreibt sein philosophisches Programm, das Boehm mit aller Schärfe und Klarheit der Argumentation vorträgt. Boehm, Jahrgang 1979, ist israelischer und deutscher Staatsbürger, er lehrt als Associate Professor für Philosophie an der „New School of Social Research“ in New York.

3.
Die heutige Betonung einer angeblich absoluten Geltung der Identitäten betrifft nicht nur die nationalistischen und faschistischen politischen Strömungen. Identitäts-Fixierungen werden sichtbar, so Boehm, in zahlreichen aktuellen Theorien und Ideologien. Etwa, wenn behauptet wird, dass vorrangig die Identitäten von Geschlechtern oder sozialen und politischen Minderheiten respektiert werden müssen, dass also „meine Bindung“ an „meine besondere Gruppe“ (bzw. Nation) wichtiger sei als mein Respekt der universalistischen Werte der Menschheit.
Jedoch gilt: An dieser „allgemeinen“ Menschheit mit ihren universalen Rechten und Pflichten hat jeder einzelne Mensch als Mensch zweifelsfrei Anteil. Und diese allen gemeinsame Bindung an die Menschheit mit ihren Rechten und Pflichten muss bestimmender und vorrangiger sein als die begrenzten Werte, die aus meiner/unserer immer begrenzten Identität (etwa als Homosexueller, als Indigener, als Katholik usw.) folgen.

Boehm tritt also in aller Schärfe für einen „universellen Humanismus“ ein, das betont er schon in seinem „Prolog“ auf S. 12. Er zeigt, dass der moralische Universalismus die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen bedeutet, für die universale Gerechtigkeit und für alle geltende Gleichheit einzutreten und diese zu leben und auch politisch zu gestalten.

4.
Die Kämpfer für die „identischen“ Rechte von bestimmten, abgegrenzten Gruppen (etwa „LGBTQ-Menschen, S. 13) will Boehm keineswegs diffamieren. Er will nur beweisen, dass sie in ihrem Einsatz für ihre Identitäten durchaus die Verbindung mit den universalen Grundrechten benötigen, soll denn das Engagement zum Ziel führen, also für sie selbst auch erfolgreich sein. Der universelle Humanismus soll also für Boehm „ein Kompass, sogar eine Waffe“ sein (S. 14). Und Boehm weiß, dass es viele „falsche Universalisten“ gibt, die mit ihren Sprüchen und Taten nur die westliche Vorherrschaft meinen, etwa: Von Menschenrechten groß schwadronieren, aber sich selbst nicht an sie binden. Das trifft etwa für die katholische Kirchenführung zu, dieses Beispiel nenne ich, nicht Boehm.

5.
Immanuel Kant ist für Omi Boehm „der unverzichtbare Denker“ (16). Kant hat, sage ich nun mit einem klassischen Begriff, „Wesentliches“ vom Menschen gedacht. Boehm meint dasselbe, wenn er betont: Kant habe den Menschen „frei von jeder Beimischung biologischer, zoologischer, historischer und soziologischer Tatsachen“ (16) erkannt. Diese Konzentration Kants auf das Allgemeine, „Wesentliche“ des Menschen bzw. der Menschheit, nennt Boehm durchgehend in seinem Buch „abstrakt“. Der entscheidende Begriff „des“ Menschen, muss also Kant folgend, „abstrakt bleiben“ (16), das betont Boehm immer wieder.
Ich möchte fragen, ob es geschickt ist, diesen universalen „Wesensbegriff“ des Menschen „abstrakt“ zu nennen. „Abstrakt“ hat oft eine negative Konnotation.
Aber abgesehen davon: Durch Kant wird die Menschlichkeit des Menschen nicht durch natürliche Bestimmungen festgelegt, sondern durch die geistigen Leistungen der Freiheit, zu der auch die Pflicht gehört, das moralische Gesetz in mir als unbedingt auch für mich geltend wahrzunehmen und ihm zu folgen. Denn der Mensch kann in seiner Freiheit dem moralischen Gesetz in seiner Lebenspraxis folgen, betont Kant, warum sonst würde sich dieses moralische Gesetz denn sonst im Menschen überhaupt unbedingt zeigen?
Wenn der Mensch sich von sich distanzieren kann, gleichsam auf sich und sein Tun “von iben rauf schaiut”, wenn er also fragen kann, was er tun soll, dann zeigt er sich darin als freie Person. Er kann dem kategorischen Imperativ prinzipiell folgen!
Dieser „kategorische Imperativ“ ist eine geistige Wirklichkeit, diese ist „nicht von Menschen gemacht“ (17), sie kann also auch nicht von Menschen ausgelöscht werden. D.h.: Der kategorische Imperativ ist also nicht an bestimmte Konventionen gebunden oder an historische Umstände, er gilt universell. Nur im Respekt vor einem „höheren Gesetz“ (20), also dem Kategorischen Imperativ, kann der einzelne darauf hoffen, dass seine persönlichen Wünsche (etwa hinsichtlich der Bindung an eine Identität) von anderen respektiert werden. Jeder, der ernsthaft seine eigenen Identitäten verteidigt, braucht als argumentative Unterstützung notwendigerweise die universalen Menschheitswerte der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit. „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit  löscht die Identitäten ja nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können“. (155).

6.
Boehm ist mit der jüdischen Spiritualität bestens vertraut. Seine besondere Leistung ist, dass er auch in seinem neuen Buch alt vertraute biblische Erzählungen korrigiert, etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel, des Alten Testaments, die sich auf die Gestalt Abrahams beziehen. Abraham ist für Boehm die entscheidende und prägende Figur der Bibel: Abraham hat als gläubiger Mensch den Mut, Gott zu widersprechen und sogar noch weiter zu gehen… Boehm betont: Dass es für Gott eine noch über ihm stehende Gerechtigkeit gibt, der auch Gott unterworfen ist. Gerechtigkeit, durch die Vernunft der Menschen erkannt, steht nicht über den göttlichen Geboten, mehr noch: Auch Gott selbst steht in der Erfahrung Abrahams unter dem universalen Gebot der Gerechtigkeit! Was für eine Aussage, deren Konsequenzen leider Boehm nicht weiter entwickelt! Diese Erkenntnis führt zu einer radikalen Kritik des überlieferten und konfessionell immer nicht prägenden Begriff Gottes!

7.
In seiner Auseinandersetzung mit Gott angesichts der Bestrafung von Sodom und Gomorrah betont Abraham: „Sollte der Richter aller Welt, Gott, nicht gerecht richten“? (Genesis, 18., Vers 25). Die universelle Gerechtigkeit, die eben auch die Rettung der wenigen Unschuldigen in Sodom und Gomorrha betrifft, ist also wichtiger und größer als Gott selbst! Gort muss sich an das Prinzip der Gerechtigkeit binden!
Diese Erkenntnis bezieht Boehm auch auf die bekannte Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaac. Boehm zeigt: Abraham widerspricht Gott, und er opfert seinen Sohn gerade NICHT, wie es Gott anfänglich verlangte. Boehm hat zu dieser biblischen Erzählung ausführliche Studien betrieben. In der „Jüdischen Allgemeinen“ hat er schon am 24.2. 2015 darüber kurz berichtet: „Ich versuche nun, zu zeigen, dass zwei Verse dieser biblischen Geschichte in Wirklichkeit nachträgliche Hinzufügungen zum Originaltext sind. Es handelt sich um die Verse 11 und 12 in Genesis, Kapitel 22, in denen der Engel des Herrn Abraham im letzten Moment davon abhält, seinen Sohn zu töten. Wenn man diese Verse – eine spätere Einfügung – wieder herausnimmt, bekommt man eine in sich geschlossene, aber völlig andere Geschichte. Das heißt: Abraham entscheidet selbst und auf eigene Verantwortung – ohne das Eingreifen des Engels –, Gottes Weisung nicht zu befolgen“. Deshalb meint Boegm: Ungehorsam ist ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und gerade nicht blinder Gehorsam.
Noch einmal: In seinem neuen Buch betont Boehm: „Da die Gerechtigkeit universell ist, steht sie auch über der Autorität der einen wahren Gottheit“ (53). Diese über allem und allen stehende Gerechtigkeit ist entscheidender noch als Gott! Das in dieser Deutlichkeit zu sagen, ist sensationell, weil dann Gott nicht mehr der „Aller-Oberste“ ist. Es gibt noch eine Art „Gott über Gott“, dies ist die universale Gerechtigkeit. Aber die zeigt sich in der Erfahrung der Menschen als eine nicht von Menschen gemachte und von Menschen verfügbare Wirklichkeit.

8.
Ist diese oberste Gerechtigkeit also selbst „wahrhaftig“ göttlich zu nennen, sozusagen der „oberste Gott“? Sollte sie, diese universale Gerechtigkeit, dann nicht auch – in welcher Form – verehrt werden?
Diese Frage wird leider von Boehm nicht erörtert. Nebenbei: Es gab ja bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich schon den Gedanken, dass es einen „Gott über Gott“ gibt. Und auch Meister Eckart hat unterschieden zwischen Gott und der Gottheit, die er allerdings für unerkennbar bzw. undefinierbar hielt. Eine weitere Frage: Ist nicht diese oberste Gerechtigkeit („über Gott“ noch stehend) auch notwendigerweise dann doch (allzu) menschlich gedacht? Wenn ja, was sicher ist: Wie kann man dann aber noch an einem „eigentlich“ unerkennbaren, bildlosen Gott des Alten Testaments festhalten?

9.
Boehm zeigt weiter in seinem Buch, wie der Bürgerrechtler Pastor Martin Luther King ebenfalls die universalen Menschenrechte in seinem Kampf zugunsten der Rechte der Schwarzen an die erste Stelle setzte.
Eher auf die US-amerikanische Situation bezogen sind Böhms Auseinandersetzungen mit dem dort überaus populären Philosophen Richard Rorty: Er entwickelt eine eher „liberal“ genannte Philosophie, die sich auch nicht scheut, die Bedeutungslosigkeit der Philosophie für die Politik öffentlich zuzugeben. Auch der us-amerikanische Philosoph Dewey wird von Boehm heftig kritisiert, weil er eine kategorisch geltende Wahrheit ablehnt.

10.
Omi Boehm, geboren in Haifa, setzt sich seit einigen Jahren auch mit der Politik des Staates Israel auseinander, vor allem was den Aufbau gerechter Verhältnisse mit den Palästinensern angeht. Er kritisiert auch in seinem neuen Buch, so wörtlich, „die Apartheitstruktur“ (S. 150), die die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland „seit vielen Jahren betreibt“. Wie alle westlichen liberalen Demokratien ist in Böhms Sicht auch der Staat Israel „auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (S. 152). Diese Identitätspolitik der Palästinenser wie der Juden kann nur, so Boehm, „jeweils zur Auslöschung der anderen führen“. Boehm plädiert für die „Einstaatenlösung“.

11.
So wird Omi Boehm durch seine erneute Auseinandersetzung mit Israel zu der Erkenntnis geführt: „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch auslöschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigen Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen“ (154).

12.
Das Buch „Radikaler Universalismus“ verlangt eine konzentrierte Lektüre, es ist aber nicht für die wenige Fachphilosophen“ geschrieben. Ausnahmsweise muss man als Rezensent einmal sagen: Ich hätte mir sogar noch ausführlichere Darstellungen und Begründungen und Ausweis von Konsequenzen gewünscht.

13.
Kants Studie „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sollte in dem Zusammenhang viel mehr gewürdigt werden. Vielleicht gelingt das zum Kant Jubiläum 2024 (300. Geburtstag). Kants Vorschläge könnten den Christen (auch den Juden und Muslime) Möglichkeiten zeigen, ohne dogmatische Bindungen und ohne religiöse fixierte Institutionen ein vernünftiges religiöses Leben zu gestalten. Eben in der Überordnung des Ethischen (des moralisch guten Lebens) über die religiösen Gebote und Gesetze, über die kirchlichen Lehren sowieso, wie Kant dringend fordert! Ausführliche Hinweise, siehe: LINK.

Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022, Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian. 175 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.