„Katholizismus gehört nicht zur Moderne“ Der protestantische Theologe Ernst Troeltsch konnte den Katholizismus nicht mehr ernst nehmen

Ein Hinweis von Christian Modehn anläßlich des 100. Todestages des Theologen und Philosophen und Soziologen Ernst Troeltsch

Das Vor – Wort:
Die zentrale Erkenntnis des Theologen, Philosophen, Historikers und Soziologen Ernst Troeltsch (1865-1923) zum Katholizismus: Die römisch – katholische Kirche ist als machtvolle Institution der Prototyp des dogmatisch – hierarchischen Christentums. Als eine „dogmatische Heilsanstalt“ gehört der Katholizismus nicht mehr in die demokratische Moderne, selbst wenn die katholische Kirche faktisch als „Altertum“ unter den christlichen Konfessionen noch fortbesteht. Davon war der umfassend Gelehrte Ernst Troeltsch zumal angesichts der Verurteilungen und Verdammungen der Päpste, Gregor XVI. und Pius IX., überzeugt.
Eine gewisse Zukunft des Christentums in der demokratischen Moderne konnte sich Troeltsch insgesamt eher in kleinen Gemeinschaften vorstellen, in freien (ökumenischen) Zusammenschlüssen. Er verwendete in dem Zusammenhang den inhaltlich neutralen Begriff „Sekten“. Und abgesehen von diesen kleinen Gemeinschaften sah er eine Zukunft des Christentums in der Mystik als der lebendigen „inneren“ Frömmigkeit der einzelnen.
Diese Erkenntnisse können heute zur Diskussion anregen und zu denken geben, vor allem angesichts der geradezu verzweifelten Versuche progressiver katholischer Laien weltweit, einen „synodalen Weg“ (nicht etwa eine Synode als demokratisches Organ auch mit mitentscheidenden Laien!) in der Papstkirche durchzusetzen. Die progressiven Katholiken wollen also trotz aller Widerstände der mächtigen und einflußreichen Konservativ-Erstarrten eine leicht reformierte katholische institutionelle Form gegenüber dem Vatikan „erkämpfen“ , eine katholische Kirche also, die ein bißchen Demokratie realisiert. Und sie wollen vor allem dafür sorgen, dass endlich Frauen alle Rechte in dieser Kirche erhalten. Dies also ist der aktuelle Ausgangspunkt.

1.
An Gedenktagen (100. Todestag von Ernst Troeltsch) kritisch zu denken, hat also nur Sinn, wenn ein aktueller Ausgangspunkt formuliert ist und eine bestimmte Frage leitend ist.

Ernst Troeltsch wurde am 17.2.1865 in der Nähe von Augsburg geboren. Vor 100 Jahren, am 1.Februar 1923 ist er in Berlin gestorben. Er war, summarisch aber treffend gesagt, eine wahre Geistesgröße, nicht nur zu seiner Zeit, sondern anregend auch heute. Sein Werk ist äußerst umfangreich, zur Biographie siehe etwas Wikipedia oder die neue große und empfehlenswerte Studie von Friedrich Wilhelm Graf.

2. Was denkt Troeltsch über den römischen Katholizismus?
Bei dem Protestanten Troeltsch wird man bei dem Thema zuerst auf die Reformation Martin Luthers verwiesen. Er sieht in Luthers Tat NICHT schon den definitiven Sieg eines modernen christlichen Glaubens. Luther ist für ihn die zentrale Gestalt des „Altprotestantismus“, ein Titel, den er verwendet wegen Luthers Bindung an die „alte (katholische) Zeit kirchlicher Autoritätskultur mit ihrer Heils – und Erlösungslehre“ (Wilhelm Gräb, 17) und dem dann entstehenden typisch lutherischen „Staatskirchentum“ (ebd. 22). Zweifellos hat Luther das Individuum und die private Frömmigkeit geschätzt, er hat gegenüber der Klerus – und Papstherrschaft das „allgemeine Priestertum“ der „Laien“ herausgestellt und verteidigt. Aber er war doch theologisch noch in mittelalterlichen Welten befangen (Teufelsglaube etc.)

3.
Dieser „Altprotestantismus“ des 16. und 17. Jahrhunderts hat also NICHT die Moderne entscheidend gefördert oder gar hervorgebracht. Erst die spätere Verbindung protestantischer Theologie mit den Lehren der Aufklärung machte den Protestantismus in Deutschland, d.h. dessen Universitäts-Theologie, zu einer modernen Religion. Troeltsch spricht dann von „Neuprotestantismus“. Das Programm des Neuprotestantismus seit dem 18. Jahrhundert „besteht in der Suche nach einer der neuzeitlich-modernen Rationalität und Autonomie nicht widersprechenden, sondern dem neuzeitlichen Bewusstsein angemessenen Gestalt von Lehre und Leben des reformatorischen Christentums“ (Prof. Christian Albrecht), LINK.

Das Verhältnis von Vernunft und Religion wird also im „Neuprotestantismus“ neu bestimmt. Es ist die Vernunft, die historisch-kritische, wissenschaftliche Vernunft, die jetzt hilft, die Bibel angemessen zu verstehen. Und: Das Christentum hat nicht mehr die nur im Glauben anerkannte Sonderstellung der „absoluten, einzig wahren Religion“, das Christentum wird vielmehr Teil der allgemeinen Religionsgeschichte.

4.
Diese Erkenntnis, nun auf den Katholizismus bezogen, verlangt zunächst eine unbefangene, objektive Beschreibung des Zustandes dieser Kirche in der Sicht von Troeltsch: Der Katholizismus kennt kein allgemeines Priestertum aller, also auch der Laien, das allgemeine Priestertum hat selbstverständlich gegenüber dem besonderen Priestertum des Klerus und des Papstes eine Gleichberechtigung. Der Katholizismus weigert sich, mindestens bis ca.1960, die Bibel als einen Text zu lesen und zu erforschen, der nur mit der historisch-kritischen Forschung adäquat verstanden werden kann.

5.
Troeltsch kennt einige vernünftig gesinnte Katholiken innerhalb der römischen Kirche, sie werden aber als so genannte Modernisten von den Päpsten verfolgt und ausgegrenzt, wie etwa der „Modernist“ Freiherr von Hügel, mit dem Troeltsch etliche Jahre korrespondierte. Im Oktober 1905 verfasste Troeltsch einen Brief an diesen vatikanischen „Ketzer“, den „Modernisten“, Friedrich von Hügel (1852-1925), einen von 23 Briefen an ihn): „Meiner Empfindung nach ist Ihr Katholizismus so wenig katholisch als mein Protestantismus protestantisch; wir haben beide die Christlichkeit der modernen Welt.“ Der Historiker Andreas Lindt schreibt: Bei aller Sympathie Troeltschs für die katholisch verfolgten Modernisten „konnte und wollte man zur Papstkirche (!) als moderner liberaler Protestant keine ernsthaften innere Beziehung finden“ (zit. In „Theologische Berichte IX“, Benziger Verlag 1982, Seite 81).
Es geht für Troeltsch also um eine neue, offene Ökumene. Prof. Friedrich Eilhelm Graf betont: „In kritischer Distanz zur latenten Kulturkampfmentalität im liberalprotestantischen Milieu war Troeltsch davon überzeugt, dass sich eine religiöse Erneuerung des Christentums nur durch einen die Grenzen der Kirchen überschreitenden, insoweit ökumenischen Austausch ernsthaft Gläubiger fördern lasse“, betont Prof.Friedrich Wilhelm Graf, LINK . Das aber bedeutet: Nur freie Zusammenschlüsse von Christen verschiedener Konfessionen passen noch in eine demokratische Welt mit demokratischen Mentalitäten.

6.
In seinem äußerst umfassenden und umfangreichen theologischen Hauptwerk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (veröffentlicht 1912) hat Troeltsch eine herausragende Leistung vollbracht. Soziologische Kategorien wendet er zum Verständnis der christlichen Konfessionen an. Er schreibt: Der Katholizismus hat „in steigendem Maße die Innerlichkeit, die Persönlichkeit und die Beweglichkeit der Religion der festen Objektivierung in Dogma, Sakrament, Hierarchie, Papsttum und Infallibilität (Unfehlbarkeit des Papstes) geopfert“ (S. 980). Darum können eher kleine christliche Gruppen (er spricht von „Sekten“) das christliche „Reich der Liebe“ leben, die großen Kirchen, wie der Katholizismus, können als Massenbewegungen die Radikalität des Evangeliums kaum realisieren. Troeltsch nennt als positives Beispiel des Christentums die individuell gelebte Mystik, aber die sei fast nur noch in den Ordensgemeinschaften lebendig. Troeltschs eigene Spiritualität war wohl von der mystischen Dimension bestimmt. Nebenbei: Man denke daran, dass der katholische Theologe Karl Rahner (1904 – 1984) sagte 1966: „„Der Fromme der Zukunft wird ein ‘Mystiker’ sein, einer, der etwas ‚erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ — Karl Rahner, Frömmigkeit heute und morgen. In Geist und Leben 39 (1966), S. 335
Das hätte der Protestant Ernst Troeltsch genauso sagen können. Vielleicht hat diese Erkenntnis Rahner aber bei Troeltsch gelesen? Wäre ja zu wünschen…

7.
Für Troeltsch ist die Zeit der großen institutionell machtvollen, hierarchischen Kirchen vorbei. Am Ende seiner großen Studie schreibt er:
„Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt. Die Selbstverständlichkeiten der modernen Lebensanschauung fallen mit denen der Kirche nicht mehr zusammen.“.

8.
Der Historiker Andreas Lindt beendet seine Hinweise mit Anmerkungen, die auch heute aktuell sind:
„Die Sympathien protestantischer Theologen für die katholischen Modernisten haben meist etwas Wehmütig-Resigniertes: Hier wäre Hoffnung gewesen auf eine Auflockerung des starren vatikanischen Systems, aber diese Hoffnung scheiterte am harten Einspruch Roms und letztlich an der inneren Logik der von der kurialen Kirchenleitung propagierten konsequenten Selbstisolierung. So haben bekannte evangelische Kirchenhistoriker wie Karl Holl in ihren Äußerungen zu den innerkatholischen Entwicklungen jener Zeit in absehbarer Zukunft keine Wende zum Besseren mehr erwartet, – aber trotzdem daran festgehalten, auf lange, sehr lange Sicht werde die Geschichte den Modernisten einmal recht geben“ (ebd.).

9.
Ernst Troeltsch hat sich seit 1918 für die bedrohte Republik eingesetzt, vor allem als Berliner „Spitzenkandidat“ der linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP).In seinen Briefen machte er „seine Verachtung für das Versagen der Eliten des alten monarchischen Systems deutlich, die in ihrer politischen Blindheit und Arroganz Deutschland und Europa in eine Katastrophe gestürzt hätten“, schreibt Friedrich Wilhelm Graf, der Autor der neuen großen Troeltsch Biographie, in einem Beitrag der Zeitschrift der Bayer. Akademie der Wissenschaften, 2020, Seite 55.

Literatur:
-Wilhelm Gräb, „Vom Menschsein und der Religion“, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2018.
-Friedrich Wilhelm Graf, “Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont“. C.H.Beck Verlag, 2022.
-Andreas Lindt, in: „Theologische Berichte IX“, Benziger Verlag 1982.
-Karl Rahner SJ, Frömmigkeit heute und morgen. In Geist und Leben 39 (1966), S. 335.
– Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. IN: Gesammelte Schriften. Scientia, Aalen 1977 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1922).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bertolt Brecht – Dimensionen seines (Un)Glaubens

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Das fromme Elternhaus

Zum 125. Geburtstages von Bertolt Brecht (am 10.2.2022) ist uns die Frage wichtig: Welche Aspekte von Glauben, religiös bzw. christlich oder atheistisch bzw. kommunistisch, zeigen sich in Brechts Leben und in seinem Werk?
Dass sich Bertolt Brecht nicht gerade als kirchlicher Christ verstand, ist bekannt. Aber was ist Brechts eigene Spiritualität, diese Wort kann man wohl verwenden, trotz einer Philosophie, die man materialistisch nennen kann. Brecht ist skeptisch, kirchenkritisch und atheistisch geprägt, auch wenn er, der spätere Dichter („Stückeschreiber“) aus einer christlichen Familie in Augsburg stammt: Vater katholisch, Mutter protestantisch, als Kind evangelisch getauft … und später greift er immer wieder Motive der christlichen Tradition in seinen Stücken auf. Offenbar hat ihn auch die fromme protestantische Mutter mit ihren biblischen Geschichten bleibend geprägt.

2. Die Bibel

In der Evangelischen „Barfüßerkirche“ in Augsburg nahm der junge Brecht an Gottesdiensten teil. Die Bibel schätzte er auch später als Sammlung literarischer und poetischer Texte, als Anregung fürs eigene Dichten.
An „Brechts über Jahrzehnte biblisch durchsetzte Sprache, in Anspielung, Ironie, Satire, Überstieg“ erinnert der Literaturkritiker Paul Konrad Kurz (Orientierung, Zürich, 1978, S 57). „Brecht hat die Lutherbibel tatsächlich zeit seines Lebens fleißig, ordentlich und aufmerksam studiert, ihrer Bedeutung und ihrer Sprachform nach“, schreibt Thomas O. Brandt in “Brecht und die Bibel“ , (Zeitschrift PMLA, Vol. 79, No. 1 (Mar., 1964), pp. 171-176 Published by: Cambridge University Press).
Der Brecht – Spezialist Prof. Jan Knopf betont: „Die Bibel wurde ihm auch – und wohl ganz wesentlich – durch seine Großmutter mütterlicherseits (Friederike Brezing) auf nacherzählende Weise vermittelt. Die genauere Luther-Bibel-Lektüre dürfte erst in die Zeit des Halbwüchsigen und dann auch jungen Mannes fallen, der die Bibel nicht als Gottes Wort, sondern als Geschichten-Buch rezipierte und vor allem deshalb schätzte, weil sie vor allem im Alten Testament brutal und offen ins volle Menschenleben griff und deshalb von ihm auch als „böse“ u. a. eingeschätzt wurde: eine Fundgrube an Stoffen, Menschenschicksalen und Menschentypen (Archetypen), die er – wie später auch andere Stoffe und Ereignisse – in seinen Werken umsetzte“. (https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/5842-bertolt-brecht-und-die-religion-die-bibel-als-geschichtenbuch/?cat_id=328)

3. Kirchenkritik

Brecht wusste von dem mörderischen Wahnsinn des 1. Weltkrieges, er hat auch später über die Kriegsbegeisterung der Kirchen reflektiert. Und auch die politisch-reaktionären Kräfte in den Kirchen nach 1919 waren ihm bekannt. Der „Atheismus“ von Brecht ist also, biographisch gesehen, Widerspruch zu den sich mehrheitlich politisch reaktionär verhaltenden Kirchen. Man muss Brechts Ablehnung des kirchlich-dogmatischen Glaubens an den Kirchen-Gott also im Kontext sehen. Er lehnt ein ideologisch geprägtes Gottesbild ab, das verbreitet wird vom herrschenden Klerus zugunsten der (kapitalistisch) Herrschenden. Brecht lehnt die Bindung an ein Bild einer göttlichen Wirklichkeit ab, weil sie nicht (die Armen) befreit, sondern unterdrückt. „Die Kirche kollaboriert mit weltlichen Herrschaftsinteressen. Ihr Gott dient als Lückenbüßer, als Tatsachenverschleierung, als Handlungsersatz. Mit Gottesbildern vertrösten die Herrschenden die Beherrschten auf ein fernes Jenseits“ (Paul Konrad Kurz, Brechts Kritik an Gottesbildern, Orientierung, Jesuitenzeitschrift, Zürich, 1978, S.57). Aber auch dies ist wichtig: „Brecht hat die Person des armen Jesus von Nazareth nie ins Blickfeld bekommen“, ders. in: „Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart“, Freiburg 1979, S. 49).

4. Gottesfrage

„Brecht war auf alle Fälle kein Atheist, denn die Atheisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehr als alle Gläubigen dauernd von Gott reden, weil sie offenbar ein Bedürfnis haben, ihn abzuschaffen. So lässt sich etwa auch Nietzsche besser verstehen, der ständig von etwas redete, von dem er behauptete, das gäbe es gar nicht“, betont Prof. Jan Knopf. (a.a.O).
Brecht fühlte sich durchaus befreit und entlastet, als er ein göttliches Gericht im Jenseits ablehnte. In seinem Gedicht „Gegen die Verführung“ (1925) gibt es keine Angst mehr vor der Hölle, denn „es gibt kein Morgen mehr“. Auf die Hoffnung der Auferstehung zu verzichten ist sozusagen der Preis, um nicht mehr länger an die Hölle gebunden zu sein. Um so heftiger ist sein Plädoyer für das Leben jetzt: “Das Leben ist am größten, es steht nichts mehr (Weiteres, CM) bereit“. Dann wird Brecht allerdings dogmatisch, wenn es am Schluß dieses Gedichtes heißt: „Ihr sterbt mit allen Tieren, und es kommt nichts nachher“. Auch dies eine Aussage eines Glaubens, woher seine Überzeugung stammt, sagt Brecht nicht.
Brecht legte aber doch wert auf die religionskritische Differenzierung: In seinem Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ als einem Stück zur Praxis des Klassenkampfes, stehe nicht „die Existenz Gottes, der Glaube zur Diskussion, sondern (nur) das Verhalten des religiösen Menschen“ (in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden Suhrkamp. Frankfurt/Main 1967. Band 17: Schriften zum Theater 3. S. 1021.)
Als Johanna Dark von den „Schlachthöfen“ sich von ihrem Glauben abgewandt hat, sagt sie am Ende des Stückes: „Die aber unten sind, werden unten gehalten, damit die oben sind oben bleiben…“ Und unmittelbar danach sagt Johanna:
„Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind“ . Das Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ konnte als gekürzte Hörspielfassung noch 1932 aufgeführt werden, Theaterinszenierungen wurden von den Nazis danach verboten.

5. Alte chinesische Weisheit

Was bedeutet Brecht die offensichtliche Verbindung mit alten chinesischen Philosophien und Weisheitsbüchern, eine Nähe, die etwa in dem Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches des Taoteking…“ deutlich wird … oder auch noch heute zu sehen ist in der Ausstattung seiner Ost-Berliner Wohnung (Chaussseestr. 125) mit klassischen „chinesischen Rollbildern“?
Die „Spiritualität“ Brechts ist vielschichtig. Aber sie hat eine Mitte: Sie ist gebunden an das Bekenntnis, für die Sache der Unterdrückten mindestens vor allem verbal, mit den Mitteln der Dichtung und des Theaters, einzutreten. Er konnte als Stückeschreiber eben nur mit seinen Stücken „praktisch“ wirken, selbst in Ost-Berlin lebte er vergleichsweise privilegiert, ein österreichischer Pass bot ihm eine gewisse Sicherheit vor möglichen Einschränkungen des DDR – Staates. Es gab also eine gewisse “DDR-Skepsis” bei Brecht!

6. Spiritualität bei einem Materialisten

„Spiritualität” als eine Philosophie des eigenen Lebens wird bei Brecht anschaulich in seinen Äußerungen zugunsten des (theoretischen) Mitleidens mit den Armen. Davon spricht Hanna Arendt ausdrücklich: „Brecht litt an der Leidenschaft des Mitleids“, schreibt sie, das Mitleid leuchte aus seinen Theaterstücken hervor. Brechts Interesse und Leidenschaft fürs Mitleid mit den Armen führten ihn, so Arendt, zu einer sehr deutlichen Sympathie für die kommunistische Ideologie, selbst wenn er kein „Marx-Spezialist“ war, aber Marx und Engels doch als die „Klassiker“ bezeichnete. Aus seiner (theoretischen) Leidenschaft für die Armen wird, Arendt, verständlich, „der Entschluss, sich der kommunistischen Partei anzunähern, der Entschluss wird nicht nur verständlich, sondern beinahe selbstverständlich“, „wo anders hätte er denn sonst unterkommen können?“ (Arendt, S. 297). Nebenbei gefragt: Er hätte sich ja die Frage stellen können, ob er nicht auch in der SPD (oder in der etwas radikaleren USPD) hätte „unterkommen“ können, aber die waren eben nicht „richtig“ revolutionär… Immerhin gab es aber auch seit 1920 christlich-sozialistische Gruppen, etwa um den Theologen Paul Tillich, aber davon wusste Brecht wohl nichts.
Was Brecht mit elementarer christlicher Spiritualität grundsätzlich verbindet, ist, „die Wunder des Lebens zu lieben“, darauf weist auch Hannah Arendt ausdrücklich hin (S. 284): Brecht interessierte die elementare Verbindung von Himmel und Erde, die Unschuld des einfachen Lebendigseins. „Den Wundern des Lebens jenseits aller Zivilisation galt Brechts erste Liebe“.

7.  Brechts Kommunismus

Daran hat zumindest Hannah Arendt keinen Zweifel: „Brecht hielt an der kommunistischen Ideologie mit einem oft das Groteske streifenden, doktrinären Eigensinn fest“ (,S. 261). Mitglied der Partei wurde er nicht! Es verfasste aber eine „Lobpreisung Stalins“ (S. 262). Und auch dies: „Unmittelbar nach Stalins Tod schrieb Brecht, dieser sei =die Verkörperung der Unterdrückten von fünf Erdteilen gewesen= (so schrieb Brecht in der Zeitschrift `Sinn und Form`, Ost-Berlin 1953, S. 10), von Arendt auf S. 390 zitiert)…Verstörend auch Brechts Lied „Lob der Partei“ (1930, in: “Die Maßnahme”) … dieses Lied erinnert an das bekannte KP-Kampflied „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ (von Louis Fürnberg, 1949)

8. Skepsis

Jan Knopf nennt einen entscheidenden Mittelpunkt von Brechts Lebensphilosophie: “Das Sichere ist nicht sicher” (und noch nicht einmal das ist sicher) kennzeichnet wohl verbunden mit dem Satz “Die Widersprüche sind die Hoffnungen” am besten Brechts Haltung. (Quelle: https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/5842-bertolt-brecht-und-die-religion-die-bibel-als-geschichtenbuch/?cat_id=328)
Dazu gehört auch das (selbstkritische) Bewusstsein, das in dem Stück „Aufstieg und Untergang der Stadt Mahagoni“ zum Ausdruck kommt. Nachdem von Fressen und Saufen und sinnlichen Genüssen in dieser Stadt der Oberflächlichkeiten die Rede ist, kommt der Satz: „Aber etwas fehlt“.
Skepsis lehrte Brecht auch gegenüber der unbegrenzten Begeisterung fürs ungebremste Forschen: Im „Leben des Galilei“ sagt der verfolgte Forscher: „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. …Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tage so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte. (Suhrkamp S. 537).

9. Der Mittelpunkt

Die Skepsis mag ein entscheidender Mittpunkt in Brechts Lebensphilosophie sein. Aber bekanntlich kann jeder der eigenen Skepsis skeptisch gegenüberstehen. Und was zeigt sich dann dem skeptischen Skeptiker, welche erste, alles grundlegende Gewissheit? Bei aller Skepsis denkt Brecht zugunsten des leidenschaftlichen, aber theoretischen Interesses an der Befreiung der Unterdrückten, der arm Gemachten, er denkt und schreibt und arbeitet als „Stückeschreiber“, dass ihnen Gerechtigkeit zuteil wird. Es ist das Engagment eines “Aktivisten des Wortes”.
Ein Ausgegrenzter, ein Verfolgter, insofern ein Leidender, war Brecht selbst in der Zeit seiner Vertreibung aus Deutschland, aber materiell elend erging es ihm in diesen Jahren vergleichsweise nicht. Es war das Leiden an den politischen, den faschistischenVerhältnissen, das ihm zusetzte.
Aber wie kommt es eigentlich, dass wir von einem linken Dichter und „Stückeschreiber“ sozusagen eine makellose Übereinstimmung von theoretischer Erkenntnis und praktischem Lebensstil erwarten? Also höhere moralische Erwartungen haben, als die, die man bei rechten, bürgerlichen, „liberalen“ Autoren äußert? Vielleicht enthält das Bekenntnis eines Autors , kritisch, links oder gar revolutionär gesinnt zu sein, eine sich fast von selbst einstellende Vermutung: Der Typ müsste dann doch eine Art “Held” sein, könnte sogar doch ein authentischer Christ sein – trotz aller eigener gegenteiliger Behauptungen. Christsein ist bekanntlich nicht automatisch mit einer dogmatischen Kirchenbindung verbunden. Und : “Gott ist kein Christ“, wie der südafrikanische Bischof Tutu einmal treffend sagte, Gott ist der Gott der Gerechtigkeit.

Mit anderen Worten: Wer für Gerechtigkeit eintritt, auf seine ihm individuell mögliche Art, und sei es die des “Stückeschreibers”, ist, wenn man den Begrif mangels besserer Begriffe noch will, mit Gott oder “Gott” oder der “Gottheit” verbunden. ( Desmond Tutu, Gott ist kein Christ. Mein Engagement für Toleranz und Gerechtigkeit, Ostfildern 2012. Siehe dazu auch Wilhelm Gräb, „Vom Menschsein und der Religion, Tübingen 2018, S. 215. )

Literaturhinweise:

„Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band“, Suhrkamp, 1978.

Hanna Arendt, „Menschen in finsteren Zeiten“, München 2012, Kapitel über.Brecht, 2012, als Vortrag im BR 1969 gesendet.

Karl-Josef Kuschel, „Im Fluss der Dinge“. Hermann und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Lotse und Zen, 2008.

Merle Clasen, „Wie hast du s mit der Religion,“ (über Brecht, https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2008030720662/DissertationMerleClasen.pdf?sequence=10&isAllowed=y

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gott und die Demokratie. Ein neues Buch des Philosophen Otfried Höffe

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bei einem Buch eines Philosophen ist oft schon der Titel eine Einladung zum Weiterdenken. Professor Otfried Höffe, Prof. em. der Universität Tübingen, gibt seinem neuesten Buch den Titel „Ist Gott demokratisch?“ Wer Gott in einem allgemeinen Sinn deutet, ihn als den höchsten Herrscher der Welt versteht, wird diesen Gott naturgemäß nicht als demokratisch qualifizieren. Gott herrscht. Die Menschen sind seine gehorsamen Kinder. Wer den Titel weiter bedenkt, wird sich fragen: Welcher immer schon konfessionell geprägte Gott könnte denn überhaupt demokratisch sein? Der Gott der Christen etwa? Und da entsteht die weitere Frage: Der Gott der Katholiken mit dem obersten Herrn, dem „Heiligen Vater“, in Rom? Oder eher der Demokratie-affine Gott der Kirchen des immer noch vorhandenen liberalen Protestantismus? Ist der Gott Jahwe im jüdischen Glauben demokratisch, weckt er z.B. aktuell demokratisches Bewusstsein, wenn man an ultra-orthodoxe Gläubige und ihre Minister im heutigen Israel denkt? Welcher Gott welcher muslimischen Tradition könnte denn demokratie-freundlich oder auch demokratie-feindlich gesinnt sein? Zwischen menschenfreundlichen Aleviten und den tödlichen schiitischen Herrschern im Iran ist doch ein Unterschied…

2.
Fragen über Fragen also schon angesichts dieses (ver)störenden Buch-Titels. Der Untertitel ist etwas präziser und weckt vielleicht Lust auf die Lektüre: „Zum Verhältnis von Demokratie und Religion“. Aber wieder stellen sich sogleich Fragen angesichts des Untertitels: Welche Demokratie ist denn gemeint? Die liberale und rechtsstaatliche Demokratie, die demokratische Demokratie sozusagen, jene Staatsform, die die Menschenrechte umfassend lebt? Gibt es diese demokratische Demokratie heute überhaupt? Oder gibt es nur noch die sich noch liberal nennende, aber auch schon korrupte Demokratie? Wie steht es mit den sich unverschämt explizit „illiberal” nennenden Regierungsformen, wie steht es so genannten Volks-Demokratien und von China oder Nord-Korea ganz zu schweigen. Die dortigen Diktatoren werden wie Götter verehrt… Und „die“ Demokratie will Otfried Höffe in Beziehung setzen zu „der“ Religion. Bloß zu welcher Religion denn, es gibt doch zweifelsfrei Religion nur im Plural und es gibt Ideologien, die sich wie Religionen verhalten, man denke an den Kommunismus, etwa den Stalinismus, den viele kluge Beobachter als eine Form von Religion und Götter-Verehrung verstehen. Und sprach nicht Walter Benjamin von der „Religion des Kapitalismus“? Ist der Gott der Konsumentenwelt nicht die „Ware“ oder das wirtschaftliche Wachstum? Kann man im Ernst auf diese Themen verzichten? Im Buch von Höffe werden diese Themen nicht angesprochen.

3.
Otfried Höffe, der Autor des genannten Buches, ist einer der bekanntesten und international geschätzten Philosophen besonders zu Fragen der philosophischen Ethik und der politischen Philosophie. Die Liste seiner Publikationen ist sehr lang und vielfältig, auch zur Geschichte der Philosophie. Dieses Buch nennt der gelehrte Philosoph immer wieder selbst „Essay“, und in dem Sinne sollte der Leser es betrachten: Es sind tatsächlich 12 kleine Essays, philosophische Betrachtungen zum Verhältnis „Religion(en) und staatliche Ordnung“. Die Essays dieses Buches sind eine Anregung für Menschen, die sich vielleicht zum ersten Mal etwas gründlicher mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Die Hinweise zu Kant etwa wird man Gewinn lesen, auch die kritische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas ist wichtig, ebenso die Ausführungen zu William James, Charles Taylor und Hans Joas. Interessant sind die Hinweise auf volkstümliche Redensarten in Deutschland, die immer wieder, von den Sprechern meist unbewusst, Gott oder den Teufel ins Spiel bringen (S. 116 f). Ob man von „Restbeständen“ (s. 116) einer Religion sprechen kann, wenn man jemand schreit „Mein Gott!“, ist eine offene Frage.

4.
Diese im Buch versammelten Essays bieten leider keine präzisen Quellenangaben. Und manche Aussagen sind schlicht falsch, etwa wenn Otfried Höffe das Christentum „ein Reformjudentum“ (S. 38) nennt. „Reformjudentum“ ist eine Strömung im Judentum seit dem 19. Jahrhundert. Jesus von Nazareth war sicher kein „Reformjude“, vielleicht eher ein radikaler jüdischer Religionskritiker der damaligen jüdischen Religion und ihrer Herrscher… Falsch ist es auch, wenn Höffe behauptet, im „Freidenkerverband“ seien, so wörtlich, „freikirchliche Bewegungen organisiert“. Der heute noch bestehende zahlenmäßig eher unbedeutende, oft DKP-nahe Freidenkerverband (dieser hat fast nichts mehr mit dem bedeutenden „Humanistischen Verband“ -HVD- gemeinsam) war einst, zu Beginn des 20.Jahrhundert ein Ort für frei-religiöse Gemeinschaften, diese aber sind etwas anderes als „freikirchliche Bewegungen“, dazu gehören etwa die Baptisten oder Methodisten…(zit. auf Seite 223).

5.
Auch manche eher philosophisch gemeinte Behauptungen irritieren: „Der Monotheismus vertritt den in philosophischer, vermutlich auch in theologischer Hinsicht allein sachgerechten Gottesbegriff. Eine Gewaltbereitschaft zeichnet sich dabei nicht im entferntesten ab“ (S. 186). Wie man solche Sätze formulieren kann, ohne wenigstens kurz auf die Studien von des Ägyptologen Jan Assmann hinzuweisen, bleibt mir schleierhaft. Assmann wird von Höffe in dem Buch nicht einmal erwähnt. Und das bekannte Plädoyer des Philosophie Professors Odo Marquard für den Polytheismus wird nicht erwähnt. Abgesehen davon: Was besonders stört, ist die ganz schwache Auseinandersetzung Höffes mit der politisch-sozialen Realität heute. Etwa, dass der evangelikale Fundamentalismus unter den Anhängern der republikanischen Partei der USA aggressiv und antidemokratisch ist, ähnliches ließe sich von Bolsonaro sagen, von der Putin-Kirche, also der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche kein Wort.

6.
Die Essays dieses Buches laufen auf zwei Seiten ganz Ende des Buches hinaus mit der Überschrift „Kein Dilemma“. Da wird die summarische Erkenntnis verkündet: „Das Verhältnis von Demokratie und Religion (immer noch in dieser Allgemeinheit formuliert, CM) ist störanfällig, es hat im Prinzip aber nicht den Charakter einer Zwangslage, eines Dilemmas“ (S. 225). Also: Religionen können grundsätzlich mit Demokratie kompatibel sein, auch wenn Höffe gegenüber „dem“ Islam Vorbehalte hat (S. 1818).
Höffe hofft aber: Selbst Religionen, die (in ihrem inneren Gefüge) „wenig demokratisch organisiert sind“, „können sich in ihrem Verhältnis zur Demokratie NICHT der eigenen religiösen Lehre entsprechend, also antidemokratisch, verhalten. (S. 225).
Das aber ist längst nicht entschieden: Ist der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt in der undemokratisch organisierten katholischen Kirche nicht in gewisser Weise auch eine Herausforderung für das politische Miteinander dieser Kirche auch in der Demokratie? Gott will keine Frauen in höchsten Funktionen, dies ist doch die Botschaft des Vatikans. Man denke auch an die totale und öffentlich durchgesetzte katholische Abwehr der Abtreibung. Sie ist eine Verachtung der Menschenrechte der Frauen. Oder: Die Zurückweisung von Segnungen homosexueller katholischer Paare durch Rom ist ein Skandal angesichts der neuen Gesetzgebung der Demokratien zugunsten der Homosexuellen. Denn die katholische Lehre ist: Homosexuelle sind eigentlich in der Sicht Gottes Menschen zweiter Klasse (diese Position einzunehmen steht dem Papst offiziell zu).

7.
Diese Hinweise deuten die Grenzen dieses Buches von Otfried Höffe an. Aber: Wie schon gesagt: Wer als Anfänger sich mit den Fragen dieses umfangreichen Themas „Religionen und Demokratie“ bzw. „Religionen und Staat“ auseinandersetzen will, wird gerade im explizit philosophiegeschichtlichen Teil kurz und knapp und allgemein verständlich informiert und zum weiteren Studium hoffentlich eingeladen.

Otfried Höffe, „Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion“. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 231 Seiten. 24 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die „Dialektik der Aufklärung“ – ein „Jahrhundertbuch“? Und: Antisemitismus bei Horkheimer und Adorno?

Über das Buch „Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. Die „Dialektik der Aufklärung“ – ein Torso.
Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten als Emigranten in Kalifornien 1942 begonnen, gemeinsam ein Buch zu schreiben, sie nannten es später „Dialektik der Aufklärung“. 1948 wurde es in Deutschland ausgeliefert. Es sei ein „Jahrhundertbuch“, behauptet der Siedler Verlag im Untertitel der Studie „Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier. Dass Mittelmeier selbst in seinem Schlusskapitel die „Dialektik der Aufklärung“ „hermetisch“ nennt, „als nicht leicht zu verstehen“ (S. 218) bewertet und als ein Buch beschreibt, „in dem man sich verirren kann“(S. 270 und 271), ist dann schon etwas irritierend … für ein „Jahrhundertbuch“. Auch „Handlungsimpulse“ für die Protestbewegungen (etwa zum „Mai 68“), wurden mit der Dialektik der Aufklärung, so wörtlich, „nicht geboten“. Die „Dialektik der Aufklärung“ sei ein Torso, so Mittelmeier (S. 264 und 272). Aber dieses „Torso-Buch“ hat doch eine gewisse Bedeutung und Berühmtheit erlangt, zahlreiche Studien von Philosophen zur „Dialektik der Aufklärung“ sind längst erschienen…

2. Eine lockere Abfolge von Biographischem und Philosophischem.
Martin Mittelmeier, Honorarprofessor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Köln, hat sich die Mühe gemacht, viele Details der Geschichte der Entstehung dieses „Jahrhundertbuches“ „Dialektik der Aufklärung“ mit vielen Quellenangaben gut belegt zusammenzutragen. Sein Buch besteht aus einer eher locker wirkenden Abfolge von philosophisch reflektierenden Erläuterungen zum Inhalt und dann, dazwischen gesetzt, eher nur biographisch erzählende Kapitel. In dieser „Doppelstruktur“ werden dann aber doch für manche sicher erstaunliche Erkenntnisse offen gelegt.

3. “Die Aufklärung fällt in Mythen zurück”.
Tatsache ist, dass die „Dialektik der Aufklärung“ so gesprächsweise in intellektuellen Kreisen viel Beachtung fand, das Buch erreichte hohe Auflagen und erlebte zahlreiche Übersetzungen. Das Buch wird in der philosophischen Fachwelt noch diskutiert, aber wird es von den „weiten Kreisen Interessierter“ auch gelesen und verstanden?
Das ist wohl die Frage, die sich der Autor Martin Mittelmeier stellte. Er erzählt deswegen anschaulich die mühevolle Entstehungsgeschichte der „Dialektik der Aufklärung“, aber er berichtet dies in einer Mischung aus Berichten vom privaten Leben der Philosophen und dann wieder ins Grundsätzliche gehenden Abschnitten der Werk-Interpretation.
Dass die philosophischen Einsichten und politischen Aussichten der „Dialektik der Aufklärung“ sehr düster sind, ist von vornherein klar, sozusagen als der „allgemeine Ruf“, der dieses Buch bewirkt hat. Die philosophische Vernunft wird zunächst als Geschichte der Befreiung von alten Göttern gedeutet, aber dann werden neue Götter wieder mächtig, und die heißen technischer Fortschritt, Konsum, Kultur-Industrie, Wachstumszwang der Ökonomie. Mit anderen Worten: Wer sich von der finsteren Gewalt der alten Götter befreit hat, gerät in neue Finsternis eines neuen Götter-Glaubens. Auswege und Licht kaum sichtbar. Und vor allem: Der Antisemitismus ist für Adorno/Horkheimer in der „aufgeklärten“ Moderne kein Sonderaspekt, sondern eine Art „Grundstruktur“.

4. Theologische Ausrutscher
Seinen Buch – Titel „Freiheit und Finsternis“ erläutert Mittelmeier nicht explizit und ausführlich, diese Wortverbindung Freiheit und Finsternis wird meines Wissens nur einmal erwähnt, nämlich auf Seite 251, wenn Mittelmeier auf den Zusammenhang von Hölle und Himmel im Denken Adornos aufmerksam macht mit der etwas verstörenden Bemerkung: „Dass (für Adorno) Himmel und Hölle identisch sein können, ist eine Konsequenz aus der ungeheuerlichen gedanklichen Konstruktion, dass der Holocaust die letzte notwendige Etappe zur Erlösung ist“ (S. 250). Da spielen theologische Ideen rein, die auf Inspirationen von Walter Benjamin zurückgehen.

5. Antisemitische Äußerungen von Adorno und Horkheimer?
Bevor auf weitere Aspekte des Buches von Martin Mittelmeier hingewiesen wird, soll die Aufmerksamkeit dem Thema Antisemitismus gelten: Denn es könnte für etliche LeserInnen überraschend sein, wenn Mittelmeier schreibt, „Adorno und Horkheimer standen jüdischen Lebenswelten umso reservierter gegenüber, je orthodoxer diese waren“ (S. 232). Mittelmeier spricht sogar von deren „habituellen Antisemitismus“ (S. 31). 1937 schrieb Adorno an seine Eltern, wie sehr ihn das Verhalten von – so wörtlich – „Ostjuden“ auf der gemeinsamen Fahrt auf einem Schiff über den Atlantik störte: Es waren, so wörtlich, „Ostjuden, die mit ihren Kappen auf dem Kopf saßen, religiöses Geheul ausstießen und sich überhaupt benahmen, dass es eine Rassenschande ist“, so zitiert Mittelmeier auf S. 232 Theodor W. Adorno und Mittelmeier kommentiert weiter: „Nach dem Offenbarwerden des Ausmaßes der Judenvernichtung ließ sich Adorno zu solchen Äußerungen nicht mehr hinreißen“ (Ebd.). Selbst Max Horkheimer wurde von Adorno ein Antisemit genannt, so wörtlich, „dessen Antisemitismus hinter dem von Adornos Vater kaum zurücksteht…“ (S. 234).
Mittelmeier beschreibt diese Tendenzen bei Adorno und Horkheimer unter der Kapitelüberschrift „Der Antisemitismus der Antisemitismus-Analytiker“ . Darin wird auch von einem nicht realisierten Projekt der beiden Philosophen in Kalifornien berichtet: Adorno und Horkheimer wollten in den USA für Juden ein Handbuch publizieren, das denen Argumente liefert, gegen antisemitische Beleidigungen vorzugehen. Dabei griffen die beiden durchaus antisemitische Stereotype auf, nannten sie und wollten zeigen, wie Juden selbst auf solchen Wahnsinn oder „anderen“ reagieren sollten. Eher peinlich ist dieses ganze Vorhaben…
Die Frage ist, ob derartige Optionen und Stellungnahmen „Antisemitismus bei (jüdischen) Antisemitismus – Analytikern“ genannt werden sollten, müsste breiter erörtert werden. Aber für viele LeserInnen dürften die gut belegten Hinweise Mittelmeiers neu sein.

6. Zur Geschichte des Buches „Dialektik der Aufklärung“:
Etliche (jüdische) Wissenschaftler des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ (Leitung: Max Horkheimer) hatten sich seit 1934 zunächst an die Ostküste der USA, dann nach Kalifornien flüchten können, sie lebten dort recht privilegiert, mussten sich allerdings während des Krieges zumal mit den Verdächtigungen des CIA auseinandersetzen. Und sozusagen vorauseilenden Gehorsam in ihren Formulierungen zeigen, um nicht als Kommunisten verfolgt und vertrieben zu werden. Das gute Leben der Flüchtlinge in Kalifornien war durchaus ein Thema mit einigen „Gewissensbissen“ etwa bei Max Horkheimer. Er hatte das Gefühl, gut und in Sicherheit zu leben, während (andere) Juden in den KZs der deutschen Nazis umgebracht wurden… LINK

7. Adorno – der unbeliebte Ehrgeizige.
Der Autor beschreibt viele Details, etwa, dass Theodor W. Adorno keineswegs von den Mitgliedern der kalifornischen „Kolonie der Wissenschaftsflüchtlinge“, also aus dem Institut für Sozialforschung, geschätzt, geschweige denn gemochte wurde. Adorno setzte in totalem Ehrgeiz alles daran, dem großen Chef Horkheimer (Mittelmeier spricht sogar von dessen Dominanz als „Diktatur“ auf S. 163) zu gefallen. Nebenbei: Hannah Arendt, so Mittelmeier, konnte Adorno nicht ausstehen (S. 15).
Horkheimer seinerseits hat schon als junger Mann ein sehr enges Freundschaftsbündnis mit Friedrich Pollock (der Ökonom des Instituts) geschlossen, beide blieben ein Leben lang zusammen (S. 43). Als 30 Jähriger heiratete Horkheimer 1926 die 8 Jahre ältere Sekretärin Rose Riekher aus der Firma seines Vaters.
Und, leider auch dies: Walter Benjamin konnte von Horkheimer und Adorno, trotz aller Zureden, nicht überzeugt werden, rechtzeitig in die USA zu flüchten.
Vom gesellschaftlichen Leben im Umfeld von Los Angeles ist im Buch viel die Rede, von Kontakten etwa mit Thomas Mann. Auch die musikalischen Begabungen und Qualitäten Adornos, in Kalifornien stolz präsentiert, kommen zur Sprache.

8. Zwei Philosophen schreiben ein Buch gemeinsam.
Abgesehen von vielen eher das Private betreffenden Hinweisen (etwa auch zur Rolle der Frauen, die meist nur als Gattinnen und gleichzeitig als Sekretärinnen relevant waren), bietet „Freiheit und Finsternis“, wie schon gesagt, in einzelnen Kapiteln immer wieder einige Erläuterungen zum Inhalt dieses so genannten „Jahrhundertbuches“ „Dialektik der Aufklärung“: Es ist, so der Autor, ein letztlich unvollendetes Opus, aber beachtlich ist: Etliche Kapitel wurden in schwieriger gemeinsamer Arbeit von Horkheimer UND Adorno verfasst, das ist für eine philosophische Studie schon eine Ausnahme: Nur ein Beispiel: Dass etwa Kant und Reinhold oder Kant und Fichte gemeinsam ein Buch hätten schreiben können, ist undenkbar.

9. Ängstlich, diplomatisch, auch revisionistisch?
Erstaunlich, wenn nicht verwirrend ist die Tendenz des vorauseilenden Gehorsams vor allem von Horkheimer, der die deutlich kommunistisch, sozialistisch konnotierten Begriffe aus ihrem Buch zu entfernen, damit eine allzu deutliche sozialistische Tendenz nicht zu persönlichen Irritationen (und Ausgrenzung) in der BRD führe. Die italienische Ausgabe des Buches wurde nach eingehenden Untersuchungen und Vergleichen bewertet: es seien ihr von den Autoren „die Stacheln entledigt worden“ (S. 270). Mittelmeier spricht sogar vom Revisionismus der beiden Autoren (S. 271).
Das so genannte „Jahrhundertbuch“ ist zweifellos in einer Haltung von Angst und Rücksichtnahme auf staatliche „Autoritäten“ in den USA (FBI!) entstanden, aber es ist auch bestimmt von dem Willen der Autoren, unbedingt, selbst mit Revisionen, in der philosophischen Welt wahrgenommen und anerkannt zu werden. Die Studenten des „Mai 68“ haben diese wenig kämpferische „diplomatische“ Haltung nicht sehr geschätzt … und sich eher Herbert Marcuse zugewandt.

Martin Mittelmeier, „Freiheit und Finsternis. Wie die „Dialektik der Aufklärung“ zum Jahrhundertbuch wurde“. Siedler Verlag, 2021, 320 Seiten, 24€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Der Teufel hat keine Zeit. Ein neues Buch von Daniel Strassberg.

Eine kleine Hinführung ins philosophisch-politische Denken.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Wieder einmal eine Möglichkeit, ins philosophische Denken zu kommen, bietet das neue Buch von Daniel Strassberg (Zürich). Er arbeitet als Psychoanalytiker und als Philosoph, eine nicht gerade häufige Kombination. 2022 hat er seine „philosophisch-politische Betrachtungen“ unter dem Titel veröffentlicht „Der Teufel hat keine Zeit“ (Rotpunktverlag, Zürich.) Zeit sollten sich allerdings die LeserInnen nehmen während der Lektüre, die anspruchsvoll, aber nicht schwierig ist und ins weitere Fragen führt. Und Fragen verunsichern, das ist auch der Hintergrund des Buches. Es verlangt Denkpausen, Unterbrechungen, anders geht es nicht im Philosophieren.
Der Titel „Der Teufel hat keine Zeit“ wird, soweit ich sehe, im Buch nicht weiter erklärt. Er soll vielleicht bedeuten: Der Teufel hat keine Zeit. Du als Mensch bist kein Teufel (normalerweise), also hast du Zeit und nimm dir Zeit zum Lesen (dieses Buches). Eine hübsche Werbung?

2.
Der Autor hat 41 „Betrachtungen“, kurze Essays, „Denk-Impulse“, veröffentlicht, die zuvor schon (von 2019 bis 2022) im Online-Magazin REPUBLIK.ch veröffentlicht wurden. In 6 Kapiteln werden diese philosophischen „Betrachtungen“ sortiert: Etwa: „Identität und Politik“, „Über die Liebe und andere Schwächen“, „Sprache und Wirklichkeit“… „Das Buch versucht die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft bewusst hervorzuheben, um so das komplexe Wechselspiel von gesellschaftlichem Wandel und veränderten Formen der Subjektivität auszuloten“, schreibt Strassberg (S. 14).

3.
41 philosophisch-politische Essays, leider (zu) eng/klein gedruckt auf 240 Seiten, kann man nicht umfassend rezensieren, es sei denn, es sollte ein neues Opus entstehen.
Was macht dieses Buch im ganzen zu einem „Einstieg“ ins philosophische Denken inmitten der Fragen und Herausforderungen der Gegenwart? Strassberg analysiert z.B alltägliches menschliches Verhalten („Ausreden“, „Sex“, Rechthaben“, „Scham“, „Nähe“ usw.).
In der philosophischen Reflexion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstreicht Strassberg die Bedeutung der Ideologie in diesem (und wohl in jedem) Krieg. Putin und die ihm ergebene russisch-orthodoxe Kirche verbreiten eine Ideologie unter den Russen: Der Krieg wird so in eine verfälschend gefärbte Groß-Erzählung künstlich eingebunden, in der dann der Krieg „nicht mehr völlig absurd erscheint“ (S. 27). Und die meisten, gläubig und dumm gehalten seit Jahrhunderten, akzeptieren das. Noch lange? Gibt es ein Ende der ideologischen Verblödung?

4.
Ein anderes Beispiel: Ohne Ausreden kann eigentlich kein Mensch in der Gesellschaft, im Staat, in der Familie etc. leben und bestehen, der Autor zeigt: „Wir sind allzeit dazu aufgerufen, schonungslos ehrlich zu uns selbst zu sein. Doch ein Leben ohne ein gerütteltes Maß und Selbstbetrug ist unerträglich. Ausreden ermöglichen es, Widersprüche zu leben, ohne dauernd über sie nachdenken zu müssen…“ (S. 41).
Ich habe weiter nachgedacht, was denn der Unterschied zwischen Ausrede und Lüge ist, und wie sehr so viele unserer demokratischen Politiker und internationalen Finanzjongleure und Bischöfe nicht längst die Praxis der Ausreden meisterlich beherrschen.
Treffend auch Strassbergs Analyse, wie „unsere schöne grenzenlose Welt“ dazu führt, dass wir keine räumliche Nähe mehr hochschätzen können und möchten. „Der physische Ort, an dem Menschen zusammenwohnen, begründet kaum noch gemeinsame Interessen“ (S. 167). Anregend auch die Reflexionen zum Thema Bürokratie, „die“ – aufgrund der Computer gesteuerten Fragen und Formulare CM. – „im besten Fall zur Anpassung, im schlimmsten zur Lüge und zum Betrug zwingt, also genau zu dem, was sie verhindern vorgibt“(S. 152).
Weitere „Kost/d.h. Denk-Proben“ zum Weiterdenken und Kritisieren natürlich ließen sich zu jeder „Betrachtung“ liefern.

5.
Fraglich bleiben für mich einige wie immer recht knapp mitgeteilte Denkresultate Strassbergs, etwa unter dem Titel „Das Unnütze“ (S. 140 ff.) Da wird über Adam Smith in einem überraschend wohlwollenden Ton gesprochen, als wäre er der Gründervater einer Theorie der Schönheit und Kultur. „Wir essen nicht, weil wir Hunger haben, sondern weil wir den raffinierten ästhetischen Genuss suchen – auch wenn er ungesund ist“, schreibt Strassberg (S. 139). Ob sich dieser Meinung einiger Leute in Zürich, Paris, New York, Berlin auch die Millionen Hungernden von Südsudan und Madagascar und so weiter anschließen, ist eher ausgeschlossen. Die vom Autor sehr verständnisvoll beschriebene Produktion der Luxus-Güter für die Luxuriösen, Millionäre etc., verdient wirklich weitere kritische Reflexionen. Ich habe sehr große Schwierigkeiten dem Schlusssatz dieses Kapitels auch nur annähernd zuzustimmen: „Unsere überaus effiziente Gesellschaft ruht auf dem verdrängten Fundament des Unnützen“ (S. 140).
Strassberg nennt seine sehr diskutable Überzeugung: „Nicht nützliche, sondern schöne und überflüssige Dinge sind das Schmiermittel jeder Ökonomie“ (ebd.) Da wird offenbar die übliche Kulturproduktion des Schönen für die Schönen (Oper, Ballett, Malerei etc.) mit der Produktion teuerster Mode und Cognacs etc. verwechselt. Wird durch die Produktion von Luxus-Mode und Luxus-Cognacs die Arbeitslosigkeit in Frankreich etwa erheblich reduziert? Eher nein, die Produktionen der genannten Güter sind also kein „Schmiermittel der Ökonomie“!

6.
Ein anderes Beispiel: In dem Beitrag „Warum Entscheidungen nie vernünftig sind“ (S. 120ff). Auf S. 124 heißt es: „Das vernünftige Abwägen von Argumenten, der herrschaftsfreie Dialog, der friedliche Wettstreit der Meinungen und Überzeugungen sind Fiktionen.“ Schon wieder gilt hier der vom Autor zweifellos gewünschte Widerspruch, wie sollte es denn auch anders sein in der Philosophie! Meine Frage also: Sind dann etwa auch die hier vorliegenden „Betrachtungen“ von Daniel Strassberg, die ja argumentieren und Überzeugungen bieten, auch Fiktionen? Ich hoffe nicht, und hoffe insgesamt nicht, dass Argumente und damit die ganze Philosophie ins Fiktive abgleiten. Fiktiv sind viele Romane. Philosophie ist eine Kunst, aber eine Lebenskunst mit geltenden Argumenten. Ist etwa die argumentierende Erklärung der universal geltenden Menschenrechte fiktiv? Viele Politiker betrachten die Menschenrechte als Fiktionen, faktisch. Normativ gesehen sind die Menschenrechte absolut keine Fiktion!

Daniel Strassberg, „Der Teufel hat keine Zeit. Philosophisch-politische Betrachtungen“. Rotpunktverlag. Zürich, 2022, 256 Seiten, 25 Euro.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Philosophie lebt von Erfahrungen der Evidenz, von „ursprünglichen Einsichten“.

Ein Hinweis auf einen zentralen Aspekt im Denken des Philosophen Dieter Henrich.
Von Christian Modehn.

1. Philosophie und Philosophieren
Philosophie und ihr lebendiges Geschehen als Philosophieren ist etwas Außergewöhnliches, kaum zu Definierendes, daran zu erinnern ist alles andere als banal. Philosophieren geschieht inmitten des Lebens und seiner Fragen, und manchmal werden maßgebenden Philosophen Einsichten förmlich „geschenkt“, sie zeigen sich dem Philosophen wie ein unerwartetes Ereignis. Auch darauf hat der Philosoph Dieter Henrich hingewiesen.

2. Dieter Henrich
Dieter Henrich ist einer der wichtigen Philosophen in Deutschland am 17. Dezember 2022 ist er kurz vor Vollendendung seines 96. Lebensjahres gestorben. Sein äußerst umfassendes philosophisches Werk wird inspirierend bleiben, zumal für die, die das Werk von Kant, Hegel und vor allem Fichte und Hölderlin lesen und studieren. Zu Dieter Henrich siehe auch wikipedia: LINK

3. „Ursprüngliche Einsichten“… Religiöse Einsichten….
Hier wird nur auf eine entscheidende Erkenntnis Dieter Henrichs hingewiesen, die sozusagen für „weite Kreise“ bedeutsam sein kann. Henrich hat es verstanden, seine Studien zur Geschichte der Philosophie mit lebensmäßig bedeutsamen Themen zu verbinden.
In seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (C.H.Beck Verlag, München, 2011) entwickelt Henrich ein bislang eher selten beachtetes Thema: Gibt es „Grundeinsichten“, also plötzlich sich zeigende Erkenntnisse und Evidenzen, von denen sich Philosophen in ihrem Denken und in ihrem Leben prägen und bestimmen lassen? Henrich berichtet im ersten Teil dieses zum Teil durchaus „allgemein zugänglichen“ Buches von „einer sich plötzlich eröffnenden Einsicht“ (S. 22), die sich „im Lebensgang von Philosophen“ zeigt. Diese unerwartete, nicht-„gemachte“ Einsicht will Henrich von den eher alltäglichen Einsichten, Entdeckungen usw. abgrenzen. Diese äußern sich etwa in dem Ruf „Ich hab es gefunden“, „Heureka“… Dabei handelt es sich um begrenzte, etwa aufs Technische bezogene Erfindungen.
Henrich aber meint Einsichten „von prägender Bedeutung für ein ganzes Leben“(S. 26), „in denen sich ein Blick in das Ganze der Wirklichkeit auftut“ (ebd.). Und der Philosoph vergleicht diese umfassenden Einsichten (sind es „Geschenke“, „Gaben“ ?) mit den Erlebnissen religiöser Offenbarungen. Diese knappen Hinweise (auf Seite 27) sind wichtig. Denn Henrich, kein Verteidiger des dogmatischen christlichen Glaubens, ermahnt förmlich atheistische Menschen, solche „außerordentlichen Erfahrungen und Einsichten“ religiöser Menschen nicht „für Priestermärchen und Symptome einer Psychose zu halten.“ Zu einer entsprechenden „außerordentlichen (ins Religiöse weisenden) Einsicht“ Ludwig Wittgensteins siehe den Hinweis unter Nr. 7.
Henrich zeigt dann an ungewöhnlichen Einsichten der Philosophen Descartes, Jacob Böhme, Kant, Nietzsche, die Bedeutung der „plötzlichen Grund-Einsicht“ in das Ganze der Wirklichkeit…Dass die Grundeinsicht Heideggers , das „Ereignis“ genannt, also als „Kehre“ (als der Abkehr vom Ansatz von „Sein und Zeit“, CM) eigene Probleme aufwirft, das weiß Henrich (Seite 59f.) Aber die Frage bleibt bei Henrich meines Erachtens offen, ob es etwa angesichts des unkontrollierbaren „gehorsamen“ Hörens auf den Spruch „des“ Seins beim späten Heidegger, auch allgemeine, normative Argumente zur Beurteilung eine Rolle spielen sollten. Mit anderen Worten: Ist jedes philosophische Evidenz-Erlebnis automatisch zu respektieren? Gibt es (auch politisch motivierte) vorgetäuschte Evidenzen etc.?

4. Fichtes ursprüngliche Einsicht
Hier soll nur auf Henrichs Beschreibung der zentralen Grunderfahrung des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hingewiesen werden: Ihm galt schon sehr früh das besondere Interesse Henrichs. 1967 erschien als Broschüre sein wichtiger Text „Fichte ursprüngliche Einsicht“ (Verlag Vittorio Klostermann).
In dem Buch „Werke im Werden“ von 2011 spricht Henrich gleich am Anfang von Fichtes grundlegender Einsicht (S. 40-42). Sie bezieht sich auf etwas Elementares im geistigen Leben, auf das, was den Menschen als Menschen auszeichnet: das Selbstbewusstsein: Fichte setzt sich von Descartes ab; er sah in der „Reflexion“ des Subjekts auf sich selbst auch den Ursprung des Ich. Aus der Reflexion, so wird dort behauptet, entstehe das Ich als Selbstbewusstsein. Aber woher hat die Reflexion sozusagen ihre innere Kraft, ihre Wirksamkeit, fragt Fichte. „Denn Reflexion kann nur bedeuten, dass ein bereits vorhandenes Wissen (!) eigens ergriffen und damit ausdrücklich gemacht wird.“ (Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 12).
Henrich zeigt also in seinen Fichte-Studien, dass das menschliche Selbstbewusstsein vor aller Reflexion schon eine unmittelbare Kenntnis des Subjekts von sich selbst ist. Diese immer schon gegebene unmittelbare Kenntnis des Ich von sich selbst ermöglicht alles geistige Leben, d.h. auch auf die erkennende Reflexion des einzelnen auf sich selbst, auf seine geistige Struktur usw. Das ist für die Menschlichkeit des Menschen von entscheidender Bedeutung: Das Selbstbewusstsein ist etwas unmittelbar Gegebenes! Wer es verstehen will, fragt nach einer Art „Grund“ des Selbstbewusstseins, nach einem „Grund, der für alles Erkennen unausdenkbar ist. Nach Fichtes Lehre von 1798 manifestiert das Selbstbewusstsein das Gesetz der intelligiblen Welt, nach der Lehre von 1801 manifestiert es Gottes Leben“ ( „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, S. 48).
Dieter Heinrich erinnert in „Werke im Werden“, dass diese Einsicht sozusagen eine Evidenz-Erfahrung Fichtes ist, ein Ereignis, ein Geschenk, eine Einsicht, auf die er seine Philosophie gründete. Fichtes Sohn, aber auch sein Enkel haben darüber berichtet. „Nach anhaltendem Meditieren und während Fichte am warmen Winterofen stand, sah er plötzlich, dass nur die im Ich gelegene Subjekt-Objektivität das höchste Prinzip der Philosophie sein könne“ (S. 40). Der Fichte Zeitgenosse, der Philosoph Henrik Steffens, geht in seiner Interpretation noch weiter:
„Wenn das Ich sich selbst erkennt, kann ein philosophisches Wissen gewonnen werden, das dieselbe Gewissheit hat wie das mathematische Wissen“ (Werke im Werden, S. 40). Ein anspruchsvoller Satz im Denken des 18. Jahrhunderts. Heute sind Philosophen mit Vergleichen zur Mathematik äußerst zurückhaltend.
Dieter Henrich hat im Laufe seines philosophischen Denkens die Frage „Was ist Selbstbewusstsein?“ stetig weiter vertieft.

5. Zu Wittgensteins „außerordentlicher Einsicht“
Ausgerechnet, möchte man sagen, habe Ludwig Wittgenstein „einen Moment außerordentlicher Einsicht“ (Henrich) bei einer Aufführung des Volksstücks „Die Kreuzelschreiber“ von Ludwig Anzengruber (verfasst 1872) erleben können. Damals habe Wittgenstein „zum ersten Mal die Möglichkeit einer Religion“ ahnen können (S. 45, „Werke im Werden“). Henrich beschreibt etwas ausführlicher den Zusammenhang des Erlebens, wichtig ist: Wittgenstein habe gespürt und dann gewusst:„Es kann dir nix geschehen“. Es war also das Wissen einer letzten Geborgenheit in dieser Welt (S. 46). Tatsächlich hat Wittgenstein vor allem auch in den Notizen, die unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ (Werkausgabe Band 8, Suhrkamp) veröffentlicht wurden, ausführlicher über seine religiösen Einsichten, seine Stellung zum Christentum usw. geschrieben  LINK   1. . LINK 

6.
Haben alle Menschen  „ursprüngliche Einsichten“ ?
Dieter Henrich ist der Meinung, dass bestimmte Grundeinsichten oder „Schlüsselerfahrungen“ durchaus Alltagserfahrungen sein können, also letztlich Geschehnisse sind, die jedem Menschen widerfahren. Diese „Schlüsselerfahrungen“, die eine neue Sicht, einen neuen Weg, eine Alternative unvermittelt zeigen, können in einem Leben zahlreich sein, sie sind also vielfältiger als „neuen Grund legende ursprüngliche Einsichten“ von Philosophen. Obwohl auch diese ihre erste „ursprüngliche Einsicht“ manchmal immer wieder neu bedenken und neu formulieren, wie etwa Fichte in seinen verschiedenen „Wissenschaftslehren“. Was den Alltag vieler Menschen im Blick auf grundlegende Erfahrungen angeht, erinnert Henrich auch an „Gestaltpsychologen, die sich mit Problemlösungen, die nach vergeblichem Suchen plötzlich einfallen, in Experimenten beschäftigt haben“ (S. 22).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wir sind die Letzten: Max Horkheimer als „letzter Bürger“ … und die „Letzte Generation“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.Dezember 2022.

1. Das Vorwort:
Ein Wort geht um, mehr als ein Wort: „Die letzte Generation“. Und es erinnert daran, dass im Laufe der Geschichte schon oft Menschen sich als „die Letzten“ – angesichts großer Umbrüche und Katastrophen – bezeichnet haben. Anläßlich des Selbstverständnisses von Klimaaktivisten als „der Letzten Generation“ ist es interessant zu wissen, in welchem Sinne zuvor schon Menschen sich „als die Letzten“ verstanden haben.
Dabei wird hier der Schwerpunkt auf Äußerungen des Philosophen und Soziologen Max Horkheimer gesetzt. Aber auch auf entsprechende Stellungnahmen von Nietzsche, Karl Kraus und dem Apostel Paulus wird hingewiesen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Wir sind die Letzten“ ist nicht nur von historischem Interesse, sie betrifft das (philosophische) Selbstverständnis der Menschen insgesamt. Wer würde leugnen, dass er/sie angesichts der kulturellen, sozialen, politischen, religiösen Umbrüche und tiefgreifenden Veränderungen heute nicht auch das Gefühl hat, irgendwie zu einer „letzten Generation“ zu gehören?

2. Horkheimer, der letzte Bürger
Vor 80 Jahren nannte sich der Philosoph Max Horkheimer im Exil, im schönen Los Angeles, Kalifornien, einen der „letzten Bürger“. Horkheimer war seit 1929 Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt am Mai. Er selbst wie andere Mitarbeiter mussten vor den Nazis flüchten, 1934 fanden er und sein Institut Zuflucht in den USA.
Horkheimer verstand sich als einen der letzten „Bürger“,besser gesagt „Großbürger“ der alten kapitalistischen Welt.
Max Horkheimer (geboren 1895, gestorben 1973) war Sohn eines Kunstbaumwoll-Fabrikanten. Als junger Mann machte aber nicht die vom Vater vorgesehene Karriere als Unternehmer, sondern er wurde Philosoph, Soziologe und … gläubiger Sozialist, gut vertraut mit dem Werk von Karl Marx und dem Sozialismus in gläubiger Haltung verpflichtet.
Horkheimer war selbstkritisch genug, er wusste: Wie sehr er auch „marxistisch ausgebildet sein mag und wegen dieser Ausbildung die Diktatur des Proletariates gutheißen mag, so war er doch nicht für die Diktatur des Proletariates zu gebrauchen“, schreibt Martin Mittelmeier in seiner neuen Studie „Freiheit und Finsternis. Wie die `Dialektik der Aufklärung´ zum Jahrhundertbuch wurde“ (2022, Siedler Verlag). Horkheimer war 1941 von New York nach Kalifornien umgezogen, sein neues Zuhause war eine sehr hübsche Villa in Pacific Palisades bei Los Angeles (Mittelmeier S.34), er wohnte in der Nachbarschaft von Thomas Mann…
Warum, das ist die Frage, meinte Horkheimer, als der Zweite Weltkrieg tobte und die Vernichtung der Juden in Europa systematisch betrieben wurde, für die künftige Revolution nicht geeignet zu sein? Weil er, so sein offenes Bekenntnis, Bürger war, zu sehr wohl Bürger war und bürgerlich dachte, bürgerlich lebte und den bürgerlichen Luxus selbst in Krisen und Kriegszeiten immer noch genoss. Man muss es wohl Horkheimer hoch anrechnen, zu dieser Form der Selbstkritik in der Lage gewesen zu sein.

3. Horkheimer als letzter Bürger darf noch genießen
Aber Horkheimer fand dann doch als Bürger, inmitten der angenehmen Umgebung Kaliforniens, eine sehr originelle Möglichkeit, seinen eigenen, durchaus ins Staunen versetzenden Beitrag zur proletarischen Revolution zu leisten. Damit sind nicht die theoretischen, philosophischen wie soziologischen Studien (oft gemeinsam mit Theodor W. Adorno) unmittelbar gemeint. Horkheimer entdeckte, dass er als der wahrscheinlich „letzter Bürger“ vor der sozialistischen Revolution die Aufgabe habe, das für ihn übliche großbürgerliche Leben geradezu fortzusetzen. Nicht Verzichten aufs Bürgerliche, sondern Fortsetzung der bürgerlichen Privilegien war seine Maxime. Er redete sich dabei einerseits die Hoffnung ein: Sein materiell gut ausgestattetes Leben in Kalifornien könne – nach der sozialistischen Revolution – auch für die jetzt materiell Leidenden, die Proletarier, Realität werden. Andererseits sah Horkheimer die historische Bedeutung seines privilegierten Lebens in Kalifornien auch in der Rolle eines „Statthalter des guten Lebens“, wie Mittelmeier schreibt (S. 36). Er fühlte sich als „Statthalter“ des guten Lebens, oder man könnte auch sagen, er lebte stellvertretend wohlhabend für die vielen anderen, denen es nicht gut ging. Wenigstens einigen wenigen mit großbürgerlicher Herkunft darf es, geschichtsphilosophisch betrachtet, gut gehen, sie bewahren dann auch die Erinnerung an das materiell gute Leben einst im Kapitalismus.
Horkheimer sah sich auch als die letzte großbürgerliche Figur, die voller Trauer schon ahnt, dass den armen Proletariern dieses Luxus-Leben dereinst nicht vergönnt sein wird.
Als dieser „letzte Mensch“ des Großbürgertums freute er sich, mit eingestanden Gewissensbissen zwar, in letzter Minute „vor dem erwarteten Untergang des Kapitalismus“ genussfähig geblieben zu sein: Wenigstens er, sozusagen als Symbolfigur des Übergangs von der alten kapitalistischen Welt zum Sozialismus, durfte noch materiellen Luxus genießen. Ohne Ironie sah sich Horkheimer in dieser Rolle! In den „Nachgelassenen (post mortem) veröffentlichten Schriften“ (Band 12, S.231 in Horkheimer „Gesammelte Schriften“, Fischer Verlag) beschreibt er schon 1935 seine Haltung, die auch im kalifornischen Exil gilt: :
„Es macht einen Unterschied im Hass gegen diese kapitalistische Welt aus, ob man ihre Früchte vom Genuss oder nur vom Zusehen kennt. Zorn, Hohn und laute Verachtung gegen die Freuden einer raffinierten Zivilisation sind etwas anderes als die Trauer dessen, der sie genossen hat und die andern davon ausgeschlossen sieht. Diese letzten Bürger sind genussfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau …“.

4. Abstrakte Solidarität
Eine verstörende Aussage, leider nicht von brillanter Deutlichkeit: Welche „Lehre“ ließe sich aus diesem Bekenntnis des „letzten Bürgers ziehen? Vor der großen politischen Wende haben einige wenige das Recht, genussvoll und materiell gut abgesichert zu leben, obwohl der 2. Weltkrieg längst viele hunderttausend Tote „produziert“ und in den KZs das europäische Judentum ausgelöscht wird von den Nazis. Horkheimer hat wohl ein schlechtes Gewissen dabei, aber er ändert sein gutes Leben nicht. Das Teilen, die Solidarität mit den Unterdrückten und Leidenden, etwa mit den Arbeitern in den USA, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Seine politische Hoffnung auf ein gutes (materiell gutes) Leben auch für die Proletarier, bleibt abstrakt. Abstrakt bleibt auch der Glaube Horkheimers an die Revolution und die Wohltaten der Revolution. Dies ist Ausdruck seines tiefen, aber abstrakten Gefühls für universelle Gerechtigkeit, das er schon als reicher Fabrikantensohn empfand.

5. Hannah Arendt kritisiert Horkheimer
Martin Mittelmeier weist in seiner Studie darauf hin, dass das gute genussvolle, bürgerlich gediegene Leben Horkheimers in Kalifornien von keiner geringeren als Hannah Arendt kritisiert wurde. „Sie haben immer noch Geld, aber sie sind mehr und mehr der Meinung, dass sie sich damit einen ruhigen Lebensabend sicher müssen“ (S. 35).

6. Klima-Aktivisten der “letzten Generation” sind echte Demokraten!
Die Klimaaktivisten jetzt, Dezember 2022, fordern mit ihren provozierenden, bewusst störenden Aktionen (Sich-Festkleben auf Straßen und Flughäfen usw.), dass endlich die deutsche Regierung alles tut, die von ihr selbst gesetzlich formulierte Verpflichtung Wirklichkeit werden zu lassen: Deutschland bis 2045 klimaneutral zu gestalten. Von diesem als Gesetz formulierten Ziel, beschlossen im Jahr 2021 noch von der Merkel-Regierung, ist Deutschland weit entfernt. Weil die Klimakatastrophe weiter „Fahrt aufnimmt“, handeln diese jungen Leute als die „letzte Generation“. Sie wird kaum mehr menschenwürdig leben können, das gilt noch viel mehr für Menschen in der sogenannten südlichen, armen Welt… Und diese jungen Aktivisten wissen: Die Älteren bzw. die Alten bestimmen Politik und Ökonomie, sie sind in ihrer Sturheit ihrerseits auch die letzte Generation. Nämlich die letzte Generation derer, die es sich bei der Klimakatastrophe relativ gut gehen lassen, die „das gute Leben nicht schmähen“, wie Horkheimer selbstkritisch sagte. Diese alten und wohlhabenden Leute in der reichen Welt lassen sehenden Auges den „Karren gegen die Wand laufen“, tun nur halbherzig etwas, um diese Welt auch den jungen Generationen lebenswert zu lassen.
Schlimmer noch: Viele von diesen Alten, im Klimaschutz Unentschlossenen, besonders in Kreisen der CDU und FDP, betrachten diese jungen Aktivisten der „letzten Generation“ als Verbrecher. Wer sich auf der Straße festklebt, wird selbst von Bischöfen (wie in Berlin Stäblein, ev., und Koch, kath.) mit dem Urteil des „Rechtsbruchs“ diffamiert. Als würde nicht eine Katastrophe ungewöhnliche Mittel erfordern. Die Mehrheit der Menschen folgt den üblen Verleumdungen der rechten Presse, diese Mehrheit sollte dankbar sein für diesen Weckruf der Verzweifelten, die nicht nur an der Klimakatastrophe verzweifeln, sondern auch an der Tatsache, dass die Bundes-Regierung ihr Klima-Schutzgesetz vom August 2021 vergessen hat (siehe: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672). Die Autorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Herrmann hat recht: „Die Klima-Aktivisten verstoßen gegen Gesetze, um darauf hinzuweisen, dass täglich Gesetze gebrochen werden – und zwar durch den den Staat. Die Letzte Generation sieht sich als Retterin der Demokratie. Sie will erreichen, dass demokratisch gewählte Volksvertreter demokratisch erlassene Gesetze umsetzen“ (TAZ., 17.Dezember 2022, Seite 2).
Und es ist ein Skandal, wenn manche Leute die Gefahr, die von den wirklich gewaltbereiten gemein gefährlichen rechtsextremen Reichsbürgern und der AFD ausgeht, mit der Präsenz der Letzten Generation vergleichen. „Der Staat ist inkonsequent, indem er Klimagesetze erlässt, an die er sich den nicht hält“. Das ist der Skandal, auf den auch die „Letzte Generation“ mit Nachdruck hinweist. Ulrike Herrmann schreibt weiterhin treffend: „Die Letzte Generation sind die echten Demokraten und sie glauben an den Staat“ (TAZ, 17.12.2022, S 2.).

7. Max Horkheimer klebt sich fest?
Wie hätte sich Horkheimer als einer der „letzten Bürger“ zu der „Letzten Generation“ verhalten? Dies ist eine spekulative Frage. Möglicherweise, wenn man die allgemeine Ängstlichkeit und den nur theoretischen Mut Horkheimers bedenkt: Er hätte als der „letzte der gut lebenden Groß-Bürger“ sicher nicht leidenschaftlich die jungen Leute der LetztenGeneration unterstützt und verteidigt, er hätte sich auf Frankfurts Strafen nicht festgeklebt, vielleicht hätte er wenigstens gegen die üble Verleumdung von Rechts und der Springer-Presse laut protestiert… Ein Horkheimer, der sich auf der Autobahn festklebt, ist aber undenkbar. Ein anderer, an den wir aus aktuellem Anlass denken müssen, Heinrich Böll, der Literaturnobelpreisträger vor 50 Jahren, 1972, hätte dies sicher getan. Er war nicht nur ein Theoretiker. Er war zum Beispiel aktiv bei der Mutlangen Blockade 1983 dabei.

8. Nietzsches “letzte Menschen”
Auch Friedrich Nietzsche spricht in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883) von den „letzten Menschen“. Sie stehen am Übergang zu einer neuen Menschheitskultur, die vom Übermenschen bestimmt sein wird. Er wird der schöpferische, ingesamt freie und herrschende Mensch sein, er wird den Nihilismus überwinden. Die „letzten Menschen“ sind als Menschen auch moralisch betrachtet „die Letzten“, weil sie sich als brave Bürger einschließen in ihre kleine Welt, die sich mit metaphysischen Sicherheiten aus Angst umgibt. Diese „Letzten“ sind lethargisch, müde, abseits jeder Kreativität. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“, schreibt Nietzsche.

9. “Die letzten Tage der Menschheit”
Auch auf Karl Kraus und sein großes Opus „Die letzten Tage der Menschheit“ soll hingewiesen werden. 1922 wurde diese Tragödie publiziert, sie „spielt“ im 1. Weltkrieg und zeigt, dass die letzten Menschen im Krieg und schon vor dem Krieg vor allem die verlogenen und gedankenlosen Bürger sind, zumal die Journalisten. Sie sind zu nichts anderem imstande, als dumme Sprüche zu verbreiten. Dummheit und Gedankenlosigkeit führen in den Krieg, bestimmen den Krieg, zerstören die Vernunft. Die „Letzten“ das sind die moralisch gesehen „letzten Bürger“ der so genannten „Intelligenz“. Diese letzten Menschen bewertet Karl Kraus als Verbrecher.

10. Paulus lebt im Schatten der Wiederkunft Jesu Christi als letzter Mensch, aber auch als einer der ersten Christen.
Ein letzte Hinweis auf den Apostel Paulus. Er war geprägt vom Glauben der ersten Gemeinde: Sie erwartete die Wiederkunft Jesu Christi alsbald, offenbar auch noch in der eigenen Gegenwart. Wie sollen sich Menschen auf dieses große Ereignis der Wiederkunft einstellen, wie sollen sie noch leben, das sind Fragen mit denen sich Paulus etwa in seinem Ersten Thessalonicher Brief (verfasst im Jahre 50) oder im Ersten Brief an die Korinther (verfasst im Jahre 53) befasst. Jesus von Nazareth war etwa im Jahr 33 am Kreuz elend gestorben.
Paulus nannte im Jahre 50 (die Gemeinde in Thessalonich „die Lebenden, die noch übrig geblieben sind“ (1 Thess, 4,17), Damit will er sagen: Es sind die noch auf Erden Weilenden, die :„übrig gelblieben sind“ vor der alsbald erwarteten Wiederkunft Jesu Christi…
Angesichts der grundstürzenden Veränderung der Welt durch die Wiederkunft Jesu Christi empfiehlt Paulus der Gemeinde in Korinth zu leben, als lebte man schon nicht mehr nach den Üblichkeiten der Welt: „Wer eine Frau hat, soll sich verhalten, als habe er keine. Wer die Welt nützt, soll so tun, als nütze er sie nicht (1 Kor. 7,29). Alles Weitermachen wie bisher, könnte man sagen, aber mit dem inneren Abstand, alles Weltliche nicht mehr ernst nehmen, „so tun als ob“, möchte man sagen: Das ist die Lehre des Apostels Paulus für die „letzte Generation“ in Korinth und Thessalonich. Das Wesentliche kommt später, sollte erwartet und innerlich vorbereitet werden. Das war ja einst (für manche Wissende heute immer noch) der Sinn des „Advent“.

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