Andrzej Stasiuk: Der Liebhaber des Ostens Europas und der Orte „wo nichts los ist“.

Ein Hinweis auf den polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk
Von Christian Modehn

1.
Etwa sechzehn Bücher von Andrzej Stasiuk, eines der bekanntesten polnischen Autoren der Gegenwart, liegen auf Deutsch vor. Eine umfassende Würdigung des international beachteten und mit etlichen Ehrungen, Preisen ausgezeichneten Schriftstellers und Verlegers liegt meines Wissens in deutscher Sprache nicht vor. Sie kann hier nicht geleistet werden. Dieser Hinweis will nur eine mögliche Linie der Interpretation aufzeigen, sie bezieht sich vor allem auf die Bücher „Unterwegs nach Babadag“ (2004, auf Deutsch 2005) und „Beskiden-Chronik, Nachrichten aus Polen und der Welt“ (2018, auf Deutsch 2020). Beide Bücher sind bei Suhrkamp erschienen und wurden von Renate Schmidgall aus dem Polnischen übertragen. Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit vielen Jahren der Einsamkeit der Beskiden, nahe der slowakischen Grenze.

2.
Wer einige Bücher Stasiuks gelesen hat, fühlt sich manchmal irritiert von der inhaltlichen Kontinuität seiner ausführlichen Reise – Impressionen. Sie sind keine journalistischen Recherchen, sie führen in sehr subjektiver Sicht zumeist in entlegene bzw. – zumal für Westeuropäer – entlegenste und dem Namen nach unbekannte Regionen mit ihren Städtchen und Dörfern Polens, Ungarns, der Slowakei, Rumäniens, der Türkei, der Ukraine, Kasachthans, Albaniens, Moldawiens usw. Tausende von Ortsnamen begegnen dem Leser, Orte, die Stasiuk, auch mit Freunden und Verwandten, besucht hat. In manchen ist er sozusagen als „Vielfahrer“ mit seinem Auto nur kurz durchgefahren, in etlichen hat er sich länger aufgehalten: Vor allem um die Natur dort zu erleben, um Menschen zu beobachten und gelegentlich auch mit ihnen zu sprechen oder um kurze Beschreibungen „prominenter“ Orte zu bieten, wie etwa am Beispiel des rumänischen Dorfe Rasinari, wo der Philosoph Emil Cioran geboren wurde. Dabei erlebt er dort auch das Fortleben der politischen Nostalgie, in der „Sehnsucht nach dem Diktator Ceausescu“ (S. 23), wobei Stasiuk die Differenz erlebt zwischen seiner Freiheit und seinem Wohlstand als Autor und der Armut der in den Dörfern verbliebenen Alten: “Ich spürte, dass meine Freiheit, hierher zu kommen und wieder wegzufahren, hier nichts bedeutete und einen Scheißdreck wert war“ (ebd). An gelegentliche drastische Formulierungen werden sich Stasiuk – LeserInnen gewöhnen wie auch an seine manchmal nicht so deutlich erkennbare politische Meinung (siehe dazu Nr. 6)

3.
Leider wird auch in beiden genannten Büchern kein Datum der jeweiligen Aufenthalte in der ständigen Reiselust genannt. Aber das entspricht vielleicht auch dem literarischen Anspruch Stasiuks, sozusagen die trennenden Grenzen und damit die Daten der osteuropäischen Länder aufzubrechen zugunsten einer ihnen gemeinsamen Naturerfahrung, die sich dort „im Osten“ überall für ihn ereignet. Es geht ihm – als spirituellen Menschen, sicher auch vom Katholizismus geprägt, wie er bekennt – um die Wahrnehmung von „Gottes Schöpfung“ , um das Erstaunen darüber, dass die Welt überhaupt existiert…

4.
„Den Osten“ Europas zu sehen, zu spüren, zu atmen, sich einzuprägen: Dies ist sozusagen die absolute Leidenschaft Stasiuks, so sehr er durchaus auch den Westen Europas etwas schätzt, wobei ihn die großen Städte nicht nur in West-Europa eher stören und belästigen in seiner Suche nach der „Berührung mit dem namenlosen Raum“ (Babadag, S. 11), also der „materiellen Welt der Natur und des Kosmos“, was Stasiuk gerade in der Einsamkeit der genannten östlichen Regionen intensiv erleben möchte und wohl auch erlebt. Sonst würde er nicht Jahre lang die entlegensten Ecken dort, oft mit Mühe und großer Anstrengung, reisend, fahrend, suchend erkunden, manchmal auch mit der Bahn oder mit Bussen oder als Tramper…“Es könnte sein, dass es mir einfach um die menschenleere Landschaft geht, um meine eigene Einsamkeit“ (S. 273).

5.
Dies ist die Provokation für westliche Leser: „Das Herz meines Europa schlägt in Sokolów Podlaski und in Husi. Und kein bißchen in Wien und auch nicht in Budapest… Sokolów und Susi ahmen nichts nach, sie erschöpfen sich in ihrer eigenen Bestimmung“ (S. 265). Beide Namen verweise auf kleine Städtchen. In der Einsamkeit und Öde, in dieser Landschaft sammelt er seine Erinnerungen, um sie später, zu Hause, in der Einsamkeit der polnischen Beskiden, zu vergegenwärtigen, im Geist präsent zu haben. „Ich kann mich an tausend Fragmente der Welt erinnern“(S. 272).

6.
Stasiuk gibt offen zu: Er liebt diese Gegenden und Dörfer im Osten Europas und schon in Asien, „wo nichts los ist“ (S. 276), also die langweiligen Orte, wo die Zeit dröge dahinfließt bzw. stille steht, die Bewohner oft nur rumsitzen, ohne noch auf etwas zu warten. „An diesen Orten (gemeint ist rund um Constanta, Rumänien) gibt es nichts. Es sind einfach Dörfer, in der Steppe entlang der A3 oder abseits verstreut“ (S. 257). Und weil dort nichts los, die Zeit (und damit die Entwicklung, der „Fortschritt“) erstarrt ist, findet Stasiuk diese Reisen dorthin für sich selbst sinnvoll. Er will förmlich das Leiden an der Sinnlosigkeit des Lebens im Aufenthalt an Orten des erstarrten Lebens erträglich finden.

7.

Viel beachtet wurde Stasiuks “Roman” “Die Welt hinter Dukla“, in Polen 1997 erschienen, auf Deutsch seit 2002 in mehreren Auflagen. Dukla ist eine kleine Stadt im Karpatenvorland, dicht an der slowakischen Grenze und … in der Nähe von Stasiuks Haus. Und dieses Städchen besucht Stasiuk immer wieder, er will das unterschiedliche Licht erleben bei unterschiedlichen Tageszeiten und eigentlich auch den Stillstand des Lebens in der Stadt, das Gewöhnliche sozusagen. “Ein merkwürdiges Städtchen, von dem aus es nirgendwo mehr hingeht. Danach kommt nur noch die Slokwakei… aber unterwegs wiederholt der Teufel wie eine Litanei sein Gute-Nacht und nichts Wichtiges passiert, nur hinfällige Häuser kauern am Straßenrand…” (S. 67).  “Dukla, die Ouvertüre zum leeren Raum” (S. 68). Es ist diese Leidenschaft Stasiks fürs Unbedeutende, Verlassene, Aufgegebene, Einsame, die sich auch in dem “Roman” ausdrückt, eigentlich kein Roman, sondern eher eine Sammlung von Beschreibungen “Duklas” und Umgebung. Literarisch wertvoll erscheint mir die Passage, die mit “Also Dukla als Memento, als mentales Loch in der Seele” beginnt (S. 100 f.) “Ich könnte bis zum Dösigwerden auf der Westseite des Marktes sitzen…” (S. 101).

8.
Das Buch „Beskiden – Chronik“ versammelt kurze Essays, die Stasiuk offenbar vor allem für die liberal-katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (Krakau) geschrieben hat, weil jegliches Datum fehlt offenbar seit 2007 bis 2017 verfasst. Darin äußert sich Stasiuk deutlich im Sinne des ungarischen Populisten Viktor Orban und er sieht wie der ungarische Populist – angesichts der vielen Flüchtlinge nach Europa „eine große Völkerwanderung“ .Und Stasiuk schreibt sogar: „Viktor Orban hat recht: Das ist keine Emigration, das ist eine neue Völkerwanderung“ (S. 128, Beskiden). Verstörend auch die Worte: „Wir haben ihnen (den Flüchtlingen) den Weg bereitet, indem wir die Welt zu einem gemeinsamen Raum machten“ (S. 129). Und noch einmal S. 130: “Viktor Orban hat recht“ … Das lässt Stasiuk unkommentiert 2020 in Deutschland veröffentlichen.
Er spricht direkt seine polnischen Landsleute an in dem Essay „Auf der Halbinsel“ (gemeint ist Europa), ein Beitrag, verfasst nach der Aufnahme Polens in den „Schengen-Raum“: „Ich denke wir (Polen) sind müde…Wir sind müde, weil die Zukunft uns nicht betrifft. Wir werden in diesem Wettlauf immer zurückbleiben, dazu verurteilt, ewig fremden Spuren zu folgen. Die einzige Chance für uns ist der Zerfall Europas, denn dann hört der Wettlauf auf“ (S. 165, Beskiden). Die PIS-Partei verfolgt jetzt dieses Ziel, den „Zerfall Europas“ als der E.U.

9.
Stasiuk ist für mich ein zwiespältiger Autor, zumal viele seiner Texte von einer gewissen Langatmigkeit und inneren „Ungegliedertheit“ bestimmt sind, offenbar viel zu schnell dahin geschrieben. Die LeserInnen werden erkennen, mit welcher Wahrhaftigkeit er in seinen Reiseberichten hin und her „im Osten“ auch von seinem Alkoholkonsum und der Zigarettensucht spricht. Vielleicht will er die allgemein menschliche existentielle Langeweile geradezu – sozusagen dialektisch – in langweiligen Gegenden und Dörfern heilen.
„Dass ich auf dem Land lebe, hat auch pragmatische Gründe: Man findet hier ideale Arbeitsbedingungen, es gibt diese dörfliche Langeweile, die man mit etwas ausfüllen muss, und das tue ich eben mit dem Schreiben. Der intellektuelle Austausch findet in meinem Kopf statt, beim Lesen“, so in einem Interview mit der Zeitschrift “Literaturen”, Oktober 2000.

10.

Stasiuk hat sich auch in den wenigen in deutscher Sprache publizierten Interview zu Religion und Mystik geäußert:

Die Zeitschrift LITERATUREN:  Was verstehen Sie unter Mystik? (2010):

„Es ist eine postreligiöse Mystik: Im 20. oder 21. Jahrhundert kann man nicht mehr selbstverständlich von der Existenz einer metaphysischen Wirklichkeit ausgehen. Doch gleichzeitig besteht im Menschen zweifellos ein großes Bedürfnis nach Religion. Wenn man keinen verkehrten Weg einschlagen und sich irgendeiner Utopie verschreiben möchte, muss man, um mit diesem Gegensatz umgehen zu können, die Wahrnehmung der materiellen Wirklichkeit, der mit den Sinnen erfahrbaren Welt, deren Existenz man nicht beweisen muss, auf religiöse Weise vertiefen“.

In der Wiener Zeitung:29.7.2016:

„Ich habe diesen Glauben daran, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst, aus meinem Elternhaus mitgenommen. Da bin ich katholisch geprägt. Zugleich bin ich wirklich sehr, sehr weit entfernt von der katholischen Orthodoxie.Aber ich gebe zu: Ich sehe die Welt in religiösen Kategorien. Das ist ja auch viel interessanter, es macht unsere doch oft enge materielle Existenz spannender. Und dass hinter der Welt, wie sie ist, ein Gott steckt, jetzt nicht unbedingt ein Gott mit einem langen weißen Bart, dieser Gedanke ist mir nahe. Wobei die Intensität dieses Gefühls sehr variiert. Manchmal bin ich fast zur Gänze davon überzeugt, dass es Ihn gibt, und manchmal bin ich zerrissen. Aber das ist jetzt kein Thema, das man so einfach in einem InInterview abhandeln kann“.

Interessante politische Perspektiven, auch zu Russland, spricht Stasiuk in dem Interview von 2009 mit Ireneusz Danko an.    LINK  

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Blaise Pascals 400.Geburtstag. Er analysiert das seelische Elend des Menschen, um für einen radikalen Glauben zu werben.

Größe und Grenzen des viel gerühmten Blaise Pascal (1623-1662)
Ein Hinweis von Christian Modehn

Über biographische Details informiert, unter anderen Publikationen, auch wikipedia. Wir konzentrieren uns auf einige zentrale philosophische und theologische Fragen.

1.

Viele Behauptungen Pascals sind populär, sie werden in Sonntagsreden und Feuilletons zitiert, sind manchmal schon zu schlichten „Wandkalender-Weisheiten“ geworden:
– „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.”
– „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.“
– “Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“
– “Die Niedrigkeit des Menschen geht so weit, dass er sich den Tieren unterwirft bis zur Anbetung“

2.
Es gibt fast keinen Philosophen oder Schriftsteller „von Bedeutung“, zumal in Frankreich, der sich nicht ausführlich zu Pascal, meist lobend, geäußert hat. Es ist fast so, als gehöre es zum guten Ton, Pascal mit einem Hauch der Bewunderung zu erwähnen. Auch die Liste der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Philosophen, Schriftsteller und Laien-Theologen Pascal ist umfangreich.
Pascal als Naturwissenschaftler, Mathematiker, Erfinder ist nicht Thema dieses Hinweises. Er wurde in dem Zusammenhang oft ein Genie genannt, weil er seit seinen ersten Lebensjahren hervorragende naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse und bis heute gültige Einsichten hatte und technische Erfindungen vorzuweisen hat… Aber nach seiner Bekehrung zu einer Form radikalen Christentums (d.h. Katholizismus als radikale Gnadenlehre) standen diese wissenschaftlichen Themen nicht mehr im Mittelpunkt seiner Interessen.

Und das Verwirrende an der Person Pascals ist: Er denkt naturwissenschaftlich – klar, aber im philosophische Denken, das für ihn ein bestimmtes theologisches Denken ist, ist er letztlich gebunden an Mythen und Dogmen. Klares Denken der Vernunft gibt es für ihn im religiösen Bereich nicht mehr. Existiert also eine gewisse Spaltung im Denken dieser einen Person Blaise Pascal? Diese Frage kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Wir weisen hier nur auf einige philosophische und theologische  Strukturen von Pascals Leben und Denken hin.

3.
Wer sich aber als Philosoph kritisch mit Pascal befasst und entsprechend äußert, wie Voltaire, dem werden „gehässige Äußerungen“ unterstellt oder gar „Angriffe“, weil er an „wesentlichen Gedanken Pascal vorbeigeht“, so die Voltaire-Kritik von Eduard Zwierlein in seiner „Skizze zur Wirkungsgeschichte“ (Pascals) in seinem Buch „Blaise Pascal. Gedanken“, Suhrkamp Studienausgabe, 2012, S. 286.
Aber es ist heute die Frage: Worin besteht denn die aktuelle Bedeutung, worin bestehen möglicherweise Pascals hilfreiche Erkenntnisse für die Probleme der Menschen der Gegenwart?

4.
Pascals Analysen und Interpretationen zum „Wesen“ des Menschen, zu seiner „Natur“, wie er sagte, konzentrieren sich auf die Schattenseiten menschlicher Existenz. Es geht Pascal vorrangig in seinen anthropologischen Hinweisen um die „zerrissene, zwiespältige Natur” „des“ Menschen, also des Franzosen und Europäers im 17. Jahrhundert.
Pascals ausführliche Analysen zum seelischen und geistigen Elend (und manchmal fehlen auch nicht Hinweise zum Elend der politischen Verhältnisse) sind heute selbstverständlich mit der üblichen Distanz, mit Abstand und Zweifel zu würdigen. Dies gilt vor allem von Pascals Grundidee, dieses Elend des Menschen in einem zweiten Schritt dann auf die Erlösung des seelischen Elends, der menschlichen Zerrissenheit zu lenken. Pascals sieht die Verwirrung und sogar die „Zerstörung“ des Menschen im Mythos der Erbsünde: Ob man sich diesem Kirchen-Dogma in einem kritischen theologischen Denken heute anschließen kann und darf, ist die Frage. Wir beantworten die Frage mit Nein.
Dies sind jedenfalls die zentralen Themen des Philosophen und Laien-Theologen Blaise Pascal unmittelbar nach seiner Bekehrung im Jahr 1654, die er als Bruch in seinem Leben verstand und als Abschied von dem ihm vertrauten und wohl auch geschätzten „mondänen Leben“ der feinen Pariser Gesellschaft.

5.
Blaise Pascals philosophisches – theologisches Hauptwerk, „Pensées“ genannt, scheint nach wie vor viele Menschen ins Nachdenken, in Erschütterungen, ins Grübeln zu führen über die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz.
Die „Pensées“ werden ein Buch genannt, das nach Pascals Tod im Jahr 1662 zum ersten Mal 1670 veröffentlicht wurde, das aber danach, zumal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, immer wieder neu in einigen historisch-kritischen Ausgaben herausgegeben wurde.
Hinterlassen hatte Blaise Pascal seine „Gedanken“ in vielen, meist noch ungeordneten Papieren, die erst nach seinem Tod entdeckt wurden. Seit 1656 arbeitete Pascal an diesen Notizen und kürzeren Texten, sie waren von ihm gedacht als eine „Apologie des Christentums“: Eine Form des radikalen Katholizismus verteidigen, für ihn werben, zu ihm hinführen, das war sein Thema seit seiner „mystischen“ und plötzlichen Bekehrung am 23. November 1654. Er stellte dann seine naturwissenschaftlichen Forschungen zurück, um sich ganz vorrangig dem „Studium des Menschen“ zu widmen. Aber diese Reflexionen zum Wesen des Menschen dienen der Hinführung zum katholischen Glauben. Die theologische Interessen des Laien-Theologen Pascal (er hatte sich bestimmte theologische Einsichten selbst angeeignet, viele wurden ihm im Gespräch mit Theologen erschlossen) belegen auch die Publikationen wie der „Dialog mit M. de Saci“ oder „Das Mysterium Jesu“. Hoch geschätzt, auch wegen der Kraft ihrer Sprache, sind Pascals „Lettres Provinciales“, die er 1656-1657 unter dem Pseudonym Louis de Montalte veröffentlichte, diese Briefe waren ein damals heikles Unternehmen: Denn sie kritisieren heftig und scharf die Theologie der damals einflußreichen Jesuiten. Sie gelten Pascal als zu liberal und zu mondän, im moraltheologischen Sinne als Laxisten. Im Jahr 1660 wird eine lateinische Ausgabe dieser “Lettres“ öffentlich in Paris verbrannt.

6.
Pascals Grundüberzeugung, wie sie in den „Pensées“ greifbar wird: Der Mensch ist in seinem Wesen immer widersprüchlich, zerrissen, verlogen, raffiniert, er ist verführt von Ablenkungen; der Mensch vernachlässigt die Pflege seiner Seele, sieht nicht, dass das Herz, das Gemüt, wichtiger ist als die Vernunft. Er ist den unendlichen Räumen des Weltalls hilflos und verlassen ausgesetzt. „Die Lage des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit“.

7.
Pascal argumentiert in seinen gedanklichen Entwürfen, „Pensées“ genannt, durchaus philosophisch, er kennt die Philosophie Descartes und Montaigne, auch die Stoiker, wie Epictet, aber er ist insgesamt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Eigenständigkeit philosophischen Denkens bestimmt. Er kann zwar schreiben: „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“ (NR 89, S. 50.) Aber er hat stets die Überzeugung, dass es nur ein einziges „richtiges“ philosophisches Denken gibt, und das ist ein Denken, das sich dem biblischen Gott hingibt, also im Sinne Pascal dann in dieser Selbstaufgabe „richtig denkt“. Und dem „Herzen“ als der Mitte der Gefühle allen Vortritt lässt. Das “Denken des Herzens” beansprucht Pascal für sich: Nur dieses Denken des Herzens nimmt wahr, so meint er: Das Elend des Menschen, es findet die Lösung, die Erlösung in der Gestalt Jesu Christi, im Glauben allein.

8.
Die Philosophie, meint Pascal, kann sich nicht selbst begründen, das Denken muss dem Glauben Platz machen, nur im Glauben wird Gott erreicht. Der christliche Glaube reinigt in gewisser Weise das Denken und damit auch das Verhalten der Menschen; sind die Menschen doch durch die Erbsünde verdorben: „Die Natur (des Menschen) ist verderbt. Der Mensch handelt nicht der Vernunft gemäß, die sein Wesen ausmacht“ .
Philosophieren hat also im Sinne Pascals nur den Zweck, die Grenzen des Denkens philosophisch aufzuzeigen, um dann den Sprung in den Glauben, d.h. in seine Form des radikalen katholischen Glaubens, zu fordern bzw. zu diesem Sprung aufzurufen.
Philosophie hält der sich philosophisch bildende Pascal für ungeeignet, zu Gott zur führen. Eine Ausnahme hat er gemacht in seiner umstrittenen WETTE, dazu ein Hinweis Nr. 14.

9..
Darin wird die Radikalität des religiösen Fanatikers Pascal deutlich, der das Elend der Menschen zeigt, um dann mit einer Art „Keule“ die Erlösung zu behaupten. Man fragt sich manchmal, ob alle die vielen, die voller Bewunderung „ihren „Pascal“ hoch loben, auch diese eher explizit theologischen Kapitel seines Werkes gelesen haben.
Schon 1646 lernt Pascal die radikale Gnadenlehre des katholischen Bischofs Cornelius Jansen von Ypern, 1585 – 1638 kennen, diese Theologie wurde deswegen auch „Jansenismus“ genannt. Die Theologie des katholischen Bischof Jansenius erweckte eine bestimmte Interpretation der Gnadenlehre des Augustinus zu neuem Leben, in der manche auch Anklänge an die radikale Gnadenlehre des Reformators Calvin entdecken wollen.

10.
Dennoch verkehrt Pascal nach 1646, dem Jahr der ersten Bekehrung, zunächst weiter in den „mondänen Salons“ von Paris und gibt sich allerhand Vergnügungen hin, angeblich gelangweilt, aber er ist dennoch dabei…
Ende 1653 beginnt Pascal, sich von dieser Welt der Freigeister zu distanzieren. Nach einem schweren Unfall, aus dem er sich wunderbar errettet fühlt, (Wunder sind DAS Lieblingsthema des frommen Pascal), erlebt er kurz danach, am 23.November 1654, in der Nacht,  eine Art mystisches Erlebnis der unmittelbaren Gottesverbundenheit. Er verfasst, dicht am mystischen Ereignis selbst, eine Art Erleuchtung, die als „Memorial“ auch heute bekannt ist. Er näht sich diesen Text in seinen Mantel ein, um ihn als eine Art Begleitschutz immer bei sich zu haben und niemals zu vergessen. Dies ist die Zeit, in der sich Blaise Pascal der Spiritualität des Zisterzienserinnen Klosters “Port Royal“ immer mehr annähert: Im Kloster lebt seine Schwester Jacqueline als Nonne, das Kloster denkt und lebt gemäß der strengen Gnadenlehre von Bischof Jansen und kommt deswegen in heftigste dogmatische Konflikte mit Pariser Theologen der Universität und der politischen Führung. Denn eine Art katholischer Sonderlehre stört den absoluten Herrschaftswillen des Königs: Er will eine einzige katholische Kirche beherrschen, nicht über mehrere Traditionen, die als Konkurrenz auftreten.
Pascal unterstützt den entscheidenden Theologen des Klosters Port Royal, Antoine Arnould (1612-1694) in seiner radikalen Gnadentheologie gemäß den Weisungen Bischof Jansens. Pascal verteidigt also offen den Jansenismus.
Der Kampf um die richtige Gnadenlehre eskaliert, der Papst zwingt die Nonnen, sich von den Lehre des Jansenius zu trennen, dem Befehl entsprechen sie auch. Pascal lehnt diese Leistung des Gehorsams  ab, er bleibt also Anhänger der jansenistischen Lehre.  Aber, und das ist erstaunlich, er kümmert sich gerade dann doch wieder um weltliche Dinge, diesmal um den Aufbau eines gemeinnützigen Transportunternehmens für die Stadt Paris… Schwer krank stirbt Blaise Pascal im Alter von 39 Jahren am 17. August 1662. Er wird in der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont begraben.

11.
Es geht also Pascal in der Suche nach Erlösung um einen Sprung: von der Erkenntnis des menschlichen Elends hinein in den Glauben an Gott: Aber dieser Sprung in Gott hinein ist für ihn keine Leistung des Menschen, sondern Gnade und Gabe Gottes allein. Pascal argumentiert dabei streng biblizistisch, er hält alle Aussagen des Neuen Testaments, so wie sie damals formuliert wurden, für Gottes Wort. Allein schon deswegen gilt es Abstand zu nehmen von jeglicher „Pascal-Begeisterung“. Um so mehr, als sein Verständnis von katholischer Kirche  heute an die Traditionalisten der Pius-Brüder des Anti-Konzils-Bischofs Marcel Lefèbvre erinnert. Der Philosophiehistoriker und Pascal-Spezialist Wilhelm Schmidt-Biggemann schreibt in seinem Buch „Blaise Pascal“ (C.H.Beck Verlag, 1999) auf Seite 145: „Da der Mensch (im Sinne Pascals) aus der Sünde nur durch die Gnade herausfindet, die Kirche aber die Gnadenmittel verwaltet, war die Zugehörigkeit des Gläubigen zur Kirche notwendig.“ Auch Schmidt-Biggemann nennt Pascal ausdrücklich „einen Jansenisten“ (S. 146), also einen Gläubigen im Sinne der strengen Sonder-Theologie des Bischofs Jansenius. Zur Wirkung der Jansenisten in Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert, siehe Nr. 16.

12.
Der Grund für die totale Unfähigkeit des Menschen, von sich aus zum Glauben zu kommen: Für Pascal ist es die totale Last der Erbsünde. Denn das ist heute so Befremdliche und so wenig Hilfreiche am Denken des Blaise Pascal: Diese Fixiertheit auf die totale Macht der Erbsünde ist heute höchst problematisch, weil die “Erbsünde,” im Paradies angeblich geschehen, ein Mythos ist, der dann vom „Kirchenvater“ Augustinus mit aller Macht durchgesetzt wurde, obwohl es begründeten Widerstand gegen das Dogma der Erbsünde gab. Im ganzen wird heute von kritischen Theologen diese Erbsünden – Lehre als der größte Schaden anerkannt, den ein Dogma jemals anrichtete.

13.
Voltaire und Pascal
„Der Kampf Voltaires gegen Pascal war ein Kampf um ein vernünftiges Verständnis des Christentums“, schreibt der Philosoph und Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt/M. 2008, S. 346). Zum Verständnis des menschlichen Wesens trage die Erbsündenlehre aber nichts bei, sie sei ein „theologischer Roman orientalischer Herkunft“, so fasst Kurt Flasch die Position Voltaire zum Thema zusammen. Alles, was die Erbsündenlehre zu erklären behauptet, “lässt sich aus der Betrachtung der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens, verständlich machen“ (ebd.) In seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (Frankfurt/M. 2020) setzt sich Kurt Flasch sehr ausführlich mit Pascal auseinander: „Was war das Pascalsche Christentum der Gnadenschriften? Es war ernst, düster, streng, gewissenhaft, scholastisch kostümiert…er beschrieb drohend den Inhalt seiner Art von Christentum. …. Es werden nicht alle Getauften gerettet usw…“ (S. 154f.). Flasch fasst zusammen: „Das Pascalsche Christentum ist ein tristes Christentum“ (ebd.). „Er duldete im Christentum weder Vielfalt noch Wandel“ (S. 158).

14.
Einer der merkwürdigsten Texte Pascals ist der kurze Essay, der als „Wette“ bekannt wurde. Es geht um die Frage: Wer ist mehr im Vorteil, wer an Gott glaubt oder wer nicht an Gott glaubt?
Pascal, der sonst der Kraft philosophischer Reflexion gerade in Bezug auf die Gotteserkenntnis misstraut, wagt nun einen – für fromme Leute – geradezu gotteslästerlichen Vorschlag: Pascal sagt, ganz knapp zusammengefasst: es ist für jeden Menschen, selbst für den Ungläubigen, sinnvoller und vor allem vorteilhafter, an Gott zu glauben als nicht an Gott zu glauben.
Denn wenn man sich entscheidet, an Gott zu glauben, folgt man auch den ethischen Werten, die Gottes Kirche, also die Katholische, lehrt: Dadurch wird man tugendhaft und glücklich in diesem Leben auf Erden. Und wird dann nach dem Tod von Gott mit dem ewigen Leben im Himmel belohnt. Wer also glaubt, kann nichts falsch machen. Denn selbst wenn es Gott nicht gibt, was sich in Sicht Pascals erst post mortem feststellen läßt, hat doch immer ein schönes und gutes Tugend-Leben gelebt, also auch in der Hinsicht nichts falsch gemacht.
Wer als Atheist auf seiner Position beharrt, lebt nicht gemäß den glücklich machenden Tugendweisungen der Kirche. Er wird also auf Erden unglücklich sein. Und wenn es denn Gott gibt, kann der Atheist post mortem dann nur erleben, dass der strafende Gott ihn, den bösen Atheisten, in die Hölle stürzt.
Also, liebe Leute, möchte man sagen, seid raffiniert und glaubt an Gott und folgt der Morallehre der Kirche. So einfach ist das also. Eigentlich eine blamable Argumentation: Ist die Moral der Kirche wirklich so vieles an Glück bringend? Jedenfalls Pascal behauptet in dieser Wette: Nur einzig der glaubende Mensch ist in der „Wette“ der Gewinner…Wenn aber der Gewinner sein himmlisches Glück erst post mortem erlebt, ist dies nicht gerade die „feine Art“, für diese Wette zu werben…

15.
Was bleibt? Pascal war ein theologischer Fanatiker!
Kaum hatte sich Pascal dem christlichen Glauben zum ersten Mal intensiv zugewandt (1646), klagte er gleich den Theologen Jacques Forton der Irrlehre an, wegen „rationalistischer Ideen zur Menschwerdung Gottes“. Der Erzbischof von Rouen zwingt deswegen den Theologen zum Widerruf.
Pascal war ein religiöser Fanatiker von Anbeginn, schreibt später Voltaire über Pascal, sicher eine treffende Erkenntnis, wenn man an Pascals an glühendes Eintreten dann doch für für die rigorose Erbsündenlehre des alten Augustinus denkt. Auch Pascals „Lettres Provinciales“ waren als „Kampfschrift“ gegen die „liberalen“ Jesuiten gemeint, dabei waren die Jesuiten wie Pascal von den Grundeinsichten klassischen katholischen Erlösungslehre und der hierarchischen Kirchenleitung überzeugt, die Jesuiten waren alles andere „als humanistische-freidenkerische Theologen. Es waren also Streitereien um Details, in heutiger Sicht. Privat versuchte Pascal den radikalen Weisungen Jesu von Nazareth zu folgen, große Teile seiner Habe spendet er für caritative Zwecke und verlangt für sich ein „Armenbegräbnis“.

16.
Der Jansenismus hat die katholische Kirche Frankreichs viele Jahrzehnte belastet. Er bildete als Massenbewegung tatsächlich so etwas wie eine zweite katholische Kirche in Frankreich, offiziell von den Herrschern und den maßgeblichen Theologen verfolgt. König Ludwig XIV. ließ z.B. das berühmte Kloster Port Royal im Jahr 1712 zerstören, und als die Pariser Bischöfe, wie etwa Christophe de Baumont, die jansenistischen Priester dort ausgrenzten und deren Gläubige bestraften, „wird ganz Paris erst recht jansenistisch erweckt“, wie die Historikerin Monique Cottret betont. Pariser Politiker greifen ein und bestimmen, alle Gläubigen sollten die Sakramente oft im Alltag empfangen dürfen, während der Erzbischof dagegen ist, weil die Gläubigen nur unwürdige Sünder sind … Eine totale Verwirrung für die Glaubenden ist diese Verschiedenheit der Lehren, sie führt die einfachen Leute zur Verwirrung, letztlich auch zum Abschied von der Kirchenbindung. Die in Frankreich so oft dokumentierte „Entchristlichung“ bestimmter Regionen, wie in Burgund oder Zentralfrankreich (Bourges, Nevers, Albi, aber auch Limoges, Guéret usw.), wird oft mit der verwirrenden Vielfalt katholischen Glaubens, nach offizieller Art und nach jansenistischer Art, begründet, wobei der offizielle Katholizismus bis ins 19.Jahrhundert zudem eher „gallikanisch“, d.h. also ein französischer, nicht aber römisch-päpstlich bestimmter Katholizismus war.

17.
Es ist erstaunlich, dass bis heute so viele, auch sich atheistisch nennende Philosophen, von Pascal im allgemeinen geradewegs in Schwärmen kommen, wie der atheistische Philosoph André Comte-Sponville, er schreibt in „Le Magazine littéraire.Pascal“ November 2007, S. 58. „Er ist ein immenses Genie“. Der Soziologe und Philosoph Edgar Morin schreibt (in seinem Buch „Mes Philosophes“, Paris 2013, S.53 -62 vollere Lob: „Pascal ist von einer unerhörten Aktualität“ (S. 58). Am bekanntesten sind wohl die Bekenntnisses Albert Camus zu Pascal, den Camus „den Größten von allen, gestern und heute“ nennt. Und in seinen „Carnets“ gesteht Camus ein, zu den Menschen zu gehören, die von Pascal zwar erschüttert, aber nicht bekehrt werden“. (So die Notizen von Camus am 6.11.1956, siehe den Pascal-Beitrag in „Dictionnaire Albert Camus“, Paris 2009, S. 649).
Auch Friedrich Nietzsche hat sich mit Pascal befasst und ihn sogar gelobt, weil er als Christ sich redlich um Selbstkritik bemüht habe. Aber keineswegs will Nietzsche das Denken Pascals hochschätzen, denn Pascal betreibe den „Selbstmord der Vernunft“ (so in „Jenseits von Gut und Böse“, Nr. 45, 46,…), ein Abschied von der Vernunft, „inspiriert vom christlichen Glauben.“ Pascal selbst sei, so Nietzsche, „durch den christlichen Glauben als Philosoph psychisch vernichtet worden…“
Peter Sloterdijk hat in seiner Porträtsammlung „Philosophische Temperamente“ (München 2009) auch einige knappe Hinweise zu Pascal niedergeschrieben, immer in gewohnter globaler, sprachlich manchmal leicht verschlüsselter Einschätzung der Denker. Für Sloterdijk wird Pascal zu einem Autor „für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken“, was immer das bedeuten mag ( S. 54). Ähnlich nebulös ist Sloterdijks Behauptung: „Pascal ist der erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung“ (S. 56). Nebenbei: Der wievielte „Sekretär“ wäre dann Peter Sloterdijk?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Freiheit – ist immer auch eine Freiheit FÜR andere: Lea Ypi.

Zur Philosophie der albanischen Autorin und Philosophin Lea Ypi
Ein Hinweis von Christian Modehn

Welcher Inhalt zum Begriff Freiheit zeigt sich für eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend im kommunistischen Albanien erlebte?

1.
Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi hat ein viel beachtetes autobiographisches Sachbuch veröffentlicht. Der Titel: „Frei“. Der Untertitel: „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“.
Lea Ypi, 1979 in Tirana geboren, beschreibt in dem Buch „Frei“ sehr ausführlich ihr äußerst beschwerliches Leben und das ihrer Familie und ihrer Freunde im „Sozialismus“ des Diktators Enver Hoxha. Die Zeit der so genannten „Transformation“ als mühevoller Abschied vom „Sozialismus“ wird aus subjektiver Sicht beschrieben. 1997 verlässt Lea Ypi das Land Richtung Italien, sie studiert zunächst in Rom, später u.a. in Paris, Berlin Philosophie und Literatur, seit 2016 ist sie Professorin an der angesehenen Universität „London School of Economics“.

2.
Die Geschichte des Mädchens Lea Ypi ist ein Ringen um Freiheit, wobei die Autorin nicht verschweigt, wie sie als Kind durch die Propaganda und Indoktrination in der Schule durchaus zu einem naiven Glauben an den Kommunismus fand und den Diktator – ehrfürchtig -„Onkel Enver“ nannte.

3.
Im expliziten Sinne philosophische Reflexionen zum Thema des Buches, also „Freiheit“, bietet das Buch vor allem im letzten Drittel.
Bedenkenswert etwa die Einsichten zu Widersprüchen im alltäglichen menschlichen Leben, etwa am Beispiel des Wunsches auszureisen, das eigene Land zu verlassen: Im Sozialismus wurde man verhaftet, wenn man ausreisen wollte. Im Kapitalismus ist der aus Albanien Ausreisende alles andere als willkommen, wie etwa in Italien, von dort wurden viele albanische Boots-Flüchtlinge wieder zurückgeschickt. Lapidar heißt es auf S. 199: „Welchen Wert hat das Recht auf Ausreise noch, wenn es kein Recht auf Einreise gibt?“ Und die Freiheit zu bleiben besteht auch nicht in Albanien damals (S. 200). Denn das Verbleiben im kapitalistischen Albanien bietet angesichts der Arbeitslosigkeit keine Lebenschancen. Weggehen oder Bleiben – beides bietet keine Lebenschancen.

4.
Zu denken geben die Reflexionen Lea Ypis zu zentralen politischen Begriffen: Die herrschenden Leitbegriffe der Lebensorientierung werden ausgetauscht. Der im Kapitalismus übliche Begriff „Zivilgesellschaft“ hat den sozialistisch – kommunistischen Begriff „die Partei“ ersetzt (S. 230). Zum Umfeld der „Zivilgesellschaft“ gehört für Ypi auch der Begriff „Liberalisierung“, der den Begriff „demokratischer Zentralismus“ abgelöst hatte“ (S. 231). „Privatisierung nahm die Stelle von Kollektivierung ein und Transformation die Stelle von Selbstkritik… Antiimperialistischer Kampf wurde durch Kampf gegen Korruption ersetzt“. (ebd.) Die Marktwirtschaft muss nun angekurbelt werden. (S. 261). Wie im Sozialismus gibt es also auch im liberalen Kapitalismus ein MUSS „Es gibt einen vorgeschriebenen Weg, der einzuhalten ist“ (S.261), sagt der Vater der Autorin, der nach dem Ende des Sozialismus Generaldirektor des Hafens wurde. „Er war weniger frei als er es sich vorgestellt hatte“ (S. 263). „Der Klassenkampf war nicht vorbei, das hatte der Vater begriffen!, (S.264), als er gezwungen war, aufgrund von so genannten neoliberalen „Strukturreformen“ (S. 242) Arbeiter im Hafen zu entlassen. Aber: Der Vater will sich die Namen der Entlassenen merken, er will sich stemmen gegen das Vergessen, er wehrt sich gegen eine Welt, in der Menschen nur noch als Zahlen in Statistiken vorkommen. Der Vater glaubt noch an ein Körnchen Güte in jedem Menschen.

5.
Entscheidend die Erkenntnis der Philosophin Lea Ypi: „Alle diese neuen Konzepte handelten von Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums“ (S. 231). Der einzelne steht nun absolut im Mittelpunkt der demokratisch – kapitalistischen Ordnung. Lea Ypi lässt keinen Zweifel daran, dass die Ideologie der Herrschaft des Individuums ergänzt und kritisiert werden muss durch die Erkenntnis: Freiheit ist immer auch Freiheit, FÜR andere und MIT anderen zusammen eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

6.
Es sind die Zweifel am Leben, an der Gesellschaft, am Staat, an der „Ordnung“ des Zusammenlebens überhaupt, die Lea Ypi zur Philosophie führen. „1990 hatten wir nichts außer Hoffnung gehabt; 1997 (dem Jahr des Krieges in Albanien aus ökonomischen Gründen) hatten wir selbst die Hoffnung verloren. Die Zukunft sah trostlos aus“ (S. 318). „Ich hatte nichts als Zweifel“ (S. 319).

7.
Als Philosophin zeigt Lea Ypi, dass der Mensch „trotz aller Zwänge nie die innere Freiheit verliert, die Freiheiten das Richtige zu tun“ (s. 323). Selbst im totalitären Kommunismus von Enver Hoxha war die Reflexionskraft der Eltern und der Großmutter noch schwach und ungebrochen da, sie wussten, wie sie in in einer Diktatur überleben konnten, etwa durch den Einsatz von Lügen gegenüber ihren Kindern bzw. Enkeln. Die Familie Ypi ist ein (seltenes) Beispiel dafür, dass Menschen, die sich die innere Freiheit der stillen Selbstreflexion bewahrt haben, selbst die stalinistische Diktatur relativ menschlich überleben können, ohne dabei mit dem Diktator zu paktieren.

8.
Lea Ypi verschweigt überhaupt nicht, dass sie sich als Philosophin und Autorin als Sozialistin versteht. Sie will sich die humanen Werte der sozialistischen Idee nicht nehmen lassen, nur weil so viele Diktatoren, sich sozialistisch nennend, nur auf autoritäre Herrschaft und Bereicherung bedacht waren. Mit dem üblichen westlichen Liberalismus kann Ypi wenig anfangen: „Ich setzte Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“.

9.
Lea Ypi will im Sinne ihres umfassenden Verständnisses von Freiheit (Freiheit ist immer auch Freiheit FÜR andere sich einzusetzen) den Werten und Idealen des Sozialismus treu bleiben, sie will, wie wie ganz am Ende ihres Buches schreibt, „den Kampf fortführen“(S. 329). Aber, wie sie im Interview des SRF Fernseh-Interviews „Sternstunde Philosophie“ (am 18.9.2022) sagte, sie verstehe Marx auch mit den ethischen Prinzipen Kants.

10.
Aber was kann der Untertitel des Buches bedeuten? „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“? Ist damit das Ende des albanischen Sozialismus bzw. Kommunismus gemeint? Oder nimmt Ypi ironisch Bezug auf ein Ende der Welt-Geschichte, das schon prominent verwendet wurden von dem us-amerikanischen Historiker Francis Fukuyama, der sein Buch 1992 „Ende der Geschichte“ nannte. Fukuyama behauptete: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion gebe es nur noch die Herrschaft der liberalen Demokratien. Dies käme dem Ende der Geschichte gleich, weil es nun keine Dialektik Ost-West mehr gibt. Diese Dialektik bewegte die Zeit, schuf Geschichte. Dieses Denkmodell „Ende der Geschichte“ bezieht sich auch auf die Hegel-Interpretation des Franzosen Alexandre Kojève. Er sagte, wie einige andere auch: Hegel meine tatsächlich, in seinem Denken an eine Art Endpunkt gekommen zu sein, und gezeigt zu haben, dass nun im Preußischen Staat alle Widersprüche aufgelöst seien, dass alles begriffen ist, dass die Versöhnung real wurde Und dies könnte eine Art „Ende der dialektisch bestimmten Geschichte“ sein.
Aber Fukuyama blieb skeptisch: Es bleibt die Versuchung, zurück zum Krieg zu degenerieren.

Lea Ypi, „Frei“. Suhrkamp Verlag 2022, 7.Aufl. 2023, auch als Taschenbuch, 333 Seiten, übersetzt von Eva Bonné.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Die Auferstehung Jesu: Ostern ist das Fest des Ewigen im Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (März 2023).

Ostern ist mit der entscheidenden Einsicht verbunden: Jeder Mensch hat Anteil am Ewigen, am Göttlichen. Nur deswegen kann der Tod ein Übergang sein in eine neue geistige Wirklichkeit. Diese Einsicht hat Jesus von Nazareth vermittelt.

1.

Das Thema “die Auferstehung Jesu von Nazareth“ verweist auf die schwierige Frage: Gibt es eine Form der Überwindung des Todes, also ein „Weiterleben“ nach dem Tod?
Theologien und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können auf das Thema nicht verzichten,  sie haben es mit der Lebensgestaltung, auch mit Sterben und Tod, zu tun. Hier wird eine der Vernunft verpflichtete Interpretation des Auferstehung Jesu von Nazareth vorgestellt. Und diese vernünftige Deutung ist einfach, verglichen mit dem Wortschwall der vielen bloß subjektivistischen, fundamentalistischen streng – kirchlichen Deutungen der Auferstehung Jesu.

2.

Am häufigsten wird bis heute in den Kirchen gelehrt und gepredigt: „Jesus ist seinem Grab entstiegen, und er ist als der leibhaftig Lebendige der Gemeinde erschienen.” Er ließ sich sogar körperlich berühren (vgl. die Erzählung vom „ungläubigen Thomas“)… Und später ist der Auferstandene “leibhaftig in den Himmel aufgefahren“. Diese sehr schlichte, aber regelmäßig bis heute verkündete Lehre hat den christlichen Glauben zu einer mysteriösen “verzauberten” Angelegenheit gemacht. Die üblichen Worte der Kirchen zur Auferstehung wecken kein nachvollziehbares Verstehen, sondern sie verbreiten den Nebel des Mysteriösen. So rutscht der christliche Glaube an die Auferstehung Jesu in den Bereich der Märchenerzählungen ab, aus Angst der Prediger und Theologen vor der Vernunft!

Man denke auch an die zahllosen Gemälde etwa aus der Barockzeit, die den Auferstandenen leibhaftig in der Welt herumlaufend zeigen oder das leere Grab mit schlafenden Grabeswächtern und siegreichen Engeln. Angesichts so viel wunderbaren Zaubers sagen dann viele Gläubige verzaubert: „Nach meinem Tod gibt es für mich im Himmel das große Wiedersehen mit den Eltern und dem lieben Onkel Heinrich und der Tante Charlotte“.
Man muss diese private Spiritualität als Meinungsäußerung respektieren, aber sie hilft nicht zu einer reflektierten Spiritualität der Menschen im 21. Jahrhundert. Sie hilft nicht zu einer reifen Spiritualität reifer, d.h. kritisch nachdenklicher, vernünftiger Menschen des 21. Jahrunderts.

3.

Die Frage ist also: Soll die Auferstehung Jesu von Nazareth ein zauberhaftes Ereignis in einer wunderbaren Welt des Ostermorgens voller frommer Phantasien bleiben? Oder sollte die Auferstehung Jesu von Nazareth mit dem einen Satz erläutert werden: „Die Freunde Jesu erkennen bald nach seinem Tod: Wie Jesus als der “Auferstandene” haben alle Menschen in ihrem Geist Anteil am Ewigen, es ist der Geist des Ewigen, der göttliche Geist, der den Tod eines jeden, auch den Tod Jesu, überwindet. Es geht um ein ewiges, geistiges „Leben“, nicht um ein leibliches.“

4.

Die zentrale Erkenntnis heißt: Nach seinem Tod wird Jesus von der Gemeinde, nach einer Phase der Trauer und des Entsetzens über seinen Tod am Kreuz, als der Lebendige erkannt. In ihrem Nachdenken über Jesus von Nazareth wendet sich die Gemeinde noch einmal dem Leben und den Lehren ihres Propheten Jesus von Nazareth zu: Und sie entdeckt: Dieser Jesus von Nazareth war von außergewöhnlicher geistiger Kraft in seinem Umgang mit den Menschen, in ihm selbst wurde die göttliche Wirklichkeit deutlich. Die Gemeinde erkennt also das Göttliche, das Ewige, im “irdischen” Leben Jesu von Nazareth. Und dieses Göttliche, dieses Ewige kann nur eine geistige Realität sein, sie kann als das Ewige im Menschen nicht sterben. Jesus nannte den Ewigen stets seinen Vater, er fühlte sich als sein „Sohn“, und lehrte zugleich: “Ihr Menschen seid – im Bild gesprochen – ebenfalls Söhne und Töchter des Göttlichen, des Ewigen, meines und unseres „Vaters“ im Himmel”.

Weil die Menschen Anteil haben am Ewigen, sind sie in der Lage, Jesus als den Auferstandenen zu erkennen.
Im „Neuen Testament“ gibt es vier unterschiedliche Erzählungen über diese Einsicht der Gemeinde: „Unser Freund und Lehrer Jesus von Nazareth, der „Menschensohn“, ist nicht in das Nichts des Todes verschwunden. Wir erfahren und verstehen kraft unseres Geistes IHN als eine bleibende, geistige Präsenz über den Tod hinaus.“

5.

Diese Erzählungen von der Auferstehung Jesu im Neuen Testament sind keine Tatsachenberichte! Kein Journalist, kein Historiker, hat die Auferstehung Jesu gesehen. Die Auferstehungs-Erzählungen des Neuen Testaments beziehen sich nicht auf ein datierbares Ereignis. Sie sind Mythen, d.h. Erzählungen von Menschen, die mit diesem Jesus persönlich und voller Liebe verbunden waren und nach seinem Tod gemeinsam zu neuen, überraschenden Erkenntnissen kommen.

6.

Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind Mythen. Der Theologe Rudolf Bultmann nannte sein Programm das „Entmythologisieren“ der biblischen Erzählungen, und er meinte damit überhaupt nicht die Zerstörung des Inhalts von Mythen, sondern die Übersetzung der Mythen in nachvollziehbare moderne Sprache. Nur dann können etwa die Mythen der Auferstehung als Lebensorientierung uch heute gelten.
Lebensorientierung anbieten – das ist der Sinn von christlichen Erlösung. Von Erlösung spricht die Kirche ständig, aber was Erlösung inhaltlich nachvollziehbar bedeutet, wird meist ins Imaginäre, Phantastische geschoben, etwa in die Ideologie der Befreiung von der sogenannten Erbsünde.
Die Erkenntnis vom „Ewigen“ in jedem Menschen kann als Erlösung verstanden werden, im Sinne der Befreiung von der Angst, im Tod ins Nichts zu versinken. Es ist der Geist als die Präsenz des Ewigen, der als Geist den Tod eines jeden Menschen überwindet. Weitere Details zum „himmlischen Weiterleben“ zu nennen, würde nur zu haltlosen phantasievollen Spekulationen führen.

7.

Es bleiben Fragen zu den Mythen der Evangelisten: Etwa zum leeren Grab Jesu: Das Grab Jesu kann gar nicht leer sein, Auferstehung ist, wie gerade betont, ein geistiges Geschehen. Jesu Körper blieb also im Grab, und er wurde – geistig – als der Lebendige erfahren. Die Kirchen erlauben seit einiger Zeit auch die Feuerbestattung, offenbar wissen sie: Der Verstorbene lebt, geistig, auch wenn sein Körper zu Asche wurde.
Und nebenbei: Wäre der Auferstandene mit seinem alten, gekreuzigten Körper „auferstanden“, hätte er ja als ein Mensch noch einmal sterben müssen, was wäre dann aber passiert? Ein erneuter Prozess gegen ihn, den Kritiker des strengen religiösen Systems? Sinnlose Spekulationen sind das.
Der katholische Theologe Hans Kessler, Autor einer umfassenden Studie zum Thema, schreibt: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu, ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet das Menschsein Jesu Christi. Aber dass Jesus ganz Mensch ist, bleibt eine unaufgebbare Einsicht der Christenheit“. Zum Buch von Hans Kessler: LINK

8.

Die erste schriftliche Äußerung hat der Apostel Paulus im Jahr 50 in seinem „Ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich“ notiert, also knapp 20 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Auch Paulus nennt kein Datum der Auferstehung. Er kennt aber den bereits lebendigen Auferstehungsglauben der Gemeinde, er spricht von der gemeinsamen, alles entscheidenden Überzeugung: „Wenn Jesus gestorben ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zu Herrlichkeit führen“ (4. Kapitel, Vers 14). Mit anderen Worten: Die Verstorbenen werden wie Jesus „auferstehen“. Damit sagt Paulus in seinen Worten das aus, was oben gezeigt wurde: Weil alle Menschen im Geist mit dem Ewigen verbunden sind, werden auch sie – wie Jesus – “zur Herrlichkeit Gottes” gelangen. Der katholische Theologe Giuseppe Barbaglio von der Universität Mailand schreibt in der theologischen Zeitschrift CONCILIUM (2006): „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.

9.

Die Rede vom „Ewigen im Menschen“ hat als notwendigen theologischen Hintergrund eine vernünftige Deutung des biblischen Bildes von der „Schöpfung“ der Welten durch Gott oder das Göttliche oder den Ewigen.
Nur diese kurze Erläuterung: Wenn „Gott“, der Ewige, die Welten „schafft“, dann kann Gott, der Ewige, dies nur realisieren, wenn diese Welten mit ihm, dem Göttlichen, verbunden sind. Wären die geschaffenen Welten total selbstständig, also außerhalb der Wirklichkeit des Ewigen, dann wäre Gott nicht mehr der Göttliche, der Alles Stiftende und Umfassende. Die gottlose Welt wäre eine Konkurrenz zu einem Gott, der dann keine göttlichen Qualitäten mehr hätte.
Die Welt und die Menschen können also nur in einer tiefen geistigen Verbundenheit mit Gott, dem Ewigen, dem lebendigen GEIST, verstanden werden. Eine Überlegung, die vor allem der Philosoph Hegel vorgetragen hat.

10.

Die Welt als eine „Schöpfung des lebendigen göttlichen Geistes“ verstehen: Dies ist das einzige Wunder, mit dem sich kritisches theologisches Denken beim Verstehen der Auferstehung auseinandersetzen muss. Andere „Wunder“ braucht kein Christ, kein religiöser Mensch. Der evangelische Theologe Prof. Stefan Alkier (Uni Frankfurt.M) schreibt in seinem Buch „Die Realität der Auferstehung“ (2009) diese entscheidenden Sätze: „Die Welt, alles Leben und auch das je meinige Leben entspringen […] nicht einem blinden Zufall, sondern der intentionalen Kreativität des sich liebevoll in Beziehung setzenden Gottes…Wer diese Hypothese nicht teilt, kann auch nicht mit den Schriften des Neuen Testaments […] von der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten sprechen“ (S. 238).

11.

Die Gegenwart des Ewigen wird inmitten des Lebens erfahren und nicht nur theoretisch gedacht. Das ist die Überzeugung der frühen Christengemeinde, die der  Autor des 1. Johannesbriefes im Neuen Testament ausspricht, es ist ein Text, der am Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde. Der Autor schreibt:
„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod”. (1 Joh 3, 14). Und im 4. Kapitel, Vers 12, heißt es: “Niemand hat Gott je geschaut, wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet”.

Mit anderen Worten: In der Liebe wird das Ewige in diesem menschlichen Leben erfahren.

Nur weil die Menschen lieben, also Liebe (er)leben (und Liebe ist immer mehr als Caritas, sie ist immer auch erotische Liebe), erfahren sie und denken sie das Göttliche, das im Menschen lebt. Dieses inmitten des Lebens präsente Göttliche wird den Tod überdauern. Diese Erkenntnis spricht der 1. Johannes Brief lapidar aus im Vers 6, Kap. 4: „Wir aber sind aus Gott”.

12.

Die Auferstehung Jesu sollte eine Lebensphilosophie inspirieren. Die Theologin Elisabeth Moltmann – Wendel schreibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.

13.

Kann die hier angedeutete Interpretation der Auferstehung Jesu von Nazareth “trösten”?
Sterben und Tod gehören zwar zum „Wesen“ der Menschen, aber das Sterben wird verschieden erlebt und erlitten: Im Krieg viel brutaler genauso auch in Hungerkatastrophen, dieses Sterben ist gewalttätiger als in einem gepflegten Hospiz in Europa. Immer sollte es dabei um die gemeinsame Frage gehen: Wie hätte das vorzeitige Sterben noch verhindert werden können? Durch eine Friedenspolitik, durch eine solidarische Politik…
Aber selbst wenn diese Fragen durchgearbeitet sind, drängt sich die eine Frage auf: Ist mit dem Tod alles vorbei? Ist das Versinken im Nichts die Antwort? Waren die jungen Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine nichts als „Kanonenfutter“, nur „lebendes Fleisch“, das dann durch den „Fleischwolf“ des Krieges geschickt wurde, wie kürzlich ein Kriegsreporter in einer Talkshow sagte?
Wer an das Versinken des Verstorbenen im Nichts behauptet, verkündet seine Glaubensüberzeugung, genauso wie es eine Überzeugung, eine Glaubenshaltung ist, die Ewiges im Menschen, in jedem Menschen, erkennen kann.
Angesichts des Todes denken – dabei kann man, wie immer bei existentiellen Fragen, keine Evidenz erreichen, wie man sie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik gewöhnt ist. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit.

14.

Diese Überlegungen haben auch politische Bedeutung. Wenn die Menschen wissen, sie sind mit dem Ewigen verbunden, dann haben alle Menschen eine besondere Würde. Dabei ist die wesentliche Gleichheit aller Menschen der Mittelpunkt der Menschenrechte, eine Gleichheit, die im Zusammenleben in einer gerechten Weltordnung realisiert werden muss.
Inspirierend bleibt dabei das „Auferstehungsgedicht“ des Schweizer Dichters Kurt Marti (1921-2017).
„Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!“

15.

Die vielen Millionen und Milliarden Leidender, Verfolgter, vor Hunger Sterbender, von den Kriegstreibern Getöteten: Was bedeutet für sie die Auferstehung? Darauf wird es keine evidente Antwort geben. Aber der in diesem Beitrag mitgeteilten Überzeugung folgend kann man denken: Sie haben als Menschen am Ewigen Anteil . Wer solches denkt, ist empört, dass für so viele Millionen Menschen auch heute nur der Gedanke an ein “ewiges Leben des Geistes”  sinnstiftend sein kann. Weil die herrschenden Menschen, die “Herrenmenschen” in der reichen Welt und die Herrenmenschen (Diktatoren) in der armen Welt, weiterhin weithin ohne Einschränkung so viel Unmenschlichkeit anrichten dürfen – vor den Augen der weithin hilflos gemachten “Bürger” dieser Länder.

16.

Ostern sollte also auch ein politisches Fest sein, das Fest der universalen gleichen Würde aller Menschen.
Dass diese gleiche Würde aller Menschen endlich Realität wird, ist die zentrale Aufgabe der Kirchen, wenn sie behaupten, dem Auferstandenen zu folgen. Aber die Kirchen sind zur Zeit fixiert auf sich selbst, zumal die katholische Kirche („Synodaler Weg“, Zölibat etc.), so dass sie ihre entscheidende Aufgabe der Weltgestaltung beinahe vergessen. Diese Weltgestaltung wird in dem schönen biblischen Symbol „Reich Gottes“ ausgedrückt, als einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Darin liegt der Lebenssinn für Menschen, die sich Christen nennen.

17.

Gilt die Auferstehung auch für die schlimmsten Verbrecher, Kriegstreiber, Mörder, Diktatoren? Dass sie als Menschen die Chance hatten, der vernünftigen Kraft ihres Geistes und ihrem Gewissen zu folgen, steht außer Frage. Nur: Sie haben sich dann im Laufe des Lebens stets für das Böse entschieden. Und sie sind dabei selbst böse geworden und haben sich damit selbst bestraft. Was mit diesen Leuten sozusagen post mortem passiert, entzieht sich jeder ernsthaften philosophischen oder theologischen Aussage… Die klassische Theologie kennt die neutestamentliche Erzählung vom “Endgericht” – und da wird eine deutliche Sprache gesprochen.

18.

Ich habe schon mehrfach Hinweise zum Thema “Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen” publiziert, etwa in einer Ra­dio­sen­dung für den RBB im April 2016, der TEXT: LINK

Und speziell ein Hinweis “Kant und die Auferstehung Jesu”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

„Verräterkind“: Ein Roman von Sorj Chalandon. Widerstand in Frankreich gegen ein autoritäres Regime.

Der Roman hat zwei „Protagonisten“: Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“ und einen Kollaborateur, den Vater des Autors.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein neuer Roman des französischen Autors und Journalisten Sorj Chalandon (geb.1952) mit dem Titel „Verräterkind“ (DTV, 2022, übersetzt von Brigitte Große): Über die Literaturkritik hinaus ist der Roman ein Anlass, weiter zu fragen. Was bedeutet die Kollaboration vieler Franzosen mit den Nazis? Warum sollte die Résistance in Deutschland (wieder) entdeckt werden? Wer unterstützte den „Schlächter von Lyon“, den SS-Mann und Gestapo-Chef Klaus Barbie, nach 1945? Und wie ist die Beziehung der Katholiken zu Pétain und der Résistance?

Teil 1: Hinweise zum Roman „Verräterkind“

1.
Der Roman spricht von Verbrechen der SS in Frankreich, besonders von den Untaten des Gestapo-Chefs Klaus Barbie in Lyon von Februar 1943 bis September 1944.
Im Mittelpunkt: Der Prozess gegen Barbie in Lyon im Jahr 1987.
Parallel dazu erzählt Sorj Chalandon von der Geschichte seines Vaters in der Zeit des Pétain – Regimes. Er war damals ein „salaud“, ein Dreckskerl, sagte der Großvater dem Enkel. Und dieser Typ, so will es der Autor, tritt dann im Roman als Beobachter des Barbie-Prozesses auf, während sein Sohn Sorj zugleich im Gerichts-Saal anwesend ist. Er berichtet als Journalist für die Pariser Tageszeitung „Libération“.
Sorj Chalandon muss gleichzeitig zwei unterschiedliche Prozesse verarbeiten: Den gegen Barbie und seinen privaten Prozess, den er nun gegen seinen Vater, den „Dreckskerl“, führen will. Er will ihm zeigen, dass er die Wahrheit über den „Verräter-Vater“ kennt.

2.
Der Roman ist unter dem Titel „Enfant de salaud“, also: „Kind eines gemeinen Kerls“, eines „Dreckskerls“, erschienen. Der französische Titel ist umfassender und deutlicher als „Verräterkind“. Der Vater des Autors hat sein Kind und die Mutter Jahre lang belogen, seine wahre Identität verschwiegen und riesige Lügenwelten, angeblich heldenhafter Taten, von sich selbst verbreitet. Die Realität ist: Er hat sich als Kollaborateur durchgeschlagen. Nach dem Ende des Pétain-Regimes wurde er angeklagt, verurteilt und zwei Jahre, von 1944 bis 1946, inhaftiert.
Erst im Jahr 2020 konnte Sorj Chalandon in die Strafakten seines Vater (Anklage: als Kollaborateur) einsehen, zwei Jahre später veröffentlichte er den Roman. Er lässt also seinen Vater mit diesem Wissen im Roman an dem Barbie-Prozess von 1987 teilnehmen.

3.
Diese kunstvolle Verbindung zweier unterschiedlicher Prozesse offenbart eine Gemeinsamkeit beider Täter: Weder Barbie noch sein Vater sind zum Bekenntnis der eigenen Schuld bereit und in der Lage. Beide sind seelisch erkaltete, moralisch „erstorbene“ Gestalten, selbst wenn die Bedeutung der Verbrechen Barbies sehr viel grausamer sind als die Lügen des Vaters.
Barbie ließ 44 jüdische Waisenkinder in Izieu deportieren, er gab sie dem sicheren Tod im KZ preis. Barbie war auch für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance, auch für den Tod des vorbildlichen Jean Moulin verantwortlich. „Barbie folterte mit Schneidbrennern, glühenden Schürhaken, Elektroschocks, kochendem Wasser und einer ganzen Sammlung an Peitschen, Werkzeugen und Knüppeln, die bei Verhören vor ihm auf dem Schreibtisch lagen“, berichtet wikipedia im Beitrag „Klaus Barbie“.

4.
„Dass der Barbie-Prozess überhaupt stattfand, ist in Frankreich schon als Erfolg und als Sieg über die Partei des Vergessens gewertet worden; nicht ganz ohne Grund, denn in den vier Jahren vor dem Prozess war vor einer öffentlichen Abrechnung mit der Vergangenheit gewarnt worden, die alte Wunden aufreißen und die Einheit der Nation gefährden könne“, schreibt der Journalist Lothar Baier, ein Spezialist für französische Politik, in seinem Buch „Firma Frankreich. Eine „Betriebs-Besichtigung“ (Berlin,1988, Seite 98 f.). Barbie wurde 1987 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, er starb 1991 im Alter von 77 Jahren im Lyoner Gefängnis an Krebs. Er war wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Zweiter Teil: Weiterführende Hinweise zur Politik und zu den Kirchen

5.
Barbie, 1913 in Bad Godesberg geboren, konnte sich gleich nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands niederlassen. Er wurde von den amerikanischen Behörden als Agent beschäftigt, als Mitarbeiter des CIC (Counter Intelligence Corps), gegen ein gutes Honorar suchte er angeblich untergetauchte Nazis.

6. Der Klerus hilft Klaus Barbie bei der Flucht
Im Jahr 1951 gelang Barbie die Flucht nach Bolivien, vor allem durch die großzügige Hilfe des katholischen Klerus. Bekannt ist diese Hilfsbereitschaft der Kirche für Nazi-„Größen“ als so genannte „Rattenlinie“, treffender wurde sie auch als „Klosterlinie“ bezeichnet, wegen der großzügigen Verstecks der flüchtenden Nazis in Klöstern, etwa in Südtirol: Führende Mitarbeiter der Kirche (allen voran der Österreicher Bischof Hudal, 1885-1963), halfen vom Vatikan aus Hunderten Tätern des Nazi-Regimes, etwa Adolf Eichmann oder Josef Mengele und eben auch Klaus Barbie.
Der Historiker Prof. Peter Hammerschmidt hat sich in seiner Dissertation (von 2013) auch ausführlich mit der Barbie-Flucht mit Hilfe des Klerus befasst. Hammerschmidt erwähnt die geradezu „vorzügliche“ Hilfsbereitschaft des aus Bosnien-Herzegowina stammenden Franziskaner-Paters Krunoslav Draganovovic (1903-1983) für Barbie und seine Familie in Genua: „Verunsichert, aber dennoch optimistisch betrat die Familie Barbie am 12. März 1951 italienischen Boden und wurde in Genua von Pater Krunoslav Draganovic empfangen: In seinen Memoiren schreibt Barbie: Ich schaute mich nach einem Geistlichen um und sah ihn nicht weit von uns entfernt stehen. Er kam auf uns zu, nannte mich beim Namen und zeigte mir ein Passfoto von mir, das er in der Hand versteckt hielt.“
Draganovic organisierte für die Familie „Altmann“ (dies war der neue Name Barbies) zwei entscheidende Dokumente: Ein bolivianisches Einreisevisum und eine Reiseerlaubnis des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Am 16. März begleitete der Priester die Neuankömmlinge zum bolivianischen Konsulat in Genua, wo Klaus Barbie die Anträge mit seinen neuen biographischen Daten ausfüllte…Barbie zeigte sich noch in seinen Memoiren tief beeindruckt von Draganovics Organisationstalent und seiner Hilfe bei der Beschaffung der begehrten Dokumente…„Draganovic bewerkstelligte diese Angelegenheit mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die ich bis heute noch bewundere. Alle Türen zu den Behörden standen ihm offen“, so Barbie in seinen Memoiren (S. 245 in Hammerschmidts genannten Buch). (Quelle:  LINK )

7. Barbie – der BND Mitarbeiter
In Bolivien war Barbie enger Mitarbeiter des Diktators Banzer, er war viele Jahren dort zuständig für Techniken der Unterdrückung und Folter, aber auch für Waffenhandel und Drogenschmuggel.1966 arbeitete er von dort aus sogar einige Monate für den Bundesnachrichtendienst BND, unter seinem Namen „Klaus Altmann“… “Dass Barbie überdies gute persönliche Kontakte in Westdeutschland hatte, ist erst 2011 bekannt geworden“, so Peter Hammerschmidt. „Dieses Aktenmaterial legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen, die nachweislich bis 1980 in die Bundesrepublik durchgeführt wurden, eben auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz protegiert wurde, zu einem Zeitpunkt, als Barbie identifiziert war, und – so zeigt das Aktenmaterial – offenbar hat Barbie in Deutschland auch neofaschistische Organisationen aufgebaut und hat eben dort auch Waffendeals abgewickelt.“ (Quelle: LINK )

Barbie wurde in Bolivien, auch aufgrund der Recherchen des Ehepaars Klarsfeld, entdeckt und, nun unter demokratischen Verhältnissen in Bolivien, 1983 nach Lyon ausgeliefert…

8. Die Organisation „Die stille Hilfe“ (der Nazis) in der BRD

Nach 1945 sammelten sich in der BRD Nazi-Freunde in einem Verein, um ihre geliebten Nazi-Verbrecher zu schützen und zu stützen. Sie nannten ihren Verein „Stille Hilfe“. Zu den „Betreuten“ der „Hilfe“ gehörte auch Klaus Barbie. In ihrem zweiten Rundbrief aus dem Jahr 1991 meinten die „Stillen Helfer“ , Barbie habe „im Kriege seinen Dienst für die deutschen Besatzungsaufgaben getan“.(Quelle: DER RECHTE RAND, Nr. 15 vom  Januar / Februar 1992, S. 3 ff.).
Die Gründung der „Stillen Hilfe“ fand 1949 in München statt, im Haus der Erzbischöflichen Ordinariates München mit Weihbischof Neuhäusler unter dem Titel »Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe«, aus dem dann 1951 die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V“ hervorging, gegründet von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg. Neuhäuslers Rechtsberater und Geschäftsführer des Komitees, Rudolf Aschenauer, vertrat vor Gericht Kriegsverbrecher und war im rechtsextremen Milieu aktiv..
Präsidentin des Nazi-Vereins „Stille Hilfe“ war Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg (* 6. April 1900 in Darmstadt als Gräfin von Korff genannt Schmising-Kerssenbrock; † 24. Januar 1974 in Heiligenhaus)
Sie hatte am 30. April 1930 Wilhelm Prinz von Isenburg und Büdingen (1903–1956) geheiratet, der 1937 Professor für Sippen- und Familienforschung in München wurde und die Rassenideologien des NS Regimes vertrat. Sie selbst wurde von der Hitler Partei als „politisch zuverlässig“ eingestuft.
Auch hohe protestantische Geistliche (wie Bischof Theophil Wurm, 1888-1953) gehörten zur „Stillen Hilfe“, aber der hohe katholische Klerus ließ sich seine Hilfsbereitschaft für Nazis nicht nehmen: Im Jahr 1955 wurde der Kölner Weihbischof Wilhelm Cleven (1893-1983) ins Präsidium der „Stillen Hilfe“ berufen.
Der Nazis fördernde Verein wurde als „gemeinnützig“ anerkannt: „Bis 1993 war der Verein, der in dieser Zeit 27 Mitglieder und ein paar Hundert Spender zählte, als gemeinnützig anerkannt. Der Verfassungsschutz stufte ihn als “harmlos” ein. Nach außen sprach Gudrun Burwitz (die Tochter Heinrich Himmlers) nicht darüber: Sie helfe, wo sie könne, sagte sie 1998 der “Times”. Mehr gab sie nie preis, SPIEGEL am 29.6.2018 (Quelle: LINK

9. Die Résistance:
Unter den vielen Aspekten der Résistance wird hier an das in Deutschland weithin unbekannte, vorbildliche Engagement der Bewohner der kleinen Stadt Cambon-sur-Lignon (Département Haute Loire, Auvergne) erinnert.

In Chambon-sur-Lignon (2.400 Einwohner heute) leben vor allem Protestanten, die sich in der entlegenen Gegend vor der Verfolgung durch das katholische Königreich zeitweise schützen konnten. Die Bewohner dieser „protestantischen Insel“ in Frankreich haben den Geist des Widerstandes bewahrt … und während des Pétain-Regimes Juden geholfen, die der Willkür der deutschen Besatzer und der Kollaboration der Franzosen hilflos ausgesetzt waren. Die Protestanten dort haben in ihren Häusern und Wohnungen ingesamt 5.000 Juden versteckt, eine unglaubliche Leistung in dieser Zeit. Es waren vor allem die protestantischen Pastoren André Tocmé und Edouard Theis, die zu dieser Hilfsbereitschaft aufriefen. Sie erinnerten an die Verfolgungen, die die Vorfahren im 18. Jahrhundert unter den katholischen Herrschern erlebt hatten: Und diese Erinnerung war mehr als eine rein geistige, spirituelle Idylle. Die Bürger von Chambon-sur-Lignon begleiteten unter großen Gefahren Juden bis zur Schweizer Grenze, auf Wegen, die ihre Vorfahren im 18.Jahrhundert schon gehen mussten.
1990 hat der Staat Israel die damaligen Bewohner des Stadt Chambon-sur-Lignon und die benachbarten Dörfer als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Diese „kollektive Ehrung“mit dem herausragenden Titel „Gerechte unter den Völkern“ ist einmalig… 2007 wurden diese ungewöhnlichen Menschen auch vom französischen Staat durch eine Zeremonie im Pariser Pantheon geehrt. Einer der Juden, der dort im Versteck überleben konnte, Erich Schwam hat dem Dorf eine Erbschaft von 3 Millionen Euro hinterlassen. Damit will er helfen, dass die Kinder des Städtchens eine gute Zukunft haben…. Jerome Lévy hat über Erich Schwam einen Dokumentarfilm realisiert. LINK

Nebenbei: Auch Albert Camus hatte enge Verbindungen zu dieser kleinen Stadt: Er lebte seit 1942 öfter dort, um zu schreiben und der guten Luft wegen, um seine Tuberkulose zu heilen. Und er erfuhr wohl von der Hilfsbereitschaft der Menschen dort. Die Geschichte seines Romans „Die Pest“ verdankt sich vielen Eindrücken dort, dem Ort des Widerstandes.. (Siehe das Stichwort Chambon-sur-Lignon in: „Dictionnaire Albert Camus“, ed. Laffont, Paris 2009, S. 127f.)
Informationen zu Chambon-sur-Lignon:LINK  

10. Die katholische Kirche im Pétain-Regime und die katholische Résistance.

Die Verehrung der Katholiken für Pétain, besonders in den ersten Jahren des Regimes, war sehr umfassend. Die meisten Bischöfe waren froh, dass Pétain eine „révolution nationale“ repräsentierte, in einem autoritären Staat, das den Namen Republik oder Demokratie nicht mehr beanspruchte. Die von Katholiken so sehr gefürchtete Dominanz der Freimauer, Sozialisten und „Laizisten“ war mit Pétain überwunden. Dass er und seine Minister mit Hitler sehr eng verbunden waren, wurde in Kauf genommen. Pétain gewährte den katholischen Schulen endlich wieder alle finanziellen Vorteile; Kreuze schmückte die öffentlichen Räume, das autoritäre Motto „Arbeit, Familie, Vaterland“wurde als Inbegriff des Christlichen interpretiert. Die meisten Bischöfe schwiegen, als Juden deportiert wurden. „Wegen eines unmittelbaren und letztlich nebensächlichen Vorteils für die Kirche opferten die Bischöfe die Proklamation der wichtigsten Prinzipen des Christentums, der menschlichen nämlich“, so die Historiker Francois und Renée Bédarida, zit. in Christian Modehn,“ Religion in Frankreich“, Gütersloh 1993, s. 83). Einige katholische Priester und Laien waren auch in der Résistance aktiv, aber vergleichen mit der kommunistischen Résistance waren es doch kleine Gruppen. Es ist bezeichnend, dass General de Gaulle die Befreiung Frankreichs in der Pariser Kathedrale Notre Dame ohne die Anwesenheit des politisch belasteten Kardinals Suchard feiern wollte. Neun Bischöfe wurden im Rahmen der „Reinigung“ aus ihren Ämtern entfernt, de Gaulle hatte eine viel umfassendere Befreiung von bischöflichen Pétain- Sympathisanten verlangt. Aber, vom Vatikan unterstützt, setzte sich in der Kirchenführung der Wille durch, das Schweigen der Bischöfe und die hohe Anzahl der Priester als Kollaborateure für die Zukunft zu ignorieren. „Die Kirche versuchte nicht, ihre eigene Vergangenheit anzunehmen und mit Mut ihre Verfehlungen anzuerkennen. Staat dessen hat sie es vorgezogen, Winkelzüge zu machen und zu spintisieren und tausend Rechtfertigungen zu finden“ (F. Und R. Bedarda, a.a.O, s 84).

11. Der Chef der Milice in Lyon, Paul Touvier, findet Zuflucht in Klöstern, bloß weil er „so katholisch erschien“…

Paul Touvier war 1943-1944 Chef der (mit dem Vichy-Regime Pétains kollaborierenden) Milice in Lyon. Er hat dort systematisch Juden verfolgt und Mitglieder der Résistance. „Der Judenmord war ihm ein persönliches Anliegen“, betonen Historiker übereinstimmend. Schon am 10.9. 1946 wurde er in Lyon – in Abwesenheit – zum Tode verurteilt.
Der Fall Touvier ist etwas Besonderes: Der katholische Miliz-Chef konnte sich viele Jahre, bis zum 24.Mai 1989, den Gerichten entziehen, weil er auf die Hilfe von Klerikern zählen konnte und in verschiedenen französischen Klöstern der offiziellen katholischen Kirche Zuflucht und Unterkunft fand. Von der Polizei entdeckt wurde er in Nizza, im dortigen Priorat der traditionalistischen Pius-Bruderschaft, der Gemeinschaft des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre.
Paul Touvier wurde 1915 geboren, er wuchs in einer streng-katholischen Familie auf. Wie sehr viele französische Katholiken zu der Zeit lehnte er die republikanischen, „laizistisch“ genannten Werte Frankreichs ab zugunsten des autoritären, nazifreundlichen Pétain-Regimes.
Als 1966 das Todesurteil verjährte (nach 20 Jahren, so war das damals in Frankreich üblich), setzte sich Erzbischof Villot von Lyon für Touvuier ein, 1971 wurde Touvier sogar von Staatspräsident Pompidou begnadigt. Dies löste weite Empörung aus, zumal bekannt war, dass Touvier „das meiste des von ihm beanspruchten Vermögens tatsächlich von deportierten Juden geraubt hatte.“ (Quelle: wikipedia, Paul Touvier).
Ein weites Netzwerk aus Klerus und Klöstern unterstützte Touvier auf seiner Flucht vor der Justiz weiterhin. Vor allem das Hauptkloster der Kartäuser „La Grande Chartreuse“ muss erwähnt werden, das mit dem flüchtenden Touvier „enge und ausdauernde Verbindungen“ unterhielt (zit. in „Paul Touvier et l église“, Ed. Fayard, 1992, S. 136): Ähnliche enge Verbindungen gab es mit dem Benediktinerkloster Hautecombe und dem Trappistenkloster Tamié. Touvier verbreitete bei seinen, manchmal sogar ahnungslosen Gastgebern diese Lüge, unschuldig zu sein, er habe nur der legitimen Macht gedient und dabei versucht, das Schlimmste von einen Mitbürgern abzuwehren.
Um 1957 fand Touvier entschieden Hilfe von Monsignore Charles Duquaire, dem Sekretär des Lyoner Kardinals Gerlier. „Monsignore Duquaire hat im wahrsten Sinne Paul Touvier und seine Familie adoptiert. Er hat sich in dessen Dienst gestellt, er wurde sein Beschützer, sein Stratege. Die vielen Unternehmungen Duquaires zwischen 1959 und 1973 waren nicht nur seine Hauptsorge, sondern seine wichtigste Aktivität. Duquaire, 1907 geboren, hat als Priester in Rom Kirchenrecht studiert und wurde in dem Fach promoviert. Seit 1950 arbeitete er als Sekretär von Kardinal Gerlier, 1956 wurde er Prälat seiner Heiligkeit, des Papstes. „Die Verteidigung Touviers wurde in gewisser Weise Duquaires zweite Berufung“ (S. 159). In dem Buch „Paul Touvier et l église“ wird Duquaire eine „komplexe Persönlichkeit genannt (S. 161), er fühlte sich allen Ausgegrenzten gegenüber als der „barmherzige Samariter“. So ist für ihn der Paul Touvier „ein Opfer der Ungerechtigkeit“. Und das sagte Duquaire im Wissen, dass die Milice, die Touvier leitete, „einen widerwärtigen Charakter hatte.“ (S.162).
1994 wurde Touvier wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslanger Haft verurteilt, er starb an Krebs 1996 im Gefängnis Fresnes.
In der traditionalistischen Haupt-Kirche St.Nicolas du Chardonnet (Paris) wurde ein Requiem für Paul Touvier gefeiert. Auch das ist bezeichnet für die rechtsextremen Sympathien der Pius-Bruderschaft in Frankreich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

………..

Die Bestattung und das Requiem der Traditionalisten und ihrer reaktionären Freunde zugunsten des Milice-Chefs Paul Touvier, ein Bericht der Tageszeitung „Liberation“, Paris, 26. Juli 1996. Als Beispiel für die unglaubliche Präsenz reaktionärer rechtsextremer Gruppen in Frankreich.

„Requiem pétainiste pour Touvier. Messe intégriste à Paris et inhumation à Fresnes pour l’ancien milicien“.
par Renaud DELY et Jean HATZFELD
publié le 26 juillet 1996 à 7h48   LINK

Quelle: https://www.liberation.fr/france-archive/1996/07/26/requiem-petainiste-pour-touvier-messe-integriste-a-paris-et-inhumation-a-fresnes-pour-l-ancien-milic_176198/)

Die Affaire Moro: Leonardo Sciascias Roman in neuer Übersetzung.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.3. 2023.

1.
Aldo Moro: Er war einer der bedeutenden Politiker Italiens: 1945 wurde er im Alter von 29 Jahren Mitglied der „Democrazia Cristiana“ (DC), und seitdem machte er große Karriere, er hatte viele maßgebliche Positionen in der DC Regierung und der Partei inne, zuletzt war er deren Parteichef.

2.
Am 16. März 1978 wurde Aldo Moro von den „Roten Brigaden“ in Rom entführt, fünf seiner „Wächter“ wurden sofort erschossen. 55 Tage verbrachte er im „Volksgefängnis“ der Roten Brigaden. Am 9. Mai 1978 wird Aldo Moro tot in einem Auto im Zentrum Roms aufgefunden, in der Nähe der Parteizentralen seiner DC und der Kommunistischen Partei: Beide Parteien sollten sich, so das neue, gewagte politische Projekt Moros in diesen Tagen, weiter politisch annähern und sogar kooperieren. Aber aufgrund der Entführung Moros und seiner Erschießung kam dieses Projekt, der „historische Kompromiss” der DC mit der kommunistischen Partei (Parteichef Berlinguer), nie zustande. Eine Kooperation von Christdemokraten, d.h. letztlich von Katholiken in Abhängigkeit vom Vatikan, und Reformkommunisten, passte den herrschenden konservativen Katholiken gar nicht. Und die extremste Linke, die Roten Brigaden, fürchteten um ihre so genannte proletarische Revolution, bei so viel Kooperation mit den Bürgerlichen. Aber im Vorhaben Moros und Berlinguers hätten die Chancen bestanden, dass zwei große Parteien Italien als eine Demokratie neu gestalten, die den Namen verdient.

3.
Die 55 Tage Moros als Geisel im Gefängnis der “Roten Brigaden“ hat der nicht nur in Italien hoch geschätzte Autor, Mafia-Spezialist und (linke) Politiker Leonardo Sciascia (1921-1989) in einer Art „dokumentarischem Roman“ untersucht. Das Buch erschien 1978, der Autor bezeichnete es als sein wichtiges, zentrales Werk. Es konzentriert sich auf eine tiefe Analyse einiger Briefe, die Moro aus seinem Gefängnis an Politiker seiner Partei wie an seine Familie schreiben konnte. Vor kurzem hat die Edition Converso eine neue Übersetzung dieses Buches von Sciascia veröffentlicht, aus dem Italienischen übersetzt von Monika Lustig, die schon zahlreiche italienische Autoren ins Deutsche übertragen hat.

4.
Sciascia Analysen zur sprachlichen Gestalt der Briefe Moros verdienen viel Aufmerksamkeit, er analysiert die Andeutungen Moros, die Implikationen seiner Forderungen, seiner Ängste.
Sciascias dokumentarischer Roman gehört nicht in die Reihe der zahlreichen „Moro-Enthüllungsbücher“. Der Text will in aufmerksamen Analysen zeigen, wie der von Terroristen gefangene Aldo Moro gerade im Schreiben seiner (insgesamt mindestens 30) Briefe seine Würde bewahrt, gegen die Sturheit seiner ehemaligen Parteifreunde in staatlicher Verantwortung ankämpft: Sie sind entschlossen, den einzelnen, den hilflosen Menschen zu opfern. Sie wollen in dieser Radikalität die Stärke des italienischen Staates gegenüber den Terroristen beweisen. Die Polizei bleibt untätig. So ist der einzelne Mensch hilflos der Staatsräson ausgeliefert: Das ist das Thema Sciascias.  Er will dem ermordeten Moro seine menschliche Würde zurückgeben, wie Fabi Stassi im Nachwort schreibt (S. 211).

5.
Je mehr Sciascia sich in die Briefe Moros vertieft, um so sichtbarer wird seine Nähe, wenn nicht Sympathie für den führenden Politier der Democrazia Cristiana, einer Partei, der Sciascia eigentlich mit heftigster Kritik gegenüberstand. Er spricht im Blick auf allerlei Machenschaften der DC von einem „christdemokratischen Regime“ (10) oder von einer „christdemokratischen Mafia“ (16). Aber Moro wird dann doch für Sciascia „zu einem der Allernächsten“ (211). Jenseits aller Staatsräson sieht der Autor den einzelnen, das Opfer der Terroristen, und vor allem: den offiziell von Politikern zwar bemitleideten, de facto aber von ihnen längst dem Tode preisgegebenen, hilflosen Menschen. Seine Parteifreunde (auch Kirchenführer) sind so dreist, und erklären Moro im Laufe der Gefangenschaft für geistig verwirrt, „anders, befremdlich geworden“, nur weil er dringend darum bittet, vor dem Erschießen bewahrt zu werden: Indem nämlich endlich die Politiker in Verhandlungen treten mit den Entführern und Moro freikaufen im Austausch mit den gefangenen „Genossen“. Die Rettung unschuldigen Lebens ist für Moro als Christen das höchste Gut. Die Bindung Moros an Grundsätze christlicher Ethik und damit auch seine tiefe Bindung an die katholische Kirche werden von Sciascia eher am Rande erwähnt: Sein Freund, Papst Paul VI. setzt sich für Moros Rettung öffentlich ein. Aber er fordert schlicht und einfach nur die Freilassung des politischen Freundes, diese allgemeine Forderung, ohne Gegenleistung des Staates, können die Rote Brigaden gar nicht erfüllen. Insofern steht also auch der Papst auf der Seite der offiziellen Staatsräson. Und seine päpstliche Zeitung, der Osservatore Romano, letztlich auch. Diese geringe Hilfsbereitschaft der Kirche(nführer) muss den sehr frommen Katholiken Aldo Moro besonders hart getroffen haben. 1973 war er in den so genannten “Dritten Orden” der Dominikaner als Laienmitglied eingetreten (siehe die Zeitschrift “Wort und Antwort”, 2013, ein Beitrag von Alessandro Cortesi OP, LINK).

6.
So weiß Moro kurz vor seinem Tod, dass der italienische Staat, in seinem “Staatskult” (S. 63) Härte und angeblich Würde zeigend, ihn, den Hilflosen zum Tode verurteilt. Er wird also hingerichtet. Direkt berührend ist der Abschiedsbrief an seine Frau (144 f.) Darin distanziert er sich erneut „verbittert“ (146) von seiner Partei. „Welches Böse kann aus diesem Bösen (d.h. seinem zugelassenen Tod) entstehen?, fragt Moro (147). In seiner zugelassenen Hinrichtung, ohne jede Verhandlungsbereitschaft mit den Entführern, sieht Moro ein „Staatsmassaker“ (146). Er hat ausdrücklich gefordert, dass bei seiner Totenfeier und Bestattung kein Vertreter der Partei, des Staates, dabei sein darf. Am 10. Mai 1978 schon wurde Moro in engstem Familienkreis im Städtchen Turrrita Tiberina beigesetzt. Eine Totenmesse ohne Leiche fand dann am 13. Mai 1978 in der Basilica San Giovanni im Lateran statt, Papst Paul VI.hielt die Predigt.

7.
Warum ist das Thema „Mord an Aldo Moro“ heute so wichtig: Weil die Hinrichtung Moros weite und breite Wirkungen zeigt. Die DC ist verschwunden, als starke Kraft zeigte sich dann die Eventpartei des Medien-Herrschers und Aufschneiders Berlusconi, jetzt ist eine neofaschistisch geprägte Ministerpräsidentin an der Macht mit sehr rechten Koalitionspartnern. “Treten die schlimmsten Befürchtungen ein, so wäre der politische Mord an Aldo Moro auf lange Sicht auch ein Mord an der Politik“, schreibt der Historiker Michael Sommer in dem Buch „Politische Morde. Vom Altertum zur Gegenwart“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, im Jahr 2005, dort S. 238. Und der Autor Fabio Stassi sagt im Nachwort zu Sciascias Buch: Die Literatur, auch die Darstellung und Interpretation von Aldo Moros Leiden,  sei “ein beharrlicher Protest gegen das Verschwinden der Vernunft” (S. 207).

Leonardo Sciascia, „Die Affaire Moro. Ein Roman“. Übersetzt von Monika Lustig. Sie hat auch ein kurzes Nachwort geschrieben: „Von der Pflicht, die Affaire Moro zu übersetzen“. Mit einem Nachwort von Fabio Stassi. Und einer Zeittafel.
 Edition Converso, Karlsruhe, 236 Seiten, 2022, 24€.

Am 15.3. 2023 um 21.55 und am 16.3.2023 um 22.30 sendet ARTE den FILM “Und draußen die Nacht” über Aldo Moro, auch in der Mediathek. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.