Annie Ernaux: Ihre Spiritualität, ihr Glaube und ihr Unglaube…

… Annie Ernaux und der Katholizismus.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Annie Ernaux hat den Literaturnobelpreis 2022 erhalten. In Frankreich werden ihre Arbeiten schon seit längerer Zeit nicht nur gelesen, sondern auch vielfach kritisch untersucht. Ihre Werke erscheinen bei Gallimard, eine Auszeichnung! Zur Geschichte von Annie Ernaux gehört auch zweifelsfrei, wie sie selbst schreibt, ihre Verbindung mit der katholischen Kirche seit der Kindheit. Ihre Ausbildung erhielt sie bei Nonnen in Yvetot; als sie in Rouen an der Universität studierte, wohnte sie in einem Wohnheim der Nonnen. Ihre Verbundenheit mit Kirche, Religion und Spiritualität ist also kein Nebenthema im Werk der Autorin. Ein Mittelpunkt ihrer Bücher bleibt die Darstellung der französischen Gesellschaft radikal aus der Sicht einer Frau, die aus „einfachen Verhältnissen“ kommt, für die Rechte der Frauen kämpft, die beruflichen Erfolg hat… und den totalen Konsum heute heftig attackiert.

2.
Es ist für deutsche Verhältnisse schon erstaunlich: Als bekannt wurde, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhält, nahm sogar ein ziemlich prominenter katholischer Erzbischof, Pascal Wintzer von Poitiers, Stellung: In der katholischen Tageszeitung „La Croix“ (Paris) am 6.10.2022 sowie auch zuvor in der Presse des Bistums Poitiers. Nun ausgerechnet einen Bischof als einen Literaturkritiker zu erwähnen, soll hier nur bedeuten, dass der hohe Klerus in Frankreich sich offenbar nicht nur permanent mit sich selbst beschäftigen muss, vor allem wegen des sexuellen Missbrauchs auch in den eigenen bischöflichen Reihen. Pascal Wintzer, Jahrgang 1959, wurde wie Ernaux in der Normandie geboren, als bischöflichen Wahlspruch wählte er: „Löscht den Geist nicht aus“. Wintzer schreibt in dem genannten Artikel: „In ihren Büchern gebraucht Annie Ernaux eine direkte Sprache, oft roh, geradeheraus („cru“). Es geht ihr darum, eine Sprache abzuwehren, die von dem Realen, Wirklichen, distanziert oder die (nur) den sozialen Abstieg betont. Sondern Ernaux bevorzugt eine „écriture plate“, eine flache Schreibweise, also einfache Worte aus dem Alltag und von jedermann, diese Worte verlangen keine abstrakte Hermeneutik“.
Dann erinnert der Bischof weiter an das Buch „L` Evénement“ (veröffentlicht 2000), in dem Annie Ernaux auch von einer Beichte spricht, in der sie ihre Abtreibung dem Priester bekennt. “Ich fühlte mich im Licht, in der Wahrheit („dans la lumière“), für den Priester war ich eine Verbrecherin. Als ich die Kirche verließ, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war“. (Übers. C.M.) Der katholische Bischof beendet seine Würdigung des Werkes Annie Ernaux`: „Sie ist eine kämpferische Schriftstellerin, sie kann Ablehnung hervorrufen, sie hat Verleumder; mir scheint indessen, dass sie eine der großen französischen Autoren der Gegenwart ist – damit drücke ich meine normannische Solidarität vielleicht auch aus – … Sie spricht zu den Frauen; sie kann die Männer über die Frauen aufklären (éclairer à leur propos“)“. Nebenbei: Erzbischof Wintzer hatte schon wohlwollend kritisch das Werk des Schriftstellers Michel Houellebecq gewürdigt. LINK

3.
Annie Ernaux beschreibt nicht nur ihren individuellen Abschied von der Religion., d.h von der katholischen Kirche in ihrem „Hauptwerk“ genannten Buch „Les années“. Erschienen ist dieses Buch 2008 in Frankreich, seit 2017 liegt eine deutsche Übersetzung vor. Ernaux` Erinnerungen und Einschätzungen des Katholizismus Anfang und Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre sind etwas ausführlicher (in der Suhrkamp Ausgabe S. 161 f.) Annie Ernaux beginnt mit dem klaren und soziologisch treffenden Urteil: „Der Katholizismus verschwand aus dem Alltag. In den Familien wurden Bibelkenntnisse und die religiösen Bräuche nicht mehr überliefert. Man benötigte die Religion nicht mehr, um die eigene Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen und so blieb außer ein paar Ritualen nichts von ihr übrig… Außerhalb des Philosophieunterrichts konnte man nicht mehr ernsthaft über Gott und den Glauben diskutieren“. Wenn Ernaux von Religion/Katholizismus spricht, tritt sie, so sagt sie, „ins Museum unserer Kindheit“ ein (S. 223). Geblieben ist ihr trotz allem „eine Vorliebe für Bach und Kirchenmusik“ (S. 186).
Und Annie Ernaux fügt als gute Beobachterin und Gesellschaftskritikerin hinzu: Es gab 1984 bekanntlich große, man möchte sagen, gewaltige Demonstrationen für den Erhalt der katholischen Privatschulen. Ernaux kommentiert sehr zutreffend … und ihre Worte gelten auch für die Verteidiger der konfessionellen Privatschulen in Deutschland und anderswo: „Nicht der Glaube trieb die Eltern auf die Straße, sondern die weltliche Überzeugung, sie hätten ein Produkt (katholische Privatschule) erworben, das den Erfolg ihrer Kinder garantierte“ (S. 162).
Annie Ernaux kennt die katholische Kirche genau: Sie wurde von ihrer Familie, besonders der Mutter, kirchlich unterwiesen, die werktags zur Abendmesse geht (S. 104). „Der Kirchenkodex stand über allem“ (S. 46), sie erwähnt Wallfahrten (S. 25), sie spricht von der Erstkommunion (S. 46), nennt einen in Frankreich durchaus zurecht berühmten Jesuiten, Père Michel Riquet, (S. 38), sie beklagt die eher rassistisch gefärbten Unterweisung zum Islam (S. 46).
Schon in der Einführung zum Buch „Les Années“ betont sie, dass der Verlust der Religion für den einzelnen wie für die Gesellschaft nicht umstandslos Ausdruck eines „Fortschritts“ sein kann. Sie schreibt ganz Anfang, in dieser „Einleitung“: „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“ (S. 17). Wahrscheinlich könnte eine lebendige, z.B. nicht-frauenfeindliche Religion wie der Katholizismus, einen Beitrag leisten, die totale Konsumwelt einzuschränken, die Ernaux in „Les Années“ heftigst beklagt.
Man lese nur ihre Einschätzung des kommerzialisierten Weihnachten und die dabei sichtbare völlige Hilflosigkeit der Kirche, Weihnachen prägend spirituell zu gestalten: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, „der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten, zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“ (ebd.)
Etwas kryptisch bleiben ihre Worte, wenn sie an die Auseinandersetzungen mit dem Islamismus denkt: „Die Religion war zurück, aber es war nicht mehr unsere, nicht die, an die man nicht mehr glaubte, die man nicht weitergegeben hatte und die letztlich die einzig richtige war, oder wenn man so wollte die beste…“ (S. 223).

4.
Ihre eigene Geschichte, auch ihren Abschied vom Katholizismus, deutet Ernaux als typisch für die heutigen Menschen, die Frauen zumal. Entscheidend ist für Ernaux: Die Kirche bestimmt nicht mehr das Denken über die Sexualität, sie bestimmt nicht mehr die Praxis der Sexualität, „der Bauch der Frauen ist von der Herrschaft der Kirche befreit. Die Kirche hat ihr wichtigstes Aktionsfeld, die Herrschaft über die Sexualität, verloren. Dadurch hat sie alles verloren“ (Gallimard, Quarto, P. 1025). Das weiß Rom, und deswegen führt der Vatikan den sinnlosen Kampf, irgendwie noch die allerletzte Bastion, die Vorherrschaft über die Sexualität zu behalten, etwa im Verbot der Ehe für Homosexuelle oder wenigstens der Segnung von homosexuellen Paaren. Sehr gern segnet der katholische Klerus seit Jahrzehnten hingegen Autos, Pferde, Handys, natürlich auch Waffen, darauf hat der religionsphilosophische Salon schon vor Jahren hingewiesen, Erzbischof Heße aus Hamburg hat sogar ein Walross im Zoo gesegnet. Zu Erzbischof Heße: LINK.

5.
Ihre bleibende Spiritualität – außerhalb der Kirchen – deutet Annie Ernaux an: Sie wollte mit dem Buch („Les Années) „ihren Beitrag zur Revolte leisten. Von diesem Vorhaben ist sie zwar nicht abgerückt, aber mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, das jetzt auf unsichtbare Gesichter fällt…ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war…“(S. 254).
Das Licht“ einfangen“, es bewahren, sich an das Licht halten…la lumière, dieses große französische Wort, das nicht nur (philosophische) Aufklärung und philosophische Kritik bedeutet, sondern eben hier auch „Licht, das bleibt“, „Licht, in dem wir stehen und leben“. Als Gabe (vom wem?) sozusagen.

6.
Aber es wäre natürlich viel zu einschränkend, die Spiritualität von Annie Ernaux nur in einem explizit religiösen oder gar dogmatischen Zusammenhang zu bedenken. Man muss sagen: Ihre Spiritualität ist ihr Eintreten als Schriftstellerin für die Rechte und die Würde der Frauen vor allem. Und ihr Kampf gegen die bornierte Männer-Welt IST geistvoll, also spirituell. Und darin zeigt sich Ernaux` umfassender sozialer Humanismus: Als trotzige geistige Haltung, die sich als letztlich dann doch hilflose Kritik des Konsumismus äußert, aber auch in ihrer Sehnsucht nach den gelungenen Feiern im Kreis der Familie, dem gemeinsamen Essen, dem Sprechen und Reden und Streite und eben auch der vielen banalen Worte, auch der Langeweile, die bei solchen Familienfeiern bekanntlich nahezu üblich sind.

7.
Zum Schluss ein politischer Hinweis: Anders als viele führende PolitikerInnen, auch in Deutschland, erkannte Annie Ernaux schon beim Schreiben von „Les Années“ (also in den Jahren 2006, 2007, veröffentlicht wurde das Buch 2008) den wahren Charakter von Wladimir Putin. Sie nennt ihn (S. 219) einen „kleinen, eiskalten Mann mit undurchschaubaren Ehrgeiz“, „sie blickt jetzt nur noch mit Verzweiflung auf Russland“. Eine kluge vorausschauende Einschätzung, die man sich von angeblich kompetenten Politikerinnen Europas gewünscht hätte, sie haben aus ökonomischen Gründen Putins Sprüchen geglaubt… und preisen ihn gar im Zustand geistiger Verwirrung als einen „lupenreinen Demokraten“ bis heute. Und diese „Verwirrten“ werden dafür nicht bestraft…

Annie Ernaux, “Die Jahre”. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, 2022 (7.Auflage), 256 Seiten, 11€

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Wenige und das Wesentliche. Ein “Stundenbuch” von John von Düffel.

Ein ungewöhnliches „Stundenbuch“ des Philosophen von Düffel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. Was ist ein Stundenbuch?
Wer kennt noch Stundenbücher? Sie waren in katholisch geprägten Kulturen des Spätmittelalters weit verbreitet. Es waren meist reich „verzierte“, prächtig geschmückte Bücher. Sie enthielten Gebete, vor allem die auch literarisch erstaunlichen Psalmen der hebräischen Bibel. Noch heute beten und singen Mönche und Nonnen in ihren Klöstern zu festen Zeiten mehrfach während des Tages und der Nacht ihr Stundengebet.
Als die Kultur des christlichen Betens allmählich immer marginaler wurde und fast kein Mensch mehr verstand, dass Beten etwas mit der persönlichen Poesie zu tun hat, entstanden manchmal noch moderne „Stundenbücher“. Sie hatten sich inhaltlich von der kirchlichen Lehre und Dogmatik losgesagt. Man denke etwa an das „Stundenbuch“ von Rainer Maria Rilke, entstanden zwischen 1899 und 1903.
Nun hat der Philosoph, Autor und Dramaturg am Deutschen Theater Berlin John von Düffel ein Buch vorgelegt mit dem Untertitel „Ein Stundenbuch“. Der Ober-Titel kündigt ein dringendes Thema der Philosophie an, also auch der politischen Ethik und der Frage nach dem Sinn von Dasein: „Das Wenige und das Wesentliche“. Wie können sich Menschen in der reichen kapitalistischen Welt vom Konsumrausch des Immer-Mehr und dem Wahn des stetigen ökonomischen Wachstum befreien? Wie kann die vom Autor genannte „himmelschreiende Ungerechtigkeit“ (S. 127) überwunden werden? Wie können wir unsere Zeit verstehen, die der Autor als „Endzeit“ versteht?

2. Lehren und Meinungen nach der Wanderung.
John von Düffels „Stundenbuch“ weckt den Eindruck, der Autor hätte an einem einzigen Tag, dem Neujahrstag, von fünf Uhr früh („Die fünfte Stunde“) bis zur 18. Stunde am Abend, jeweils zu jeder Stunde philosophische Meditationen direkt aus dem gelebten Erleben heraus verfasst. Aber das so genannte Stundenbuch enthält Einsichten, die sich dem Autor beim Wandern im einsamen Hinterland Liguriens, in der Nähe von Ventimiglia, zeigten. Und die er danach in der Ruhe der „Herberge“ zu Papier brachte.

3. Etliche Bonmots.
Dieses Stundenbuch enthält, anders als die ursprünglichen Stundenbücher, keine Gebete, aber auch keine poetischen Texte, keine Poesie. Manchmal und zwischendurch aber zweizeilige Merkverse: „Wo Sinn war, ist Suche“ (S. 120). Oder: „Jeder Gang ist ein Umgehen mit dem Unverfügbaren“ (S. 44), ein Bonmot sozusagen, das auch von Martin Heidegger stammen könnte. Oder auch, in Heideggers Sinn, etwas kryptisch: „Das Wenige ist wesentlich, wenn es den Unterschied macht, zwischen Nichts und etwas“. Oder auch: „Weil ich nie bekomme, was ich wirklich brauche, bekomme ich nie genug“ (S. 145. (Diese Zitate sind hier nicht „poetisch gedruckt“ wie in dem Buch selbst).
Von Düffel lässt seine Einsichten und Lehren wie Elegien, Hymnen oder Oden drucken, so, wie man sie etwa von Hölderlins langen Gedichten kennt. Zudem geht er äußerst sparsam mit Kommata um, Punkte setzt er fast gar nicht, offenbar soll dadurch der Eindruck von Poesie geweckt werden. Für die Lektüre ist diese Art zu drucken allerdings eher selten eine Hilfe.

4. Politische Kritik am Kapitalismus.
Der Titel „Das Wenige und das Wesentliche“ zielt deutlich auf eine Gesellschaftskritik, eine Kritik des herrschenden Konsumieren, des Verbrauchens der Natur bis hin zu ihrer Zerstörung wegen der Gier nach dem „Immer mehr“, dem Haben und Herrschenwollen des westlichen Konsumenten. Im Mittelteil seines Stundenbuches (Die Vierzehnte Stunde, ab Seite 107) wird diese Perspektive sehr explizit ausgeführt. Diese Einsichten und Lehren sind für mich das philosophische und gesellschaftskritische Zentrum des Buches. Gelegentlich spricht von Düffel sogar explizit vom Kapitalismus (etwa Seite 179) als dem System, das die Ökologie der Ökonomie unterordnet und so „eine Zerstörungsdynamik“ (S. 123) erzeugt. „Wir sind Patienten, die die eine tödliche Diagnose erhalten“ (S. 125). Wir wissen, „dass es (gemeint ist die Naturzerstörung, C.M.) „so nicht weitergeht, und machen dennoch so weiter“ (S. 128). Sehr wichtig sind die Reflexionen über die Dominanz des Digitalen heute: „Die digitale Welt der Verfügbarkeit ist eine Welt ohne Erfahrung…Die Weglosigkeit des Virtuellen, seine Lösung von Raum und Zeit, ist eine Form der Körperlosigkeit“ (S. 176). „Von allen Dualismen ist das Digitale die säkularste Form der Transzendenz“ (S. 179):
Das moderne Stundenbuch will also aufrütteln, den einzelnen als einzelnen zur Vernunft bringen und zum maßvollen Handeln motivieren, auch wenn der Autor mehrfach betont, dass letztlich das Engagement wenig erfolgreich sein wird. Der Mythos des Sisyphus wird dabei mehrfach ausführlich bedacht und – darin Albert Camus folgend – Sisyphus „als glücklicher Mensch“ empfohlen (S. 131).

5. Der einzelne als einzelner.
Der Autor vertraut als Philosoph darauf, dass Menschen durch Erkenntnis des Richtigen auch zum richtigen Handeln finden könnten. Erkenntnis – nur darum geht es ihm. Dem Erkennen spricht er eine heilsame, erlösende (?) Wirkung zu. Schon gleich am Anfang seines Textes wird das betont. Und mehrfach erinnert er an ein berühmtes Adorno-Zitat – ohne ihn zu erwähnen – wenn er schreibt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung“ (etwa S. 133). Wobei Adorno nicht DAS Falsche meinte, sondern das falsche Leben. Wie auch immer: Also ist DAS Falsche doch nicht ganz falsch, sonst gäbe es ja nicht darin noch die RICHTIGE Richtung.
Immer ist offenbar der/die einzelne gemeint, der/die von der richtigen Erkenntnis zur guten Tat schreiten soll. Gruppen, Gemeinschaften, Klima-NGOs, Öko-Parteien, werden als solche nicht genannt. So ist das „Stundenbuch“ nur „milde“ politisch und nur etwas politisch präzise. Dabei klingt durchaus ein gewisser Pessimismus an, etwa wenn von Düffel schreibt. „Nichts ändert sich, wenn ich mich ändere“ (S. 130). So ist es wohl auch, wenn man nur an den kleinen einzelnen als einzelnen politischen Akteur – ohne jegliche Verbindung mit Gruppen etc. – denkt.

6. Der gottlose Asket der Zukunft.
John von Düffel plädiert in seinem neuen Buch für den „Asketen bzw. die Askese der Zukunft“. Dabei lässt er schon in den ersten Zeilen seines Stundenbuches keinen Zweifel: Mit Religion oder gar Gott haben es diese „Asketen der Zukunft“ ganz und gar nicht zu tun. „Das Ideal des modernen Asketen ist nicht Gottesnähe, sondern die größtmögliche Nähe zum richtigen Leben“ (S. 10). Aber normativ im Sinne Kants und seiner praktischen Vernunft gedacht, gibt es keinen Gegensatz zwischen dem richtigen Leben und einer absoluten, möglicherweise göttlich genannten Wirklichkeit. Diese strenge Abwehr einer göttlichen Wirklichkeit durch von Düffel ist vielleicht auch biographisch bedingt: In einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur am 25.9.2016 hat er auf seine atheistische familiäre Prägung verwiesen.
Erstaunlich bleibt dann, dass von Düffel einen bekannten Text aus der hebräischen Bibel reflektiert, die Hiobs-Erzählung (Seite 109 ff.). Hiob ist für den Autor ein Beispiel der sturen Glaubenshaltung, „ein Exempel der Unerschütterlichkeit“ (S. 111). „Man kann Hiobs Geschichte auch anders lesen, seine Standfestigkeit lässt sich als Starrsinn kritisieren“ so kann man Hiob dann als „Fanatiker“ oder Fundamentalisten“ sehen (S. 115). Auf den Gedanken, auch Mythen und Erzählungen des Neuen Testaments für seine Argumentation (Das Wesentliche!) heranzuziehen, kommt von Düffel nicht. Etwa die Bergpredigt Jesu von Nazareth zu erwähnen, wäre recht passend zum Thema gewesen.

7. Tod als Sturz ins Nichts.
Die in von Düffels Buch mitgeteilten philosophischen Lehren und Überzeugungen laufen angesichts dieser als trostlos beschriebenen Welt und der weitgehenden Hilflosigkeit des einzelnen, das Bessere zu schaffen, auf eine Annahme des Todes, meines Todes, hinaus. Im Sinne von Düffel kann der Tod nur das absolute Ende sein. Er sagt es ein wenig poetisch, dem Naturgeschehen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Natur abgelesen: „Auf den Abend folgt die Nacht, die völlige Dunkelheit“. (S. 199) – das heißt: es folgt das Versinken ins Nichts. Woher weiß das Herr von Düffel so genau? Wie ein Dogma betont er kurz und bündig :„Das ist so“ (S. 198). Punkt. Ende der Debatte.

8. Sisyphus als Vorbild.
Dem Sisyphus-Mythos der alten Griechen wird, wie gesagt, viel Aufmerksamkeit geschenkt, Sisyphus passt bestens in die Erfahrung der Aussichtslosigkeit allen Tuns, auch der „Asket“, der Philosoph Diogenes wird gerühmt. Bei der genannten weitgehenden Abwehr christlicher Traditionen und christlicher Mythen durch den Autor in diesem „Stundenbuch“ wundert es nicht, dass die alten Asketen, wie er sagt, wie verblendete Leute dargestellt werden. Weil von Düffel keine konkreten Namen dieser „alter Asketen“ nennt, denkt er wohl an die Wüstenheiligen irgendwo hoch oben auf einer Säule hockend…
Dass sie leibfeindlich waren, ist gar keine Frage! Aber gibt es nur diese eher verwirrten Typen in der Wüste als Beispiel für die so genannte „alte Askese“. War ein Franziskus von Assisi ein alter, also überholter, ad acta zu legender Asket? Sicher nicht! Um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen: War Bischof Helder Camara aus Recife unter den Armen Brasiliens (1909 – 1999) ein alter, belanglos gewordener Asket? Oder war Oscar Romero (1917-1980), der sich dem Befreiungskampf in El Salvador zugunsten der Armen hingegeben hatte, etwa ein „alter“, ein „überholter Asket? Wollte er als „alter Asket“ wirklich nur das „Aufgehen in der Immaterialität und dem ewigen Leben“ (S. 189). Und die als Ideal beschworenen neuen Asketen: Diese sind nur die vielen einzelnen, sie haben ein Vorbild, ihren Sisyphus, den sie sich als glücklichen Menschen vorstellen MÜSSEN“ (S. 131). Von Düffel spricht wirklich von MÜSSEN. Ein Dogma, auch bei ihm.

9. Ist der Mensch vor allem auch ein Tier?
Viele philosophisch Gebildete und andere Nachdenkliche stört es sehr, wenn sogar Philosophen pauschal behaupten, der „Mensch sei doch vor allem auch ein Tier“. Die große philosophische Tradition – etwa Aristoteles – hatte doch recht, wenn sie durchaus Tierisches im Menschen sah, den Menschen dann aber immer als ANIMAL RATIONALE, als vernünftiges Tier, als „Lebewesen, das Vernunft hat“, definierte! Ich frage: Sollte man philosophisch korrekt nur vom Menschen als dem einzigen denkenden, rationalen „Tier“ sprechen? Ich habe jedenfalls von keinem Schwein eine Sonate am Klavier gehört, von keinem Kamel Reflexionen über die Wüste… Von Düffel nennt den Menschen, so wörtlich, „das seltsamste aller Tiere“ (S. 183). Dabei geht er so weit zu behaupten: Das herumkrabbelnde Kleinkind habe wie ein Tier, vielleicht ein Hund, förmlich vier Füße, seine zwei Hände noch als Füße nutzend…das Kleinkind könnte also eher dem Tierischen zugerechnet werden ? (S. 191). Und der Greis hat dann, so von Düffel, mit seinem Krückstock – ein bißchen tierisch – ein drittes Bein, der alte Mensch nähert sich also am Ende des menschlich-tierischen Daseins wieder mehr dem Tierischen an. Nur der Erwachsene (der Gesunde ?) läuft auf „zwei Beinen wie kein Tier“ (S. 191)…Und wandert im Winter durch Ligurien…

10. Wo sind die Meditationen, die zu einem “Stundenbuch” gehören?
Das Stundenbuch, das John von Düffel vorlegt, ist insgesamt kein meditatives Buch, kein poetisches, schon gar nicht ein religiöses Stundenbuch. Es ist ein Buch der Lehre und der Weisungen, der Behauptungen und der Thesen …und eben auch – siehe oben – etlicher geistvoller Bonmots. Und das ist schon viel, wenn man als LeserIN durch diese Lehrtexte ins Denken und selbstverständlich dann auch ins Widersprechen kommt. Dazu anzuregen, ist ja Sache der Philosophien. Nur muss man aufpassen, dass nicht schnell wieder Dogmen verbreitet werden.

11. Auch Atheismus ist nichts als ein Glaube.
Und mindestens diese Erkenntnis ist kein Dogma, sondern eine Evidenz: Auch der Atheismus ist ein Glaube! Atheismus ist keine Wissenschaft oder gar der letzte Schrei der Philosophie. Aber bitte, das heißt nicht, dass der Autor dieses Hinweises ein klerikaler Verteidiger der (römischen) Kirche wäre. Ganz und gar nicht. Er meint nur. Es gibt vernünftige Traditionen und Mythen im Christentum und im Judentum, die es verdienen, vernünftig oder auch meditativ aktualisiert zu werden. Gerade bei dem Thema!! Und zumal in einem Buch, das sich als „Stundenbuch“ nennt.

John von Düffel, „Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch“. Dumont Verlag, Köln, 2022, 208 Seiten, Hardcover, 23 €.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

„Wir brauchen eine ökologische Klasse, die für die Rettung der Welt kämpft“.

Der Philosoph Bruno Latour und der Soziologe Nikolaj Schultz verfassen ein Memorandum zugunsten eines neuen, eines ökologischen Klassenkampfes.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine Buchempfehlung, für Menschen, die noch an eine Zukunft der Menschheit glauben. Also für alle, für die Vernunft noch eine Bedeutung hat!

1. Klassenkampf.

Jetzt also das letzte Buch des französischen Philosophen Bruno Latour, verfasst zusammen mit dem jungen dänischen Forscher Nikolaj Schulz. Und sicher ist es keine nur „theoretische“ Studie, sondern ein wegweisendes Buch, weil es praktische Vorschläge macht, die ökologische Katastrophe vielleicht doch noch „kämpferisch“ zu verhindern. Ein Memorandum eben, eine Denkschrift, die ins Handeln führen will. Ein Memorandum als Aufruf, gemeinsam, in einer neuen, breit aufgestellten ökologischen Bewegung politisch die Welt zu retten. Die Autoren verwenden den alten sozialistischen Begriff der Klasse, einer Klasse allerdings, die diesmal nicht aus Proletariern zusammengefügt ist, sondern aus allen Menschen „guten Willens“. Sie verbünden sich in einem alle Ideologien übergreifenden Klassenkampf zugunsten der Rettung dieser Welt.
Als Erinnerung: Für Bruno Latour gilt wahrlich das Prädikat „bedeutend“ oder „weltbekannt“. Latour, Autor zahlreicher Studien aus den weiten Fragen der Soziologie und Philosophie ist am 9. Oktober 2022 in Paris im Alter von 75 Jahren gestorben. Seine besondere Liebe galt immer der Philosophie, dies betonte er kürzlich noch ausdrücklich.

2. Die ERDE.

Latour und Schulz legen also ein Memorandum vor, einen dringenden Appel. Er besteht aus 76 Kurz-Texten und einem Nachwort, das Ganze überschaubar auf 90 Seiten dargestellt. Die Autoren schreiben von der noch möglichen Rettung der Erde. Um dem allen Nachdruck zu verleihen, erscheint ERDE im Buch immer in Großbuchstaben. ERDE: Das Wort erinnert an den spirituell wichtigen Begriff Gaia: Er spielt nicht nur in esoterischen Sondertraditionen eine Rolle, sondern auch für viele andere, die an eine gewisse Heiligkeit dieser den Menschen anvertrauten „Mutter Erde“ denken.

3. Einen neuen Sinn des Lebens entdecken.

Der Klassenkampf der vielen Menschen guten Willens muss die bisher übliche Fixierung auf Ökonomie, aufs Produzieren und auf das stetige Wachstum überwinden. Es geht also um eine andere Emanzipation, um das Wahrnehmen: Wir Menschen leben nicht nur VON der Erde, sondern wir vor allem IN der Erde, sind Teil der Erde. Diese Erkenntnis soll sich durchsetzen, was nicht einfach ist, das wissen Bruno Latour und Nikolaj Schultz. Aber die Verheißung dieser neuen Erkenntnis und der ihr folgenden Praxis, dem ökologischen Klassenkampf, heißt: Es wird ein neuer Sinn des Lebens für diese ökologischen Klassenkämpfer sichtbar, durchaus auch – so die Autoren – ein neuer Sinn der Geschichte.

4. Das Christentum muss sich inmitten des ökologischen Klassenkampfes neu definieren.

Für unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es von besonderer Bedeutung, dass die Autoren in Nr. 46 (Seite 56) auch von den Religionen bzw. speziell vom Christentum leider nur kurz sprechen. Latour und Schultz zeigen, dass die Ökologie jetzt der Gesamtrahmen des Weltverstehens ist. Alles Denken, Fragen, Forschen ist von ökologischen Themen „durchdrungen“. Das gilt auch für das Christentum, die Kirchen und die Christen. „Nun sehen sie in der Ökologie einen Appell, der ihre Dogmen erneuern könnte“, schreiben die Autoren (S. 56). Die alte Position der Herrschaft des Menschen (des Mannes) über die Natur, im Buch Genesis von Gott selbst vorgeschrieben, wird also hinfällig. Die Autoren nennen keine Details, sie sind aber überzeugt, dass die Kirchen und die Theologien „Faden für Faden“ bisheriger Stränge der Dogmen „ganz neu entwirren“ müssen (ebd.). Zu einem ökologischen Weltbild des Miteinanders passt ohnehin die Hierarchie gar nicht mehr. Hierarchisches Verhalten, wie in der römischen Kirche üblich, die ohne jeden Respekt für die Demokratie nach wie vor agiert, hat keine Zukunft mehr. Auch dagegen wendet sich der ökologische Klassenkampf.

Nebenbei: Bruno Latour war in seiner Jugend aktives Mitglied der politisch linken katholischen Studentenbewegung “Jeunesse étudiante chrétienne” und ein eifriger Leser der Werke Charles Péguys, Sozialist und Katholik (siehe dazu Le Monde, 11.oct. 2022, Seite 28 und 29).

5. Die „letzte Generation“.

Die Autoren sprechen nicht unmittelbar von der Bewegung der „letzten Generation“, sie schreiben aber in voller Sympathie für junge Menschen, die sich ganz dem ökologischen Klassenkampf verschrieben haben: „Die plötzliche Revolte der Jugendlichen, die sich von den Alten verraten fühlen, besteht darin, die Babyboomer (die einstigen Jugendlichen) als verwöhnte und unreife Teenies zu betrachten“ (S. 54). Oder noch einmal: Die jungen Menschen haben den Eindruck, „von den Alten verraten zu sein“. Sie finden sich als junge Menschen „im buchstäblichen Sinn ohne Zukunft wieder“ (ebd.).

6. Vom ökologischen Klassenkampf.

Manche gut bürgerlichen Leute werden sich an dem Begriff Klassenkampf stören. Aber ohne die Schärfe, die in diesem Begriff aus sozialistischen Zeiten aufscheint, hätten die beiden Autoren, alles andere als die „letzten Kommunisten“, die Radikalität der ökologischen Herausforderung nicht ausdrücken können. Es geht wirklich um ein neues Klassenbündnis, das Mitglieder der vielen bisherigen, „traditionellen“ Klassen neu vereint. Wozu denn eigentlich? Zum Kampf gegen die Ideologien der alten Welt, die von der Herrschaft der Produktion, des Wachstums und der Ungerechtigkeit bestimmt ist. Dabei wissen die Autoren, dass die alten, immer noch etablierten herrschenden Klassen „einen Höllenlärm veranstalten, den gesamten Medienraum in Beschlag nehmen“ (S. 59), um die neue ökologische Bewegung zu schädigen. Man denke jetzt, Ende November 2022, an die Polemik etablierter Kreise vor allem aus dem Lager der CDU, FDP und SPD gegen die Aktionen der Mitglieder der letzten Generation. Es muss noch die Hegemonie der ökologischen Klasse errungen werden, das wissen die Autoren des sehr lesenswerten Memorandums „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“.

7. Einige Merk-Sätze.

„Die ökologische Klasse ist also diejenige, die sich der Frage der Bewohnbarkeit der Erde annimmt“ (S. 31).

„Eigentum ist nicht das Eigentum der Menschen an der Welt, sondern das Eigentum einer Welt an den Menschen“ (S. 41).

„Wir Menschen sind die Natur, die sich verteidigt“ (S. 42).

„Man hat den fatalen Eindruck, dass der Kampf (der ökologische Kampf) noch gar nicht richtig begonnen hat“ (S. 59).

„Die einfachen. Leute haben immer schon als erste zum Widerstand gegriffen. Sie sind es, die mit voller Wucht die Folgen des (kapitalistischen)
Zerstörungssystems zu erleiden haben“ (S. 84).

„Es wäre so tröstlich, wenn Ökologie und Zivilisation gleichbedeutend sind“. (S. 92).

Bruno Latour, Nikolaj Schultz
Zur Entstehung einer ökologischen Klasse
Ein Memorandum
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag
Broschur, 93 Seiten, 14 euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Superyachten – Obszöne Kapitalisten.

Ein Buch über Milliardäre, die auf den Weltmeeren den Normen der Menschheit entgleiten.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Zur Einstimmung:
Es gibt ganz wenige Leute, die stellen sich allen Ernstes die Frage: Wie kann am besten aus den Duschen ihrer Superyacht außer Wasser auch Champagner sprudeln? Um dieses Problem kümmern sich spezielle Firmen, die ausgefallene Wünsche von Eigentümern der Luxusyachten gewöhnt sind. Die Fachleute für Luxus-Duschen fragen dann nur: Wie stark gekühlt oder wie warm soll denn der Champagner sein, mit dem sich die nackten Herren und Damen Milliardäre erfrischen wollen.
Davon berichtet der Soziologe Grégory Salle in seiner Studie „Superyachten“ auf Seite 24. (Suhrkamp Verlag 2022).

1.
Der Wahnsinn des Neoliberalismus, d.h. der Wahnsinn in der ungerechten Verteilung des Eigentums, ist ein philosophisches Thema. Über die These Proudhon „Eigentum ist Diebstahl“ wurde schon ein viel beachteter Beitrag auf dieser website publiziert. LINK.

2. Das Obszöne ist ethisch und deswegen politisch
Nun wird es noch spannender und von der Lektüre-Erfahrung durch viele Fakten anschaulicher und deswegen schockierender, aber auch fast unterhaltsamer, weil die Tatsachen an eine absurde, surreal wirkende Welt erinnern.
Das Thema ist die Gegenwart des Obszönen in unserer Welt. Das Obszöne ist, ästhetisch gesehen, das Ekelhafte, Abstoßende. Und zugleich für die klassische Moral vor allem das sexuell definierte Schamlose. Die bürgerliche Ethik war bisher so begrenzt und legte das Obszöne auf angebliche oder tatsächliche sexuelle Verfehlungen fest.
Nebenbei: Die heutige Fixierung auf die schamlosen sexuellen Übergriffe durch den Klerus ist zwar notwendig, aber sie lässt auch keine Zeit, sich mit dem Schamlosen des Kapitalismus, etwa mit dem Obszönen der Milliardäre, kritisch zu befassen.
Ein neues Buch sorgt dafür, das Obszöne in dieser Welt des totalen Kapitalismus wahrzunehmen.

3. Eintausend Quadratmeter Wohnfläche
Eine sachlich dokumentierende Recherche berichtet vom schamlosen, schon üblichen Verhalten unter Multi-Milliardären. Es geht nicht um deren sexuelles Vorlieben, es geht um deren SUPERYACHTEN. Diese sind obszöne Symbole des Exzesses einiger Milliardäre.

Superyachten müssen als Symbole gedeutet werden, als Symbole dafür, dass Exzesse, die sich kaum noch steigern lassen, das Lebensgefühl der Milliardäre sichtbar machen. Die eher noch bescheidene Superyacht „Octopus“ hat 235 Millionen Euro gekostet. (S. 35), eine Kleinigkeit für Multi-Milliardäre.
Superyachten – ein Phänomen also, das wahrscheinlich sehr vielen schon irgendwie aufgefallen ist, die sich an der Cote d Azur (speziell St-Tropez) oder in der Ägäis oder im spanischen Mittelmeer aufgehalten haben. Sie sahen Luxusyachten … oder auch vom Untergang bedrohte Kähne von Flüchtlingen aus Afrika. Auf den Luxusyachten von 75 bis 100 Meter Länge mit ca. 1000 Quadratmeter Wohnfläche auf mehreren Etagen wohnen ca. 30 Personen, davon 20 Angestellte in Kabinen, auf den Kähnen aus Afrika kauern manchmal 70-100 Menschen zusammen, alle in Gefahr, kurz vor dem Ertrinken. An eine Champagner-Dusche denken sie nicht. Die Luxusyachten steuern mit Selbstverständlichkeit Häfen an, wo die Luxusrestaurants die internationalen Gäste mit Freuden begrüßen und als alte Bekannte umarmen. Die Flüchtlinge, kurz vor dem Verdursten, sind froh, wenn sie von NGO – Schiffen gerettet werden, die auf der Suche sind nach einem Hafen. Aber am liebsten würden etwa die jetzt regierenden rechtsextremen Politiker Italiens diese „störenden Menschen“ wieder in die „schöne“ afrikanische Heimat zurückschicken…

4. Endlich: Beschlagnahmen!
Manchmal wird von dem eher hilflosen Versuch der westlichen Demokratien berichtet, nach dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine die Superyachten der russischen Milliardäre zu beschlagnahmen. Beschlagnahmen: Was für ein Wort für die biedere Öffentlichkeit: Die Beschlagnahme! Unerhört, dieses Wort, wo wir doch alle immer an das heilig verstandene Privateigentum glauben.
Der Krieg Putins hat zumindest den bescheidenen positiven Aspekt, dass nun über „Beschlagnahmung von Milliardärs-Eigentum“, also der Superyachten, öffentlich und zwar zustimmend die Rede ist. Welch ein Gewinn! Welch eine Chance, dadurch die Umrisse unserer Zeit als Epoche des finanziellen Exzesses zu verstehen. Die Plutokratie wird zwar fortbestehen, aber eben noch kritischer betrachtet als vorher. Beschlagnahmung also als gerechte Handlungsform eines demokratischen Staates, wenn er sich denn in dem Wirrwarr seiner eigenen Gesetze zum Thema Superyachten auskennt.. In der geistigen Nähe zu diesem Stichwort befindet sich bekanntlich das noch umstrittenere Wort „Enteignung“…Wird man darüber in absehbarer Zeit differenziert diskutieren können, ohne gleich von konservativen und sich FDP-liberal nennenden Herren – auch Herren der Kirche – als Kommunist verdammt zu werden?

5. KAPITALOZÄN
Der französische Soziologe Grégory Selle hat jetzt eine gut lesebare und sehr gut dokumentierte Recherche zu den Luxusyachten von Milliardären vorgelegt, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16 Euro. Das Buch verdient viel Aufmerksamkeit vieler Leser. Der Untertitel deutet den Wandel an in der Deutung der globalen Weltstruktur: Grégory Salle spricht von „Kapitalozän“, anstelle des üblichen Begriffs „Anthropozän“: „Luxus und Stille im Kapitalozän“ ist also der Untertitel dieses Buches, das man durchaus eine politische, ökonomische Variante eines authentischen Kriminalromans nennen könnte. Luxus und Stille – ein merkwürdiger Untertitel: Gibt’s diesen Luxus „Superyachten“ vielleicht nur, weil es um ihn bisher in der Öffentlichkeit so viel Stille herrschte, weil die Öffentlichkeit sich um diesen Wahn der Superyachten nicht kümmerte?

6. Grenzenlose Freiheit
Das Buch handelt also von notorischen (nicht nur russischen) Kleptokraten, die ihre Milliarden gern in letztlich bescheidene Multi-Millionen-Objekte investieren, wie eben die Luxusachten mit den hübschen Namen „Graceful“ oder „Scherzende“. Der Vorteil dieser Millionen-Fahrzeuge für ihre Eigentümer: Mit einer Luxusyacht ist man auf den Meeren überall und nirgendwo zuhause, man lebt förmlich außerhalb überschaubarer nationaler Gesetze, kann Steuern enorm sparen, Geldwäsche betreiben, kann zusätzlich Geld machen, wenn man denn die Yacht später teuer vermietet. Und man hat nette gleichgesinnte Milliardärs-Menschen um sich, wenn man sich auf Messen trifft, wie im Amsterdamer „Global Superyacht Forum“.

7. Milliardäre als Zerstörer der Umwelt
Mit einer Luxusyacht kann man ungestraft auch viele gravierende Umweltschäden anrichten, die Natur im Meer zerstören und die Klimakatastrophe beschleunige. Aber das ist den Herrenmenschen, den Plutokraten, völlig egal, dass sie mehr als 20 Liter Treibstoff für ihre Superyachten pro Kilometer verbrauchen, ist ihnen völlig schnuppe. Ihre Öko-Verbrechen werden nicht untersucht und bestraft.

8. Verantwortungslos
Das Buch Superyachten mag zunächst wie ein bizarres Sonderthema erscheinen in der so drängenden Frage nach extremem Reichtum und extremer Armut in dieser neoliberalen globalisierten Welt. Aber die Superyachten sind ein Symbol für die obszöne Mentalität der totalen Verantwortungslosigkeit, der Gier nach „immer mehr“, der ungebremsten egoistischen Haltung der Milliardäre (man lese, wie diese Herrenmenschen mit den Untergebenen umgehen).
Es ist ein Buch, das zu der philosophischen Einschätzung führt: Diese Welt der Eigentümer der Superyachten ist eine nihilistische, von Sinnlosigkeit zersetzte und zerfressene Welt einiger Herrenmenschen. Ihnen steht die demokratische Welt leider bis jetzt weitgehend hilflos gegenüber.

8.
Das Buch „Superyachten“ ist auch ein denkwürdiges Weihnachtsgeschenk.

9. Über die Angestellten auf den Superyachten:
„Das wenige, was durchsickert, entlarvt die Kehrseite dieser Traumwelt: Disziplin, Sonderregelungen bei Arbeitszeiten, strikte Folgsamkeit, beengte Unterbringung in winzigen Kabinen und ein eng getakteter Arbeitsrhythmus, um ständige Verfügbarkeit zu gewährleisten. Und das lächelnd, selbst bei den abstrusesten Aufgaben. In der Karibik verlangte eine Frau einmal auf der Stelle 1000
weiße Rosen, um die Superyacht ihres Ehemanns zu schmücken. Das Personal ließ die Blumen von Miami mit dem Hubschrauber einfliegen“. (S. 60).

Was eine humane Menschheit mit den Ausgaben für die Superyachten machen könnte? 
„In einem Artikel vom Mai 2018 wies der Journalist Rupert Neate darauf hin, dass die kumulierten jährlichen Ausgaben für die ungefähr 6000 in Betrieb befindlichen Superyachten die gesamten Schulden der sogenannten »Entwicklungsländer« tilgen könnten“. (S. 54).

Grégory Salle, „Superyachten. Luxus und Stille im Kapitalozän“, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16€. Übersetzt von Ulrike Bischoff.

Grégory Salle ist Soziologe und Politikwissenschaftler.
Er ist Research Fellow am Centre national de la re-cherche scientifique.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jesus kommt jetzt nach Rom: Neues vom “Großinquisitor”.

Im November 2022 ist das Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen (Rowohlt Verlag Berlin) erschienen.  Im November 2021 wurde vielfach an den 200. Geburtstag von Fjodor Dostojewski erinnert.
Anlass genug, der Spur Dostojewskis im Roman „Die Brüder Karamasow“ zu folgen und jetzt aktuell an die Wiederkehr Jesu Christi in Rom 2021 zu erinnern. Dabei folge ich dicht der Erzählstruktur Dostojewskis.

Von Christian Modehn am 18.11.2022.

Der Beitrag hat vier Teile:
1. Jesus in Rom heute.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

1. Jesus in Rom heute

Iwan erzählt im Jahr 2021 seinem Bruder Aljoscha Karamasow sein neues Poem. Wie schon in Dostojewskis Roman aus dem Jahr 1879 ist Iwan der Religionskritiker, Aljoscha der Fromme in der Familie. Aljoscha ist so erstaunt über die Einsichten seines Bruders, dass er diesmal nur selten wagt nachzufragen.  Iwan also erzählt:
„Jesus Christus ist kürzlich in den trostlosen Vorstädten Roms aufgetaucht. Im Viertel Corviale geht er den Hochhäusern entlang, betritt dunkle, schmutzige Hausflure, spricht mit den Alten, den Frauen mit ihren vielen Kindern. Geld hat er nicht, aber er spürt die göttliche Vollmacht, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen. Darum sammelt er schließlich die Menschen auf einem Platz. Sie erkennen ihn an seiner sanften Sprache, fühlen sich von ihm ernst genommen und verstanden, sie sind erstaunt, wie er, Jesus Christus, die Obdachlosen umarmt, den Flüchtlingen hilft, Zelte zu bauen.

Mit sanfter, aber eindringlicher Stimme fordert Jesus Christus diese Menschen auf, sich gut vorzubereiten, loszuziehen und dann die Paläste im Vatikan zu besetzen. Die Kardinäle sollen aus ihren luxuriösen Wohnungen vertrieben werden. „Vielleicht finden sie als die Nachfolger der armen Apostel Petrus und Paulus bei euch dann eine Bleibe“. Jesus Christus lächelt, nicht ohne Ironie.. Dann fährt er sehr bestimmt fort: „Die berüchtigten Finanzjongleure in der Vatikanbank werden dann zu Altenpflegern umgeschult. Und die vielen hundert Priester und Prälaten in den päpstlichen Behörden werden zu Lehrern ausgebildet für die römischen Vorstädte“. Schließlich fordert er die Flüchtlinge und Obdachlosen auf, mindestens zehn Kirchen und fast leerstehende Klöster in der Innenstadt zu besetzen. „Die stehen ja an jeder Ecke und sind fast nur noch Museen“, sagt Jesus. „Dabei sind Gotteshäuser immer Häuser für die Menschen, die Ausgegrenzten zumal“. Die Leute sollen also, fordert er, die Bänke wegschaffen und Notunterkünfte einrichten. „Für die Besichtigung der Kunstwerke in euren besetzten Kirchen könnt ihr Eintritt verlangen, dann ist für Speis und Trank gesorgt“..

„Jesus Christus weilt in der heiligen Stadt Rom“, das haben die Lokalreporter inzwischen längst dem Vatikan gemeldet. Die Bischöfe und Prälaten in den riesigen Renaissance- und Barock – Gemäuern der kirchlichen Verwaltung sind entsetzt über diese Wiederkunft Jesu Christi in Rom. „Der stört uns doch, der raubt uns die Zeit“, lautet die einhellige Meinung. „Hatte nicht der Großinquisitor in Dostojewskis Erzählung bereits Jesus verboten, sich jemals wieder auf diesem christlichen Boden und dieser kirchlichen Welt zu zeigen?“, fragt ein etwas literarisch gebildeter Substitut der Glaubenskongregation. Er blickt mit müden Augen von einem Papierstapel auf, das sich mit einer erneuten Verurteilung des Frauenpriestertums befasst. Und dabei auch noch den Pflichtzölibat der Priester verteidigen muss.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

Mit Hilfe der Mafia sorgen schließlich emsige Beamte der Vatikanbank dafür, Jesus Christus sehr diskret aus der erbärmlichen Vorstadt Roms zu entführen und direkt in den Vatikan zu bringen. Einer der vatikanischen Finanzjongleure hat eine Idee: „Bringt den Kerl bloß nicht in unsere Bank, er soll ins nahe gelegene Gebäude des Heiligen Offiziums, einst die Inquisitionsbehörde, verfrachtet werden“.
Ein obligater SUV der Mafia bringt also Jesus Christus, in einer Jeanshose gekleidet und mit einem Wollpullover, wohlbehalten ins „Heilige Offizium“.  „Am besten gleich ins Büro“ heißt die Devise, in das Büro, in dem Kardinal Ratzinger als Behördenchef und Grossinquisitor viele Jahre wirkte. Aber wie es der Zufall will, schaut Ratzinger, nun als Ex-Papst Benedikt XVI., mal wieder in seiner Behörde nach dem Rechten.

So stehen sich also plötzlich Benedikt XVI. und Jesus Christus gegenüber. Beide schweigen lange Zeit. Und Jesus blickt dann voller Tränen auf den Ex-Papst. „Warum weinen Sie, Herr Jesus“, fragt Ratzinger. Jesus winkt nur ab und flüstert nach einer Weile dem greisen Ratzinger ins Ohr: „Was habt Ihr nur aus meiner so einfachen, so menschenfreundlichen Botschaft gemacht“. EX-Papst Benedikt läuft rot an vor Wut, der Farbe seiner feinen Schuhe übertreffend: „Mit ihrer humanen friedlichen Lehre kommen wir nicht weiter, ihre Bergpredigt taugt nichts im Alltag von Staaten und Kirchen! Sie sind ein naiver Idealist, mein Herr und mein Gott“, schnaubt Benedikt mit letzter Kraft. „Wir als Kirche haben inzwischen unsere eigene Religion geschaffen, wir nennen uns nur noch christlich oder katholisch. Wir haben mit Jesus von Nazareth nichts gemein. Wir wollen nur herrschen, befehlen, verlangen Gehorsam, nicht Glauben“.
Der greise EX Papst Benedikt Ratzinger, der hoch gelobte Theologe dieser Religion, die sich nur noch christlich nennt, greift zum Schreibtisch und übergibt dem leibhaftigen Jesus Christus seine drei dicken Bücher über keinen geringen als …Jesus Christus. „Lesen Sie das“, mahnt der Ex-Papst eindringlich. Aber Jesus Christus greift nach den Druckerzeugnissen und schleudert sie auf den Boden. Eine große goldumrandete Vase aus dem 16. Jahrhundert geht dabei zu Bruch, und ein inzwischen fast blinder Spiegel aus dem Neapel des 17. Jahrhunderts beginnt zu wackeln.

Im Spiegel aber erkennt Jesus Christus, dass Papst Franziskus das Büro des Glaubenshüters betreten hat. Jesus und Papst Franziskus sehen sich schweigend an. Viele Minuten stehen sie einander gegenüber, schauen nicht um sich, blicken sich nur in die Augen. Dann berühren sie einander sanft, streicheln sich am Arm, etwas verlegen auch auf den Wangen. Und Jesus Christus entdeckt, dass Papst Franziskus seine Tränen nicht mehr unterdrücken kann. „Ich bin gescheitert in dieser Welt, in dieser Kirche der verfälschten Religion“, flüstert Papst Franziskus Jesus Christus ins Ohr. „Diese Kirche ist jetzt am Ende, der sexuelle Missbrauch durch Priester hat die Kirche definitiv ruiniert. Es ist aus. Meine Meinung: Die Leute sollen einander lieben und Gott ehren, das ist alles. Aber die Beamten, die Priester, wollen, dass der Betrieb weiterläuft“. Jesus Christus schweigt, aber er nickt mehrmals. Zustimmend.
 Der greise Ex-Papst Benedikt wird ungeduldig und betrachtet von der Seite die beiden. Mit der letzten Energie des obersten Glaubenshüters schreit er: „Jetzt reicht es mir mit euch beiden“.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

An der Stelle der Erzählung wagt es Aljoscha, seinen Bruder zu fragen: „Und wie geht es dann weiter?“ „Du weißt“, sagt Iwan, “dass ich dem Katholizismus und dem ganzen institutionellen religiösen Apparaten kritisch gegenüber stehe. Aber ein bisschen schwer fällt es mir doch, dir als einer frommen Seele das Ende zu erzählen“. „Sag es, bitte“, fleht Aljoscha. „Nun ja, eine geheime Tapetentür hinter dem Rücken des Ex-Papstes Benedikt öffnete sich und … wie von von einem Scharfschützen, aber im Priestergewand, werden beide erschossen, Jesus Christus und Papst Franziskus. Und der Ex-Papst Benedikt? Der hat vor Schrecken einen tödlichen Herzinfarkt bekommen. Die geheime Tür in der Inquisitionsbehörde schloss sich wieder ganz schnell, und das alles geschah sehr diskret, wie üblich, fast wie eingeübt“.
Nach einer Weile sagte Aljoscha kaum vernehmbar: „Und diesen Bericht hast du, Iwan, dir ausgedacht? Oder war es gar ein Traum“?  „Es war gewiss ein Traum, aber ein Traum enthält die Wahrheit.

Aber das Ende habe ich dir noch nicht erzählt: Die drei Leichen waren nämlich ganz schnell aus der Glaubensbehörde herausgeschafft worden, von wem und wohin, das weiß niemand“.
„Und nun?“, fragte Aljoscha. „Alles geht im Vatikan und in Rom wieder seinen üblichen Gang, Nachfragen und Nachforschungen werden nach alter klerikaler Manier unterdrückt“, antwortete Iwan. „Ein paar Arme aus der Vorstadt hatten inzwischen eine Kirche und ein Kloster tatsächlich besetzt, sie wurden aber schnell vom Klerus vertrieben und kehrten in ihr Elend zurück. Alles geht alles im üblichen Ritus weiter, die nächste Papstwahl steht bevor“.
 Und dann sagte Iwan noch sehr bestimmt: „Diese Geschichte kann sich auch in anderen Kirchen, in Genf, in Moskau, in Nigeria, in Washington ereignen.
Und du, Aljoscha, solltest deinen FreundInnen sagen: Denkt euch selbst eine andere Fortsetzung des „Großinquisitors von Dostojewski“: Was geschieht, wenn Jesus Christus plötzlich in unseren Städten herumläuft? Vielleicht ist er auch längst da, und wir sehen ihn nicht, weil wir kirchlich verblendet sind. Und vergessen wir nicht: Dostojewski schrieb die Geschichte vom Großinqisitor als Kritik am römischen Katholizismus.

Heute würde Dostojewski sicher die offizielle russisch-orthodoxe Kirche, vor allem diesen Patriarchen Kyrill als Kriegstreiber dieser Putin-Kirche verurteilen. Auch das sagte Iwan noch, seine Stimme vor Schmerz kaum noch zu hören….Auch Atheisten leiden unter den Verbrechen der Kirchenführer, dachte Aljoscha.

 

 

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

In Fjodor Dostojewskis umfangreichem Roman „Die Brüder Karamasow“ (verfasst 1879-188o) enthält das „Fünfte Buch“ ein Kapitel mit dem Titel „Der Großinquisitor“. Es umfasst in der Neuübersetzung von Swetlana Geier (Fischer-Taschenbuch, 2013) nur 30 Seiten. Das Kapitel erscheint wie eine in sich geschlossene Erzählung:

Iwan, der Atheist, erzählt seinem frommen Bruder Aljoscha, sein „Poem“, wie er sagt. „Glühend vor Eifer habe ich es mir ausgedacht…Mein Poem heißt der Großinquisitor – es ist absurd, aber ich möchte es dir gern erzählen“ (S. 397.)
 Während der Herrschaft der katholischen Inquisition im 16. Jahrhundert erscheint plötzlich und unerwartet Jesus Christus inmitten der Stadt Sevilla. Er wird von den Menschen erkannt, einige bitten um seine heilende Wunderkraft. Der greise Großinquisitor, ein Kardinal, darüber empört, befiehlt, Jesus Christus zu verhaften. Das gläubige Volk protestiert nicht dagegen, es ist dem Kardinal ergeben.
 Jesus Christus wird in einem Verlies untergebracht. Der Großinquisitor besucht nachts den verhafteten Heiland, er wirft ihm vor, überhaupt kein Recht zu haben, hier wieder aufzutreten und so wörtlich, „die Ruhe zu stören“.

Für den Großinquisitor ist Jesus Christus ein Ketzer, den er am nächsten Morgen dem Feuertod übergeben will. In seinem Monolog kritisiert der Kardinal die Auffassung Jesu von der Freiheit eines jeden Menschen…Nur durch die strengen Weisungen der Kirchenführer könnten die Menschen von ihrer individuellen Freiheit befreit werden und zu Untertanen werden.
Die Kirchenfürsten haben also im Laufe der Kirchengeschichte Jesu Lehre von der Freiheit und der Gewissensfreiheit korrigiert bzw. „verbessert“ und so die Menschen zu ihrem Glück gezwungen, und das heißt: Sie folgen nun den kirchlichen Weisungen als unfreie, aber in kirchlicher Sicht glückliche Menschen.
Der Großinquisitor geht so weit, sich zum Antichristen zu bekennen: „Wir sind nicht mit Dir im Bunde, sondern mit ihm, (dem Antichristen), das ist unser Geheimnis!“ Die Kirche folgt also dem Antichristen! Dies ist für die Kirchenführer eine Tatsache, die sie nicht öffentlich preisgeben, selbst wenn sie unter diesem geheim gehaltenen Verrat an der Lehre Jesu leiden.
Der Großinquisitor erwartet eine Antwort Jesu. Er hat während des ganzen Monologs geschwiegen.

Dann aber – ganz überraschend – küsst Jesus Christus den greisen Inquisitor…und der öffnet die Gefängnistür und sagt: „Geh, und komme nicht wieder niemals, niemals. Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Plätze der Stadt. Der Gefangene geht.“ (S. 424).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wir philosophieren immer schon: Ideen zum Welttag der Philosophie am 17.11.2022.

Von Christian Modehn und Hartmut Wiebus.

Zum “Welttag der Philosophie” am 17.11.2022.

1. Nur einen Tag lang Philosophieren? Das kann doch nicht der Sinn des „Welttages der Philosophie“ sein. Am 17. November 2022 wird dieser Welttag, auf Vorschlag der UNESCO, wieder einmal – ja was denn – „begangen“? „Gestaltet“? Gefeiert“? Vergessen? Ignoriert, weil es angeblich Wichtigeres gibt?

Der „Welttag der Philosophie“ hat nur den Sinn, daran zu erinnern, dass Menschen „immer schon“ in ihrem Leben philosophieren. Philosophieren ist also nur ein anderer Name für geistiges, vernünftiges Leben.
Was heißt: Philosophieren geschieht „immer schon“?
Zum Beispiel in jeder Entscheidung, die in einer Alternative geschieht, inmitten der Frage: Für welche Möglichkeit entscheide ich mich… Da kommen meine eigenen, meist unbewussten Werte, „immer schon gelebt“, und Normen zur Geltung.

2. Philosophie geschieht also als Philosophieren, als der Praxis des Denkens, des Nachdenkens, des Vorausdenkens, des kritischen Urteilens. Und Philosophieren findet immer im Gespräch statt, das beginnt schon beim inneren Selbst-Gespräch in meinem Denken (siehe Reflexion auf Alternativen) und … vor allem wichtig: im Dialog mit anderen. Dialog kann philosophisch oft zum Streitgespräch werden, und das ist gut so. Streiten ist das Ringen um eine tiefere Erkenntnis, auch um eine solche, die unbedingt gilt? Wir denken: Ja, darum geht es. Deswegen sind wir auch von Kant inspiriert. Stichwort: Kategorischer Imperativ!

3. Wir haben von 2007 bis 2020 philosophische Salonabende gestaltet, meistens monatlich, auch Ausflüge und Feiern, alles Versuche, das kritische Denken miteinander zu pflegen, auch und gerade zu explizit religiösen Fragen. Und angesichts der hoffnungslos erstarrten kirchlichen (katholischen) Institutionen wollten wir einen Weg weisen in eine eigene religiöse, spirituelle Haltung, die vor der Vernunftkritik bestehen kann. Auch zum Welttag der Philosophie hatten wir früher größere Veranstaltungen organisiert… das war einmal … aber dies nur ganz nebenbei gesagt.

4. Philosophie ist prinzipiell alles andere als eine schwierige Wissenschaft, wie etwa die Mathematik.
Nur sind leider viele philosophische Texte von Philosophen oft schwer verständlich, schwer „zugänglich“. Liegt das immer an der Schwierigkeit der behandelten Themen? Sicher auch! Manchmal aber auch an dem Ehrgeiz der Herren und Damen Philosophie-Professoren, die tatsächlich leider heute im ganzen der weiten wissenschaftlichen Welt eine Nebenrolle spielen. In diese Nebenrolle haben sie sich oft selbst manövriert – auch wegen ihrer eigenen schwierigen Texte, die dann ein „Alleinstellungsmerkmal“ DER Philosophie ausdrücken sollen. Heidegger war wohl von dieser Idee fixiert, etwas „ganz Besonderes“ liefern zu müssen. Und dann ereignete sich ihm das Sein und nur drei Leute verstanden ihn, die anderen staunten…

Ein anderes Beispiel: Der nun wirklich weltbekannte französische Philosoph Bruno Latour (1947 -2022) schätzte die Philosophie über alles, wie er mehrfach betonte (vgl. “Le Monde”, 11. Oktober 2022, S. 29). Er sagte als sein Bekenntnis: “Die Philosophie, sie ist so schön” (ebd.).” Die Philosophie  – und die Philosophen wissen das – ist diese erstaunliche Form, die sich für das Ganze, die Totalität interessiert. Und die diese  Totalität niemals erreicht, weil dieses Ziel gar nicht zu erreichen (zu wissen) ist, sondern (nur) zu lieben ist. Die Liebe, das ist das Wort, das Motto, der Philosophie” (ebd. Seite 29, Übersetzung C.M.) Latour arbeite gern im Team, er schätzte die empirische Untersuchung, die Soziologie…Siehe etwa sein letztes wichtiges Buch “Zur Entstehung einer ökologischen Klasse”, gemeinsam mit dem jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz, Suhrkamp, 2022, LINK.

5. Aber philosophische Texte sind auch literarische Texte, philosophische „Texte“ sind auch Kunstwerke, auch Kompositionen der Musik, auch Landschaften, auch Gesichter, auch Fotos, auch Eindrücke von dem grausigen Kriegsgeschehen: Überall ist Philosophie, man muss nur mit der entsprechenden Haltung des Nachdenkens und vor allem des Fragens diese Welten betrachten. Und dann passiert etwas im Neu-Verstehen der Welt, und … das Leben wird nicht immer leichter beim Verlust von Naivität. Zum Philosophieren gehört Mut. „Wage es…“ sagt Kant.

6. Philosophieren als Praxis der Philosophie wird dann zur Lebenshaltung, manchmal sogar zur Lebenshilfe. Dies ist eine Einschätzung, die Philosophieprofessoren in ihrem
abgeschotteten Uni-Dasein oft ablehnen. Dass heute in der Häufung der Krisen der Welt die PhilosophInnen meistens schweigen – zu den Krisen – hängt sicher damit zusammen: Diese Herren und Damen zieren sich, kritische und warum auch nicht vorläufige Hilfen im Leben vorzuschlagen.
Aber wenn kritisches eigenes Nachdenken nicht mehr hilft inmitten des Lebens, was hilft dann noch? Doch wohl nicht ein religiöser Fundamentalismus, der sich wie eine Pest heute ausbreitet in allen großen Religionen als Institutionen!

7. Damit wird eine enge, niemals aufzulösende Verbindung des einzelnen Philosophierenden bzw. der philosophischen Gruppen mit der realen politischen Situation deutlich: Philosophieren heute ist niemals eine kulturelle Idylle für “Schöngeister”.

Philosophieren konfrontiert jeden und jede mit den universal geltenden Menschenrechten, mit der Aufforderung, für die Herrschaft der Menschenrechte einzutreten. Und Politikern, die in unseren Demokratien Blabla reden oder taktisch zögern im Eintreten für die Menschenrechte, etwa zugunsten des Widerstandes gegen die Herrscher im Iran, in aller Schärfe und Ablehnung zu begegnen.  Zu den Menschenrechten gehört heute die Klimagerechtigkeit wie auch der Kampf gegen totalitäre Systeme.

Wer sich im Denken für die Welt des Politischen öffnet d.h. logischerweise öffnen muss, wer also für die Menschenrechte eintritt, erlebt erst die ganze Fülle und Tiefe philosophischen Denkens. Die Philosophierenden werden sich im Denken schützen können, um in dieser Situation nicht zu verzweifeln. Hoffen war ja eines der großen Themen Immanuel Kants. Er fand Überlebens-Hoffnung auch in einer vernünftigen (selbstverständlich nicht in einer konfessionell- klerikal begrenzten) Kirche bzw. Religion. Man lese Kants wichtige Schrift  “Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. LINK.

8. Die Bedeutung der Philosophie bzw. der Philosophen in der Gegenwart wird selbstverständlich in großer Vielfalt beurteilt. Wer philosophierend lebt, fragend und suchend und zweifelnd und gerade inmitten des Zweifelns am Zweifeln zweifelnd und so neue Gewissheit gewinnend, wird seine persönliche Antwort geben: Was ist Philosophie?
Allerdings: Kann „meine Philosophie“ nur „meine“ sein ? Oder sollte ich mich öffnen den Einsichten anderer …um dann zu einer neuen Gestalt „meiner“ Philosophien zu gelangen.

Michel Foucault (1926-1984), um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Begrenztheit der klassischen Philosophie als System, als Idealismus, als Lehre von „der“ Wahrheit überwinden wollen. Er verstand sich als Historiker, Soziologe, Schriftsteller und eben auch als Philosoph, aber dann mit einer merkwürdigen Definition seiner Philosophie. In seinem Buch „Von der Subversion des Wissens“ ( Frankfurt, 1987) heißt es: „Ein Typ philosophischer Tätigkeiten besteht darin, dass man die Gegenwart einer Kultur diagnostiziert. Dies scheint mir die wahre Funktion zu sein, die den Individuen, welche wir Philosophen nennen, zukommen kann“ (S. 27).

Um Diagnose also geht es Foucault in seiner Philosophie. Aber Diagnose ist Beschreibung eines Zustandes, der, etwa in der Medizin, als Krankheit, als Übel bestimmt werden kann. Und Krankheit als Krankheit erkennen, ist wieder eine normative Leistung, die Gesundheit als Ziel vor Augen. Wendet sich Philosophie also der kranken Kultur diagnostisch zu, dann hat sie immer auch und immer schon eine normative Idee vor Augen. Davon sprach Michel Foucault nicht. In dem genannten Buch sagt er mit Blick auf Nietzsche: „Die Philosophie hat die Aufgabe des Diagnostizierens, sie sucht nicht mehr eine Wahrheit, die für alle zu allen Zeiten gültig ist“ (S. 12). Damit lehnt Foucault eine universelle Wahrheit ab, für Kant und die Seinen schon ein Problem. Und sie würden fragen: Ist universelle Wahrheit aber doch implizit gemeint, wenn Foucault wirklich Diagnose meint, die einen Befund von Krankheit, Übel etc. ALS solchen erkennt. Verschiedene Völker verschiedener Zeiten werden konkrete Krankheiten je anders diagnostizieren und in ihrer Qualität bewerten, aber sie werden immer Krankheit als etwas zu Überwindendes verstehen und darstellen.

Damit will ich nur darauf hinweisen, wie schwierig es ist, sich philosophisch mit der Frage zu befassen: Was ist meine Philosophie, wo hat sie ihre Grenzen, wo sind ihre selbstgewählten, aber noch unreflektierten Einschränkungen. Philosophieren ist also das lebendige Leben inmitten aller Zweifel und Widersprüche. Anders „geht“ geistiges Leben nicht. Nur Fundamentalisten predigen das Gegenteil.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. www.religionsphilosophischer-salon.de

Link zum Welttag der Philosophie 2022: LINK
Link zu den Veranstaltungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons von 2009 bis 2020. LINK

Julian Barnes Bekenntnisse: Propaganda für den Polytheismus und das Heidentum.

Der neue Roman von Julian Barnes „Elizabeth Finch“
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine neue religionsphilosophische und theologische Debatte steht bevor: Die Diskussionen werden sich – wie manchmal schon zuvor – mit dem Rühmen des Polytheismus (Heidentum) befassen und der schon üblichen Verurteilung „des“ Monotheismus, also auch der christlichen Kirchen.

1.
Julian Barnes, weltweit bekannter englischer Autor und Essayist, hat einen neuen Roman publiziert: “Elizabeth Finch“ ist der Titel. Auf Französisch liegt der Roman schon seit dem 1. September. Deswegen hat „Le Monde“ Barnes in London besucht, einen langen Artikel veröffentlicht mit wichtigen Zitaten von Barnes (veröffentlicht am 26. August 2022, S. 12, in der Beilage „Le Monde des Livres“.) Der Roman “Elisabeth Finch” von Julian Barnes liegt nun (Mitte November 2022) auch auf Deutsch vor.

2.
Barnes zeigt sich in dem Beitrag als leidenschaftlicher Verteidiger des Polytheismus, für ihn identisch mit dem Heidentum. Und konsequenterweise als leidenschaftlicher Gegner „des“ Monotheismus. Das Christentum erwähnt er ausdrücklich, er denkt aber wohl auch an die beiden anderen monotheistischen Religionen, das Judentum und das Islam. Aber es ist wohl auch die Verachtung der gegenwärtigen Kirchen (auch der Kirche in England), die ihn zur Verurteilung des Monotheismus motiviert.

3.
Im Roman ist die Protagonistin, Elizabeth Finch, eine Kulturwissenschaftlerin, eine explizite Verehrerin des römischen Kaisers Julian Apostata: Er wandte sich als Christ wieder dem alten römischen und griechischen Glauben des Polytheismus bzw. dem Heidentum zu und wollte die sich herausbildende Vormachtstellung des Christentums zurückdrängen. Er lebte von 331 bis 363, als Kaiser regierte er von 360 bis 363, er starb am Tigris, damals im persischen Reich, im Kampf gegen das Sassanidenreich.
Die Begeisterung der Professorin Finch für den „abtrünnigen“ („Apostat“) Kaiser Julian wird von ihrem Schüler Neil erzählt. Er erinnert sich, wie Elizabeth Finch davon öffentlich sprach, wie der Monotheismus (gemeint ist das Christentum) eine Katastrophe für die Menschheit war, wie der Monotheismus als „Herrschaft und Korruption zur Auszehrung des europäischen Geistes führte“. Auch dies: Dass Julian Apostata moralisch viel höher stand als die ganze Reihe der Päpste. Und dass mit dem Ende des Heidentums, mit seinem Propagandisten Kaiser Julian, die Lebensfreude aus Europa verschwand…

4.
Sehr verwunderlich ist, dass Julian Barnes in dem Interview mit „Le Monde“ selbst sehr heftig Partei ergreift für den Polytheismus und das Heidentum. Zu Beginn gesteht Barnes: „Ich bin überhaupt nicht religiös, alle Religionen sind Fiktionen. Aber ich glaube, unter allen Religionen sind diejenigen, die sich auf den Polytheismus gründen, am besten erfolgreich“. Kaiser Julian Apostat habe mit seiner Toleranz gegenüber allen bestehenden, also heidnischen Religionen, so wörtlich, einen „Supermarkt der Religionen“ erfunden. Das findet Barnes gut, deutet das als Toleranz, laut „Le Monde“.
Das ist der Gipfel der Phantasie: Wenn Kaiser Julian Apostata länger gelebt hätte, dann hätte unsere Welt eine andere, eine bessere Richtung genommen. Julian hätte dann, so der Wunsch des Autors Barnes, das Christentum marginalisiert. Christliche Priester hätten nur noch „eine bescheidene Rolle gespielt neben den Heiden und Druiden, den Anbetern der Bäume usw.“ Dann „träumt“ (so wörtlich) sich der weltbekannte Autor Barnes laut „Le Monde“ in eine heidnische Welt, in der es dann aufgrund der angeblichen Toleranz des Heidentums keine Kriege gegeben hätte, eine bessere Förderung der Wissenschaft ebenso, behauptet Barnes. Und vor allem hätten die Menschen in einer Hoffnung gelebt, die sich ganz ausschließlich aufs irdische Dasein bezieht und nicht, so wörtlich, dem „absurden himmlischen Disneyland im Jenseits nach dem Tod“ geglaubt.
Julian Barnes erinnert sich in dem Gespräch mit Le Monde an die Romanschriftstellerin Anita Brookner (1928-2016), sie hätte so hübsch gesagt: „Monotheismus. Monomanie. Monogamie. Monotonie: Nichts Gutes im menschlichen Zusammenhang beginnt mit der Vorsilbe MONO“.

5.
Die Auseinandersetzung mit diesen Lobeshymnen auf Kaiser Julian Apostata und die angeblich enormen menschlichen und wissenschaftlichen Vorzüge des Heidentums, des Polytheismus, muss ausführlich geführt werden.
Es ist bekannt, dass der Polytheismus auch in philosophischen Kreisen ein gutes Ansehen genießt, man denke an an den Philosophen Odo Marquard, der 1978 einen vielbeachteten Vortrag hielt „Lob des Polytheismus“ (in: „Abschied vom Prinzipiellen“, Reclam, 1981, S. 91 -116). Man denke an die Vordenker der „Neuen Rechten“, etwa an den Franzosen Alain de Benoît, der auf Deutsch 1982 sein Buch „Heidesein. Zu einem neuen Anfang. Eine europäische Glaubensperspektive“ veröffentlichte (Graber Verlag in Tübingen). Zuvor war schon in dem genannten Verlag der Sammelband „Das unvergängliche Erbe“ erschienen, mit dem bezeichnenden Untertitel „Alternativen zum Prinzip der Gleichheit“ (herausgegeben von Pierre Krebs). Damit wurde schon im Untertitel angedeutet: Der zu überwindende Monotheismus, etwa das Christentum, setze stark auf das Prinzip der prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Und das wollen die genannten Herren rund um Alain de Botton nun gar nicht. Antisemitismus und Heidentum/Polytheismus gehören oft zusammen…

6.
Auch das gilt: Der Monotheismus kann selbstverständlich nicht pauschal verteidigt werden. Monotheistisch-fromme Menschen, etwa Christen, Theologen, Päpste usw .haben im Laufe der Kirchengeschichte ihre Haltung bewiesen: „Wir besitzen die absolute Wahrheit, und wir drängen diese unsere absolute Wahrheit allen anderen auf, durch Kolonialismus, Mission, Bekehrung“. Da hat sich also die Überzeugung durchgesetzt, subjektiv etwas Wahres erkannt zu haben, total auf objektive Welt, in die Gesellschaft, die Staaten übertragen. Und die Kirchen als Institutionen haben die nur für den einzelnen Menschen privat mögliche absolute Wahrheit ins Objektive, ins Allgemeine, als allgemeine Lehre, übertragen. Und dann begann die Katastrophe des Kolonialismus usw.

7.
Es muss hier nicht ausführlich besprochen werden, dass selbstverständlich innerhalb des Monotheismus, also der Kirchen, einzelne und Gruppen lebten und leben, die den Respekt der universalen Menschenrechte über ihre subjektive Glaubensform stellen. Man denke an Franz von Assisi oder auch an den Verteidiger der Indigenas, Pater Bartolome de las Casas.
Eine pauschale Verurteilung des Monotheismus, wie sie Julian Barnes versucht, ist schlicht und einfach historisch falsch. Genauso, wie es auch falsch ist, den Polytheismus pauschal gut und prächtig zu finden. Tatsache ist, dass heidnische Religionen, man denke an die Azteken, in ihrer rituellen Praxis nicht gerade ein Inbegriff der Menschlichkeit und Sanftheit waren. Ob der polytheistische Hinduimsus pauschal so menschenfreundlich ist, bleibt angesichts der jetzigen Hindu-Nationalisten sehr fraglich. Und ob die germanischen heidnischen Stämme einst nun große wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht hätten, wie Barnes hofft, ist auch fraglich.
Und kann man heute gar nicht davon davon absehen, dass viele Soziologen und Politologen von den neuen Göttern des Kapitalismus und Neoliberalismus sprechen, Götter, die das permanente Wachstum gebieten und die Herrschaft der „Alternativlosigkeit“ predigen. Diese neuen materiellen Götter des polytheistischen Kapitalismus haben bei vielen jedenfalls keine gute Presse. Gott sei Dank, oder den Göttern sein Dank!

8.
Allein differenzierendes Argumentieren hilft bei dem Thema weiter und eine genau Kenntnis der Geschichte des spätrömischen Reiches, als es um das Zusammenleben von Heiden und Christen (und Juden) ging. Dazu gibt es vorzügliche historische Studien von bedeutenden Historikern, ich nenne nur den Engländer E.R. Dodds, Gräzist in Oxford, von ihm liegt auf Deutsch u.a.vor: „Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst“ (Suhrkamp, 1985).

9.
Es wäre im einzelnen zu zeigen, dass die universal geltenden Menschenrechte erst im Zusammenhang des Monotheismus möglich wurden. Die Menschenrechte sind ein Produkt der philosophischen Aufklärung, aber diese lebte von dem Gedanken, dass es ein oberstes Prinzip (manche nannten es noch Gott, die Deisten) geben muss als schöpferische Kraft fürs Entstehen aller Menschen. Über diese oberste schöpferische Kraft (Monotheistisch) sind also alle Menschen über die eine gemeinsame Herkunft miteinander verbunden, als Brüder und Schwestern.

10.
Es muss weiter untersucht werden, wie sich vor allem im Katholizismus eine offiziell nicht eingestandene polytheistische Tradition entwickelt hat, man müsste also ernsthaft über den Marienkult reden als Form der Verehrung einer weiblichen Gottheit; man müsste über den Kult der Engel sprechen, heute sehr beliebt, nicht nur bei den geschätzten 20 Engelbüchern von Pater Anselm Grün, sondern auch bei „kirchenfernen“ Leuten. Man müsste sprechen die Heiligenkulte, die Reliquienkulte, die Segnungen von Bäumen und Autos und Handys und Tieren im Katholizismus. Und vor allem: Allen Ernstes müsste endlich gezeigt werden, wie polytheistische Inhalte im Glauben an die Trinität enthalten sind, der Theologe Edward Schilleeeckx hat drauf hingewiesen. Für Kirchenchefs ein peinliches Thema!

11.
Man ist aber insgesamt sehr erstaunt, wie ein „weltbekannter“ Autor wie Julian Barnes (40 Bücher, übersetzt in 30 Sprachen und vielfach mit Preisen überschüttet) sich derart fürs Heidentum heute einsetzen kann.
Aber Religionsphilosophen können auch dankbar sein, dass durch die ziemlich oberflächlichen Behauptungen und „Träume“, wie Barnes selbst sagt, das Thema „Wie böse ist denn nun =der= Monotheismus“ gründlicher diskutiert wird. Und deutlich werden muss auch: Alle rechtsextremen Kreise heute wie damals schmücken sich gern mit heidnischen Ideologien oder Versatzstücken von Edda und Wotan usw. Und sie sind oft Antisemiten!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.