Superyachten – Obszöne Kapitalisten.

Ein Buch über Milliardäre, die auf den Weltmeeren den Normen der Menschheit entgleiten.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Zur Einstimmung:
Es gibt ganz wenige Leute, die stellen sich allen Ernstes die Frage: Wie kann am besten aus den Duschen ihrer Superyacht außer Wasser auch Champagner sprudeln? Um dieses Problem kümmern sich spezielle Firmen, die ausgefallene Wünsche von Eigentümern der Luxusyachten gewöhnt sind. Die Fachleute für Luxus-Duschen fragen dann nur: Wie stark gekühlt oder wie warm soll denn der Champagner sein, mit dem sich die nackten Herren und Damen Milliardäre erfrischen wollen.
Davon berichtet der Soziologe Grégory Salle in seiner Studie „Superyachten“ auf Seite 24. (Suhrkamp Verlag 2022).

1.
Der Wahnsinn des Neoliberalismus, d.h. der Wahnsinn in der ungerechten Verteilung des Eigentums, ist ein philosophisches Thema. Über die These Proudhon „Eigentum ist Diebstahl“ wurde schon ein viel beachteter Beitrag auf dieser website publiziert. LINK.

2. Das Obszöne ist ethisch und deswegen politisch
Nun wird es noch spannender und von der Lektüre-Erfahrung durch viele Fakten anschaulicher und deswegen schockierender, aber auch fast unterhaltsamer, weil die Tatsachen an eine absurde, surreal wirkende Welt erinnern.
Das Thema ist die Gegenwart des Obszönen in unserer Welt. Das Obszöne ist, ästhetisch gesehen, das Ekelhafte, Abstoßende. Und zugleich für die klassische Moral vor allem das sexuell definierte Schamlose. Die bürgerliche Ethik war bisher so begrenzt und legte das Obszöne auf angebliche oder tatsächliche sexuelle Verfehlungen fest.
Nebenbei: Die heutige Fixierung auf die schamlosen sexuellen Übergriffe durch den Klerus ist zwar notwendig, aber sie lässt auch keine Zeit, sich mit dem Schamlosen des Kapitalismus, etwa mit dem Obszönen der Milliardäre, kritisch zu befassen.
Ein neues Buch sorgt dafür, das Obszöne in dieser Welt des totalen Kapitalismus wahrzunehmen.

3. Eintausend Quadratmeter Wohnfläche
Eine sachlich dokumentierende Recherche berichtet vom schamlosen, schon üblichen Verhalten unter Multi-Milliardären. Es geht nicht um deren sexuelles Vorlieben, es geht um deren SUPERYACHTEN. Diese sind obszöne Symbole des Exzesses einiger Milliardäre.

Superyachten müssen als Symbole gedeutet werden, als Symbole dafür, dass Exzesse, die sich kaum noch steigern lassen, das Lebensgefühl der Milliardäre sichtbar machen. Die eher noch bescheidene Superyacht „Octopus“ hat 235 Millionen Euro gekostet. (S. 35), eine Kleinigkeit für Multi-Milliardäre.
Superyachten – ein Phänomen also, das wahrscheinlich sehr vielen schon irgendwie aufgefallen ist, die sich an der Cote d Azur (speziell St-Tropez) oder in der Ägäis oder im spanischen Mittelmeer aufgehalten haben. Sie sahen Luxusyachten … oder auch vom Untergang bedrohte Kähne von Flüchtlingen aus Afrika. Auf den Luxusyachten von 75 bis 100 Meter Länge mit ca. 1000 Quadratmeter Wohnfläche auf mehreren Etagen wohnen ca. 30 Personen, davon 20 Angestellte in Kabinen, auf den Kähnen aus Afrika kauern manchmal 70-100 Menschen zusammen, alle in Gefahr, kurz vor dem Ertrinken. An eine Champagner-Dusche denken sie nicht. Die Luxusyachten steuern mit Selbstverständlichkeit Häfen an, wo die Luxusrestaurants die internationalen Gäste mit Freuden begrüßen und als alte Bekannte umarmen. Die Flüchtlinge, kurz vor dem Verdursten, sind froh, wenn sie von NGO – Schiffen gerettet werden, die auf der Suche sind nach einem Hafen. Aber am liebsten würden etwa die jetzt regierenden rechtsextremen Politiker Italiens diese „störenden Menschen“ wieder in die „schöne“ afrikanische Heimat zurückschicken…

4. Endlich: Beschlagnahmen!
Manchmal wird von dem eher hilflosen Versuch der westlichen Demokratien berichtet, nach dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine die Superyachten der russischen Milliardäre zu beschlagnahmen. Beschlagnahmen: Was für ein Wort für die biedere Öffentlichkeit: Die Beschlagnahme! Unerhört, dieses Wort, wo wir doch alle immer an das heilig verstandene Privateigentum glauben.
Der Krieg Putins hat zumindest den bescheidenen positiven Aspekt, dass nun über „Beschlagnahmung von Milliardärs-Eigentum“, also der Superyachten, öffentlich und zwar zustimmend die Rede ist. Welch ein Gewinn! Welch eine Chance, dadurch die Umrisse unserer Zeit als Epoche des finanziellen Exzesses zu verstehen. Die Plutokratie wird zwar fortbestehen, aber eben noch kritischer betrachtet als vorher. Beschlagnahmung also als gerechte Handlungsform eines demokratischen Staates, wenn er sich denn in dem Wirrwarr seiner eigenen Gesetze zum Thema Superyachten auskennt.. In der geistigen Nähe zu diesem Stichwort befindet sich bekanntlich das noch umstrittenere Wort „Enteignung“…Wird man darüber in absehbarer Zeit differenziert diskutieren können, ohne gleich von konservativen und sich FDP-liberal nennenden Herren – auch Herren der Kirche – als Kommunist verdammt zu werden?

5. KAPITALOZÄN
Der französische Soziologe Grégory Selle hat jetzt eine gut lesebare und sehr gut dokumentierte Recherche zu den Luxusyachten von Milliardären vorgelegt, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16 Euro. Das Buch verdient viel Aufmerksamkeit vieler Leser. Der Untertitel deutet den Wandel an in der Deutung der globalen Weltstruktur: Grégory Salle spricht von „Kapitalozän“, anstelle des üblichen Begriffs „Anthropozän“: „Luxus und Stille im Kapitalozän“ ist also der Untertitel dieses Buches, das man durchaus eine politische, ökonomische Variante eines authentischen Kriminalromans nennen könnte. Luxus und Stille – ein merkwürdiger Untertitel: Gibt’s diesen Luxus „Superyachten“ vielleicht nur, weil es um ihn bisher in der Öffentlichkeit so viel Stille herrschte, weil die Öffentlichkeit sich um diesen Wahn der Superyachten nicht kümmerte?

6. Grenzenlose Freiheit
Das Buch handelt also von notorischen (nicht nur russischen) Kleptokraten, die ihre Milliarden gern in letztlich bescheidene Multi-Millionen-Objekte investieren, wie eben die Luxusachten mit den hübschen Namen „Graceful“ oder „Scherzende“. Der Vorteil dieser Millionen-Fahrzeuge für ihre Eigentümer: Mit einer Luxusyacht ist man auf den Meeren überall und nirgendwo zuhause, man lebt förmlich außerhalb überschaubarer nationaler Gesetze, kann Steuern enorm sparen, Geldwäsche betreiben, kann zusätzlich Geld machen, wenn man denn die Yacht später teuer vermietet. Und man hat nette gleichgesinnte Milliardärs-Menschen um sich, wenn man sich auf Messen trifft, wie im Amsterdamer „Global Superyacht Forum“.

7. Milliardäre als Zerstörer der Umwelt
Mit einer Luxusyacht kann man ungestraft auch viele gravierende Umweltschäden anrichten, die Natur im Meer zerstören und die Klimakatastrophe beschleunige. Aber das ist den Herrenmenschen, den Plutokraten, völlig egal, dass sie mehr als 20 Liter Treibstoff für ihre Superyachten pro Kilometer verbrauchen, ist ihnen völlig schnuppe. Ihre Öko-Verbrechen werden nicht untersucht und bestraft.

8. Verantwortungslos
Das Buch Superyachten mag zunächst wie ein bizarres Sonderthema erscheinen in der so drängenden Frage nach extremem Reichtum und extremer Armut in dieser neoliberalen globalisierten Welt. Aber die Superyachten sind ein Symbol für die obszöne Mentalität der totalen Verantwortungslosigkeit, der Gier nach „immer mehr“, der ungebremsten egoistischen Haltung der Milliardäre (man lese, wie diese Herrenmenschen mit den Untergebenen umgehen).
Es ist ein Buch, das zu der philosophischen Einschätzung führt: Diese Welt der Eigentümer der Superyachten ist eine nihilistische, von Sinnlosigkeit zersetzte und zerfressene Welt einiger Herrenmenschen. Ihnen steht die demokratische Welt leider bis jetzt weitgehend hilflos gegenüber.

8.
Das Buch „Superyachten“ ist auch ein denkwürdiges Weihnachtsgeschenk.

9. Über die Angestellten auf den Superyachten:
„Das wenige, was durchsickert, entlarvt die Kehrseite dieser Traumwelt: Disziplin, Sonderregelungen bei Arbeitszeiten, strikte Folgsamkeit, beengte Unterbringung in winzigen Kabinen und ein eng getakteter Arbeitsrhythmus, um ständige Verfügbarkeit zu gewährleisten. Und das lächelnd, selbst bei den abstrusesten Aufgaben. In der Karibik verlangte eine Frau einmal auf der Stelle 1000
weiße Rosen, um die Superyacht ihres Ehemanns zu schmücken. Das Personal ließ die Blumen von Miami mit dem Hubschrauber einfliegen“. (S. 60).

Was eine humane Menschheit mit den Ausgaben für die Superyachten machen könnte? 
„In einem Artikel vom Mai 2018 wies der Journalist Rupert Neate darauf hin, dass die kumulierten jährlichen Ausgaben für die ungefähr 6000 in Betrieb befindlichen Superyachten die gesamten Schulden der sogenannten »Entwicklungsländer« tilgen könnten“. (S. 54).

Grégory Salle, „Superyachten. Luxus und Stille im Kapitalozän“, Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 16€. Übersetzt von Ulrike Bischoff.

Grégory Salle ist Soziologe und Politikwissenschaftler.
Er ist Research Fellow am Centre national de la re-cherche scientifique.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jesus kommt jetzt nach Rom: Neues vom “Großinquisitor”.

Im November 2022 ist das Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen (Rowohlt Verlag Berlin) erschienen.  Im November 2021 wurde vielfach an den 200. Geburtstag von Fjodor Dostojewski erinnert.
Anlass genug, der Spur Dostojewskis im Roman „Die Brüder Karamasow“ zu folgen und jetzt aktuell an die Wiederkehr Jesu Christi in Rom 2021 zu erinnern. Dabei folge ich dicht der Erzählstruktur Dostojewskis.

Von Christian Modehn am 18.11.2022.

Der Beitrag hat vier Teile:
1. Jesus in Rom heute.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

1. Jesus in Rom heute

Iwan erzählt im Jahr 2021 seinem Bruder Aljoscha Karamasow sein neues Poem. Wie schon in Dostojewskis Roman aus dem Jahr 1879 ist Iwan der Religionskritiker, Aljoscha der Fromme in der Familie. Aljoscha ist so erstaunt über die Einsichten seines Bruders, dass er diesmal nur selten wagt nachzufragen.  Iwan also erzählt:
„Jesus Christus ist kürzlich in den trostlosen Vorstädten Roms aufgetaucht. Im Viertel Corviale geht er den Hochhäusern entlang, betritt dunkle, schmutzige Hausflure, spricht mit den Alten, den Frauen mit ihren vielen Kindern. Geld hat er nicht, aber er spürt die göttliche Vollmacht, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen. Darum sammelt er schließlich die Menschen auf einem Platz. Sie erkennen ihn an seiner sanften Sprache, fühlen sich von ihm ernst genommen und verstanden, sie sind erstaunt, wie er, Jesus Christus, die Obdachlosen umarmt, den Flüchtlingen hilft, Zelte zu bauen.

Mit sanfter, aber eindringlicher Stimme fordert Jesus Christus diese Menschen auf, sich gut vorzubereiten, loszuziehen und dann die Paläste im Vatikan zu besetzen. Die Kardinäle sollen aus ihren luxuriösen Wohnungen vertrieben werden. „Vielleicht finden sie als die Nachfolger der armen Apostel Petrus und Paulus bei euch dann eine Bleibe“. Jesus Christus lächelt, nicht ohne Ironie.. Dann fährt er sehr bestimmt fort: „Die berüchtigten Finanzjongleure in der Vatikanbank werden dann zu Altenpflegern umgeschult. Und die vielen hundert Priester und Prälaten in den päpstlichen Behörden werden zu Lehrern ausgebildet für die römischen Vorstädte“. Schließlich fordert er die Flüchtlinge und Obdachlosen auf, mindestens zehn Kirchen und fast leerstehende Klöster in der Innenstadt zu besetzen. „Die stehen ja an jeder Ecke und sind fast nur noch Museen“, sagt Jesus. „Dabei sind Gotteshäuser immer Häuser für die Menschen, die Ausgegrenzten zumal“. Die Leute sollen also, fordert er, die Bänke wegschaffen und Notunterkünfte einrichten. „Für die Besichtigung der Kunstwerke in euren besetzten Kirchen könnt ihr Eintritt verlangen, dann ist für Speis und Trank gesorgt“..

„Jesus Christus weilt in der heiligen Stadt Rom“, das haben die Lokalreporter inzwischen längst dem Vatikan gemeldet. Die Bischöfe und Prälaten in den riesigen Renaissance- und Barock – Gemäuern der kirchlichen Verwaltung sind entsetzt über diese Wiederkunft Jesu Christi in Rom. „Der stört uns doch, der raubt uns die Zeit“, lautet die einhellige Meinung. „Hatte nicht der Großinquisitor in Dostojewskis Erzählung bereits Jesus verboten, sich jemals wieder auf diesem christlichen Boden und dieser kirchlichen Welt zu zeigen?“, fragt ein etwas literarisch gebildeter Substitut der Glaubenskongregation. Er blickt mit müden Augen von einem Papierstapel auf, das sich mit einer erneuten Verurteilung des Frauenpriestertums befasst. Und dabei auch noch den Pflichtzölibat der Priester verteidigen muss.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

Mit Hilfe der Mafia sorgen schließlich emsige Beamte der Vatikanbank dafür, Jesus Christus sehr diskret aus der erbärmlichen Vorstadt Roms zu entführen und direkt in den Vatikan zu bringen. Einer der vatikanischen Finanzjongleure hat eine Idee: „Bringt den Kerl bloß nicht in unsere Bank, er soll ins nahe gelegene Gebäude des Heiligen Offiziums, einst die Inquisitionsbehörde, verfrachtet werden“.
Ein obligater SUV der Mafia bringt also Jesus Christus, in einer Jeanshose gekleidet und mit einem Wollpullover, wohlbehalten ins „Heilige Offizium“.  „Am besten gleich ins Büro“ heißt die Devise, in das Büro, in dem Kardinal Ratzinger als Behördenchef und Grossinquisitor viele Jahre wirkte. Aber wie es der Zufall will, schaut Ratzinger, nun als Ex-Papst Benedikt XVI., mal wieder in seiner Behörde nach dem Rechten.

So stehen sich also plötzlich Benedikt XVI. und Jesus Christus gegenüber. Beide schweigen lange Zeit. Und Jesus blickt dann voller Tränen auf den Ex-Papst. „Warum weinen Sie, Herr Jesus“, fragt Ratzinger. Jesus winkt nur ab und flüstert nach einer Weile dem greisen Ratzinger ins Ohr: „Was habt Ihr nur aus meiner so einfachen, so menschenfreundlichen Botschaft gemacht“. EX-Papst Benedikt läuft rot an vor Wut, der Farbe seiner feinen Schuhe übertreffend: „Mit ihrer humanen friedlichen Lehre kommen wir nicht weiter, ihre Bergpredigt taugt nichts im Alltag von Staaten und Kirchen! Sie sind ein naiver Idealist, mein Herr und mein Gott“, schnaubt Benedikt mit letzter Kraft. „Wir als Kirche haben inzwischen unsere eigene Religion geschaffen, wir nennen uns nur noch christlich oder katholisch. Wir haben mit Jesus von Nazareth nichts gemein. Wir wollen nur herrschen, befehlen, verlangen Gehorsam, nicht Glauben“.
Der greise EX Papst Benedikt Ratzinger, der hoch gelobte Theologe dieser Religion, die sich nur noch christlich nennt, greift zum Schreibtisch und übergibt dem leibhaftigen Jesus Christus seine drei dicken Bücher über keinen geringen als …Jesus Christus. „Lesen Sie das“, mahnt der Ex-Papst eindringlich. Aber Jesus Christus greift nach den Druckerzeugnissen und schleudert sie auf den Boden. Eine große goldumrandete Vase aus dem 16. Jahrhundert geht dabei zu Bruch, und ein inzwischen fast blinder Spiegel aus dem Neapel des 17. Jahrhunderts beginnt zu wackeln.

Im Spiegel aber erkennt Jesus Christus, dass Papst Franziskus das Büro des Glaubenshüters betreten hat. Jesus und Papst Franziskus sehen sich schweigend an. Viele Minuten stehen sie einander gegenüber, schauen nicht um sich, blicken sich nur in die Augen. Dann berühren sie einander sanft, streicheln sich am Arm, etwas verlegen auch auf den Wangen. Und Jesus Christus entdeckt, dass Papst Franziskus seine Tränen nicht mehr unterdrücken kann. „Ich bin gescheitert in dieser Welt, in dieser Kirche der verfälschten Religion“, flüstert Papst Franziskus Jesus Christus ins Ohr. „Diese Kirche ist jetzt am Ende, der sexuelle Missbrauch durch Priester hat die Kirche definitiv ruiniert. Es ist aus. Meine Meinung: Die Leute sollen einander lieben und Gott ehren, das ist alles. Aber die Beamten, die Priester, wollen, dass der Betrieb weiterläuft“. Jesus Christus schweigt, aber er nickt mehrmals. Zustimmend.
 Der greise Ex-Papst Benedikt wird ungeduldig und betrachtet von der Seite die beiden. Mit der letzten Energie des obersten Glaubenshüters schreit er: „Jetzt reicht es mir mit euch beiden“.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

An der Stelle der Erzählung wagt es Aljoscha, seinen Bruder zu fragen: „Und wie geht es dann weiter?“ „Du weißt“, sagt Iwan, “dass ich dem Katholizismus und dem ganzen institutionellen religiösen Apparaten kritisch gegenüber stehe. Aber ein bisschen schwer fällt es mir doch, dir als einer frommen Seele das Ende zu erzählen“. „Sag es, bitte“, fleht Aljoscha. „Nun ja, eine geheime Tapetentür hinter dem Rücken des Ex-Papstes Benedikt öffnete sich und … wie von von einem Scharfschützen, aber im Priestergewand, werden beide erschossen, Jesus Christus und Papst Franziskus. Und der Ex-Papst Benedikt? Der hat vor Schrecken einen tödlichen Herzinfarkt bekommen. Die geheime Tür in der Inquisitionsbehörde schloss sich wieder ganz schnell, und das alles geschah sehr diskret, wie üblich, fast wie eingeübt“.
Nach einer Weile sagte Aljoscha kaum vernehmbar: „Und diesen Bericht hast du, Iwan, dir ausgedacht? Oder war es gar ein Traum“?  „Es war gewiss ein Traum, aber ein Traum enthält die Wahrheit.

Aber das Ende habe ich dir noch nicht erzählt: Die drei Leichen waren nämlich ganz schnell aus der Glaubensbehörde herausgeschafft worden, von wem und wohin, das weiß niemand“.
„Und nun?“, fragte Aljoscha. „Alles geht im Vatikan und in Rom wieder seinen üblichen Gang, Nachfragen und Nachforschungen werden nach alter klerikaler Manier unterdrückt“, antwortete Iwan. „Ein paar Arme aus der Vorstadt hatten inzwischen eine Kirche und ein Kloster tatsächlich besetzt, sie wurden aber schnell vom Klerus vertrieben und kehrten in ihr Elend zurück. Alles geht alles im üblichen Ritus weiter, die nächste Papstwahl steht bevor“.
 Und dann sagte Iwan noch sehr bestimmt: „Diese Geschichte kann sich auch in anderen Kirchen, in Genf, in Moskau, in Nigeria, in Washington ereignen.
Und du, Aljoscha, solltest deinen FreundInnen sagen: Denkt euch selbst eine andere Fortsetzung des „Großinquisitors von Dostojewski“: Was geschieht, wenn Jesus Christus plötzlich in unseren Städten herumläuft? Vielleicht ist er auch längst da, und wir sehen ihn nicht, weil wir kirchlich verblendet sind. Und vergessen wir nicht: Dostojewski schrieb die Geschichte vom Großinqisitor als Kritik am römischen Katholizismus.

Heute würde Dostojewski sicher die offizielle russisch-orthodoxe Kirche, vor allem diesen Patriarchen Kyrill als Kriegstreiber dieser Putin-Kirche verurteilen. Auch das sagte Iwan noch, seine Stimme vor Schmerz kaum noch zu hören….Auch Atheisten leiden unter den Verbrechen der Kirchenführer, dachte Aljoscha.

 

 

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

In Fjodor Dostojewskis umfangreichem Roman „Die Brüder Karamasow“ (verfasst 1879-188o) enthält das „Fünfte Buch“ ein Kapitel mit dem Titel „Der Großinquisitor“. Es umfasst in der Neuübersetzung von Swetlana Geier (Fischer-Taschenbuch, 2013) nur 30 Seiten. Das Kapitel erscheint wie eine in sich geschlossene Erzählung:

Iwan, der Atheist, erzählt seinem frommen Bruder Aljoscha, sein „Poem“, wie er sagt. „Glühend vor Eifer habe ich es mir ausgedacht…Mein Poem heißt der Großinquisitor – es ist absurd, aber ich möchte es dir gern erzählen“ (S. 397.)
 Während der Herrschaft der katholischen Inquisition im 16. Jahrhundert erscheint plötzlich und unerwartet Jesus Christus inmitten der Stadt Sevilla. Er wird von den Menschen erkannt, einige bitten um seine heilende Wunderkraft. Der greise Großinquisitor, ein Kardinal, darüber empört, befiehlt, Jesus Christus zu verhaften. Das gläubige Volk protestiert nicht dagegen, es ist dem Kardinal ergeben.
 Jesus Christus wird in einem Verlies untergebracht. Der Großinquisitor besucht nachts den verhafteten Heiland, er wirft ihm vor, überhaupt kein Recht zu haben, hier wieder aufzutreten und so wörtlich, „die Ruhe zu stören“.

Für den Großinquisitor ist Jesus Christus ein Ketzer, den er am nächsten Morgen dem Feuertod übergeben will. In seinem Monolog kritisiert der Kardinal die Auffassung Jesu von der Freiheit eines jeden Menschen…Nur durch die strengen Weisungen der Kirchenführer könnten die Menschen von ihrer individuellen Freiheit befreit werden und zu Untertanen werden.
Die Kirchenfürsten haben also im Laufe der Kirchengeschichte Jesu Lehre von der Freiheit und der Gewissensfreiheit korrigiert bzw. „verbessert“ und so die Menschen zu ihrem Glück gezwungen, und das heißt: Sie folgen nun den kirchlichen Weisungen als unfreie, aber in kirchlicher Sicht glückliche Menschen.
Der Großinquisitor geht so weit, sich zum Antichristen zu bekennen: „Wir sind nicht mit Dir im Bunde, sondern mit ihm, (dem Antichristen), das ist unser Geheimnis!“ Die Kirche folgt also dem Antichristen! Dies ist für die Kirchenführer eine Tatsache, die sie nicht öffentlich preisgeben, selbst wenn sie unter diesem geheim gehaltenen Verrat an der Lehre Jesu leiden.
Der Großinquisitor erwartet eine Antwort Jesu. Er hat während des ganzen Monologs geschwiegen.

Dann aber – ganz überraschend – küsst Jesus Christus den greisen Inquisitor…und der öffnet die Gefängnistür und sagt: „Geh, und komme nicht wieder niemals, niemals. Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Plätze der Stadt. Der Gefangene geht.“ (S. 424).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wir philosophieren immer schon: Ideen zum Welttag der Philosophie am 17.11.2022.

Von Christian Modehn und Hartmut Wiebus.

Zum “Welttag der Philosophie” am 17.11.2022.

1. Nur einen Tag lang Philosophieren? Das kann doch nicht der Sinn des „Welttages der Philosophie“ sein. Am 17. November 2022 wird dieser Welttag, auf Vorschlag der UNESCO, wieder einmal – ja was denn – „begangen“? „Gestaltet“? Gefeiert“? Vergessen? Ignoriert, weil es angeblich Wichtigeres gibt?

Der „Welttag der Philosophie“ hat nur den Sinn, daran zu erinnern, dass Menschen „immer schon“ in ihrem Leben philosophieren. Philosophieren ist also nur ein anderer Name für geistiges, vernünftiges Leben.
Was heißt: Philosophieren geschieht „immer schon“?
Zum Beispiel in jeder Entscheidung, die in einer Alternative geschieht, inmitten der Frage: Für welche Möglichkeit entscheide ich mich… Da kommen meine eigenen, meist unbewussten Werte, „immer schon gelebt“, und Normen zur Geltung.

2. Philosophie geschieht also als Philosophieren, als der Praxis des Denkens, des Nachdenkens, des Vorausdenkens, des kritischen Urteilens. Und Philosophieren findet immer im Gespräch statt, das beginnt schon beim inneren Selbst-Gespräch in meinem Denken (siehe Reflexion auf Alternativen) und … vor allem wichtig: im Dialog mit anderen. Dialog kann philosophisch oft zum Streitgespräch werden, und das ist gut so. Streiten ist das Ringen um eine tiefere Erkenntnis, auch um eine solche, die unbedingt gilt? Wir denken: Ja, darum geht es. Deswegen sind wir auch von Kant inspiriert. Stichwort: Kategorischer Imperativ!

3. Wir haben von 2007 bis 2020 philosophische Salonabende gestaltet, meistens monatlich, auch Ausflüge und Feiern, alles Versuche, das kritische Denken miteinander zu pflegen, auch und gerade zu explizit religiösen Fragen. Und angesichts der hoffnungslos erstarrten kirchlichen (katholischen) Institutionen wollten wir einen Weg weisen in eine eigene religiöse, spirituelle Haltung, die vor der Vernunftkritik bestehen kann. Auch zum Welttag der Philosophie hatten wir früher größere Veranstaltungen organisiert… das war einmal … aber dies nur ganz nebenbei gesagt.

4. Philosophie ist prinzipiell alles andere als eine schwierige Wissenschaft, wie etwa die Mathematik.
Nur sind leider viele philosophische Texte von Philosophen oft schwer verständlich, schwer „zugänglich“. Liegt das immer an der Schwierigkeit der behandelten Themen? Sicher auch! Manchmal aber auch an dem Ehrgeiz der Herren und Damen Philosophie-Professoren, die tatsächlich leider heute im ganzen der weiten wissenschaftlichen Welt eine Nebenrolle spielen. In diese Nebenrolle haben sie sich oft selbst manövriert – auch wegen ihrer eigenen schwierigen Texte, die dann ein „Alleinstellungsmerkmal“ DER Philosophie ausdrücken sollen. Heidegger war wohl von dieser Idee fixiert, etwas „ganz Besonderes“ liefern zu müssen. Und dann ereignete sich ihm das Sein und nur drei Leute verstanden ihn, die anderen staunten…

Ein anderes Beispiel: Der nun wirklich weltbekannte französische Philosoph Bruno Latour (1947 -2022) schätzte die Philosophie über alles, wie er mehrfach betonte (vgl. “Le Monde”, 11. Oktober 2022, S. 29). Er sagte als sein Bekenntnis: “Die Philosophie, sie ist so schön” (ebd.).” Die Philosophie  – und die Philosophen wissen das – ist diese erstaunliche Form, die sich für das Ganze, die Totalität interessiert. Und die diese  Totalität niemals erreicht, weil dieses Ziel gar nicht zu erreichen (zu wissen) ist, sondern (nur) zu lieben ist. Die Liebe, das ist das Wort, das Motto, der Philosophie” (ebd. Seite 29, Übersetzung C.M.) Latour arbeite gern im Team, er schätzte die empirische Untersuchung, die Soziologie…Siehe etwa sein letztes wichtiges Buch “Zur Entstehung einer ökologischen Klasse”, gemeinsam mit dem jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz, Suhrkamp, 2022, LINK.

5. Aber philosophische Texte sind auch literarische Texte, philosophische „Texte“ sind auch Kunstwerke, auch Kompositionen der Musik, auch Landschaften, auch Gesichter, auch Fotos, auch Eindrücke von dem grausigen Kriegsgeschehen: Überall ist Philosophie, man muss nur mit der entsprechenden Haltung des Nachdenkens und vor allem des Fragens diese Welten betrachten. Und dann passiert etwas im Neu-Verstehen der Welt, und … das Leben wird nicht immer leichter beim Verlust von Naivität. Zum Philosophieren gehört Mut. „Wage es…“ sagt Kant.

6. Philosophieren als Praxis der Philosophie wird dann zur Lebenshaltung, manchmal sogar zur Lebenshilfe. Dies ist eine Einschätzung, die Philosophieprofessoren in ihrem
abgeschotteten Uni-Dasein oft ablehnen. Dass heute in der Häufung der Krisen der Welt die PhilosophInnen meistens schweigen – zu den Krisen – hängt sicher damit zusammen: Diese Herren und Damen zieren sich, kritische und warum auch nicht vorläufige Hilfen im Leben vorzuschlagen.
Aber wenn kritisches eigenes Nachdenken nicht mehr hilft inmitten des Lebens, was hilft dann noch? Doch wohl nicht ein religiöser Fundamentalismus, der sich wie eine Pest heute ausbreitet in allen großen Religionen als Institutionen!

7. Damit wird eine enge, niemals aufzulösende Verbindung des einzelnen Philosophierenden bzw. der philosophischen Gruppen mit der realen politischen Situation deutlich: Philosophieren heute ist niemals eine kulturelle Idylle für “Schöngeister”.

Philosophieren konfrontiert jeden und jede mit den universal geltenden Menschenrechten, mit der Aufforderung, für die Herrschaft der Menschenrechte einzutreten. Und Politikern, die in unseren Demokratien Blabla reden oder taktisch zögern im Eintreten für die Menschenrechte, etwa zugunsten des Widerstandes gegen die Herrscher im Iran, in aller Schärfe und Ablehnung zu begegnen.  Zu den Menschenrechten gehört heute die Klimagerechtigkeit wie auch der Kampf gegen totalitäre Systeme.

Wer sich im Denken für die Welt des Politischen öffnet d.h. logischerweise öffnen muss, wer also für die Menschenrechte eintritt, erlebt erst die ganze Fülle und Tiefe philosophischen Denkens. Die Philosophierenden werden sich im Denken schützen können, um in dieser Situation nicht zu verzweifeln. Hoffen war ja eines der großen Themen Immanuel Kants. Er fand Überlebens-Hoffnung auch in einer vernünftigen (selbstverständlich nicht in einer konfessionell- klerikal begrenzten) Kirche bzw. Religion. Man lese Kants wichtige Schrift  “Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. LINK.

8. Die Bedeutung der Philosophie bzw. der Philosophen in der Gegenwart wird selbstverständlich in großer Vielfalt beurteilt. Wer philosophierend lebt, fragend und suchend und zweifelnd und gerade inmitten des Zweifelns am Zweifeln zweifelnd und so neue Gewissheit gewinnend, wird seine persönliche Antwort geben: Was ist Philosophie?
Allerdings: Kann „meine Philosophie“ nur „meine“ sein ? Oder sollte ich mich öffnen den Einsichten anderer …um dann zu einer neuen Gestalt „meiner“ Philosophien zu gelangen.

Michel Foucault (1926-1984), um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Begrenztheit der klassischen Philosophie als System, als Idealismus, als Lehre von „der“ Wahrheit überwinden wollen. Er verstand sich als Historiker, Soziologe, Schriftsteller und eben auch als Philosoph, aber dann mit einer merkwürdigen Definition seiner Philosophie. In seinem Buch „Von der Subversion des Wissens“ ( Frankfurt, 1987) heißt es: „Ein Typ philosophischer Tätigkeiten besteht darin, dass man die Gegenwart einer Kultur diagnostiziert. Dies scheint mir die wahre Funktion zu sein, die den Individuen, welche wir Philosophen nennen, zukommen kann“ (S. 27).

Um Diagnose also geht es Foucault in seiner Philosophie. Aber Diagnose ist Beschreibung eines Zustandes, der, etwa in der Medizin, als Krankheit, als Übel bestimmt werden kann. Und Krankheit als Krankheit erkennen, ist wieder eine normative Leistung, die Gesundheit als Ziel vor Augen. Wendet sich Philosophie also der kranken Kultur diagnostisch zu, dann hat sie immer auch und immer schon eine normative Idee vor Augen. Davon sprach Michel Foucault nicht. In dem genannten Buch sagt er mit Blick auf Nietzsche: „Die Philosophie hat die Aufgabe des Diagnostizierens, sie sucht nicht mehr eine Wahrheit, die für alle zu allen Zeiten gültig ist“ (S. 12). Damit lehnt Foucault eine universelle Wahrheit ab, für Kant und die Seinen schon ein Problem. Und sie würden fragen: Ist universelle Wahrheit aber doch implizit gemeint, wenn Foucault wirklich Diagnose meint, die einen Befund von Krankheit, Übel etc. ALS solchen erkennt. Verschiedene Völker verschiedener Zeiten werden konkrete Krankheiten je anders diagnostizieren und in ihrer Qualität bewerten, aber sie werden immer Krankheit als etwas zu Überwindendes verstehen und darstellen.

Damit will ich nur darauf hinweisen, wie schwierig es ist, sich philosophisch mit der Frage zu befassen: Was ist meine Philosophie, wo hat sie ihre Grenzen, wo sind ihre selbstgewählten, aber noch unreflektierten Einschränkungen. Philosophieren ist also das lebendige Leben inmitten aller Zweifel und Widersprüche. Anders „geht“ geistiges Leben nicht. Nur Fundamentalisten predigen das Gegenteil.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. www.religionsphilosophischer-salon.de

Link zum Welttag der Philosophie 2022: LINK
Link zu den Veranstaltungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons von 2009 bis 2020. LINK

Julian Barnes Bekenntnisse: Propaganda für den Polytheismus und das Heidentum.

Der neue Roman von Julian Barnes „Elizabeth Finch“
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine neue religionsphilosophische und theologische Debatte steht bevor: Die Diskussionen werden sich – wie manchmal schon zuvor – mit dem Rühmen des Polytheismus (Heidentum) befassen und der schon üblichen Verurteilung „des“ Monotheismus, also auch der christlichen Kirchen.

1.
Julian Barnes, weltweit bekannter englischer Autor und Essayist, hat einen neuen Roman publiziert: “Elizabeth Finch“ ist der Titel. Auf Französisch liegt der Roman schon seit dem 1. September. Deswegen hat „Le Monde“ Barnes in London besucht, einen langen Artikel veröffentlicht mit wichtigen Zitaten von Barnes (veröffentlicht am 26. August 2022, S. 12, in der Beilage „Le Monde des Livres“.) Der Roman “Elisabeth Finch” von Julian Barnes liegt nun (Mitte November 2022) auch auf Deutsch vor.

2.
Barnes zeigt sich in dem Beitrag als leidenschaftlicher Verteidiger des Polytheismus, für ihn identisch mit dem Heidentum. Und konsequenterweise als leidenschaftlicher Gegner „des“ Monotheismus. Das Christentum erwähnt er ausdrücklich, er denkt aber wohl auch an die beiden anderen monotheistischen Religionen, das Judentum und das Islam. Aber es ist wohl auch die Verachtung der gegenwärtigen Kirchen (auch der Kirche in England), die ihn zur Verurteilung des Monotheismus motiviert.

3.
Im Roman ist die Protagonistin, Elizabeth Finch, eine Kulturwissenschaftlerin, eine explizite Verehrerin des römischen Kaisers Julian Apostata: Er wandte sich als Christ wieder dem alten römischen und griechischen Glauben des Polytheismus bzw. dem Heidentum zu und wollte die sich herausbildende Vormachtstellung des Christentums zurückdrängen. Er lebte von 331 bis 363, als Kaiser regierte er von 360 bis 363, er starb am Tigris, damals im persischen Reich, im Kampf gegen das Sassanidenreich.
Die Begeisterung der Professorin Finch für den „abtrünnigen“ („Apostat“) Kaiser Julian wird von ihrem Schüler Neil erzählt. Er erinnert sich, wie Elizabeth Finch davon öffentlich sprach, wie der Monotheismus (gemeint ist das Christentum) eine Katastrophe für die Menschheit war, wie der Monotheismus als „Herrschaft und Korruption zur Auszehrung des europäischen Geistes führte“. Auch dies: Dass Julian Apostata moralisch viel höher stand als die ganze Reihe der Päpste. Und dass mit dem Ende des Heidentums, mit seinem Propagandisten Kaiser Julian, die Lebensfreude aus Europa verschwand…

4.
Sehr verwunderlich ist, dass Julian Barnes in dem Interview mit „Le Monde“ selbst sehr heftig Partei ergreift für den Polytheismus und das Heidentum. Zu Beginn gesteht Barnes: „Ich bin überhaupt nicht religiös, alle Religionen sind Fiktionen. Aber ich glaube, unter allen Religionen sind diejenigen, die sich auf den Polytheismus gründen, am besten erfolgreich“. Kaiser Julian Apostat habe mit seiner Toleranz gegenüber allen bestehenden, also heidnischen Religionen, so wörtlich, einen „Supermarkt der Religionen“ erfunden. Das findet Barnes gut, deutet das als Toleranz, laut „Le Monde“.
Das ist der Gipfel der Phantasie: Wenn Kaiser Julian Apostata länger gelebt hätte, dann hätte unsere Welt eine andere, eine bessere Richtung genommen. Julian hätte dann, so der Wunsch des Autors Barnes, das Christentum marginalisiert. Christliche Priester hätten nur noch „eine bescheidene Rolle gespielt neben den Heiden und Druiden, den Anbetern der Bäume usw.“ Dann „träumt“ (so wörtlich) sich der weltbekannte Autor Barnes laut „Le Monde“ in eine heidnische Welt, in der es dann aufgrund der angeblichen Toleranz des Heidentums keine Kriege gegeben hätte, eine bessere Förderung der Wissenschaft ebenso, behauptet Barnes. Und vor allem hätten die Menschen in einer Hoffnung gelebt, die sich ganz ausschließlich aufs irdische Dasein bezieht und nicht, so wörtlich, dem „absurden himmlischen Disneyland im Jenseits nach dem Tod“ geglaubt.
Julian Barnes erinnert sich in dem Gespräch mit Le Monde an die Romanschriftstellerin Anita Brookner (1928-2016), sie hätte so hübsch gesagt: „Monotheismus. Monomanie. Monogamie. Monotonie: Nichts Gutes im menschlichen Zusammenhang beginnt mit der Vorsilbe MONO“.

5.
Die Auseinandersetzung mit diesen Lobeshymnen auf Kaiser Julian Apostata und die angeblich enormen menschlichen und wissenschaftlichen Vorzüge des Heidentums, des Polytheismus, muss ausführlich geführt werden.
Es ist bekannt, dass der Polytheismus auch in philosophischen Kreisen ein gutes Ansehen genießt, man denke an an den Philosophen Odo Marquard, der 1978 einen vielbeachteten Vortrag hielt „Lob des Polytheismus“ (in: „Abschied vom Prinzipiellen“, Reclam, 1981, S. 91 -116). Man denke an die Vordenker der „Neuen Rechten“, etwa an den Franzosen Alain de Benoît, der auf Deutsch 1982 sein Buch „Heidesein. Zu einem neuen Anfang. Eine europäische Glaubensperspektive“ veröffentlichte (Graber Verlag in Tübingen). Zuvor war schon in dem genannten Verlag der Sammelband „Das unvergängliche Erbe“ erschienen, mit dem bezeichnenden Untertitel „Alternativen zum Prinzip der Gleichheit“ (herausgegeben von Pierre Krebs). Damit wurde schon im Untertitel angedeutet: Der zu überwindende Monotheismus, etwa das Christentum, setze stark auf das Prinzip der prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Und das wollen die genannten Herren rund um Alain de Botton nun gar nicht. Antisemitismus und Heidentum/Polytheismus gehören oft zusammen…

6.
Auch das gilt: Der Monotheismus kann selbstverständlich nicht pauschal verteidigt werden. Monotheistisch-fromme Menschen, etwa Christen, Theologen, Päpste usw .haben im Laufe der Kirchengeschichte ihre Haltung bewiesen: „Wir besitzen die absolute Wahrheit, und wir drängen diese unsere absolute Wahrheit allen anderen auf, durch Kolonialismus, Mission, Bekehrung“. Da hat sich also die Überzeugung durchgesetzt, subjektiv etwas Wahres erkannt zu haben, total auf objektive Welt, in die Gesellschaft, die Staaten übertragen. Und die Kirchen als Institutionen haben die nur für den einzelnen Menschen privat mögliche absolute Wahrheit ins Objektive, ins Allgemeine, als allgemeine Lehre, übertragen. Und dann begann die Katastrophe des Kolonialismus usw.

7.
Es muss hier nicht ausführlich besprochen werden, dass selbstverständlich innerhalb des Monotheismus, also der Kirchen, einzelne und Gruppen lebten und leben, die den Respekt der universalen Menschenrechte über ihre subjektive Glaubensform stellen. Man denke an Franz von Assisi oder auch an den Verteidiger der Indigenas, Pater Bartolome de las Casas.
Eine pauschale Verurteilung des Monotheismus, wie sie Julian Barnes versucht, ist schlicht und einfach historisch falsch. Genauso, wie es auch falsch ist, den Polytheismus pauschal gut und prächtig zu finden. Tatsache ist, dass heidnische Religionen, man denke an die Azteken, in ihrer rituellen Praxis nicht gerade ein Inbegriff der Menschlichkeit und Sanftheit waren. Ob der polytheistische Hinduimsus pauschal so menschenfreundlich ist, bleibt angesichts der jetzigen Hindu-Nationalisten sehr fraglich. Und ob die germanischen heidnischen Stämme einst nun große wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht hätten, wie Barnes hofft, ist auch fraglich.
Und kann man heute gar nicht davon davon absehen, dass viele Soziologen und Politologen von den neuen Göttern des Kapitalismus und Neoliberalismus sprechen, Götter, die das permanente Wachstum gebieten und die Herrschaft der „Alternativlosigkeit“ predigen. Diese neuen materiellen Götter des polytheistischen Kapitalismus haben bei vielen jedenfalls keine gute Presse. Gott sei Dank, oder den Göttern sein Dank!

8.
Allein differenzierendes Argumentieren hilft bei dem Thema weiter und eine genau Kenntnis der Geschichte des spätrömischen Reiches, als es um das Zusammenleben von Heiden und Christen (und Juden) ging. Dazu gibt es vorzügliche historische Studien von bedeutenden Historikern, ich nenne nur den Engländer E.R. Dodds, Gräzist in Oxford, von ihm liegt auf Deutsch u.a.vor: „Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst“ (Suhrkamp, 1985).

9.
Es wäre im einzelnen zu zeigen, dass die universal geltenden Menschenrechte erst im Zusammenhang des Monotheismus möglich wurden. Die Menschenrechte sind ein Produkt der philosophischen Aufklärung, aber diese lebte von dem Gedanken, dass es ein oberstes Prinzip (manche nannten es noch Gott, die Deisten) geben muss als schöpferische Kraft fürs Entstehen aller Menschen. Über diese oberste schöpferische Kraft (Monotheistisch) sind also alle Menschen über die eine gemeinsame Herkunft miteinander verbunden, als Brüder und Schwestern.

10.
Es muss weiter untersucht werden, wie sich vor allem im Katholizismus eine offiziell nicht eingestandene polytheistische Tradition entwickelt hat, man müsste also ernsthaft über den Marienkult reden als Form der Verehrung einer weiblichen Gottheit; man müsste über den Kult der Engel sprechen, heute sehr beliebt, nicht nur bei den geschätzten 20 Engelbüchern von Pater Anselm Grün, sondern auch bei „kirchenfernen“ Leuten. Man müsste sprechen die Heiligenkulte, die Reliquienkulte, die Segnungen von Bäumen und Autos und Handys und Tieren im Katholizismus. Und vor allem: Allen Ernstes müsste endlich gezeigt werden, wie polytheistische Inhalte im Glauben an die Trinität enthalten sind, der Theologe Edward Schilleeeckx hat drauf hingewiesen. Für Kirchenchefs ein peinliches Thema!

11.
Man ist aber insgesamt sehr erstaunt, wie ein „weltbekannter“ Autor wie Julian Barnes (40 Bücher, übersetzt in 30 Sprachen und vielfach mit Preisen überschüttet) sich derart fürs Heidentum heute einsetzen kann.
Aber Religionsphilosophen können auch dankbar sein, dass durch die ziemlich oberflächlichen Behauptungen und „Träume“, wie Barnes selbst sagt, das Thema „Wie böse ist denn nun =der= Monotheismus“ gründlicher diskutiert wird. Und deutlich werden muss auch: Alle rechtsextremen Kreise heute wie damals schmücken sich gern mit heidnischen Ideologien oder Versatzstücken von Edda und Wotan usw. Und sie sind oft Antisemiten!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Demokratie braucht Religion! Behauptet Hartmut Rosa.

Ein Hinweis auf eine Broschüre mit dem gleichen Titel.
Von Christian Modehn.

………………..

Ein Motto, am 19. Juni 2024 von Christian Modehn notiert:

Die Pyramide ist immer das Bild, um Diktaturen zu beschreiben.

Der Faschismus Italiens z.B. war als Pyramide konzipiert und organisiert, an der Spitze konzentrierten sich alle Gewalten. So ähnlich ist auch der Vatikan, die Leitung der katholischen Kirchem bis heute organisiert. Alles dreht sich um den – bis jetzt noch – allmächtigen Papst. (vgl. den Aufsatz “Antithese des Faschismus”, von Roberto Scarpinato, in “Lettre International”, Nr. 145, S. 7).

Kann eine solche “pyramidal gestaltete Religion” die Demokratie verteidigen? Wir glauben auch aufrund historischer Erfahrungen: NEIN!

Diese Frage und diese Antwort gilt auch für andere Religionen, wie den Islam, jüdische Traditionen, den Hinduismus usw… Die Demokratie enthält so viel Potential, auch so viel geistvolle Spiritualität, dass sie sich selbst verteidigen und schützen kann. Sie braucht zu, Sufau und Erhalt religiöse Menschen, aber solche, die zuerst demokratisch denken und handeln und NICHT zuerst religiös oder kirchlich orientiert denken und handeln. Religiöse Bindung steht immer an zweiter Stelle! So, wie die allgemeinde Vernunft (der Menschenrechte und der Demokratie) immer an erster Stelle steht gegenüber Weisheiten aus religiösen Traditionen und sich heilig nennenden Büchern.

………………….

1.
Der Titel der Broschüre von Hartmut Rosa „Demokratie braucht Religion“ ist verwirrend: Denn die größte, auch quantitative Aufmerksamkeit des Soziologen gilt der Analyse der heutigen westlichen Gesellschaft, einer Analyse, die als Wertung zu den umfassenden wichtigen Studien Rosas zur Redundanz führt.

2.
Wenn der Autor hier von Religion spricht, dann meint er explizit immer auch die „starke Stimme der Kirche“ (S. 25), Religion und Kirche(n) werden also ziemlich unbefangen identifiziert. Abgesehen davon: Der Autor betont sehr allgemein und sehr knapp: „Kirche hat … eine verdammt wichtige, sehr wichtige Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen. Ganz einfach weil ich glaube, dass sie einer Gesellschaft etwas anzubieten hat“ (S. 26f.) Bei diesen Allgemeinheiten bleibt es denn auch, vielleicht noch der ebenso allgemeine Hinweis, dass wir in der „ernsthaften Krise“ der „religiösen Einrichtungen, Traditionen, Praktiken, Riten usw. bedürfen“ (S. 27). Die Kirche kann das in dieser Gesellschaft fehlende „hörende Herz“ (S. 27) pflegen und bereiten, heißt es dann noch.

3.
Kein Wort dazu, dass gerade die katholische Kirche in Deutschland und tatsächlich weltweit in mehrfachen selbst gemachten, eigenen, gravierenden Krisen steckt, allen voran der tausendfache sexuelle Missbrauch durch den angeblich zölibatären Klerus; der Niedergang von Pfarr-Gemeinden durch den Priestermangel; die Abweisung der Frauen vom Priesteramt; die Abweisung der Ehe für homosexuelle Paare; das Verbot des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken mit Protestanten und so weiter und so weiter. Da ist es schon sehr mutig und sehr gewagt, wenn ein prominenter Soziologe (und Christ bzw. auch Organist in einer evangelischen Kirche im Schwarzwald) solche Allgemeinheiten zu der angeblichen Notwendigkeit der Kirche verbreitet.

4.
Der Text der Broschüre Hartmut Rosas geht auf eine Einladung des Bistums Würzburg im Jahr 2022 zurück, das Bistum hatte einen Diözesan-Empfang organisiert, den sie mit einem akademischen Vortrag schmücken wollte: Tatsächlich hatte der Vortrag in Würzburg einen anderen Titel als das Buch, er lautete in Würzburg: „Rasender Stillstand. Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen – ein soziologischer Bestimmungsversuch.“

5.
Das Thema der Broschüre wird als herausfordernde These, nicht als Frage, formuliert „Demokratie braucht Religion“. Und es ist nicht nur meine Meinung, wenn diese Erkenntnis diskutiert würde: Die Demokratie braucht zumindest nicht diese Religion, also diese katholische Kirche in Deutschland. Die Demokratie muss sich aus eigener Kraft, durch gerechte Gesetze und unabhängige Richter sowie nicht korrupte Politiker selbst stärken und selbst verteidigen, denn sie ist eine Demokratie in einem religiös, weltanschaulich pluralistischen Staat. Da braucht man auch nicht die Hilfe etwa des konservativen Islams oder der orthodoxen Juden usw. Denn die römisch-katholische Kirche kann aufgrund ihrer Verfassung gar nicht wirksam Demokratie fördern und glaubhaft Menschenrechte verteidigen. Denn sie ist bekanntlich selbst in keiner Weise demokratisch organisiert, sie lässt die Menschenrechte in der eigenen Institution nicht gelten, siehe auch das verzweifelte Bemühen einiger Unentwegter im „Synodalen Prozess“. Diese Kirche ist ein Club, in dem Männer alles Wichtige definitiv aufgrund angeblicher göttlicher Vollmacht entscheiden. Und dieser Männerclub ist insgesamt sehr extrem moralisch belastet und kaum noch glaubwürdig, ist eingezwängt von berechtigten Anklagen, Prozessen… und diese Kirche stinkt trotzdem vor Geld – verglichen mit anderen Kirchen, etwa in Frankreich. Denn trotz der stetig steigenden hohen Austrittszahlen fließen die vielen Millionen Euros an Kirchensteuer. Diese Kirche lebt materiell also von “nicht-praktiziernden Katholiken”, das sind ca. 80 Prozent aller, die sich als Mitglieder dieser Kirche bezeichnen.

6.
Also, in dieser aktuellen Situation zu behaupten, „Demokratie braucht Religion“ ist geradewegs verwegen, zumal nicht die private, möglicherweise innige mystische Religion und Frömmigkeit gemeint ist, sondern die römisch katholische Kirche als Institution. Meine Meinung: Diese muss erst eine Reformation (nicht Reform, sondern Reformation) erleben, um wieder „gebraucht“ zu werden, Das heißt ja nicht, dass einzelne Pfarrer, Ordensleute oder ehrenamtliche Frauen und Männer an der Basis Hilfen etwa im caritativen Bereich leisten, aber das „Gesamtimage“ der Kirche ist zu beschädigt, als da noch von „Gebrauchtwerden“ die Rede sein könnte. (Ergänmzung am 15.11.2022: Siehe dazu unter Nr. 11 einen Hinweis auf eine katholische Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus” am 14.11.2022)

7.
Das heißt nun wiederum nicht, dass die ca. 40 Seiten der Broschüre, die sich auf die soziologische Analyse und die Präzisierung des Begriffes Redundanz beziehen, nicht lesenswert seien. Im Gegenteil, wegen dieser komprimierten Zusammenfassung DES Forschungsthemas von Prof. Hartmut Rosa lohnt es sich, das Büchlein zu lesen. Ich brauche hier diese Kurzfassung der Rosa Thesen zur Redundanz nicht zu wiederholen, die Broschüre bietet sie leicht nachvollziehbar an.

8.
Am Ende dieser Darstellung wird noch einmal auf die Religion verwiesen, merkwürdigerweise sogar auf das Dogma der Dreifaltigkeit (S. 69), in dem Rosa ein „Resonanzverhältnis zwischen Vater, Sohn und Heilige Geist“ entdeckt, der Philosoph Hegel hätte sich über diesen Hinweis sehr gefreut. Wesentlich hilfreicher sind dann die schon ins Theologische greifenden Thesen Rosas: „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung“, Rosa denkt dabei vielleicht an einen schöpferischen Gott, absoluten Geist, an eine unendliche Kraft von allem?

9.
Wie Jürgen Habermas schon seit 2000 ist auch Hartmut Rosa überzeugt: Religionen und Kirchen haben doch noch ein „Ideenreservoir“ (S. 74), das unsere Gesellschaft niemals vergessen darf. Denn sonst „ist sie (die Gesellschaft, diese Welt) endgültig erledigt“ (S. 74). Man schaue aber nur auf die Russisch-orthodoxe Kirche und ihren Kriegstreiber Patriarch Kyrill von Moskau, um dann doch Zweifel zu formulieren: Ist diese Welt nicht gerade wegen dieser korrupten Kirche und anderer korrupter Kirchen (solcher, die Menschenrechte missachten, den Faschismus dulden etc.)„erledigt“. Darüber würde man sich weitere Ausführungen bei weiteren „Diözesanempfängen“ wünschen….

10.
Zu der Broschüre hat der Politiker Gregor Gysi (Partei Die Linke) ein kleines Vorwort verfasst. Gysi, der „Nichtglaubende“ (S. 13) wiederholt seine These: Der befreiende (!) Gehalt religiöser Ideen sollte nicht verloren gehen“ (ebd.) Der bekannte Politiker muss sich eingestehen, dass die Linke jetzt keine grundlegenden Moral – und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft“ (S. 14) anbieten kann. Das ist schlimm genug, zumal der Markt (also der Kapitalismus) „auch keine Moral-und Wertvorstellungen hervorbringen“ kann (S. 15), meint Gysi. In einer Gesellschaft ohne Moral soll also die Kirche helfen? Gysi lobt bei diesen trüben Aussichten das ehrenamtliche Engagement vieler Mitglieder der Kirche zugunsten der Humanität, „auch wenn bei den Kirchen nicht alles im Lot“ ist. Wenn man diese Zeilen Gysis liest, könnte man sich wünschen: Ein Dialog Gysi – Rosa beim „Diözesanempfang“ wäre in jedem Fall spannend gewesen, wenn sich denn auch der Bischof in diese Runde diskutierend begeben hätte… Dann wäre danach sogar noch ein Buch entstanden.

11. Aus der katholischen Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus”: Am 14.11.2022:

Der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Frank Schwabe (SPD), forderte die Entlarvung religiös begründeter Populismen – sonst werde Religion am Ende “wirklich weltweit in ganz unterschiedlichen Systemen der Treiber für Unfreiheit”. Ideologische Abgrenzungen und einfache Wahrheiten seien eng verwoben mit rechtspopulistischen Ansichten: “Und das zusammen wird eine ganz, ganz gefährliche Melange, die am Ende dazu geeignet ist, Demokratien in Diktaturen zu verwandeln.“

ONLINE-Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus“ am 14.11.2022 um 14.30 Uhr.

Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Kösel Verlag München, 2022, 75 Seiten. 12 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Heiliges Privat-Eigentum. Weil einige viel zu viel Privateigentum haben, müssen heute 3 Milliarden Menschen hungern.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.10.2022. ZUR “BÜRGERBEWEGUNG FINANZWENDE”: Siehe die Informationen am Ende dieses Beitrags (Nr.11)

Das Leitwort: “330 Milliarden US-Dollar könnten helfen, um Hunger und Armut zu beenden, laut einer von der deutschen Regierung unterstützten Studie. Dies betont Thomas Rath,  vom “Fond für landwirtschaftliche Entwicklung”, IFAD, im Tagesspiegel, 18. Oktober 2022. Und ich füge hinzu: Diese 330 Milliarden könnten die vielen Milliardäre zusammen mit solidarischen Millionären heute weltweit mit Leichtigkeit aufbringen. Und ethisch korrekt gesagt: Wenn diese Herren Milliardäre ein soziales Gewissen hätten… Und eine entsprechende politische Debatte geführt würde. Aber die demokratischen Politiker sind dazu zu feige…

1.
Die Fixierung aufs Privat-Eigentum ist eine der leidenschaftlichsten Energien der meisten Menschen, sie ist mit grenzenloser Gier und Habsucht verbunden. Und die äußern sich aggressiv, kriegerisch, tötend. Auch Nationalismus ist Gier, wird zum Wahn, siehe Putin, siehe Xi. Wer viel Eigentum hat, etwa die Millionäre und Milliardäre, denkt bestenfalls daran, mit den üblichen Spenden das elende Leben von hungernden Millionen Menschen zu verbessern. Dabei könnte, pauschal gesagt, die gesetzliche Halbierung des Privateigentums von Milliardären den Hunger in der Welt besiegen, abgesehen von vielen anderen Wohltaten für die Menschheit. Aber nein, diese gesetzliche Halbierung will fast niemand, spricht fast niemand an, so krepieren Millionen Hungernder weiterhin und die Milliardäre zählen ihr Geld. Geld als Geldvermehrung ist ihr Lebenssinn. Die Welt dieser Leute ist auch erbärmlich, diese Leute sind ausgehungert an Geist und humaner Vernunft.

2.
Wer philosophisch – kritisch denkt, von christlichem Geist des Teilens soll gar keine Rede mehr sein, weil selbst die reichen Kirchen auch meist zu bescheidenen Spenden bereit sind, wer also philosophisch-kritisch denkt, beachte diese Erkenntnis: Sie wird von der seriösen und gar nicht marxistisch angehauchten „Enzyklopädie Philosophie“ mitgeteilt: „Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften… Es gibt jedenfalls wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte. Und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie es sich in der Geschichte der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gezeigt hat“, „Enzyklopädie Philosophie”, Band I, S. 454, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, der Beitrag „Eigentum“ ist verfasst von Helmut Rittstieg.
Der Psychoanalytiker und Philosoph hat daran erinnert, welche seelischen Schäden die Fixierung aufs Eigentum bewirkt, man denke an sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er klar die Alternative formulierte: Erstarrtes Ego-Leben in der Fixierung aufs Haben (Eigentum) ODER lebendiges Miteinander im Sein, in der umfassenden Bejahung des geistigen Lebens und des Teilens. Wer allen Wert aufs Eigentum, aufs Haben legt, meint: Ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet meine Identität. Ich kontrolliere dann alles, was ich habe, auch Menschen. Der aufs Eigentum fixierte Mensch definiert sich durch seine Bindung an die Objekte, ans Eigentum. Er verliert sich selbst als Subjekt.

3.
Trotz dieser üblichen Verbindung von Gewalt und der maßlosen Liebe zum Privat-Eigentum bleibt für die reiche Welt, inklusive der Frommen und der religiösen Führer aller Religionen, Eigentum wichtigster Lebenssinn. Die Privateigentümer legen wert auf ein undifferenziertes Verständnis des Eigentums, es wird so getan, als wäre das maßlose Privateigentum der Milliardäre genauso ein unstrittiger Wert wie das selbstverständliche Eigentum der Bürger: Diese nutzen ihr bescheidendes Privateigentum als persönliches Gebrauchseigentum nur für die individuelle Lebensgestaltung. Ethisch steht fest: Nur dieser überschaubare, praktische Gebrauch meines Eigentums zur privaten Lebensgestaltung ist ethisch sinnvoll. Eigentum ist nicht automatisch und in jedem Umfang und immer etwas Gutes, eine geradezu banale Aussage, die längst nicht selbstverständlich ist. Das Eigentum muss, das lehrte schon Aristoteles, in den Dienst des Lebens aller Menschen gestellt werden. Privateigentum in extremem Auswuchs darf nicht das Menschenrecht aushebeln, dem folgend alle Menschen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben, und nicht nur einige. Darauf haben jetzt u.a die Philosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen immer wieder hingewiesen.

4.
Falls man noch christlich interessiert ist im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth, könnte als Motto zu diesem philosophischen Hinweis ein Zitat des außergewöhnlichen sozialkritischen Bischofs und Theologen Johannes Chrysostomos (349-407) stehen: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”. Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (2020), dort unter Nr. 119 mit dem Titel: “Über die Geschwisterlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (349-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt… Bekanntlich haben sich die Kirchenleitungen nicht an die Weisungen von Johannes Chrysostomos gehalten… Die Päpste haben die Etablierung des Adels geduldet, sie haben die oberen Klassen des Klerus selbst dem Adel reserviert, sie haben die Gier der Priester zum üblichen Alltag gemacht und Armutsbewegungen wie die Franziskaner erst dann geduldet, als diese sich den Päpsten unterwarfen. Und heute? Die Gehälter der Bischöfe und Erzbischöfe, der Landesbischöfe und Generalsuperintendenten in Deutschland sind auch Beweis, dass es diesen hohen Herren und auch protestantischen kirchenleitenden Damen doch sehr auf ein sehr reichlich bemessenes Eigentum ankommt. Kürzlich hat Kardinal Marx aus seinem „Privateigentum“ 500.000 Euro in eine soziale Stiftung umgewandelt, aus Ersparnissen seines Gehaltes von 13.654,43  Euro monatlich kann solch eine Summe kaum entstehen… Leider hat Kardinal Marx in seiner Großzügigkeit unter seinen „Mit-Oberhirten“ keine Nachfolger gefunden. (Quelle: https://juedischerundschau.de/article.2020-05.corona-elftausend-euro-mannbedford-strohm-fordert-verzicht-von-anderen.html)
5.
Die Gesellschaft und die Staaten sind jetzt, in diesen Zeiten vielfältiger Krisen gespalten, katastrophal gespalten, nicht Kooperation, sondern Feindschaft ist die Ideologie der um Eigentum an Land, Bodenschätzen, Einflusssphären kämpfenden Staaten. In den demokratischen Gesellschaften kämpfen die vielen prekär lebenden, eigentumslosen Menschen mit den eher wenigen, die auch in Krisenzeiten ökonomisch privilegiert dastehen. Weltweit wird die ungerechte Verteilung des Eigentums immer bedrohlicher: Arme gegen Reiche, Millionen Bettelarmer gegen einige tausend Milliardäre. Millionen Menschen mit einem Dollar pro Tag stehen schwach und ausgehungert gegen Leute mit einer Million Dollar pro Tag als „Taschengeld“. „Die armen Länder sollten Anrecht auf einen Teil der Steuern multinationaler Konzerne und der Milliardäre dieser Erde haben. „Denn der Wohlstand der reichsten Akteure ist völlig dem globalen Wirtschaftssystem und der internationalen Arbeitsteilung geschuldet“ (Thomas Piketty, „Ungleichheit“, C.H.Beck Verlag 2022, S. 232). Die „reichen Länder verdienen an den armen Ländern aufgrund des von der Welt der Reichen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems.

6. Erinnerung an einige Fakten:
Die internationale Hilfsorganisation OXFAM schreibt am 12.1.2022:
Die Reichsten verdoppeln ihr Vermögen – während über 160 Millionen zusätzlich in Armut leben. Die einen verdienen, die anderen sterben: Wie die Covid-19-Pandemie Ungleichheit befeuert. Während der Covid-19-Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen verdoppeln, auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.
Ungleichheit ist zudem eine Frage von Leben und Tod: Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Oxfam fordert von den Regierungen weltweit, Konzerne und Superreiche zur Finanzierung sozialer Grunddienste stärker zu besteuern, für globale Impfgerechtigkeit zu sorgen und die Wirtschaft am Gemeinwohl auszurichten“. (Quelle: OXFAM, 12.1.2022)

7.
Zur dramatischen Nahrungsmittelkrise: „Wir entfernen uns immer weiter von der Beendigung des Hungers“. Zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022 zeichnet sich ab, „dass die globalen Ernährungssysteme versagen. Die Lage verschlechtert sich drastisch“. (Tagesspiegel 16.10.2022)
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande, in DEUTSCHLAND, derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
Die Öffentlichkeit weiß mehr über Armut und Arme als über die Reichsten, sie sind diskret. Es gibt Armutsforschung, aber fast keine Reichtums Forschung. Das kann sich ändern, wenn sich mehr Leute informieren: Über die Top 20 deutschen Milliardäre: LINK https://www.merkur.de/wirtschaft/reichste-deutsche-vermoegen-geld-deutschland-milliardaere-gehalt-thiele-aldi-lidl-sap-plattner-bmw-albrecht-zr-90101849.html
Die reichsten Milliardäre weltweit: LINK: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181482/umfrage/liste-der-top-25-milliardaere-weltweit/

8.
Wie kann Gerechtigkeit gesetzlich geschaffen werden in einer Welt zunehmender Ungleichheit in der Verteilung des Privateigentums? An die gesetzliche Halbierung des Milliardärs-Eigentums ist kaum zu denken. ABER:
Die Frage wird eher selten gestellt. Wer sind konkret namentlich diejenigen, die über eine offenbar allmächtige Lobby auch weltweit verfügen und über bestimmte, sich in Europa liberal nennende Parteien durchsetzen, um ihren luxuriösen Luxus-Standart gesetzlich festschreiben lassen: Also Parteien, die als Vertretungen eher von Minderheiten so mächtig sind, dass sie etwa in Deutschland gerechte Vermögenssteuer verhindern und gerechte Erbschaftssteuer, gerechte Verfolgung von Milliardären, die sich als Oligarchen aus autokratischen Regimen in Demokratien niederlassen usw.

9.
Der Religionsphilosophische Salon befasst sich mit dem Thema „Eigentum“, weil Privat-Eigentum, in welcher Form auch immer, in weiten Kreisen als heilig gilt, also als unantastbar, als verehrungswürdig, als Phänomen, vor dem man förmlich niederkniet, dem man als Geld und als Wachstum des eigenen Vermögens alles opfert … an eigener Lebens-Zeit und geistiger Energie: Dieses Privateigentum ist also göttlich. Eigentum also ein dringendes religionsphilosophisches Thema. Ein Thema der Religionskritik: Zu den vielen Göttern der kapitalistischen Gegenwart gehört als einer der Ober-Götter das Privateigentum.Vor ihm knien alle nieder. Insofern ist unsere „säkulare“ Gesellschaft frei vom Glauben an den Gott der Bibel, aber es gibt genug Ersatz-Götter.

10.
Im August 2021 hatte ich einen etwas ausführlicheren Hinweis zu Pierre-Joseph Proudhon veröffentlicht unter dem Titel, auf sein Werk bezogen: Eigentum ist Diebstahl“. Dieser Beitrag hat viel Aufmerksamkeit gefunden: LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/13911_eigentum-ist-diebstahl-proudhon-1809-1865_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher

11.

Ist die Debatte über Eigentum überhaupt die richtige Diskussion? Müsste man sie nicht umlenken auf die Debatte über Reichtum und über das Vermögen?, so fragt der Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ. Er ist Mitbegründer einer wichtigen Initiative: “Finanzwende”: https://www.finanzwende.de/ueber-uns/wer-wir-sind/

Bürgerbewegung Finanzwende e. V.
Motzstraße 32 · 10777 Berlin  
Telefon 030 208 370 810
newsletter@finanzwende.de
www.finanzwende.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Abschied vom klassischen Herrscher – Gott in der Höhe. Und dabei den schwachen Gott entdecken.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von John D. Caputo.
Von Christian Modehn.

Das Buch von John D. Caputo „Die Torheit Gottes“ ist sicher eines der besonders anregenden (und „zugänglichen“) Bücher über Religion und Glauben in diesem Herbst 2022. Endlich ein theologisches Buch (von einem Philosophen !), das etwa die ewigen Debatten über Strukturreformen der katholischen Kirche beiseite setzt, weil es zeigt: Auf etwas ganz anderes kommt es an: Auf die Korrektur des Gottesbildes, also auf die Korrektur der üblichen herrschenden Dogmatik der klerikalen Herrscher.
Es geht in diesen jetzt existentiell hoch belastenden Zeiten also um viel Wichtigeres, es geht um die Frage: An welchen Gott (des Christentums) kann ich und will ich vielleicht noch glauben? Welcher Gott erdrückt mich nicht mit seiner absoluten Last der Gesetze, welcher Gott ist förmlich sanft und machtlos, welcher ruft in ein Leben der Freiheit? Dies ist der Ausgangspunkt des Buches „Die Torheit Gottes“ von John D. Caputo.

1.
Darüber besteht für Caputo – und nicht nur ihn – völlige Gewissheit: Wer heute mit klarer Vernunft an Gott glauben will, sollte sich von den klassischen Gottesbildern befreien. Das tun Gott sei Dank allmählich viele. Denn eine dauerhafte Bewusstseinsspaltung zwischen einem naiven Kinder – Glauben und einem kritischen Bewusstsein wollen nur die vielen Evangelikalen, Pfingstler, konservativen Katholiken und Putin-gläubigen Orthodoxen hinnehmen. Vor allem das Bild von Gott als oberstem Sein selbst, als Gott in der Höhe, an der obersten Spitze aller denkbaren Hierarchien, allmächtig und von Engeln umgeben und so weiter, kann ein Mensch mit klarer Vernunft nicht akzeptieren. Dort startet Caputo mit seinen Reflexionen, die in 10 Kapiteln immer wieder die eine Grund-These umrunden: Nur ein schwacher Gott eröffnet heute lebendiges, freies Leben.

2.
Dabei ist der „schwache Gott“ für jene Leute, die immer noch an einen göttlichen Tyrannen im Himmel glauben, die größte Provokation. Caputos Buch ist insofern der Aufruf zur Reform, mehr noch: Zur Reformation des christlichen Denkens und Handelns. Alles kommt darauf an, die materiell gar nicht greifbare Stimme des schwachen Gottes im Gewissen (im Geist) zu vernehmen. Dort und nur dort ereignet sich der Unbedingte, der Gott, der leise die Menschen zum ethisch guten Leben und politischen Handeln aufruft. Diese Stimme des schwachen Gottes ist unbedingt, kann aber vom Menschen ignoriert und überhört werden, was ja faktisch ständig geschieht bei so vielen Verbrechern in der Politik in dieser verrückten Welt.
Das ist der Mittelpunkt des Plädoyers Caputos für den schwachen Gott. Wer dieses Zentrum erreichen will, lese zu Beginn die letzten Zeilen unter dem Titel „Genug gesagt“ in dem Buch, S. 149 bis 152.

3.
Hier aber noch einige weitere Hinweise und Bemerkungen zu dem Buch mit dem provozierenden Titel „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“.
Der US-Amerikaner John D. Caputo wurde 1940 geboren, er ist katholisch gebildet, er war einige Jahre Mitglied des Ordens der „La Salle-Schul-Brüder“ (Quelle: Revista Hispanoamericana T.O.R., Num. 2, 2021, P. 69 ff)
Eine lange Liste Englisch sprachiger Bücher dokumentiert die philosophische Leidenschaft Caputos, die Bibliographie nennt 13 Titel (S. 153).

4.
Caputos Buch„Die Torheit Gottes“ hat den Untertitel „Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Und auf S. 100 werden wir informiert: „Die Torheit Gottes besteht darin, dass Gott nicht existiert“. Das ist ein typischer Caputo-Satz. Der Philosoph mit einer starken Kompetenz für theologische Probleme neigt auch zu sperrigen Formulierungen, manchmal sind sie etwas flapsig, leicht ironisch, so auch hier: Der gerade zitierte Satz könnte (von mir) also übersetzt werden, leicht provozierend wie bei Caputo selbst: „Der klassisch verehrte Gott ist so dumm (so töricht, Torheit!), dass dieser klassische Gott gar nicht existiert“. Auf S. 67 stellt Caputo die eher rhetorische Fragen: „Was ist Gott anderes als die Möglichkeit des Unmöglichen, das Wort für das Ereignis des (Un)Bedingten?…“ Das „Ereignis“ ist das überraschende Geschehen der Öffnung des Daseins aus den Verklemmtheiten und Versperrungen im Denken: Im Ereignis spricht uns etwas Unbedingtes zu, „die Aussicht auf etwas, das im Kommen ist und das den Horizont der Gegenwart erschüttert“ (S. 119).

Im „Ereignis“ also zeigt sich das Unbedingte, ein Wort, das Caputo sehr schätzt in seiner Hochachtung für den Theologen Paul Tillich! Und dieses Unbedingte als das lebendig Göttliche existiert nicht, sondern, und das ist mehr als ein Sprachspiel: Dieser Gott in-sistiert, d.h. er drängt sich auf inmitten des Lebens. Er ruft – im Gewissen, so interpretiere ich – den Menschen auf, lebendiger als bisher zu leben, Verantwortung zu übernehmen, zu lieben… Aber es ist keine objektiv greifbare Wesenheit, die da ruft, betont Caputo etwas verschlüsselt, sondern eine „nicht-existierende Unbedingtheit“ (S.151). Es ist ein niemals zu greifender Gott, der in seinem sanften In-sistieren im Geist der Menschen „auftritt“ und insgesamt schwach ist und nicht herrschend und mächtig. Der schwache Gott ist DAS Thema Caputos, ein Thema, das ihn mit dem italienischen Philosophen Gianni Vatttimo verbindet (vgl. etwa Gianni Vattimo, „Glauben-Philosophieren“, Reclam 1997).

5.
Dieser Gott, der nicht „greifbar“, nicht definierbar ist, der nicht existiert, führt die glaubenden Christen zur Einsicht: Sie, die den nicht-existierenden („objektiv vorhandenen“) Gott ablehnen, sind eigentlich auch Atheisten, weil sie den klassisch – dogmatisch vermittelten Gott zurückweisen. Und die klassischen, „aufklärerischen“ Atheisten, die gerade diesen angeblich objektiv existierenden Gott ablehnen, müssen sich nun auch neu orientieren, wenn denn der „wahre Gott“ der jeweils neu mitten im Leben insistierende schwache Gott ist!
Man möchte fast den Gedanken in Formulierungen der etwas flapsiger Art fortführen, ein Stil, den auch Caputo in dem Buch schätzt und dann sagen: Vielleicht werden angesichts des schwachen Gottes auch die Atheisten schwach und… beginnen an den schwachen Gott zu glauben?

6.
Caputo ist einer der wenigen katholischen Philosophen und Theologen, die sich explizit zustimmend und lernend auf den Philosophen Jacques Derrida beziehen. Auch in diesem Buch! Caputo hatte zuvor intensiv Heidegger studiert, Thomas von Aquin ebenso und Augustinus und Kierkegaard… Derrida ist (neben Tillich) sozusagen die wichtigste Quelle der Inspiration für Caputo. Über Derrida hat Caputo mehrere Tagungen an der Villanova-Universität (Philadelphia, USA, geleitet vom Augustiner-Orden) organisiert.

7.
Caputo liebt die philosophische Spekulation, das Hin und Her der Begriffe, er begibt sich auf seine Art in die Abgründe der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, die ewig die Frage diskutiert: Welcher Gott ist denn nun wirklich göttlich und kann als solcher von den kritischen Menschen akzeptiert werden. Auch den Menschen in Indien, in Tokio, am Amazonas? Diese Frage stellt Caputo nicht. Er ist als westlicher, klassisch gebildeter Philosoph mit seiner Liebe zur Postmoderne und zur „Dekonstruktion“ (die wichtigste philosophische Aktivität von Jacques Derrida) immer noch auf der alten europäischen Fährte der Suche nach einem göttlichen Gott, dem ganz Anderen, der alle Begriffe sprengt.
So will Caputo im Denken freien Raum schaffen, er muss alte Gottesbilder entfernen, nur so kann er auch neu über den Zentralbegriff der biblischen Botschaft nachdenken, das Reich Gottes. Bei dem Thema kommen dann zum ersten Mal etwas politisch bestimmte Aspekte zur Sprache.

8.
Letztlich ist für Caputo das Reich Gottes eine Welt der Menschen, die sich ganz der Nächstenliebe verschrieben haben. Nur darauf kommt es an! Wahrscheinlich hat Caputo dieses Buch vor allem geschrieben, um zu dieser Einsicht die Glaubenden, auch die Kirchen, aufzufordern: Menschlichkeit ist das Wichtigste, sie zu fördern ist die einzige und wahre Antwort auf den „schwachen“ Ruf des Unbedingten im Menschen. Denn wenn der Ruf des schwachen Gottes im Gewissen eines jeden Menschen sich ereignet, ist ja – wie gesagt – die universelle humane Dimension des Gewissens gemeint. Denn es wäre ja verfehlt, den Ruf des Gewissens als ein explizit religiöses Ereignis zu verstehen, der Ruf des Unbedingten im Gewissen ist etwas Humanes. Wer Caputo so versteht, muss ihm förmlich eine notwendige Säkularsierung des göttlichen Rufes zugestehen. Mit anderen Worten: Es geht in dem langen Text nur um die eigentlich schlichte Einsicht: Die Menschen sollen – um Gottes willen – endlich ihrem Gewissen praktisch folgen. Kant sprach vom Kategorischen Imperativ, viele religiöse Traditionen sprechen von der „Goldenen Regel“.

9.
Es wäre weiterführend und hilfreich gewesen, wenn Caputo noch Stellung genommen hätte, zu der Frage: Wenn die Menschen diesem Ruf des Unbedingten überhaupt nicht folgen, sich also in Kriegen abschlachten und wenn die reiche kapitalistische Welt das Verhungern von Millionen Menschen einfach so hinnimmt mit wortreichen Statements, was bedeutet dann der schwache Gott? Ist er also schwach mit den (moralisch, geistig, politisch) schwachen Menschen? Von der Klimakatastrophe, von Menschen gemacht, hätte Caputo auch ein paar Worte sagen können, als Beispiel, wie der schwache Gott im Menschen wirkt oder eben nicht gehört wird.
Man möchte meinen: Vielleicht ist der schwache Gott mit seinem stillen Ruf, wie Caputo lang und breit immer wieder umschreibt, doch hoffnungslos zu schwach… und lässt es zu, dass sich die Menschen ihr eigenes und der Welten Ende bewirken. So könnte man förmlich von einer Art neuen negativen Theodizee sprechen, also von einer ungewöhnlichen Rechtfertigung Gottes angesichts des Elends der Welt!
Wer dann aber noch an dem Mythos der Schöpfung der Welt und der Menschen durch einen Gott festhält, muss angesichts des schwachen Gottes sagen: Der schwache Gott hat schwache Menschen erschaffen, die in der Lage sind, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Könnte man das ganze Geschehen eine göttliche Katastrophe nennen? Ein tröstlicher Gott ist der schwache Gott, der Gott als Torheit, jedenfalls nicht. Beruhigendes Opium ist dieser schwache Gott nun absolut gar nicht. Der Mensch steht nun angesichts des schwachen Gottes nackt und schutzlos da. Wird diese Einsicht viele Menschen, auf göttlichen Trost fixiert sind, bewegen, d.h. zur Zustimmung zu Caputos Corsxchlägen führen?

10.
Der frühere allmächtig genannte Gott, so laut und innig in so vielen theologisch dummen Kirchenliedern besungen („Großer Gott wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke“, oder: „Ein feste Burg ist unser Gott…“ usw. usw.) war ja auch schon schwach. Er hat sich gegenüber den damals schon schwach glaubenden Menschen auch nicht „stark“ durchgesetzt. Alle Lieder und Bekenntnisse waren Trallala, nette naive Poesie zur Abwechslung in den ewigen Kriegszeiten. Der Große Gott im Himmel hat das Elend der Welt auch nicht überwunden. Diese Lieder vom allmächtigen Gott waren also Ideologie der Herrscher, Beruhigung, Opium…

11.
Nebenbei: „Großer Gott wir loben dich“ wurde auf Befehl der Kaiserin Maria Theresia 1774 ins „katholische Gesangbuch“ aufgenommen. Maria Theresia war eine innenpolitisch reaktionäre, intolerante Herrscherin, sie führte drei Kriege und pries dann den großen Gott für ihre Siege… Auch Angela Merkel schätzte übrigens sehr den Song „Großer Gott wir loben dich“, siehe Zapfenstreich…Heute wissen wir, dass so vieles Löbliches bei Angela Merkel auch nicht übrig bleibt, angesichts ihrer jetzt offenkundigen Naivität und Nachlässigkeit im Umgang mit dem schon seit 2006 bekannten Diktator und Kriegstreiber Putin.

13.
Noch einmal gefragt: Kurz gesagt: Welchen Sinn hat der Glaube an einen schwachen oder auch an einen starken Gott eigentlich, wenn die Menschen diese Welt (eine Schöpfung Gottes?) In vielfacher Hinsicht systematisch zerstören und vernichten. Und die Kirchenführer sind hilflos, dem Faschismus, dem Rechtsextremismus usw. Parole zu bieten und ihre frommen Schäfchen zur politischen Vernunft, also zum praktischen Respekt der universal geltenden Menschenrechte, zu bringen.

14.
Die Übersetzer des Buches „The Folly of God“ (2016) bieten im Buch zusammen mit dem Theologen Prof. Michael Schüßler, Tübingen, noch „Resonanzen“, Reflexionen persönlicher Art, zu Caputos Einsichten (S. 157 – 166)

John D. Caputo, „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Übersetzt von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz, Grünewald-Verlag, 2022. 167 Seiten, 19€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin