Demokratie braucht Religion! Behauptet Hartmut Rosa.

Ein Hinweis auf eine Broschüre mit dem gleichen Titel.
Von Christian Modehn.

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Ein Motto, am 19. Juni 2024 von Christian Modehn notiert:

Die Pyramide ist immer das Bild, um Diktaturen zu beschreiben.

Der Faschismus Italiens z.B. war als Pyramide konzipiert und organisiert, an der Spitze konzentrierten sich alle Gewalten. So ähnlich ist auch der Vatikan, die Leitung der katholischen Kirchem bis heute organisiert. Alles dreht sich um den – bis jetzt noch – allmächtigen Papst. (vgl. den Aufsatz “Antithese des Faschismus”, von Roberto Scarpinato, in “Lettre International”, Nr. 145, S. 7).

Kann eine solche “pyramidal gestaltete Religion” die Demokratie verteidigen? Wir glauben auch aufrund historischer Erfahrungen: NEIN!

Diese Frage und diese Antwort gilt auch für andere Religionen, wie den Islam, jüdische Traditionen, den Hinduismus usw… Die Demokratie enthält so viel Potential, auch so viel geistvolle Spiritualität, dass sie sich selbst verteidigen und schützen kann. Sie braucht zu, Sufau und Erhalt religiöse Menschen, aber solche, die zuerst demokratisch denken und handeln und NICHT zuerst religiös oder kirchlich orientiert denken und handeln. Religiöse Bindung steht immer an zweiter Stelle! So, wie die allgemeinde Vernunft (der Menschenrechte und der Demokratie) immer an erster Stelle steht gegenüber Weisheiten aus religiösen Traditionen und sich heilig nennenden Büchern.

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1.
Der Titel der Broschüre von Hartmut Rosa „Demokratie braucht Religion“ ist verwirrend: Denn die größte, auch quantitative Aufmerksamkeit des Soziologen gilt der Analyse der heutigen westlichen Gesellschaft, einer Analyse, die als Wertung zu den umfassenden wichtigen Studien Rosas zur Redundanz führt.

2.
Wenn der Autor hier von Religion spricht, dann meint er explizit immer auch die „starke Stimme der Kirche“ (S. 25), Religion und Kirche(n) werden also ziemlich unbefangen identifiziert. Abgesehen davon: Der Autor betont sehr allgemein und sehr knapp: „Kirche hat … eine verdammt wichtige, sehr wichtige Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen. Ganz einfach weil ich glaube, dass sie einer Gesellschaft etwas anzubieten hat“ (S. 26f.) Bei diesen Allgemeinheiten bleibt es denn auch, vielleicht noch der ebenso allgemeine Hinweis, dass wir in der „ernsthaften Krise“ der „religiösen Einrichtungen, Traditionen, Praktiken, Riten usw. bedürfen“ (S. 27). Die Kirche kann das in dieser Gesellschaft fehlende „hörende Herz“ (S. 27) pflegen und bereiten, heißt es dann noch.

3.
Kein Wort dazu, dass gerade die katholische Kirche in Deutschland und tatsächlich weltweit in mehrfachen selbst gemachten, eigenen, gravierenden Krisen steckt, allen voran der tausendfache sexuelle Missbrauch durch den angeblich zölibatären Klerus; der Niedergang von Pfarr-Gemeinden durch den Priestermangel; die Abweisung der Frauen vom Priesteramt; die Abweisung der Ehe für homosexuelle Paare; das Verbot des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken mit Protestanten und so weiter und so weiter. Da ist es schon sehr mutig und sehr gewagt, wenn ein prominenter Soziologe (und Christ bzw. auch Organist in einer evangelischen Kirche im Schwarzwald) solche Allgemeinheiten zu der angeblichen Notwendigkeit der Kirche verbreitet.

4.
Der Text der Broschüre Hartmut Rosas geht auf eine Einladung des Bistums Würzburg im Jahr 2022 zurück, das Bistum hatte einen Diözesan-Empfang organisiert, den sie mit einem akademischen Vortrag schmücken wollte: Tatsächlich hatte der Vortrag in Würzburg einen anderen Titel als das Buch, er lautete in Würzburg: „Rasender Stillstand. Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen – ein soziologischer Bestimmungsversuch.“

5.
Das Thema der Broschüre wird als herausfordernde These, nicht als Frage, formuliert „Demokratie braucht Religion“. Und es ist nicht nur meine Meinung, wenn diese Erkenntnis diskutiert würde: Die Demokratie braucht zumindest nicht diese Religion, also diese katholische Kirche in Deutschland. Die Demokratie muss sich aus eigener Kraft, durch gerechte Gesetze und unabhängige Richter sowie nicht korrupte Politiker selbst stärken und selbst verteidigen, denn sie ist eine Demokratie in einem religiös, weltanschaulich pluralistischen Staat. Da braucht man auch nicht die Hilfe etwa des konservativen Islams oder der orthodoxen Juden usw. Denn die römisch-katholische Kirche kann aufgrund ihrer Verfassung gar nicht wirksam Demokratie fördern und glaubhaft Menschenrechte verteidigen. Denn sie ist bekanntlich selbst in keiner Weise demokratisch organisiert, sie lässt die Menschenrechte in der eigenen Institution nicht gelten, siehe auch das verzweifelte Bemühen einiger Unentwegter im „Synodalen Prozess“. Diese Kirche ist ein Club, in dem Männer alles Wichtige definitiv aufgrund angeblicher göttlicher Vollmacht entscheiden. Und dieser Männerclub ist insgesamt sehr extrem moralisch belastet und kaum noch glaubwürdig, ist eingezwängt von berechtigten Anklagen, Prozessen… und diese Kirche stinkt trotzdem vor Geld – verglichen mit anderen Kirchen, etwa in Frankreich. Denn trotz der stetig steigenden hohen Austrittszahlen fließen die vielen Millionen Euros an Kirchensteuer. Diese Kirche lebt materiell also von “nicht-praktiziernden Katholiken”, das sind ca. 80 Prozent aller, die sich als Mitglieder dieser Kirche bezeichnen.

6.
Also, in dieser aktuellen Situation zu behaupten, „Demokratie braucht Religion“ ist geradewegs verwegen, zumal nicht die private, möglicherweise innige mystische Religion und Frömmigkeit gemeint ist, sondern die römisch katholische Kirche als Institution. Meine Meinung: Diese muss erst eine Reformation (nicht Reform, sondern Reformation) erleben, um wieder „gebraucht“ zu werden, Das heißt ja nicht, dass einzelne Pfarrer, Ordensleute oder ehrenamtliche Frauen und Männer an der Basis Hilfen etwa im caritativen Bereich leisten, aber das „Gesamtimage“ der Kirche ist zu beschädigt, als da noch von „Gebrauchtwerden“ die Rede sein könnte. (Ergänmzung am 15.11.2022: Siehe dazu unter Nr. 11 einen Hinweis auf eine katholische Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus” am 14.11.2022)

7.
Das heißt nun wiederum nicht, dass die ca. 40 Seiten der Broschüre, die sich auf die soziologische Analyse und die Präzisierung des Begriffes Redundanz beziehen, nicht lesenswert seien. Im Gegenteil, wegen dieser komprimierten Zusammenfassung DES Forschungsthemas von Prof. Hartmut Rosa lohnt es sich, das Büchlein zu lesen. Ich brauche hier diese Kurzfassung der Rosa Thesen zur Redundanz nicht zu wiederholen, die Broschüre bietet sie leicht nachvollziehbar an.

8.
Am Ende dieser Darstellung wird noch einmal auf die Religion verwiesen, merkwürdigerweise sogar auf das Dogma der Dreifaltigkeit (S. 69), in dem Rosa ein „Resonanzverhältnis zwischen Vater, Sohn und Heilige Geist“ entdeckt, der Philosoph Hegel hätte sich über diesen Hinweis sehr gefreut. Wesentlich hilfreicher sind dann die schon ins Theologische greifenden Thesen Rosas: „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung“, Rosa denkt dabei vielleicht an einen schöpferischen Gott, absoluten Geist, an eine unendliche Kraft von allem?

9.
Wie Jürgen Habermas schon seit 2000 ist auch Hartmut Rosa überzeugt: Religionen und Kirchen haben doch noch ein „Ideenreservoir“ (S. 74), das unsere Gesellschaft niemals vergessen darf. Denn sonst „ist sie (die Gesellschaft, diese Welt) endgültig erledigt“ (S. 74). Man schaue aber nur auf die Russisch-orthodoxe Kirche und ihren Kriegstreiber Patriarch Kyrill von Moskau, um dann doch Zweifel zu formulieren: Ist diese Welt nicht gerade wegen dieser korrupten Kirche und anderer korrupter Kirchen (solcher, die Menschenrechte missachten, den Faschismus dulden etc.)„erledigt“. Darüber würde man sich weitere Ausführungen bei weiteren „Diözesanempfängen“ wünschen….

10.
Zu der Broschüre hat der Politiker Gregor Gysi (Partei Die Linke) ein kleines Vorwort verfasst. Gysi, der „Nichtglaubende“ (S. 13) wiederholt seine These: Der befreiende (!) Gehalt religiöser Ideen sollte nicht verloren gehen“ (ebd.) Der bekannte Politiker muss sich eingestehen, dass die Linke jetzt keine grundlegenden Moral – und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft“ (S. 14) anbieten kann. Das ist schlimm genug, zumal der Markt (also der Kapitalismus) „auch keine Moral-und Wertvorstellungen hervorbringen“ kann (S. 15), meint Gysi. In einer Gesellschaft ohne Moral soll also die Kirche helfen? Gysi lobt bei diesen trüben Aussichten das ehrenamtliche Engagement vieler Mitglieder der Kirche zugunsten der Humanität, „auch wenn bei den Kirchen nicht alles im Lot“ ist. Wenn man diese Zeilen Gysis liest, könnte man sich wünschen: Ein Dialog Gysi – Rosa beim „Diözesanempfang“ wäre in jedem Fall spannend gewesen, wenn sich denn auch der Bischof in diese Runde diskutierend begeben hätte… Dann wäre danach sogar noch ein Buch entstanden.

11. Aus der katholischen Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus”: Am 14.11.2022:

Der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Frank Schwabe (SPD), forderte die Entlarvung religiös begründeter Populismen – sonst werde Religion am Ende “wirklich weltweit in ganz unterschiedlichen Systemen der Treiber für Unfreiheit”. Ideologische Abgrenzungen und einfache Wahrheiten seien eng verwoben mit rechtspopulistischen Ansichten: “Und das zusammen wird eine ganz, ganz gefährliche Melange, die am Ende dazu geeignet ist, Demokratien in Diktaturen zu verwandeln.“

ONLINE-Fachtagung “Religionsfreiheit und Populismus“ am 14.11.2022 um 14.30 Uhr.

Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Kösel Verlag München, 2022, 75 Seiten. 12 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Heiliges Privat-Eigentum. Weil einige viel zu viel Privateigentum haben, müssen heute 3 Milliarden Menschen hungern.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.10.2022. ZUR “BÜRGERBEWEGUNG FINANZWENDE”: Siehe die Informationen am Ende dieses Beitrags (Nr.11)

Das Leitwort: “330 Milliarden US-Dollar könnten helfen, um Hunger und Armut zu beenden, laut einer von der deutschen Regierung unterstützten Studie. Dies betont Thomas Rath,  vom “Fond für landwirtschaftliche Entwicklung”, IFAD, im Tagesspiegel, 18. Oktober 2022. Und ich füge hinzu: Diese 330 Milliarden könnten die vielen Milliardäre zusammen mit solidarischen Millionären heute weltweit mit Leichtigkeit aufbringen. Und ethisch korrekt gesagt: Wenn diese Herren Milliardäre ein soziales Gewissen hätten… Und eine entsprechende politische Debatte geführt würde. Aber die demokratischen Politiker sind dazu zu feige…

1.
Die Fixierung aufs Privat-Eigentum ist eine der leidenschaftlichsten Energien der meisten Menschen, sie ist mit grenzenloser Gier und Habsucht verbunden. Und die äußern sich aggressiv, kriegerisch, tötend. Auch Nationalismus ist Gier, wird zum Wahn, siehe Putin, siehe Xi. Wer viel Eigentum hat, etwa die Millionäre und Milliardäre, denkt bestenfalls daran, mit den üblichen Spenden das elende Leben von hungernden Millionen Menschen zu verbessern. Dabei könnte, pauschal gesagt, die gesetzliche Halbierung des Privateigentums von Milliardären den Hunger in der Welt besiegen, abgesehen von vielen anderen Wohltaten für die Menschheit. Aber nein, diese gesetzliche Halbierung will fast niemand, spricht fast niemand an, so krepieren Millionen Hungernder weiterhin und die Milliardäre zählen ihr Geld. Geld als Geldvermehrung ist ihr Lebenssinn. Die Welt dieser Leute ist auch erbärmlich, diese Leute sind ausgehungert an Geist und humaner Vernunft.

2.
Wer philosophisch – kritisch denkt, von christlichem Geist des Teilens soll gar keine Rede mehr sein, weil selbst die reichen Kirchen auch meist zu bescheidenen Spenden bereit sind, wer also philosophisch-kritisch denkt, beachte diese Erkenntnis: Sie wird von der seriösen und gar nicht marxistisch angehauchten „Enzyklopädie Philosophie“ mitgeteilt: „Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften… Es gibt jedenfalls wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte. Und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie es sich in der Geschichte der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gezeigt hat“, „Enzyklopädie Philosophie”, Band I, S. 454, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, der Beitrag „Eigentum“ ist verfasst von Helmut Rittstieg.
Der Psychoanalytiker und Philosoph hat daran erinnert, welche seelischen Schäden die Fixierung aufs Eigentum bewirkt, man denke an sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er klar die Alternative formulierte: Erstarrtes Ego-Leben in der Fixierung aufs Haben (Eigentum) ODER lebendiges Miteinander im Sein, in der umfassenden Bejahung des geistigen Lebens und des Teilens. Wer allen Wert aufs Eigentum, aufs Haben legt, meint: Ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet meine Identität. Ich kontrolliere dann alles, was ich habe, auch Menschen. Der aufs Eigentum fixierte Mensch definiert sich durch seine Bindung an die Objekte, ans Eigentum. Er verliert sich selbst als Subjekt.

3.
Trotz dieser üblichen Verbindung von Gewalt und der maßlosen Liebe zum Privat-Eigentum bleibt für die reiche Welt, inklusive der Frommen und der religiösen Führer aller Religionen, Eigentum wichtigster Lebenssinn. Die Privateigentümer legen wert auf ein undifferenziertes Verständnis des Eigentums, es wird so getan, als wäre das maßlose Privateigentum der Milliardäre genauso ein unstrittiger Wert wie das selbstverständliche Eigentum der Bürger: Diese nutzen ihr bescheidendes Privateigentum als persönliches Gebrauchseigentum nur für die individuelle Lebensgestaltung. Ethisch steht fest: Nur dieser überschaubare, praktische Gebrauch meines Eigentums zur privaten Lebensgestaltung ist ethisch sinnvoll. Eigentum ist nicht automatisch und in jedem Umfang und immer etwas Gutes, eine geradezu banale Aussage, die längst nicht selbstverständlich ist. Das Eigentum muss, das lehrte schon Aristoteles, in den Dienst des Lebens aller Menschen gestellt werden. Privateigentum in extremem Auswuchs darf nicht das Menschenrecht aushebeln, dem folgend alle Menschen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben, und nicht nur einige. Darauf haben jetzt u.a die Philosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen immer wieder hingewiesen.

4.
Falls man noch christlich interessiert ist im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth, könnte als Motto zu diesem philosophischen Hinweis ein Zitat des außergewöhnlichen sozialkritischen Bischofs und Theologen Johannes Chrysostomos (349-407) stehen: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”. Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (2020), dort unter Nr. 119 mit dem Titel: “Über die Geschwisterlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (349-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt… Bekanntlich haben sich die Kirchenleitungen nicht an die Weisungen von Johannes Chrysostomos gehalten… Die Päpste haben die Etablierung des Adels geduldet, sie haben die oberen Klassen des Klerus selbst dem Adel reserviert, sie haben die Gier der Priester zum üblichen Alltag gemacht und Armutsbewegungen wie die Franziskaner erst dann geduldet, als diese sich den Päpsten unterwarfen. Und heute? Die Gehälter der Bischöfe und Erzbischöfe, der Landesbischöfe und Generalsuperintendenten in Deutschland sind auch Beweis, dass es diesen hohen Herren und auch protestantischen kirchenleitenden Damen doch sehr auf ein sehr reichlich bemessenes Eigentum ankommt. Kürzlich hat Kardinal Marx aus seinem „Privateigentum“ 500.000 Euro in eine soziale Stiftung umgewandelt, aus Ersparnissen seines Gehaltes von 13.654,43  Euro monatlich kann solch eine Summe kaum entstehen… Leider hat Kardinal Marx in seiner Großzügigkeit unter seinen „Mit-Oberhirten“ keine Nachfolger gefunden. (Quelle: https://juedischerundschau.de/article.2020-05.corona-elftausend-euro-mannbedford-strohm-fordert-verzicht-von-anderen.html)
5.
Die Gesellschaft und die Staaten sind jetzt, in diesen Zeiten vielfältiger Krisen gespalten, katastrophal gespalten, nicht Kooperation, sondern Feindschaft ist die Ideologie der um Eigentum an Land, Bodenschätzen, Einflusssphären kämpfenden Staaten. In den demokratischen Gesellschaften kämpfen die vielen prekär lebenden, eigentumslosen Menschen mit den eher wenigen, die auch in Krisenzeiten ökonomisch privilegiert dastehen. Weltweit wird die ungerechte Verteilung des Eigentums immer bedrohlicher: Arme gegen Reiche, Millionen Bettelarmer gegen einige tausend Milliardäre. Millionen Menschen mit einem Dollar pro Tag stehen schwach und ausgehungert gegen Leute mit einer Million Dollar pro Tag als „Taschengeld“. „Die armen Länder sollten Anrecht auf einen Teil der Steuern multinationaler Konzerne und der Milliardäre dieser Erde haben. „Denn der Wohlstand der reichsten Akteure ist völlig dem globalen Wirtschaftssystem und der internationalen Arbeitsteilung geschuldet“ (Thomas Piketty, „Ungleichheit“, C.H.Beck Verlag 2022, S. 232). Die „reichen Länder verdienen an den armen Ländern aufgrund des von der Welt der Reichen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems.

6. Erinnerung an einige Fakten:
Die internationale Hilfsorganisation OXFAM schreibt am 12.1.2022:
Die Reichsten verdoppeln ihr Vermögen – während über 160 Millionen zusätzlich in Armut leben. Die einen verdienen, die anderen sterben: Wie die Covid-19-Pandemie Ungleichheit befeuert. Während der Covid-19-Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen verdoppeln, auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.
Ungleichheit ist zudem eine Frage von Leben und Tod: Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Oxfam fordert von den Regierungen weltweit, Konzerne und Superreiche zur Finanzierung sozialer Grunddienste stärker zu besteuern, für globale Impfgerechtigkeit zu sorgen und die Wirtschaft am Gemeinwohl auszurichten“. (Quelle: OXFAM, 12.1.2022)

7.
Zur dramatischen Nahrungsmittelkrise: „Wir entfernen uns immer weiter von der Beendigung des Hungers“. Zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022 zeichnet sich ab, „dass die globalen Ernährungssysteme versagen. Die Lage verschlechtert sich drastisch“. (Tagesspiegel 16.10.2022)
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande, in DEUTSCHLAND, derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
Die Öffentlichkeit weiß mehr über Armut und Arme als über die Reichsten, sie sind diskret. Es gibt Armutsforschung, aber fast keine Reichtums Forschung. Das kann sich ändern, wenn sich mehr Leute informieren: Über die Top 20 deutschen Milliardäre: LINK https://www.merkur.de/wirtschaft/reichste-deutsche-vermoegen-geld-deutschland-milliardaere-gehalt-thiele-aldi-lidl-sap-plattner-bmw-albrecht-zr-90101849.html
Die reichsten Milliardäre weltweit: LINK: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181482/umfrage/liste-der-top-25-milliardaere-weltweit/

8.
Wie kann Gerechtigkeit gesetzlich geschaffen werden in einer Welt zunehmender Ungleichheit in der Verteilung des Privateigentums? An die gesetzliche Halbierung des Milliardärs-Eigentums ist kaum zu denken. ABER:
Die Frage wird eher selten gestellt. Wer sind konkret namentlich diejenigen, die über eine offenbar allmächtige Lobby auch weltweit verfügen und über bestimmte, sich in Europa liberal nennende Parteien durchsetzen, um ihren luxuriösen Luxus-Standart gesetzlich festschreiben lassen: Also Parteien, die als Vertretungen eher von Minderheiten so mächtig sind, dass sie etwa in Deutschland gerechte Vermögenssteuer verhindern und gerechte Erbschaftssteuer, gerechte Verfolgung von Milliardären, die sich als Oligarchen aus autokratischen Regimen in Demokratien niederlassen usw.

9.
Der Religionsphilosophische Salon befasst sich mit dem Thema „Eigentum“, weil Privat-Eigentum, in welcher Form auch immer, in weiten Kreisen als heilig gilt, also als unantastbar, als verehrungswürdig, als Phänomen, vor dem man förmlich niederkniet, dem man als Geld und als Wachstum des eigenen Vermögens alles opfert … an eigener Lebens-Zeit und geistiger Energie: Dieses Privateigentum ist also göttlich. Eigentum also ein dringendes religionsphilosophisches Thema. Ein Thema der Religionskritik: Zu den vielen Göttern der kapitalistischen Gegenwart gehört als einer der Ober-Götter das Privateigentum.Vor ihm knien alle nieder. Insofern ist unsere „säkulare“ Gesellschaft frei vom Glauben an den Gott der Bibel, aber es gibt genug Ersatz-Götter.

10.
Im August 2021 hatte ich einen etwas ausführlicheren Hinweis zu Pierre-Joseph Proudhon veröffentlicht unter dem Titel, auf sein Werk bezogen: Eigentum ist Diebstahl“. Dieser Beitrag hat viel Aufmerksamkeit gefunden: LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/13911_eigentum-ist-diebstahl-proudhon-1809-1865_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher

11.

Ist die Debatte über Eigentum überhaupt die richtige Diskussion? Müsste man sie nicht umlenken auf die Debatte über Reichtum und über das Vermögen?, so fragt der Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ. Er ist Mitbegründer einer wichtigen Initiative: “Finanzwende”: https://www.finanzwende.de/ueber-uns/wer-wir-sind/

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Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Abschied vom klassischen Herrscher – Gott in der Höhe. Und dabei den schwachen Gott entdecken.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von John D. Caputo.
Von Christian Modehn.

Das Buch von John D. Caputo „Die Torheit Gottes“ ist sicher eines der besonders anregenden (und „zugänglichen“) Bücher über Religion und Glauben in diesem Herbst 2022. Endlich ein theologisches Buch (von einem Philosophen !), das etwa die ewigen Debatten über Strukturreformen der katholischen Kirche beiseite setzt, weil es zeigt: Auf etwas ganz anderes kommt es an: Auf die Korrektur des Gottesbildes, also auf die Korrektur der üblichen herrschenden Dogmatik der klerikalen Herrscher.
Es geht in diesen jetzt existentiell hoch belastenden Zeiten also um viel Wichtigeres, es geht um die Frage: An welchen Gott (des Christentums) kann ich und will ich vielleicht noch glauben? Welcher Gott erdrückt mich nicht mit seiner absoluten Last der Gesetze, welcher Gott ist förmlich sanft und machtlos, welcher ruft in ein Leben der Freiheit? Dies ist der Ausgangspunkt des Buches „Die Torheit Gottes“ von John D. Caputo.

1.
Darüber besteht für Caputo – und nicht nur ihn – völlige Gewissheit: Wer heute mit klarer Vernunft an Gott glauben will, sollte sich von den klassischen Gottesbildern befreien. Das tun Gott sei Dank allmählich viele. Denn eine dauerhafte Bewusstseinsspaltung zwischen einem naiven Kinder – Glauben und einem kritischen Bewusstsein wollen nur die vielen Evangelikalen, Pfingstler, konservativen Katholiken und Putin-gläubigen Orthodoxen hinnehmen. Vor allem das Bild von Gott als oberstem Sein selbst, als Gott in der Höhe, an der obersten Spitze aller denkbaren Hierarchien, allmächtig und von Engeln umgeben und so weiter, kann ein Mensch mit klarer Vernunft nicht akzeptieren. Dort startet Caputo mit seinen Reflexionen, die in 10 Kapiteln immer wieder die eine Grund-These umrunden: Nur ein schwacher Gott eröffnet heute lebendiges, freies Leben.

2.
Dabei ist der „schwache Gott“ für jene Leute, die immer noch an einen göttlichen Tyrannen im Himmel glauben, die größte Provokation. Caputos Buch ist insofern der Aufruf zur Reform, mehr noch: Zur Reformation des christlichen Denkens und Handelns. Alles kommt darauf an, die materiell gar nicht greifbare Stimme des schwachen Gottes im Gewissen (im Geist) zu vernehmen. Dort und nur dort ereignet sich der Unbedingte, der Gott, der leise die Menschen zum ethisch guten Leben und politischen Handeln aufruft. Diese Stimme des schwachen Gottes ist unbedingt, kann aber vom Menschen ignoriert und überhört werden, was ja faktisch ständig geschieht bei so vielen Verbrechern in der Politik in dieser verrückten Welt.
Das ist der Mittelpunkt des Plädoyers Caputos für den schwachen Gott. Wer dieses Zentrum erreichen will, lese zu Beginn die letzten Zeilen unter dem Titel „Genug gesagt“ in dem Buch, S. 149 bis 152.

3.
Hier aber noch einige weitere Hinweise und Bemerkungen zu dem Buch mit dem provozierenden Titel „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“.
Der US-Amerikaner John D. Caputo wurde 1940 geboren, er ist katholisch gebildet, er war einige Jahre Mitglied des Ordens der „La Salle-Schul-Brüder“ (Quelle: Revista Hispanoamericana T.O.R., Num. 2, 2021, P. 69 ff)
Eine lange Liste Englisch sprachiger Bücher dokumentiert die philosophische Leidenschaft Caputos, die Bibliographie nennt 13 Titel (S. 153).

4.
Caputos Buch„Die Torheit Gottes“ hat den Untertitel „Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Und auf S. 100 werden wir informiert: „Die Torheit Gottes besteht darin, dass Gott nicht existiert“. Das ist ein typischer Caputo-Satz. Der Philosoph mit einer starken Kompetenz für theologische Probleme neigt auch zu sperrigen Formulierungen, manchmal sind sie etwas flapsig, leicht ironisch, so auch hier: Der gerade zitierte Satz könnte (von mir) also übersetzt werden, leicht provozierend wie bei Caputo selbst: „Der klassisch verehrte Gott ist so dumm (so töricht, Torheit!), dass dieser klassische Gott gar nicht existiert“. Auf S. 67 stellt Caputo die eher rhetorische Fragen: „Was ist Gott anderes als die Möglichkeit des Unmöglichen, das Wort für das Ereignis des (Un)Bedingten?…“ Das „Ereignis“ ist das überraschende Geschehen der Öffnung des Daseins aus den Verklemmtheiten und Versperrungen im Denken: Im Ereignis spricht uns etwas Unbedingtes zu, „die Aussicht auf etwas, das im Kommen ist und das den Horizont der Gegenwart erschüttert“ (S. 119).

Im „Ereignis“ also zeigt sich das Unbedingte, ein Wort, das Caputo sehr schätzt in seiner Hochachtung für den Theologen Paul Tillich! Und dieses Unbedingte als das lebendig Göttliche existiert nicht, sondern, und das ist mehr als ein Sprachspiel: Dieser Gott in-sistiert, d.h. er drängt sich auf inmitten des Lebens. Er ruft – im Gewissen, so interpretiere ich – den Menschen auf, lebendiger als bisher zu leben, Verantwortung zu übernehmen, zu lieben… Aber es ist keine objektiv greifbare Wesenheit, die da ruft, betont Caputo etwas verschlüsselt, sondern eine „nicht-existierende Unbedingtheit“ (S.151). Es ist ein niemals zu greifender Gott, der in seinem sanften In-sistieren im Geist der Menschen „auftritt“ und insgesamt schwach ist und nicht herrschend und mächtig. Der schwache Gott ist DAS Thema Caputos, ein Thema, das ihn mit dem italienischen Philosophen Gianni Vatttimo verbindet (vgl. etwa Gianni Vattimo, „Glauben-Philosophieren“, Reclam 1997).

5.
Dieser Gott, der nicht „greifbar“, nicht definierbar ist, der nicht existiert, führt die glaubenden Christen zur Einsicht: Sie, die den nicht-existierenden („objektiv vorhandenen“) Gott ablehnen, sind eigentlich auch Atheisten, weil sie den klassisch – dogmatisch vermittelten Gott zurückweisen. Und die klassischen, „aufklärerischen“ Atheisten, die gerade diesen angeblich objektiv existierenden Gott ablehnen, müssen sich nun auch neu orientieren, wenn denn der „wahre Gott“ der jeweils neu mitten im Leben insistierende schwache Gott ist!
Man möchte fast den Gedanken in Formulierungen der etwas flapsiger Art fortführen, ein Stil, den auch Caputo in dem Buch schätzt und dann sagen: Vielleicht werden angesichts des schwachen Gottes auch die Atheisten schwach und… beginnen an den schwachen Gott zu glauben?

6.
Caputo ist einer der wenigen katholischen Philosophen und Theologen, die sich explizit zustimmend und lernend auf den Philosophen Jacques Derrida beziehen. Auch in diesem Buch! Caputo hatte zuvor intensiv Heidegger studiert, Thomas von Aquin ebenso und Augustinus und Kierkegaard… Derrida ist (neben Tillich) sozusagen die wichtigste Quelle der Inspiration für Caputo. Über Derrida hat Caputo mehrere Tagungen an der Villanova-Universität (Philadelphia, USA, geleitet vom Augustiner-Orden) organisiert.

7.
Caputo liebt die philosophische Spekulation, das Hin und Her der Begriffe, er begibt sich auf seine Art in die Abgründe der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, die ewig die Frage diskutiert: Welcher Gott ist denn nun wirklich göttlich und kann als solcher von den kritischen Menschen akzeptiert werden. Auch den Menschen in Indien, in Tokio, am Amazonas? Diese Frage stellt Caputo nicht. Er ist als westlicher, klassisch gebildeter Philosoph mit seiner Liebe zur Postmoderne und zur „Dekonstruktion“ (die wichtigste philosophische Aktivität von Jacques Derrida) immer noch auf der alten europäischen Fährte der Suche nach einem göttlichen Gott, dem ganz Anderen, der alle Begriffe sprengt.
So will Caputo im Denken freien Raum schaffen, er muss alte Gottesbilder entfernen, nur so kann er auch neu über den Zentralbegriff der biblischen Botschaft nachdenken, das Reich Gottes. Bei dem Thema kommen dann zum ersten Mal etwas politisch bestimmte Aspekte zur Sprache.

8.
Letztlich ist für Caputo das Reich Gottes eine Welt der Menschen, die sich ganz der Nächstenliebe verschrieben haben. Nur darauf kommt es an! Wahrscheinlich hat Caputo dieses Buch vor allem geschrieben, um zu dieser Einsicht die Glaubenden, auch die Kirchen, aufzufordern: Menschlichkeit ist das Wichtigste, sie zu fördern ist die einzige und wahre Antwort auf den „schwachen“ Ruf des Unbedingten im Menschen. Denn wenn der Ruf des schwachen Gottes im Gewissen eines jeden Menschen sich ereignet, ist ja – wie gesagt – die universelle humane Dimension des Gewissens gemeint. Denn es wäre ja verfehlt, den Ruf des Gewissens als ein explizit religiöses Ereignis zu verstehen, der Ruf des Unbedingten im Gewissen ist etwas Humanes. Wer Caputo so versteht, muss ihm förmlich eine notwendige Säkularsierung des göttlichen Rufes zugestehen. Mit anderen Worten: Es geht in dem langen Text nur um die eigentlich schlichte Einsicht: Die Menschen sollen – um Gottes willen – endlich ihrem Gewissen praktisch folgen. Kant sprach vom Kategorischen Imperativ, viele religiöse Traditionen sprechen von der „Goldenen Regel“.

9.
Es wäre weiterführend und hilfreich gewesen, wenn Caputo noch Stellung genommen hätte, zu der Frage: Wenn die Menschen diesem Ruf des Unbedingten überhaupt nicht folgen, sich also in Kriegen abschlachten und wenn die reiche kapitalistische Welt das Verhungern von Millionen Menschen einfach so hinnimmt mit wortreichen Statements, was bedeutet dann der schwache Gott? Ist er also schwach mit den (moralisch, geistig, politisch) schwachen Menschen? Von der Klimakatastrophe, von Menschen gemacht, hätte Caputo auch ein paar Worte sagen können, als Beispiel, wie der schwache Gott im Menschen wirkt oder eben nicht gehört wird.
Man möchte meinen: Vielleicht ist der schwache Gott mit seinem stillen Ruf, wie Caputo lang und breit immer wieder umschreibt, doch hoffnungslos zu schwach… und lässt es zu, dass sich die Menschen ihr eigenes und der Welten Ende bewirken. So könnte man förmlich von einer Art neuen negativen Theodizee sprechen, also von einer ungewöhnlichen Rechtfertigung Gottes angesichts des Elends der Welt!
Wer dann aber noch an dem Mythos der Schöpfung der Welt und der Menschen durch einen Gott festhält, muss angesichts des schwachen Gottes sagen: Der schwache Gott hat schwache Menschen erschaffen, die in der Lage sind, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Könnte man das ganze Geschehen eine göttliche Katastrophe nennen? Ein tröstlicher Gott ist der schwache Gott, der Gott als Torheit, jedenfalls nicht. Beruhigendes Opium ist dieser schwache Gott nun absolut gar nicht. Der Mensch steht nun angesichts des schwachen Gottes nackt und schutzlos da. Wird diese Einsicht viele Menschen, auf göttlichen Trost fixiert sind, bewegen, d.h. zur Zustimmung zu Caputos Corsxchlägen führen?

10.
Der frühere allmächtig genannte Gott, so laut und innig in so vielen theologisch dummen Kirchenliedern besungen („Großer Gott wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke“, oder: „Ein feste Burg ist unser Gott…“ usw. usw.) war ja auch schon schwach. Er hat sich gegenüber den damals schon schwach glaubenden Menschen auch nicht „stark“ durchgesetzt. Alle Lieder und Bekenntnisse waren Trallala, nette naive Poesie zur Abwechslung in den ewigen Kriegszeiten. Der Große Gott im Himmel hat das Elend der Welt auch nicht überwunden. Diese Lieder vom allmächtigen Gott waren also Ideologie der Herrscher, Beruhigung, Opium…

11.
Nebenbei: „Großer Gott wir loben dich“ wurde auf Befehl der Kaiserin Maria Theresia 1774 ins „katholische Gesangbuch“ aufgenommen. Maria Theresia war eine innenpolitisch reaktionäre, intolerante Herrscherin, sie führte drei Kriege und pries dann den großen Gott für ihre Siege… Auch Angela Merkel schätzte übrigens sehr den Song „Großer Gott wir loben dich“, siehe Zapfenstreich…Heute wissen wir, dass so vieles Löbliches bei Angela Merkel auch nicht übrig bleibt, angesichts ihrer jetzt offenkundigen Naivität und Nachlässigkeit im Umgang mit dem schon seit 2006 bekannten Diktator und Kriegstreiber Putin.

13.
Noch einmal gefragt: Kurz gesagt: Welchen Sinn hat der Glaube an einen schwachen oder auch an einen starken Gott eigentlich, wenn die Menschen diese Welt (eine Schöpfung Gottes?) In vielfacher Hinsicht systematisch zerstören und vernichten. Und die Kirchenführer sind hilflos, dem Faschismus, dem Rechtsextremismus usw. Parole zu bieten und ihre frommen Schäfchen zur politischen Vernunft, also zum praktischen Respekt der universal geltenden Menschenrechte, zu bringen.

14.
Die Übersetzer des Buches „The Folly of God“ (2016) bieten im Buch zusammen mit dem Theologen Prof. Michael Schüßler, Tübingen, noch „Resonanzen“, Reflexionen persönlicher Art, zu Caputos Einsichten (S. 157 – 166)

John D. Caputo, „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Übersetzt von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz, Grünewald-Verlag, 2022. 167 Seiten, 19€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Auch Gott untersteht dem Recht und der universellen Gerechtigkeit!

Für Abraham ist Gott nicht das „Wichtigste“!
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Das Motto:
Wenn die Erkenntnis der Bibel, mitgeteilt in einigen Geschichten über Abraham, von den Religionen und Kirchen beachtet würde: Dann wäre die wahre Religion die ethische Haltung, die Gerechtigkeit für alle fordert und lebt. Dann wäre ein Ende der offenbar allmächtigen Klerus-Herrschaft (Klerus gibt es bekanntlich in allen Religionen) absehbar…

1.
Erich Fromm, Psychologe und Philosoph, hat in seiner Studie „Psychoanalyse und Religion“ (1950) eine grundlegende Erkenntnis zum Verhältnis des Menschen zu Gott (in der Überlieferung des Alten Testamentes) formuliert.
Diese Erkenntnis hat leider im Laufe der Geschichte des jüdischen Volkes und der Kirchen nur wenig Beachtung gefunden.
Und das sollte sich ändern. Nun hat sich auch der Philosoph und Kenner der hebräischen Bibel (Altes Testament) Omi Boehm in seinem neuen Buch „Radikaler Universalismus“ (2022) dieser Erkenntnis von Erich Fromm angeschlossen.Sie wird in gewisser Weise unterstützt im neuen Buch des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo „Die Torheit Gottes“.

2.
Worum geht es? In den Erzählungen des Alten Testaments verpflichtet sich Gott selbst, niemals alles Leben auf Erden zu vernichten (Gen. 9,11). Gott schließt einen Bund mit den Menschen, und diese sollen sich ihrerseits verpflichten, niemals einen anderen Menschen zu töten. Gott bindet sich also in einen Vertrag, an „ein Prinzip, das er, Gott, nicht verletzen darf, nämlich das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben….Der Mensch kann auch Gott zur Rechenschaft ziehen, wenn er sich der Verletzung des Prinzips schuldig macht“ (betont Erich Fromm, Gesamtausgabe Band VI, S. 253).
Als Gott die Städte Sodom und Gomorrha wegen der Sünde der Menschen dort vernichten wollte, wird er von Abraham daran erinnert: Er, Gott, wollte sich selbst unter das Gesetz der Gerechtigkeit stellen. Und Gott lässt sich durch Abraham an seinen Grundsatz erinnern. (Vgl. Die Erzählung Genesis, 18, Vers 25).

1966 ist Erich Fromm erneut auf dieses Thema zurückgekommen, in seinem Beitrag „Ihr werdet sein wie Gott“ (1966): „Mit der Kühnheit eines Helden fordert Abraham (im Fall von Sodom und Gomorrha) Gott auf, sich an die Grundsätze der Gerechtigkeit zu halten. Abraham verhält sich also nicht wie ein demütiger Bittsteller, sondern wie ein stolzer Mann, der das Recht hat, von Gott zu verlangen, dass dieser sich an das Prinzip der Gerechtigkeit hält“ (S. 99).

3.
Abraham ist der Vater der (monotheistisch) Glaubenden, er lehrt: Über Gott steht die Gerechtigkeit, stehen die Gesetze, zu denen er sich selbst verpflichtet hat. „Weil Gott durch die Normen von Gerechtigkeit und Liebe gebunden ist, ist der Mensch nicht länger sein Sklave. Beide Mensch und Gott, sind an festgelegte Prinzipien und Normen gebunden“, so Erich Fromm (ebd.).

4.
Auch in der späteren Erzählung über Abraham und seinen Sohn Isaac zeigt sich, dass Abraham sich dem Befehl Gottes widersetzt, seinen Sohn Isaac abzuschlachten. (Vgl. Genesis, Kap. 22, bes. Verse 9 ff.) Es sind die gründlichen Studien des Philosophen Omri Boehm, die uns von dem Klischee befreien, Abraham sei der total Gehorsame, der sich nur von einem Engel (Vers 11) davon abhalten lässt, seinen Sohn Isaac zu töten. Denn mit dem „Engel des Herrn“ wird noch unterstellt, dass Gott selbst noch die Initiative ergreift, um Abrahams Gehorsam nicht bis zur tödlichen Konsequenz zu treiben. Boehm weist nun nach, dass die beiden Verse 11 und 12, also die Verse, die vom Eingreifen des göttlichen Engels sprechen, später eingefügt wurden. Nimmt man diese beiden Verse aus der Erzählung sinnvollerweise heraus, dann ist es Abraham selbst, der zur Erkenntnis kommt: Ungehorsam gegen Gottes Tötungsbefehl ist das Wahre. Abraham entdeckt selbst den Widder, den er anstelle Isaacs tötet.

5.
Immanuel Kant hat in seiner Publikation „Streit der Fakultäten“ (1798) als einer der ersten Philosophen deutlich gefordert, dass Abraham seinen Sohn niemals hätte töten dürfen, Nur Ungehorsam gegen Gott wäre also richtig und ethisch wahrhaftig gewesen. Kant schreibt: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: Dass ich meinen guten Sohn nicht töten soll, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden“.

6.
Der Philosoph Omri Boehm hat sich ausführlich, auch von dem jüdischen Philosophen Maimonides inspiriert, mit dem ethisch richtigen Ungehorsam Abrahams befasst. „Abrahams Punkt ist, dass eine universalistische Moral nur über der Gottheit stehen kann“ (in „Radikaler Universalismus“, S. 54). Aufgrund der universellen Gerechtigkeit (die ausnahmslos ALLEN Menschen immer gilt) ist es wahr, „Gottes Autorität zu widersprechen“ (ebd.)

7.
Die revolutionäre, sozusagen Gott-kritische Erkenntnis heißt also:
„Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschließend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen“ (von Omri Boehm kursiv gesetzt, S. 21) Abraham ist der Vater aller Völker, eine Bedeutung, die ihn über Moses erhebt, betont Boehm. “Es gibt nur einen wahren Gott, doch die Autorität der universellen Gerechtigkeit steht über ihm“ (Omri Boehm, S. 22).

8.
Dies ist eine provozierende, wenn nicht unangenehme Erkenntnis für die Religionen und Kirchen. Denn ihre Theologen und Kirchenleiter und Religionsführer bedienen sich ständig mit göttlicher Autorität der Weisungen, die angeblich von Gott selbst stammen. Die Religionsführer brauchen förmlich Gott und seine begrenzten Gebote, um ihre eigene Herrschaft zu zementieren. Tausend Beispiele wären zu nennen, etwa: Israel ist nur der Staat der Juden; Frauen dürfen niemals katholische Priesterinnen werden; Frauen sind den Männern im Islam untertan usw… Es wäre wichtig, eine große Studie in Gang zu bringen, die die – geringe – Bedeutung Abrahams im Laufe der Geschichte der drei monotheistischen Religionen aufzeigt, Gehorsam gegen Gott erschien immer die den Religionsführern bequemere Lösung als das Eintreten für einen universellen religiösen Humanismus.

9.
Die entscheidende und dringend geforderte Reformation der drei monotheistischen Religionen kann nur gelingen, wenn die Religionsführer und die von ihnen geführten Gläubigen wahrnehmen und in der Praxis anerkennen: Über Gott und seinen von den Religionsführern interpretierten Gesetzen steht die universale Gerechtigkeit für alle Menschen überall und immer. Abrahams Erkenntnis könnte also heute die drei monotheistischen Religionen in ihrer Beton-Mentalität aufsprengen und endlich aus den Religionen humane Institutionen werden lassen. Aber das setzt vor aus. Dass die Religionsführer der drei monotheistischen Religionen lernfähig werden und sich endlich um die Erkenntnisse Abrahams kümmern. Aber die Konsequenzen wäre Machtverlust des gesamten „Klerus“ der drei Religionen. Und diesen Machtverlust wollen diese Herren (es sind fast immer Männer) überhaupt nicht hinnehmen. Also bleibt Abrahams entscheidender, humaner Ungehorsam gegen Gott auf Dauer doch marginal … und fast vergessen.…

10.
… So, wie die entscheidende Rede Jesu „Vom Weltgericht“ (Matthäus-Evangelium, 25. Kap., Verse 31 bis 46) als Umsturz alles nur „Religiös-Frommen“ und als Durchbruch einer humanen ethischen Haltung ALS Religion von den Religionen, Kirchen, nicht respektiert wird. Die Aussage Jesu gipfelt bekanntlich in einer Lehre umfassender Humanität: „Was ihr Menschen für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Vers 40). Das heißt: Der wahre Gottesdienst im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth ist Nächstenliebe. Alles andere ist zweitrangig, das Zweitrangige, also das Religiöse, die Gottesdienste, Liturgien, Kirchengesetze etc. werden aber vom Klerus als erstrangig gefordert und durchgesetzt. Und die Gläubigen glauben in ihrer autoritären Bindung dem Klerus auch noch und folgen nicht den Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth..

11.
Nur einige gebildete religiöse Menschen werden die Kraft haben, sich aus dieser Herrschaft der Religionsführer zu befreien und sich einer humanen Vernunft-Religion anschließen, die schon Immanuel Kant beschrieben und gefordert hat in seiner sehr lesenswerten Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. LINK

12.
Auch die Studien des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo folgen einer Erkenntnis, die der Erzählung über Abrahams Einsicht entspricht: In seinem Buch „Die Torheit Gottes“ (Grünewald-Verlag, Ostfildern 2022) befreit Prof. Caputo das religiöse Denken vom Glauben an den allmächtigen Gott in der Höhe oder auch in der Tiefe. In seinen durchaus provozierend gemeinten Überlegungen zeigt Caputo: Gott existiert nicht (als ein vorzeigbares „Objekt“), Gott existiert nicht, aber er INSISTIERT: Das heißt das göttliche Leben insistiert im Menschen als Ruf, als Aufforderung, human zu leben. Das Bild „Reich Gottes“ sagt diese Möglichkeit aus, einen universal geltenden Humanismus zu leben. (Vgl. bes. das Kapitel „Dein Reich komme“ in „Die Torheit Gottes, S. 137 ff.) Auch Caputo erinnert eindringlich an die revolutionäre Kraft der Rede Jesu vom Endgericht (S. 143).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Gegen den Wahn, sich in „Identitäten“ abzukapseln. Für einen radikalen Universalismus.

Über ein wichtiges neues Buch des Philosophen Omri Boehm. In manchen Aussagen geradezu sensationell. Haben das die Theologen endlich bemerkt?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Am 30.9.2022 veröffentlicht.

1.
Nun haben sich schon wieder Nationalisten als stärkste Parteien durchsetzen können: die Rechtsextremen und die Post-Faschisten in Italien bei den Wahlen am 25.9.2022. Ihnen gemeinsam ist die Fixierung auf die „Identität“, die sich immer über das entscheidende Wort „zuerst“ definiert: Also nun auch „Italien zuerst“, wie die postfaschistische Girorgia Meloni betont, wie früher schon Madame Le Pen mit ihrem „Frankreich zuerst“ (Le Pen) oder auch „America first“ von Mister Trump.

2.
In dieser Situation einer zunehmenden nationalen und ins Faschistische abgleitenden Identitäts-Politik ist das neue Buch des Philosophen Omri Böhm von besonderer aktueller Bedeutung. Der Titel „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“ (Propyläen-Verlag, 2022) beschreibt sein philosophisches Programm, das Boehm mit aller Schärfe und Klarheit der Argumentation vorträgt. Boehm, Jahrgang 1979, ist israelischer und deutscher Staatsbürger, er lehrt als Associate Professor für Philosophie an der „New School of Social Research“ in New York.

3.
Die heutige Betonung einer angeblich absoluten Geltung der Identitäten betrifft nicht nur die nationalistischen und faschistischen politischen Strömungen. Identitäts-Fixierungen werden sichtbar, so Boehm, in zahlreichen aktuellen Theorien und Ideologien. Etwa, wenn behauptet wird, dass vorrangig die Identitäten von Geschlechtern oder sozialen und politischen Minderheiten respektiert werden müssen, dass also „meine Bindung“ an „meine besondere Gruppe“ (bzw. Nation) wichtiger sei als mein Respekt der universalistischen Werte der Menschheit.
Jedoch gilt: An dieser „allgemeinen“ Menschheit mit ihren universalen Rechten und Pflichten hat jeder einzelne Mensch als Mensch zweifelsfrei Anteil. Und diese allen gemeinsame Bindung an die Menschheit mit ihren Rechten und Pflichten muss bestimmender und vorrangiger sein als die begrenzten Werte, die aus meiner/unserer immer begrenzten Identität (etwa als Homosexueller, als Indigener, als Katholik usw.) folgen.

Boehm tritt also in aller Schärfe für einen „universellen Humanismus“ ein, das betont er schon in seinem „Prolog“ auf S. 12. Er zeigt, dass der moralische Universalismus die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen bedeutet, für die universale Gerechtigkeit und für alle geltende Gleichheit einzutreten und diese zu leben und auch politisch zu gestalten.

4.
Die Kämpfer für die „identischen“ Rechte von bestimmten, abgegrenzten Gruppen (etwa „LGBTQ-Menschen, S. 13) will Boehm keineswegs diffamieren. Er will nur beweisen, dass sie in ihrem Einsatz für ihre Identitäten durchaus die Verbindung mit den universalen Grundrechten benötigen, soll denn das Engagement zum Ziel führen, also für sie selbst auch erfolgreich sein. Der universelle Humanismus soll also für Boehm „ein Kompass, sogar eine Waffe“ sein (S. 14). Und Boehm weiß, dass es viele „falsche Universalisten“ gibt, die mit ihren Sprüchen und Taten nur die westliche Vorherrschaft meinen, etwa: Von Menschenrechten groß schwadronieren, aber sich selbst nicht an sie binden. Das trifft etwa für die katholische Kirchenführung zu, dieses Beispiel nenne ich, nicht Boehm.

5.
Immanuel Kant ist für Omi Boehm „der unverzichtbare Denker“ (16). Kant hat, sage ich nun mit einem klassischen Begriff, „Wesentliches“ vom Menschen gedacht. Boehm meint dasselbe, wenn er betont: Kant habe den Menschen „frei von jeder Beimischung biologischer, zoologischer, historischer und soziologischer Tatsachen“ (16) erkannt. Diese Konzentration Kants auf das Allgemeine, „Wesentliche“ des Menschen bzw. der Menschheit, nennt Boehm durchgehend in seinem Buch „abstrakt“. Der entscheidende Begriff „des“ Menschen, muss also Kant folgend, „abstrakt bleiben“ (16), das betont Boehm immer wieder.
Ich möchte fragen, ob es geschickt ist, diesen universalen „Wesensbegriff“ des Menschen „abstrakt“ zu nennen. „Abstrakt“ hat oft eine negative Konnotation.
Aber abgesehen davon: Durch Kant wird die Menschlichkeit des Menschen nicht durch natürliche Bestimmungen festgelegt, sondern durch die geistigen Leistungen der Freiheit, zu der auch die Pflicht gehört, das moralische Gesetz in mir als unbedingt auch für mich geltend wahrzunehmen und ihm zu folgen. Denn der Mensch kann in seiner Freiheit dem moralischen Gesetz in seiner Lebenspraxis folgen, betont Kant, warum sonst würde sich dieses moralische Gesetz denn sonst im Menschen überhaupt unbedingt zeigen?
Wenn der Mensch sich von sich distanzieren kann, gleichsam auf sich und sein Tun “von iben rauf schaiut”, wenn er also fragen kann, was er tun soll, dann zeigt er sich darin als freie Person. Er kann dem kategorischen Imperativ prinzipiell folgen!
Dieser „kategorische Imperativ“ ist eine geistige Wirklichkeit, diese ist „nicht von Menschen gemacht“ (17), sie kann also auch nicht von Menschen ausgelöscht werden. D.h.: Der kategorische Imperativ ist also nicht an bestimmte Konventionen gebunden oder an historische Umstände, er gilt universell. Nur im Respekt vor einem „höheren Gesetz“ (20), also dem Kategorischen Imperativ, kann der einzelne darauf hoffen, dass seine persönlichen Wünsche (etwa hinsichtlich der Bindung an eine Identität) von anderen respektiert werden. Jeder, der ernsthaft seine eigenen Identitäten verteidigt, braucht als argumentative Unterstützung notwendigerweise die universalen Menschheitswerte der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit. „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit  löscht die Identitäten ja nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können“. (155).

6.
Boehm ist mit der jüdischen Spiritualität bestens vertraut. Seine besondere Leistung ist, dass er auch in seinem neuen Buch alt vertraute biblische Erzählungen korrigiert, etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel, des Alten Testaments, die sich auf die Gestalt Abrahams beziehen. Abraham ist für Boehm die entscheidende und prägende Figur der Bibel: Abraham hat als gläubiger Mensch den Mut, Gott zu widersprechen und sogar noch weiter zu gehen… Boehm betont: Dass es für Gott eine noch über ihm stehende Gerechtigkeit gibt, der auch Gott unterworfen ist. Gerechtigkeit, durch die Vernunft der Menschen erkannt, steht nicht über den göttlichen Geboten, mehr noch: Auch Gott selbst steht in der Erfahrung Abrahams unter dem universalen Gebot der Gerechtigkeit! Was für eine Aussage, deren Konsequenzen leider Boehm nicht weiter entwickelt! Diese Erkenntnis führt zu einer radikalen Kritik des überlieferten und konfessionell immer nicht prägenden Begriff Gottes!

7.
In seiner Auseinandersetzung mit Gott angesichts der Bestrafung von Sodom und Gomorrah betont Abraham: „Sollte der Richter aller Welt, Gott, nicht gerecht richten“? (Genesis, 18., Vers 25). Die universelle Gerechtigkeit, die eben auch die Rettung der wenigen Unschuldigen in Sodom und Gomorrha betrifft, ist also wichtiger und größer als Gott selbst! Gort muss sich an das Prinzip der Gerechtigkeit binden!
Diese Erkenntnis bezieht Boehm auch auf die bekannte Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaac. Boehm zeigt: Abraham widerspricht Gott, und er opfert seinen Sohn gerade NICHT, wie es Gott anfänglich verlangte. Boehm hat zu dieser biblischen Erzählung ausführliche Studien betrieben. In der „Jüdischen Allgemeinen“ hat er schon am 24.2. 2015 darüber kurz berichtet: „Ich versuche nun, zu zeigen, dass zwei Verse dieser biblischen Geschichte in Wirklichkeit nachträgliche Hinzufügungen zum Originaltext sind. Es handelt sich um die Verse 11 und 12 in Genesis, Kapitel 22, in denen der Engel des Herrn Abraham im letzten Moment davon abhält, seinen Sohn zu töten. Wenn man diese Verse – eine spätere Einfügung – wieder herausnimmt, bekommt man eine in sich geschlossene, aber völlig andere Geschichte. Das heißt: Abraham entscheidet selbst und auf eigene Verantwortung – ohne das Eingreifen des Engels –, Gottes Weisung nicht zu befolgen“. Deshalb meint Boegm: Ungehorsam ist ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und gerade nicht blinder Gehorsam.
Noch einmal: In seinem neuen Buch betont Boehm: „Da die Gerechtigkeit universell ist, steht sie auch über der Autorität der einen wahren Gottheit“ (53). Diese über allem und allen stehende Gerechtigkeit ist entscheidender noch als Gott! Das in dieser Deutlichkeit zu sagen, ist sensationell, weil dann Gott nicht mehr der „Aller-Oberste“ ist. Es gibt noch eine Art „Gott über Gott“, dies ist die universale Gerechtigkeit. Aber die zeigt sich in der Erfahrung der Menschen als eine nicht von Menschen gemachte und von Menschen verfügbare Wirklichkeit.

8.
Ist diese oberste Gerechtigkeit also selbst „wahrhaftig“ göttlich zu nennen, sozusagen der „oberste Gott“? Sollte sie, diese universale Gerechtigkeit, dann nicht auch – in welcher Form – verehrt werden?
Diese Frage wird leider von Boehm nicht erörtert. Nebenbei: Es gab ja bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich schon den Gedanken, dass es einen „Gott über Gott“ gibt. Und auch Meister Eckart hat unterschieden zwischen Gott und der Gottheit, die er allerdings für unerkennbar bzw. undefinierbar hielt. Eine weitere Frage: Ist nicht diese oberste Gerechtigkeit („über Gott“ noch stehend) auch notwendigerweise dann doch (allzu) menschlich gedacht? Wenn ja, was sicher ist: Wie kann man dann aber noch an einem „eigentlich“ unerkennbaren, bildlosen Gott des Alten Testaments festhalten?

9.
Boehm zeigt weiter in seinem Buch, wie der Bürgerrechtler Pastor Martin Luther King ebenfalls die universalen Menschenrechte in seinem Kampf zugunsten der Rechte der Schwarzen an die erste Stelle setzte.
Eher auf die US-amerikanische Situation bezogen sind Böhms Auseinandersetzungen mit dem dort überaus populären Philosophen Richard Rorty: Er entwickelt eine eher „liberal“ genannte Philosophie, die sich auch nicht scheut, die Bedeutungslosigkeit der Philosophie für die Politik öffentlich zuzugeben. Auch der us-amerikanische Philosoph Dewey wird von Boehm heftig kritisiert, weil er eine kategorisch geltende Wahrheit ablehnt.

10.
Omi Boehm, geboren in Haifa, setzt sich seit einigen Jahren auch mit der Politik des Staates Israel auseinander, vor allem was den Aufbau gerechter Verhältnisse mit den Palästinensern angeht. Er kritisiert auch in seinem neuen Buch, so wörtlich, „die Apartheitstruktur“ (S. 150), die die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland „seit vielen Jahren betreibt“. Wie alle westlichen liberalen Demokratien ist in Böhms Sicht auch der Staat Israel „auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (S. 152). Diese Identitätspolitik der Palästinenser wie der Juden kann nur, so Boehm, „jeweils zur Auslöschung der anderen führen“. Boehm plädiert für die „Einstaatenlösung“.

11.
So wird Omi Boehm durch seine erneute Auseinandersetzung mit Israel zu der Erkenntnis geführt: „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch auslöschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigen Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen“ (154).

12.
Das Buch „Radikaler Universalismus“ verlangt eine konzentrierte Lektüre, es ist aber nicht für die wenige Fachphilosophen“ geschrieben. Ausnahmsweise muss man als Rezensent einmal sagen: Ich hätte mir sogar noch ausführlichere Darstellungen und Begründungen und Ausweis von Konsequenzen gewünscht.

13.
Kants Studie „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sollte in dem Zusammenhang viel mehr gewürdigt werden. Vielleicht gelingt das zum Kant Jubiläum 2024 (300. Geburtstag). Kants Vorschläge könnten den Christen (auch den Juden und Muslime) Möglichkeiten zeigen, ohne dogmatische Bindungen und ohne religiöse fixierte Institutionen ein vernünftiges religiöses Leben zu gestalten. Eben in der Überordnung des Ethischen (des moralisch guten Lebens) über die religiösen Gebote und Gesetze, über die kirchlichen Lehren sowieso, wie Kant dringend fordert! Ausführliche Hinweise, siehe: LINK.

Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022, Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian. 175 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Ludwig Feuerbach: „Der Mensch erschafft sich Gott“!

Wie aktuell ist der radikale Überwinder einer christlichen Theologie? Ludwig Feuerbach am 13.9.1872 gestorben.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Der Ausgangspunkt:


In der Erinnerung an den Philosophen Ludwig Feuerbach wird deutlich: Philosophische Reflexionen, zugespitzt auf griffige Formeln, werden weit über die eher kleine philosophische Fachwelt hinaus verbreitet, sie können dann das Denken und Fühlen weiter Kreise bestimmen. Ludwig Feuerbachs Formel „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“ gehört zu diesen Slogans wie auch seine Behauptung: „Die Vernunft, die an Gott glaubt, glaubt nur an sich selbst, also an die Realität ihres eigenen unendlichen Wesens“. Solche Sprüche haben sich durchgesetzt und wurden wiederum nur geglaubt und wie für selbstverständlich gehalten. Die breite Wirkungsgeschichte gerade des Buches „Das Wesen des Christentums“ ist paradox, betonte doch Feuerbach darin ausdrücklich, sein sehr umfangreiches Werk sei vor allem für die gebildeten Kreise bedeutsam. Dennoch haben sich bestimmte publikumswirksame Thesen der Religionskritik Feuerbachs schnell weit verbreitet …und werden wie Dogmen geglaubt.

1.Der große Umbruch der Mentalitäten

Nach dem Tod G.W.F. Hegels im Jahr 1831 spürten die Intellektuellen, wie sich der geistige Horizont veränderte, wie sich ein Umbruch in der Mentalität ereignete, nicht nur unter den genanten gebildeten Kreise in Deutschland. Was Feuerbach entwickelte, war eine Revolution des Denkens, der Normen, der Werte, des politischen Handels, der Bindung an die Kirchen usw. Diese grundstürzende Veränderung nahm ihren Ausgangspunkt an der Kritik der spekulativen Philosophie, zumal der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels. Dieser geistige, philosophische und religiöse Umbruch fand statt inmitten der Etablierung der politischen Reaktion im so genannten „Vormärz“ (1815-1848). Vielleicht war Feuerbachs philosophisches Bemühen der Versuch, etwas – mindestens philosophisch Revolutionäres – der reaktionären Welt entgegen setzen.

2.Biographischer Hinweise

Ludwig Feuerbach starb vor 150 Jahren, am 13.9.1872, in Rechenberg bei Nürnberg, geboren wurde er am 28.7.1804 in Landshut. Er hat ein umfangreiches religionskritisches Werk verfasst, er war ein kenntnisreicher Theologe, vor allem: er war ein Schüler Hegels an der Berliner Universität. Wenige Jahre nach Hegels Tod (1831) setzte sich Feuerbach entschieden von seinem Lehre ab, den er bis dahin seinerseits auch in Vorlesungen erklärte. In seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839) behauptet Feuerbach, Hegel verbreite den „Unsinn des Absoluten“ , die Philosophie Hegels sei völlig haltlos, ohne Verbindung mit der realen Welt, sie bewege sich in einer reinen Welt der Begriffe. Nun aber, so Feuerbach, sei eine neue Epoche angebrochen, in der die Welt, die Natur, die realen, leibhaftigen Menschen nicht nur Ausgangspunkt der Philosophie sein müssen, sondern auch oberste Prinzipen und Normen darstellen.
Feuerbach war ein Gegner der politischen Restauration in Deutschland, die im „Vormärz“ das Leben bestimmte, einschränkte, kontrollierte. Die reaktionären Fürstenstaaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts legitimierten sich durch theologische Argumente. In Preußen gab es eine starke Verbindung von Thron und Altar, protestantische Theologen hatten einen enormen Einfluss auf die Gestaltung der Bildung, auch in den Universitäten. Wer evangelischer Theologe wurde, hatte die Gewissheit, berufliche Karriere im Staat zu machen. Schon Feuerbachs frühe Schrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ von 1830 brachten ihm Probleme mit der Obrigkeit, im Revolutionsjahr 1848 musste er wegen seiner politischen Haltung alle Hoffnungen auf eine Professur aufgeben, er starb zurückgezogen und verarmt.

3. War Hegel ein Pantheist?


Hegel wusste, dass die christliche Religion, auch der in den Kirchen gelehrte Glaube, in der Form der dogmatischen Behauptungen mit ihren historischen Details keine Überlebenschancen („Akzeptanz der Menschen“) mehr hat. Er wusste: Die dogmatischen Formeln werden noch nachgesprochen, aber sie finden kein Echo im Denken der sich noch nach außen hin kirchlich gebenden Leute. Hegel zeigte in den Berliner Jahren an der Universität einen Ausweg: Der Inhalt der christlichen Lehre (Dogmatik) wurde in seiner Philosophie „aufgehoben“, wurde also in wesentlichen Aussagen bewahrt, aber eben auch verändert („erhoben“ ins philosophische Denken): D.h.: Die dogmatischen Lehren wurden aus der Anschaulichkeit der Gottesdienste und Bilder, der Wallfahrten und der Überordnung des Klerus über die Laien befreit: Die dogmatischen Glaubensbekenntnisse wurden in die Form philosophischer Begriffe erhoben und deswegen für alle Vernünftigen auch vernünftig erklärt. Gott ist dann also kein heiliger „Gegenstand im Himmel“, auch keine „Person“, sondern er ist absoluter Geist, der sich aber in das Andere seiner selbst, in Welt und Mensch, entäußert, also als göttlicher Geist in Welt und Mensch lebt.
An dem göttlichen Geist hat jeder Mensch Anteil. Der göttliche Geist ist in der Welt, aber die Welt ist nicht Gott. Hegel war kein Pantheist, wie Feuerbach behauptete, darauf hat der Philosoph Wilhelm Weischedel (in: „Der Gott der Philosophen. Erster Band“, Darmstadt 1972, Seite 390) hingewiesen. Hier liegt der entscheidende Fehler in Feuerbachs Verständnis der Philosophie Hegels: Feuerbach behauptet, Hegel sei als Pantheist ein Denker, der „das göttliche, absolute Wesen nicht als ein von der Welt Verschiedenes, als jenseitiges, himmlisches Wesen, sondern als ein Wirkliches mit der Welt identisches Wesen erfasst“ (Band II der Gesamtausgabe Feuerbachs, S 379).
Hegel denkt hingegen Gott als absoluten Geist sozusagen auch „außerhalb“ der Welt, aber eben doch auch in der Welt, in der Lebendigkeit endlicher Menschen. Wenn man schon einen griffigen Begriff will: Hegel war Pan – en -Theist. Das heißt: Hegel dachte auch die Gestalt der Religionen in der Welt als Ausdruck des göttlich-menschlichen Geistes, also auch als Ausdruck der göttlichen Schöpferkraft, die sich mit den Menschen „äußert“, also institutionelle „äußere“ Realität wird.

4. Hegel – Feuerbach – Marx


Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie fand den leidenschaftlichen Widerspruch unter seinen Schülern. Sie litten förmlich unter der Übermacht der Geistphilosophie und der Degradierung des Sinnlichen, des Leiblichen, also dessen, was sie die wirkliche Welt nannten. Wirklichkeit sollte ausschließlich die empirische und über die Sinne erfahrene Realität sein. Dass diese irdische Realität in geistigen Begriffen ausgesagt werden musste, störte die Leidenschaft dieser Verteidiger der ausschließlich irdischen Wirklichkeit gar nicht.
Ludwig Feuerbach, einer aus dem Kreis der Anti-Hegelianer, auch „Linkshegelianer“ (oder „Junghegelianer“) genannt, setzte sich mit rigorosem Nachdruck für das Irdische, Menschliche, Sinnliche als Prinzip der Philosophie ein. Er wurde dadurch zum „Freund der Menschen“. Der übliche christliche Gott der Tradition wurde von ihm als Illusion abgetan, als Produkt des noch nicht zum richtigen Verstand gekommenen Menschen gedeutet. Den Begriff „Illusion“ wird später Freud in dem Zusammenhang verwenden! Das Christentum und seine Theologie wurde also wirklich abgeschafft, als Wunsch-Projektion der Menschen disqualifiziert. Aber Feuerbach wusste, dass seine radikale Leidenschaft für die Welt und den Menschen nur ein Ausgangspunkt, ein Anfang, einer neuen Epoche sein konnte.
In der Hinsicht entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels nach ihrer Lektüre von Feuerbach ihre politische und ökonomische Gesellschaftskritik. Nicht vom abstrakten Menschen und seiner Sinnlichkeit (wie bei Feuerbach) war bei ihnen die Rede, sondern von der Überwindung der ungerechten politischen und ökonomischen Verhältnisse, in denen Menschen leben müssen. Revolutionär war also nicht mehr die Behauptung Feuerbachs, Gott sei eine Illusion des Menschen. Revolutionär war nun die Lehre, dass Menschen, die Proletarier, im politischen Kampf ihr Leiden zugunsten einer gerechten Gesellschaft überwinden sollen. Philosophie als Form der vernünftigen Selbstverständigung konnte es unabhängig vom Klassenkampf nicht mehr geben. Und die Gottesfrage war für Marx und Engels durch Feuerbach „erledigt“.
Diese Skizze des großen Umbruchs der Mentalitäten in der Mitte des 19. Jahrhunderts führt also zu Feuerbach, der in der Mitte steht zwischen dem Philosophen Hegel, der das Christentum denkend retten wollte und den Gesellschaftskritikern Marx und Engels, für die Religion und Kirchen „Opium des Volkes“ waren.

5. Das Zentrum der Philosophie Feuerbachs:


Ludwig Feuerbach ist in „weiten Kreisen“ noch heute bekannt: Mit einer gewissen Leichtigkeit verbreitete sich seine These, die dann geradezu populär wurde: Was die Menschen Gott nennen, ist kein Urgrund, keine himmlische Person, sondern ein Bild des idealen, des vollkommenen Menschen. Die Erkenntnis Gottes ist nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Menschen. Theologie wird also für Feuerbach zur Anthropologie, der Mensch ist für ihn das höchste Wesen. „Das Höchste ist für den Menschen der Mensch“, so Karl Löwith, einer der Feuerbach – Interpreten im 20. Jahrhundert („Von Hegel zu Nietzsche“, Fischer Verlag 1969, S. 95).
Die Feuerbach Spezialistin Prof.Ursula Reitemeyer schreibt: „Ist Gott aber nur das Produkt menschlicher Phantasie, die Projektion einer Allmachtsidee im Angesicht menschlicher Ohnmacht, dann verkünden das Dogma und die sie stützende spekulative Logik, nur relative, vom Zeitgeist abhängige Meinungen, aber keine absolute Wahrheit. So trennt sich im Zuge von Feuerbachs Hegelkritik die Philosophie nicht nur ein weiteres Mal von der Theologie, sondern zugleich von der Macht der Meinungsmonopole. Dadurch wird Religionskritik zur Ideologiekritik.“ (https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).
Gott als personales Wesen als Idee, absoluter Geist außerhalb der Menschenwelt, wird von Feuerbach beseitigt, aber die Prädikate, die Gott einst schon auszeichnen, Güte, Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit bleiben als absolute Werte erhalten, auch wenn es Gott als Person, dem einst diese Prädikate zugesagt wurden, nicht mehr „existiert“. Es geht Feuerbach also um ein merkwürdiges Fortleben göttlicher Prädikate bei einem verstorbenen Gott. So kann Feuerbach behaupten, Atheist sei nur der, der die Bedeutung der Prädikate Gottes (Güte, Liebe etc. ) leugnet. „Güte und Gerechtigkeit sind keine Chimären, selbst wenn die Existenz Gottes eine Chimäre ist“ (VI. Band der Sämtlichen Werke Feuerbachs, S. 26). Tugenden werden also von Feuerbach vergöttlicht, und dies kann der Mensch durchaus leisten, meint er, weil im Menschen doch noch eine gewisse Unendlichkeit lebt: „Es gibt eine Unendlichkeit des Denkvermögens“… „fühlst du das Unendliche, so fühlst und betätigst du das Unendliche“ (VI. Band, S 10). Diese Ambivalenz als Ja und Nein zum Unendlichen, als Ja und Nein zu etwas Göttlichem…. ist typisch für Feuerbach.

6. Was ist Wirklichkeit?


Mit allem Nachdruck muss unterstrichen werden, dass der Übergang von Hegel zu Feuerbach sich an der unterschiedlichen Erfahrung und Wertung des Wirklichen festmachen lässt. Das Christentum und seine klassische Theologie war bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) durchaus ein Feind der sinnlichen, irdischen, leiblichen und sexuellen Erfahrung. Die entsprechenden moralischen Abweisungen des Irdischen, Sexuellen etc. des Apostels Paulus und seiner Schüler, formuliert in den zum Neuen Testament gehörenden Briefen, sind bekannt. Die Philosophin Ursula Reitmeyer fasst Feuerbachs Position zusammen: „Erst mit der Etablierung des sinnenfeindlichen Christentums, das den Verlust der sinnlichen Vernunft durch eine Ästhetik des Übersinnlichen kompensiere, habe sich formelhaftes Wissen an die Stelle eines lebensweltlichen Materialismus gesetzt. Folge sei, daß der wirkliche, real arbeitende Mensch, ebenso entmündigt wie entleiblicht, seine Existenz kaum fristen könne, während sich das System und mit ihr die Elite permanent reproduziert. (Ursula Reitemeyer, in dem Beitrag „Über Feuerbach“, https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).

7. Kritische Hinweise zu Ludwig Feuerbachs Philosophie:


Feuerbach hat das leidenschaftliche Interesse, an die Stelle der Theologie die Anthropologie zu setzen, und dabei musste er bei seinem auf Sinnlichkeit fixierten Anthropologie – Begriff unbedingt auf metaphysische Spekulationen – etwa im Sinne der Vernunftphilosophie seines Lehrers Hegel – verzichten. Bei diesem radikalen Bruch in der Geschichte des Denkens hat Feuerbach bestimmte Differenzierungen und Nuancen übersehen. Abgesehen davon, dass Feuerbach Aussagen in „Das Wesen des Christentums“ durchaus sehr langatmig und gedehnt erscheinen, der Philosoph Walter Schulz nennt sie vornehm „weitausholend“ („Philosophie in der veränderten Welt“, Neske Verlag, 1980, S. 371). Wichtiger sind inhaltliche, philosophische Vorbehalte zu einigen zentralen Thesen Feuerbachs im „Wesen des Christentums“: „Feuerbach hat die (zentrale) These, dass der Mensch ein sinnliches Wesen sei, zwar propagiert – seine Schriften sind, wie die Titel zeigen, zumeist überhaupt Programmentwürfe – aber nicht wirklich reflektiert“ (, so Walter Schulz a.a.O., S 376). Walter Schulz meint, Feuerbach habe einfach die traditionelle Überzeugung, dass die Vernunft das Herrschende sei, in ihr Gegenteil verkehrt: “Der Mensch ist wesentlich NICHT von der Vernunft, sondern vom nichtvernünftigen Willen, dessen Träger der Leib ist, bedingt“ (a.a.O.).
Von Gott kann sich Feuerbachs Anthropologie auch nicht ganz befreien, auch daran muss noch einmal nachdrücklich erinnert werden: Feuerbach muss zur Bewertung des Menschen und die Bindung des einzelnen an die Gattung des Menschen dann doch auf Qualitäten des Göttlichen zurückgreifen: Der abgeschaffte Gott hinterläßt der gottlosen Menschheit die Bindung an die göttlichen und heiligen Prädikate des göttlichen Wesens. Denn bestimmte gute Eigenschaften hatte die Menschheit Gott zugeschrieben, jetzt sollen diese Eigenschaften allein als göttlich gelten. Der Mensch kommt also für Feuerbach nicht vom Göttlichen los, das kann daran liegen, dass, wie Hegel richtig sah, das schöpferische Göttliche (absoluter Geist) eben doch im Menschen wirkt. Religionen sind dann also Ausdruck der Geistigkeit des Menschen. Das deutet Feuerbach selbst an, wenn er Vernunft, Wille, Liebe, als Kräfte bezeichnet, die der Mensch nicht gemacht hat, die also „göttliche, absolute Mächte sind, denen der Mensch keinen Widerstand entgegensetzen kann“ (zit. in Weischedel, a.a.O, S. 400, auch Feuerbach Sämtliche Werke, Band VI 3f.).
Karl Löwith schreibt in seinem Buch „“Von Hegel zu Nietzsche“ (S. 96). „Gemessen mit dem Maß von Hegels Geschichte des Geistes muss Feuerbachs massiver Sensualismus gegenüber Hegels begrifflich organisierter Idee als ein Rückschritt erscheinen, als eine Barbarisierung des Denkens , die den Gehalt durch Schwulst und Gesinnung ersetzt“ .

8. Das Ende der Philosophie?

Feuerbach selbst betonte, sein Denken als ein Denken der Sinnlichkeit, der sinnlichen Wirklichkeit von Welt und Mensch, sei bereits eine Negation der Philosophie, also der klassischen, Hegelschen Philosophie. Feuerbach meinte sogar, „sein Denken sei gar keine Philosophie mehr“. Die spekulative Philosophie sei – so wörtlich- eine betrunkene Philosophie. „Die Philosophie muss daher wieder nüchtern werden“, also nicht spekulativ, sondern sinnlich werden. (zit bei Weischedel, a.a.O., S. 392). Dabei sind viele Formulierungen Feuerbachs, leidenschaftlich und polemisch, alles andere als Ausdruck einer „nüchternen Philosophie“.
Nur in dieser Haltung glaubte Feuerbach, den „Menschen zur Sache der Philosophie zu machen“, eine Philosophie, die wie gesagt, die ihr eigenes Ende einläutet, also explizit sich selbst aufheben will und dies behauptet. Feuerbach sagt: „Die wahre Philosophie ist die Negation der Philosophie, ist keine Philosophie“ (Feuerbach Sämtliche Schriften, II, 409 f., zit auch bei Weischedel, a.a.O. 395).
Tatsächlich aber waren die Gedanken Feuerbach dann doch wieder Ausdruck von Philosophie, wie sollte es auch anders sein, man denke an Feuerbachs Reden von der Unendlichkeit des menschlichen Bewusstsein oder von der Göttlichkeit der menschlichen Prädikate Gottes.
Ludwig Feuerbach ist der durchaus irritierende, wenn nicht verwirrende Philosoph bzw., wie er selbst sagt „Nicht-Philosoph“, der wegen seiner populär verbreiteten Slogans eine enorme Wirkungsgeschichte hat. Aber eins ist sicher: Atheist – als heftiger Feind alles Göttlichen- war Feuerbach sicher nicht, wie auch Vittorio Hösle betont, und Feuerbach war kein heftiger Feind des Christentums und der Kirche, wie Nietzsche. Feuerbach bleibt ein Denker der „Zwischenstellung“, zwischen klassischer, sich noch fürs Christliche interessierenden Philosophie und der radikalen Gesellschaftskritik bzw. dem radikalen Atheismus. Für ihn ist Gott keine „himmlische Person“, die Abwehr der göttlichen Person verbindet ihn zwar mit Hegel, hingegen hielt Hegel bekanntlich an einer eigenständigen Wirklichkeit des „absoluten Geistes“ fest.

9. Gott ist die Liebe. Die Liebe ist göttlich.


Man darf nicht vergessen: Feuerbachs Grundsatz war: „Gott ist die Liebe“, verstanden als „Die Liebe ist göttlich“. Also das Höchste, Wichtigste überhaupt. Die Liebe sei zudem der Maßstab im Leben Jesu Christi. Daraus schließt Feuerbach: „Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt … der ist Christ, der ist Christus selbst“ (zit. In Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, S. 172). Diese selbstverständlich erotische, sinnliche Liebe zum Menschen, zeichnet diesen irritierenden religiös – atheistischen Denker Ludwig Feuerbach besonders aus. Er versuchte im 28. Kapitel seines „Wesen des Christentums“ die anthropologisch (!) relevante Dimension der kirchlichen Sakramente aufzuzeigen, etwa das christliche Abendmahl, verstanden als das Essen und Trinken als ein „Mysterium“ (S. 409 ff, in Reclam Ausgabe, 1971).
Feuerbach beendet diese seine umfangreiche Studie mit einer Übersetzung des christlichen Abendmahls in eine noch mögliche weltliche Bedeutung mit den Worten: „Heilig sei darum das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser! Amen.“ Das Amen beendet dieses grundlegende religionskritische Werk! Der Philosoph Vittorio Hösle findet dieses „Amen am Ende des Buches nicht aufgesetzt“ (a.a.O. . 172). Das Amen ist sicher Ausdruck des irritierend frommen wie religionskritischen Denkers Feuerbach. Glaubte er mit seinem Opus eine neue, anthropologische Predigt gehalten zu haben? Vielleicht!

Ich empfehle die Studien der „Arbeitsstelle Internationale Feuerbach-Forschung“ in Münster zu beachten, mit der Prof. Ursula Reitemeyer. Siehe: https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/index.html.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Wie die Lepra zerfraß die Gier die Kirche“

Die aktuelle Kirchenkritik des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
„Gegen den Strich“ („A rebours“) ist das wichtigste und bis heute am weitesten verbreitete Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans (1848-1907). Er wollte, wie er später sagte, mit dem Roman „um jeden Preis etwas Neues schaffen“, einen Text, der die Mentalität des „Fin de Siècle“ widerspiegelt und reflektiert.
Der Roman, 1884 veröffentlicht, wurde mit vielen Begriffen “eingeordnet”, darunter „Literatur der Dekadenz“… Michel Houellebecq hat sich in seinem Roman „Unterwerfung“ mehrfach auf Huysmans bezogen und durchaus eine Huysmans-„Renaissance“, auch in Deutschland, angestoßen… Der Roman hat autobiographischen Charakter.

2.
Manche haben „Gegen den Strich“ („A rebours“) einen Anti-Roman genannt, und sie können sich dabei auf Huysmans Äußerungen beziehen. Er sagte 1903 (im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches), die „Romanform hätte er nur als Rahmen benutzt für ernstere Themen“. Das heißt: Der Roman enthält auch sozusagen Fragmente sachlicher Essays.

3.
Eines dieser „ernsteren Themen des Romans“ mit 16 Kapiteln ist die katholische Kirche. 1884 hatte sich Huysmans noch nicht explizit der katholischen Kirche angeschlossen, das wurde erst deutlich in seinem Roman „Unterwegs“ (1895). Von 1899 bis 1901 lebte er als Laienmitglied („Oblate“) in einem Haus des Benediktinerklosters Ligué bei Poitiers. Aber er war schon als junger Autor 1884 stark an religiösen Fragen interessiert, die ihn auch zu esoterischen Erfahrungen führten, dargestellt etwa in dem Roman „Là-Bas“, der auch sein Interesse am Satanismus dokumentiert.

4.
Zu den „ernsten Themen“ des Romans „Gegen den Strich“ gehört also die Kirchenkritik im 16. Kapitel, sie äußert der Protagonist des Romans, Des Esseintes, aber in dessen Urteil wird die Position Huysmans sichtbar. An dessen Kirchenkritik heute, 2022, zu erinnern ist wichtig, weil es immer noch überraschend ist, wie spirituell interessierte Autoren in Frankreich vor der radikalen Trennung von Kirchen und Staat dort (1905) den Katholizismus grundlegend kritisierten. Huysmans hat seine heftige Kirchenkritik im Roman „Gegen den Strich“ auch nach seiner „katholischen Wende“ verteidigt, deutlich im Vorwort zur zweiten Auflage 1903. (vgl. das Nachwort von Ulla Komm in der deutschen Ausgabe des Romans, DTV 2021, S. 264).

5.
Aus aktuellen Gründen also ist es interessant zu sehen, wie Elemente heutiger Kirchenkritik sich schon in einem Roman von 1884 wiederfinden. Trotz einiger Reformen des 2. Vatikanische Konzils (1962-65) wurde keine grundlegende Reformation eingeleitet: Die Allmacht des männlichen Klerus ist bis heute ungebrochen.
Die kritische Position Huysmans ist sogar eher konservativ geprägt! Huysmans verabscheut die „Gewinnsucht“, „diesen pekuniären Juckreiz“ des Klerus (S. 255). „Die Klöster hatten sich in Fabriken für Pillendreher und Likörhändler verwandelt“. (Man denke heute an die Brauereien mancher Klöster)….Der Autor geht förmlich, als empirischen Beleg, fast alle Orden und Klöster durch, also nennt er etwa (S. 255) die Schokolade aus dem Kloster Citeaux, den Likör der Trappisten, den Likör der Benediktiner, den „Chartreuse“ der “Ordensbrüder des heiligen Bruno“, also der Kartäuser, usw.

6.
„Wie die Lepra zerfraß die Gier die Kirche, beugte die Mönche über Verzeichnisse und Rechnungen“… „Der Handel war in die Kirche eingedrungen, wo „anstelle der Choralbücher dicke Rechnungsbücher auf den Pulten lagen“ (S. 255).
Man schaue sich heute, zum Studium der aktuellen Lage, etwa die Etats der großen Klöster und Stifte in Deutschland oder Österreich oder Belgien an, falls überhaupt Informationen zur „Finanzlage“ dieser sich „arm“ nennenden Mönche publiziert werden. (Fußnote 1) Man denke daran, dass etwa der Orden der „Legionäre Christi“, gegründet von dem allgemein als Verbrecher bewerteten Pater Marcial Maciel, in der spanischen Welt treffend und zurecht als „Millionarios Christi“ bezeichnet usw…
Und man lese als eine aktuelle Fortsetzung zur Gier des (vatikanischen usw.) Klerus die faktenreiche Studie des italienischen Vaticanologen Emiliano Fittipaldi „Avaricia“ („Habsucht“) über die Finanz-Skandale im heutigen Vatikan (Editionen Akal, Madrid 2015).

7.
Huysmans schreibt die entscheidenden, heute gültigen Worte: „Es sind nicht einmal die Physiologen (Naturwissenschaftler und Materialisten, CM) oder die Ungläubigen, die den Katholizismus zertrümmern, es sind die Priester persönlich, deren ungeschickte Werke noch den festesten Glauben ausrotteten“ (S. 257).

8.
Diese Zitate sind Reflexionen des Protagonisten Des Esseintes im Roman „Gegen den Strich“. „Für ihn (den Suchenden, Verzweifelten, sicher auch seelisch Belasteten) gab es entschieden „keinen Ankerplatz, kein Ufer“ mehr, heißt in den letzten Zeilen des Romans (S. 258).

9.

Angedeutet wird in dem Roman eine gewisse,  im allgemeinen sich eher verklemmt äußernde Homosexualität des Protagonisten. Im 9.Kapitel des Romans hingegen wird deutlich von einer Begegnung des Esseintes mit einem jungen Mann in Paris berichtet: “Aus dieser zufälligen Begegnung war eine fordernde Freundschaft entstanden, die monatelang anhielt” (S. 133). Aber an diese erotisch geprägte Freundschaft kann  des Esseintes nur “mit Erschauern” zurückdenken. Sie war für ihn ein “verlockendes und unerbitterliches Joch”, weil er als frommer Katholik und Jesuitenschüler die Abhandlungen der Theologie “über die Verstöße gegen das sechste und neunte Gebot” (S. 133) verinnerlicht hatte. Die sexualethischen Forderungen der Kirche und ihrer Theologen erscheinen ihm als “außermenschliches Ideal”, das keine Befreiung bringt, sondern sogar eher  “das gesetzeswidrige Ideal der Wolllust nährt” (ebd.).

Nebenbei: Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer weist in seiner Studie  “Außenseiter” (Suhrkamp 1981, S. 262) , darauf hin, dass es durchaus Anregungen Huysmans auf Oscar Wilde in dessen Konzeption von “Dorian Gray” gegeben hat. Ausführlicher zur Homosexualität im Werke Huysmans und  im Roman “Gegen den Strich”: Ein Beitrag von Patrick Mimouni:     LINK

 

Fußnote 1:
Einen Hauch von Transparenz bieten einige der großen Klöster in Österreich. Die Prämonstratenser in Schlägl beziffern ihren Waldbesitz mit 6.500 Hektar (also 65 Quadratkilometer). Einnahmen bietet ihnen auch die Brauerei, ein Hotel, und die Produktion von Ökostrom in Wasserkraftwerken usw. Das Augustiner-Chorherren-Stift Klosterneuburg nennt selbst als Eigentum 8000 Hektar Wald! Es hat 108 Hektar Weinanbau, 700 Wohnungen sind Stifts-Eigentum und 4.000 Pachtverträge für Immobilien. Natürlich kostet der Erhalt des prachtvollen Kloster-Palastes viel Geld, allerdings hilft bei Renovationen kräftig der österreichische Staat.
Das sehr wohlhabende Klosterneuburg hat z.B. 2013 15.000 Euro für Hochwasseropfer gespendet, auch der Armen in Rumänien wird mit relativ gesehen bescheidenen Spenden gedacht (Quelle: Spenden des Klosterneuburg:
http://www.stift-klosterneuburg.at/suche/
Zu Saft Schlägl: Der Waldbesitz beträgt derzeit ca. 6500 ha. Damit liegt das Stift auf dem 6. Rang der Stifte Österreich: http://www.stift-schlaegl.at/prodon.asp?peco=&Seite=373&UID=&Lg=1&Cy=1

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin