Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Die 10. “Unerhörte Frage”.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 ist zuallererst eine Herausforderung, ein Appell, eine Verpflichtung, schnell und umfassend den leidenden Menschen zu helfen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der ganz erschreckenden, großen Erdbeben – Katastrophen der Geschichte.

Es erinnert an das heute immer noch zitierte Erdbeben von Lissabon am 1.11. 1755, das so heftig war, dass die Erschütterungen viele hundert Kilometer von Lissabon entfernt deutlich spürbar waren.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 hat tiefe Erschütterungen auch unter damaligen Philosophen ausgelöst, vor allem die Arbeiten Voltaires sind vom Erdbeben in Lissabon bestimmt.

Es wurde damals die Frage gestellt: Wie kann Gott diese Katastrophe zulassen? Ist er noch der gute Gott, der gute Schöpfer dieser Welt?

Wird diese Frage auch angesichts der Erdbeben – Katastrophe in der Türkei und Syrien 2023 gestellt? Interessiert sie die Menschen, wird sie von Philosophen und Theologen reflektiert werden?

Das ist möglich und wahrscheinlich, trotz aller Säkularisierung des Denkens im allgemeinen. Wie dieses konkrete Ereignis im islamischen – theologischen Kontext diskutiert wird? Das bleibt abzuwarten (geschrieben am 8.2.2023, CM).

Aber entscheidend ist, bevor man in unkritische, sich bloß “metaphysisch” nennende Fantasien abschweift: Es muss genau festgestellt werden, in welchem nachweisbaren Umfang menschliches Versagen, also auch das Versagen von Politikern, für den Tod so vieler Menschen wegen des Erdbebens verantwortlich ist. Das Erdbeben  in der Türkei vom 6. Februar 2023 ist nicht nur “Schicksal”.

2.

Wer sich religionsphilosophisch mit diesem Thema befasst, muss also zuerst die politischen Kontexte analysieren, bevor philosophische Reflexionen interessant sein können:

Also: Was hat die türkische Regierung ignoriert an Warnungen kompetenter türkischer Geologen?  „Hüseyin Alan leitet die Kammer der Ingenieur-Geologen in der Türkei. Er hatte Behörden und sogar das Präsidialamt erst kürzlich vor Erdbeben in der Region gewarnt, die es jetzt getroffen hat – doch keine Antwort erhalten.“ (Der SPIEGEL, 7.2.2023).

Wurden die Häuser in dem Erdbeben gefährdeten Gebiet in der Türkei entsprechend sicher gebaut, was ja prinzipiell möglich ist? Die türkischen Geologen und Ingenieure und kritischen Politiker sagen: Nein.

Es gab Dutzende Beben in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei. Viele tausend Menschen kamen ums Leben. Es ist nachweislich (und wohl bewusst) versäumt worden, alle Häuser und Neubauten erdebensicher zu bauen.  Staatspräsident Recep Erdogan lügt also, wenn er jetzt sagt: “Diese Dinge (Erdbeben) geschehen einfach, das ist ist Schicksal” (Tagesspiegel, 11.2.2023, Seite 8). Erdbeben als Erdbeben werden Menschen nicht verhindern können, insofern ist Erdbeben AUCH “ein bißchen” Schicksal; aber die Ausmaße des Leidens der Menschen in Erdbebengebieten können eingeschränkt, wenn nicht verhindert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen in der Türkei sich jetzt, förmlich im Leiden “aufgewacht”, von Erdogan befreien können.

Erst wer menschliche Fehler und Versäumnisse angesichts dieser (und anderer) Katastrophe(n) festgestellt und bewiesen hat, kann zur religionsphilosophischen Frage kommen:
„Warum hat Gott als der Schöpfer der Welt diese Katastrophe nicht verhindert und zugelassen?“

Diese Frage wird nur diejenigen bewegen, die einen „Schöpfer“ der Welt noch im Denken annehmen können.

Wer sich in seinem Denken einmal darauf einlässt, kommt zu einigen Einsichten: Und die erscheinen etwas abstrakt, sie sind vorsichtige Hinweise, die gar nicht zynisch gemeint sind. Auch wenn diese Frage die Grenzen des Erkennbaren berührt, können doch einige Hinweise weiteres Nachdenken fördern:

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er die Welt als Welt erschaffen. Welt ist dann als endliche, begrenzte, fehlerhafte Welt zu verstehen. Wäre die Welt vollkommen, fehlerfrei, nicht-endlich, dann wäre sie förmlich eine göttliche Wirklichkeit neben dem „schöpferischen Gott“. Und die klassische Metaphysik sagt dazu: Wenn Gott wirklich als Gott gedacht ist, dann kann er neben sich nicht noch einen weiteren Gott, also eine göttliche und perfekte Welt neben sich haben. In einer als Gott gedachten perfekten Welt gäbe es dann auch keinen Tod mehr. Der Mensch wäre selbst ein ewiges Wesen, würde er dann noch (ewige?) Nachkommen zeugen und gebären usw.? Die philosophische Spekulation erreicht jetzt förmlich absurd wirkende Dimensionen. Bescheidenheit ist also auch philosophisch gefordert. Diese ist aber etwas anderes als der prinzipielle Denk – Verzicht, überhaupt das Erdbeben mit einem schöpferischen Gott oder göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen.

Die klassische Metaphysik beharrt also auf der Erkenntnis: Die Welt ist endlich, fehlerhaft, begrenzt. Die Menschen sind dem Geschehen einer nicht immer voll kontrollierbaren Natur ausgesetzt, wie etwa dem Erdbeben. Es kann ja prinzipiell sein, dass eines Tages die verheerenden Erdbeben stark eingeschränkt werden können, durch Forschung, Voraussage, und kompetente Politiker…

3.

Trösten diese Gedanken der unvollkommenen Schöpfung die betroffenen Opfer? Zunächst ist ihre Wut auf die korrupten “Politiker” in der Türkei und den Diktator in Syrien am größten. Aber solange die Überlebenden und Leidenden noch die Hoffnung und den Überlebensmut bewahren und aus ihm heraus das „Danach“ gestalten, ist doch eine geistvolle inspirierende Kraft in ihnen lebendig und wirksam. Sie werden sich hoffentlich für demokratische Politiker in ihren Ländern einsetzen können, mit Hilfe der wenigen auf dieser noch Welt noch verbliebenen Demokratien! Die heldenden Demokraten werden gleichsam auch zu Boten der Hoffnung, um es einmal etwas pathetisch, aber treffend zu sagen.

Philosophen und Metaphysiker nennen diese geistvolle und inspirierende Überlebenskraft der Hoffnung eine Art „Funken“ der Ewigkeit, der in den Menschen (als den „Geschöpfen eines Ewigen, Göttlichen…) lebt. Und hoffentlich niemals zum Verschwinden zu bringen, niemals zu töten, ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Gott und die Demokratie. Ein neues Buch des Philosophen Otfried Höffe

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bei einem Buch eines Philosophen ist oft schon der Titel eine Einladung zum Weiterdenken. Professor Otfried Höffe, Prof. em. der Universität Tübingen, gibt seinem neuesten Buch den Titel „Ist Gott demokratisch?“ Wer Gott in einem allgemeinen Sinn deutet, ihn als den höchsten Herrscher der Welt versteht, wird diesen Gott naturgemäß nicht als demokratisch qualifizieren. Gott herrscht. Die Menschen sind seine gehorsamen Kinder. Wer den Titel weiter bedenkt, wird sich fragen: Welcher immer schon konfessionell geprägte Gott könnte denn überhaupt demokratisch sein? Der Gott der Christen etwa? Und da entsteht die weitere Frage: Der Gott der Katholiken mit dem obersten Herrn, dem „Heiligen Vater“, in Rom? Oder eher der Demokratie-affine Gott der Kirchen des immer noch vorhandenen liberalen Protestantismus? Ist der Gott Jahwe im jüdischen Glauben demokratisch, weckt er z.B. aktuell demokratisches Bewusstsein, wenn man an ultra-orthodoxe Gläubige und ihre Minister im heutigen Israel denkt? Welcher Gott welcher muslimischen Tradition könnte denn demokratie-freundlich oder auch demokratie-feindlich gesinnt sein? Zwischen menschenfreundlichen Aleviten und den tödlichen schiitischen Herrschern im Iran ist doch ein Unterschied…

2.
Fragen über Fragen also schon angesichts dieses (ver)störenden Buch-Titels. Der Untertitel ist etwas präziser und weckt vielleicht Lust auf die Lektüre: „Zum Verhältnis von Demokratie und Religion“. Aber wieder stellen sich sogleich Fragen angesichts des Untertitels: Welche Demokratie ist denn gemeint? Die liberale und rechtsstaatliche Demokratie, die demokratische Demokratie sozusagen, jene Staatsform, die die Menschenrechte umfassend lebt? Gibt es diese demokratische Demokratie heute überhaupt? Oder gibt es nur noch die sich noch liberal nennende, aber auch schon korrupte Demokratie? Wie steht es mit den sich unverschämt explizit „illiberal” nennenden Regierungsformen, wie steht es so genannten Volks-Demokratien und von China oder Nord-Korea ganz zu schweigen. Die dortigen Diktatoren werden wie Götter verehrt… Und „die“ Demokratie will Otfried Höffe in Beziehung setzen zu „der“ Religion. Bloß zu welcher Religion denn, es gibt doch zweifelsfrei Religion nur im Plural und es gibt Ideologien, die sich wie Religionen verhalten, man denke an den Kommunismus, etwa den Stalinismus, den viele kluge Beobachter als eine Form von Religion und Götter-Verehrung verstehen. Und sprach nicht Walter Benjamin von der „Religion des Kapitalismus“? Ist der Gott der Konsumentenwelt nicht die „Ware“ oder das wirtschaftliche Wachstum? Kann man im Ernst auf diese Themen verzichten? Im Buch von Höffe werden diese Themen nicht angesprochen.

3.
Otfried Höffe, der Autor des genannten Buches, ist einer der bekanntesten und international geschätzten Philosophen besonders zu Fragen der philosophischen Ethik und der politischen Philosophie. Die Liste seiner Publikationen ist sehr lang und vielfältig, auch zur Geschichte der Philosophie. Dieses Buch nennt der gelehrte Philosoph immer wieder selbst „Essay“, und in dem Sinne sollte der Leser es betrachten: Es sind tatsächlich 12 kleine Essays, philosophische Betrachtungen zum Verhältnis „Religion(en) und staatliche Ordnung“. Die Essays dieses Buches sind eine Anregung für Menschen, die sich vielleicht zum ersten Mal etwas gründlicher mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Die Hinweise zu Kant etwa wird man Gewinn lesen, auch die kritische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas ist wichtig, ebenso die Ausführungen zu William James, Charles Taylor und Hans Joas. Interessant sind die Hinweise auf volkstümliche Redensarten in Deutschland, die immer wieder, von den Sprechern meist unbewusst, Gott oder den Teufel ins Spiel bringen (S. 116 f). Ob man von „Restbeständen“ (s. 116) einer Religion sprechen kann, wenn man jemand schreit „Mein Gott!“, ist eine offene Frage.

4.
Diese im Buch versammelten Essays bieten leider keine präzisen Quellenangaben. Und manche Aussagen sind schlicht falsch, etwa wenn Otfried Höffe das Christentum „ein Reformjudentum“ (S. 38) nennt. „Reformjudentum“ ist eine Strömung im Judentum seit dem 19. Jahrhundert. Jesus von Nazareth war sicher kein „Reformjude“, vielleicht eher ein radikaler jüdischer Religionskritiker der damaligen jüdischen Religion und ihrer Herrscher… Falsch ist es auch, wenn Höffe behauptet, im „Freidenkerverband“ seien, so wörtlich, „freikirchliche Bewegungen organisiert“. Der heute noch bestehende zahlenmäßig eher unbedeutende, oft DKP-nahe Freidenkerverband (dieser hat fast nichts mehr mit dem bedeutenden „Humanistischen Verband“ -HVD- gemeinsam) war einst, zu Beginn des 20.Jahrhundert ein Ort für frei-religiöse Gemeinschaften, diese aber sind etwas anderes als „freikirchliche Bewegungen“, dazu gehören etwa die Baptisten oder Methodisten…(zit. auf Seite 223).

5.
Auch manche eher philosophisch gemeinte Behauptungen irritieren: „Der Monotheismus vertritt den in philosophischer, vermutlich auch in theologischer Hinsicht allein sachgerechten Gottesbegriff. Eine Gewaltbereitschaft zeichnet sich dabei nicht im entferntesten ab“ (S. 186). Wie man solche Sätze formulieren kann, ohne wenigstens kurz auf die Studien von des Ägyptologen Jan Assmann hinzuweisen, bleibt mir schleierhaft. Assmann wird von Höffe in dem Buch nicht einmal erwähnt. Und das bekannte Plädoyer des Philosophie Professors Odo Marquard für den Polytheismus wird nicht erwähnt. Abgesehen davon: Was besonders stört, ist die ganz schwache Auseinandersetzung Höffes mit der politisch-sozialen Realität heute. Etwa, dass der evangelikale Fundamentalismus unter den Anhängern der republikanischen Partei der USA aggressiv und antidemokratisch ist, ähnliches ließe sich von Bolsonaro sagen, von der Putin-Kirche, also der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche kein Wort.

6.
Die Essays dieses Buches laufen auf zwei Seiten ganz Ende des Buches hinaus mit der Überschrift „Kein Dilemma“. Da wird die summarische Erkenntnis verkündet: „Das Verhältnis von Demokratie und Religion (immer noch in dieser Allgemeinheit formuliert, CM) ist störanfällig, es hat im Prinzip aber nicht den Charakter einer Zwangslage, eines Dilemmas“ (S. 225). Also: Religionen können grundsätzlich mit Demokratie kompatibel sein, auch wenn Höffe gegenüber „dem“ Islam Vorbehalte hat (S. 1818).
Höffe hofft aber: Selbst Religionen, die (in ihrem inneren Gefüge) „wenig demokratisch organisiert sind“, „können sich in ihrem Verhältnis zur Demokratie NICHT der eigenen religiösen Lehre entsprechend, also antidemokratisch, verhalten. (S. 225).
Das aber ist längst nicht entschieden: Ist der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt in der undemokratisch organisierten katholischen Kirche nicht in gewisser Weise auch eine Herausforderung für das politische Miteinander dieser Kirche auch in der Demokratie? Gott will keine Frauen in höchsten Funktionen, dies ist doch die Botschaft des Vatikans. Man denke auch an die totale und öffentlich durchgesetzte katholische Abwehr der Abtreibung. Sie ist eine Verachtung der Menschenrechte der Frauen. Oder: Die Zurückweisung von Segnungen homosexueller katholischer Paare durch Rom ist ein Skandal angesichts der neuen Gesetzgebung der Demokratien zugunsten der Homosexuellen. Denn die katholische Lehre ist: Homosexuelle sind eigentlich in der Sicht Gottes Menschen zweiter Klasse (diese Position einzunehmen steht dem Papst offiziell zu).

7.
Diese Hinweise deuten die Grenzen dieses Buches von Otfried Höffe an. Aber: Wie schon gesagt: Wer als Anfänger sich mit den Fragen dieses umfangreichen Themas „Religionen und Demokratie“ bzw. „Religionen und Staat“ auseinandersetzen will, wird gerade im explizit philosophiegeschichtlichen Teil kurz und knapp und allgemein verständlich informiert und zum weiteren Studium hoffentlich eingeladen.

Otfried Höffe, „Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion“. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 231 Seiten. 24 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Homosexualität ist kein Verbrechen, bleibt aber eine Sünde. Verworrenes von Papst Franziskus im Januar 2023.

Von Christian Modehn am 30.1.2023.

Die Stellungnahmen von Papst Franziskus zur Homosexualität werden immer zwiespältiger. Sie bestätigen nur das Hin-und Her-Lavieren der katholischen Kirche bei dem Thema.

Ende Januar 2023 hat Papst Franziskus gleich zweimal zu diesem Thema Stellung genommen. In einem Interview für AP am 25.1.2023 LINK und in einem Brief an den US-amerikanischen Jesuiten James Martin. LINK. Siehe auch handschriftlich LINK.

Erstens sagte der Papst: „Homosexualität ist kein Verbrechen“. Also keine Untat, die in mehr als 60 Staaten immer noch gesetzlich verfolgt und bestraft wird.

Kommentar: Eine scheinbar mutige Aussage, in der sich der Papst von den mehr als 60 Staaten und ihrer Politiker absetzt, die immer noch Homosexuelle verfolgen, ausgrenzen, quälen, töten. Damit spricht sich der oberste Chef der römischen Kirche aber endlich nur für den allgemeinen humanen Standard aus, den vernünftige und gebildete Menschen (und deren Politiker) schon seit etlichen Jahren vertreten.
Und die Wahrheit, die immer mehr vernünftige und gebildete Menschen verteidigen, heißt: Homosexualität (um nur von ihr zu sprechen in der Vielfalt queeren Lebens) ist normal, sie ist nichts anderes als eine Variante in den sexuellen Orientierungen. Die universal geltenden Menschenrechte stehen über allen positiven Gesetzen der Staaten und über allen faktischen Lehren, Dogmen der verschiedenen Religionen. Menschenrechte sind der universale Maßstab.
Die päpstliche Aussage „Homosexualität ist kein Verbrechen“ scheint in gewisser Weise mutig zu sein, wenn man bedenkt, dass der Papst Anfang Februar 2023 den Staat Südsudan besucht, deren Bewohner zu 77% sich Christen nennen (39 % nennen sich katholisch). Dieser Staat Südsudan aber hat Gesetze, die Homosexuelle bestrafen und ausgrenzen. Und die dortigen katholischen wie anglikanischen Bischöfe unterstützen diese staatlichen Gesetze. Es wird also nicht leicht sein, wenn der Papst, der ja eigentlich nur für „geistliche“ und „moralische“ Verhalten zuständig ist, nun dort hoffentlich zum leidenschaftlicher Verteidiger der Homosexuellen wird und lautstark verkündet: „Auch die Homosexuellen im Südsudan sind keine Verbrecher“. Wird seine Stimme vernommen? Der Papst wird wohl leider unverrichteter Dinge wieder nach Rom zurückfliegen: Denn die Regierung des Südsudan kann der Papst nicht austauschen, und die Katholischen Bischöfe ebenfalls nicht. Die werden wohl bei ihrer tiefsitzenden, angeblich theologisch begründeten Anti-Gay-Haltung bleiben.
Man möchte man den Politikern und Bischöfen in Südsudan zurufen: Schafft endlich demokratische Gesetze, beendet die Verfolgung von Homosexuellen und sorgt endlich dafür, dass die eigene Bevölkerung nicht länger verhungert… Dies zu sagen hat gar nichts mit Neo-Kolonialismus zu tun. Nur mit der Geltung der universalen (!) Menschenrechte.

Zweitens sagte der Papst: Der Papst ergänzt zur selben Zeit, Ende Januar 2023, ebenfalls gleich zweimal sein erstes Statement und lehrt: „Homosexualität ist Sünde“! Und dies mit der Begründung: „Weil der offizielle Katechismus der römischen Kirchen (verfasst unter Kardinal Ratzinger) Sexualität nur in der Ehe erlaubt“.

Kommentar:
Der Papst stellt also zum hundertsten Male wie seine Vorgänger schon ganz deutlich heraus: Homosexualität ist Sünde. Und damit sind konsequenterweise Homosexuelle auch besonders stigmatisierte Sünder. Vor allem Homosexuelle gelten nun wieder einmal als auffällige Sünder.
Theologisch ist die Aussage verrückt und falsch, sie muss von vernünftigen Theologen energisch zurückgewiesen werden: Denn Sünder kann nur jemand sein, der sich freiwillig für eine bestimmte Tat und Haltung entscheidet, die moralisch verwerflich sind. Aber Homosexualität wurde nie frei gewählt. Homosexualität ist, wenn man es theologisch deuten will, eine Gabe Gottes, die dem Menschen zugewiesen wurde, weil Gott als guter Gott nur Gutes schafft, darum ist also Homosexualität eine „gute Gabe Gottes“. Sie ist nur eine Variante innerhalb der Sexualitäten.

Die Konsequenz:
Wenn der Papst also hoch offiziell immer noch Homosexualität für eine Sünde hält und damit Homosexuelle als die nun öffentlich besonders bekannten Sünder hinstellt, hat er kein Argument mehr, um seine durchaus politische These durchzusetzen: Homosexualität ist kein Verbrechen, nichts, was ein Staat verfolgen darf.
Denn die Staats-Chefs können doch angesichts der „Sünden-Behauptung“ sagen: Wir helfen dir lieber Papst doch nur, die Sünde in der Welt zu besiegen, wenn wir die homosexuellen Sünder bestrafen und verfolgen und auslöschen. Dies ist ein alter Usus der Zusammenarbeit von Staat und Kirche: Die Päpste markieren bestimmte Menschen als schwere Sünder, und der Staat löscht sie dann unter dem Titel „Verbrecher“ aus. Siehe Inquisitionsgeschichte.

Die Lösung:
Eine vernünftige Lösung kann nur bedeuten: Der Papst lehrt kraft seines Amtes verbindlich und ein für allemal: „Homosexualität ist weder ein Verbrechen NOCH eine Sünde“. Er sagt öffentlich und laut und in allen Sprachen: „Homosexualität ist etwas Normales. Und deswegen unterstützen wir gern Homosexuelle, wenn sie eine Ehe schließen wollen, selbstverständlich segnen wir auch homosexuelle Paare, wir wollen schließlich als Kirche nicht länger nur wie üblich Autos, Wohnungen, Handy, Tiere usw. segnen, sondern eben auch alle Menschen“.

Ein – ironischer – Ausweg jetzt schon:
Vielleicht gibt es für einige wenige noch katholisch „gebundene“ Homosexuelle einen Ausweg, den Papst Franziskus selber in seinem Brief an Pater James Martin andeutet: Der Papst schreibt: „I should have said “it is a sin, as is any sexual act outside of marriage.”
Also, das heißt: Wer in einer Ehe lebt, begeht in seinem sexuellen Lieben und Leben keine Sünde. Das heißt dann aber: Homosexuelle, die im Sinne der richtigen Gesetze demokratischer Staaten verheiratet sind, können ohne weiteres mit päpstlichem Segen ihre Sexualität leben. Mit anderen Worten: Der Papst will sagen: Katholische Homosexuelle! Heiratet, folgt den richtigen Gesetzen in euren demokratischen Staaten, dann könnt ihr mit meinem päpstlichen Segen durchaus Sex haben und Liebe empfinden. Ihr seid ja Eheleute und verheiratet!

Weitere Projekte der Forschung:
– Warum wird gerade in Afrika Homosexualität so oft verboten? Wovor haben die Politiker und weite Kreise der unwissenden Bevölkerung Angst, wenn es um Menschenrechte für Homosexuelle geht?
– Folgen die afrikanischen Bischöfe in ihrer Feindschaft auf Homosexuelle nur der alten Lehren der europäischen und nordamerikanischen Missionare im 19. und 20.Jahrhundert, die den armen „Einheimischen“ einbläuten: Homosexualität ist eine Sünde? Man darf vermuten, dass es so war. Das Zerstörerische der Kolonial/Missionsgeschichte wird einmal mehr deutlich.

Katholische Kirche in ihrer Verfolgung der Homosexuellen, Hinweis auf einige Beiträge des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en-Salon Berlin.

Die Studie “Sodom” des französischen Soziologen Frédéric Martel, sie dokumentiert das verborgene, verlogene schwule Leben des Klerus: LINK

Kardinal Sarah (geb.in Guninea) war und ist einer der heftigsten Feinde homosexueller Gleichberechtigung: LINK

Kardinal Pengo aus Tanzania hat Unsägliches über Homosexuelle gesagt:  LINK

Im Jahr 2018 hätte Papst Franziskus in einem Interview am liebsten einen katholischen §175 geschaffen. LINK

Weihbischof Andreas Laun aus Salzburg war so geistig daneben, dass er den Segen für homosexuelle Paare mit einem Segen für KZs verglich. LINK

Dies ist nur ein Ausschnitt über die angestammten Umgangsformen des (hohen) Klerus mit Homosexuellen und Homosexualität. Das Thema bewegt diese Herren, weil sie oft selbst verkrampft schwul sind und alle verachten, die offen diese ihre normale Sexualität leben. Um dies zu erkennen, muss man kein Tiefenpsychologe sein.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die „Dialektik der Aufklärung“ – ein „Jahrhundertbuch“? Und: Antisemitismus bei Horkheimer und Adorno?

Über das Buch „Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. Die „Dialektik der Aufklärung“ – ein Torso.
Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten als Emigranten in Kalifornien 1942 begonnen, gemeinsam ein Buch zu schreiben, sie nannten es später „Dialektik der Aufklärung“. 1948 wurde es in Deutschland ausgeliefert. Es sei ein „Jahrhundertbuch“, behauptet der Siedler Verlag im Untertitel der Studie „Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier. Dass Mittelmeier selbst in seinem Schlusskapitel die „Dialektik der Aufklärung“ „hermetisch“ nennt, „als nicht leicht zu verstehen“ (S. 218) bewertet und als ein Buch beschreibt, „in dem man sich verirren kann“(S. 270 und 271), ist dann schon etwas irritierend … für ein „Jahrhundertbuch“. Auch „Handlungsimpulse“ für die Protestbewegungen (etwa zum „Mai 68“), wurden mit der Dialektik der Aufklärung, so wörtlich, „nicht geboten“. Die „Dialektik der Aufklärung“ sei ein Torso, so Mittelmeier (S. 264 und 272). Aber dieses „Torso-Buch“ hat doch eine gewisse Bedeutung und Berühmtheit erlangt, zahlreiche Studien von Philosophen zur „Dialektik der Aufklärung“ sind längst erschienen…

2. Eine lockere Abfolge von Biographischem und Philosophischem.
Martin Mittelmeier, Honorarprofessor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Köln, hat sich die Mühe gemacht, viele Details der Geschichte der Entstehung dieses „Jahrhundertbuches“ „Dialektik der Aufklärung“ mit vielen Quellenangaben gut belegt zusammenzutragen. Sein Buch besteht aus einer eher locker wirkenden Abfolge von philosophisch reflektierenden Erläuterungen zum Inhalt und dann, dazwischen gesetzt, eher nur biographisch erzählende Kapitel. In dieser „Doppelstruktur“ werden dann aber doch für manche sicher erstaunliche Erkenntnisse offen gelegt.

3. “Die Aufklärung fällt in Mythen zurück”.
Tatsache ist, dass die „Dialektik der Aufklärung“ so gesprächsweise in intellektuellen Kreisen viel Beachtung fand, das Buch erreichte hohe Auflagen und erlebte zahlreiche Übersetzungen. Das Buch wird in der philosophischen Fachwelt noch diskutiert, aber wird es von den „weiten Kreisen Interessierter“ auch gelesen und verstanden?
Das ist wohl die Frage, die sich der Autor Martin Mittelmeier stellte. Er erzählt deswegen anschaulich die mühevolle Entstehungsgeschichte der „Dialektik der Aufklärung“, aber er berichtet dies in einer Mischung aus Berichten vom privaten Leben der Philosophen und dann wieder ins Grundsätzliche gehenden Abschnitten der Werk-Interpretation.
Dass die philosophischen Einsichten und politischen Aussichten der „Dialektik der Aufklärung“ sehr düster sind, ist von vornherein klar, sozusagen als der „allgemeine Ruf“, der dieses Buch bewirkt hat. Die philosophische Vernunft wird zunächst als Geschichte der Befreiung von alten Göttern gedeutet, aber dann werden neue Götter wieder mächtig, und die heißen technischer Fortschritt, Konsum, Kultur-Industrie, Wachstumszwang der Ökonomie. Mit anderen Worten: Wer sich von der finsteren Gewalt der alten Götter befreit hat, gerät in neue Finsternis eines neuen Götter-Glaubens. Auswege und Licht kaum sichtbar. Und vor allem: Der Antisemitismus ist für Adorno/Horkheimer in der „aufgeklärten“ Moderne kein Sonderaspekt, sondern eine Art „Grundstruktur“.

4. Theologische Ausrutscher
Seinen Buch – Titel „Freiheit und Finsternis“ erläutert Mittelmeier nicht explizit und ausführlich, diese Wortverbindung Freiheit und Finsternis wird meines Wissens nur einmal erwähnt, nämlich auf Seite 251, wenn Mittelmeier auf den Zusammenhang von Hölle und Himmel im Denken Adornos aufmerksam macht mit der etwas verstörenden Bemerkung: „Dass (für Adorno) Himmel und Hölle identisch sein können, ist eine Konsequenz aus der ungeheuerlichen gedanklichen Konstruktion, dass der Holocaust die letzte notwendige Etappe zur Erlösung ist“ (S. 250). Da spielen theologische Ideen rein, die auf Inspirationen von Walter Benjamin zurückgehen.

5. Antisemitische Äußerungen von Adorno und Horkheimer?
Bevor auf weitere Aspekte des Buches von Martin Mittelmeier hingewiesen wird, soll die Aufmerksamkeit dem Thema Antisemitismus gelten: Denn es könnte für etliche LeserInnen überraschend sein, wenn Mittelmeier schreibt, „Adorno und Horkheimer standen jüdischen Lebenswelten umso reservierter gegenüber, je orthodoxer diese waren“ (S. 232). Mittelmeier spricht sogar von deren „habituellen Antisemitismus“ (S. 31). 1937 schrieb Adorno an seine Eltern, wie sehr ihn das Verhalten von – so wörtlich – „Ostjuden“ auf der gemeinsamen Fahrt auf einem Schiff über den Atlantik störte: Es waren, so wörtlich, „Ostjuden, die mit ihren Kappen auf dem Kopf saßen, religiöses Geheul ausstießen und sich überhaupt benahmen, dass es eine Rassenschande ist“, so zitiert Mittelmeier auf S. 232 Theodor W. Adorno und Mittelmeier kommentiert weiter: „Nach dem Offenbarwerden des Ausmaßes der Judenvernichtung ließ sich Adorno zu solchen Äußerungen nicht mehr hinreißen“ (Ebd.). Selbst Max Horkheimer wurde von Adorno ein Antisemit genannt, so wörtlich, „dessen Antisemitismus hinter dem von Adornos Vater kaum zurücksteht…“ (S. 234).
Mittelmeier beschreibt diese Tendenzen bei Adorno und Horkheimer unter der Kapitelüberschrift „Der Antisemitismus der Antisemitismus-Analytiker“ . Darin wird auch von einem nicht realisierten Projekt der beiden Philosophen in Kalifornien berichtet: Adorno und Horkheimer wollten in den USA für Juden ein Handbuch publizieren, das denen Argumente liefert, gegen antisemitische Beleidigungen vorzugehen. Dabei griffen die beiden durchaus antisemitische Stereotype auf, nannten sie und wollten zeigen, wie Juden selbst auf solchen Wahnsinn oder „anderen“ reagieren sollten. Eher peinlich ist dieses ganze Vorhaben…
Die Frage ist, ob derartige Optionen und Stellungnahmen „Antisemitismus bei (jüdischen) Antisemitismus – Analytikern“ genannt werden sollten, müsste breiter erörtert werden. Aber für viele LeserInnen dürften die gut belegten Hinweise Mittelmeiers neu sein.

6. Zur Geschichte des Buches „Dialektik der Aufklärung“:
Etliche (jüdische) Wissenschaftler des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ (Leitung: Max Horkheimer) hatten sich seit 1934 zunächst an die Ostküste der USA, dann nach Kalifornien flüchten können, sie lebten dort recht privilegiert, mussten sich allerdings während des Krieges zumal mit den Verdächtigungen des CIA auseinandersetzen. Und sozusagen vorauseilenden Gehorsam in ihren Formulierungen zeigen, um nicht als Kommunisten verfolgt und vertrieben zu werden. Das gute Leben der Flüchtlinge in Kalifornien war durchaus ein Thema mit einigen „Gewissensbissen“ etwa bei Max Horkheimer. Er hatte das Gefühl, gut und in Sicherheit zu leben, während (andere) Juden in den KZs der deutschen Nazis umgebracht wurden… LINK

7. Adorno – der unbeliebte Ehrgeizige.
Der Autor beschreibt viele Details, etwa, dass Theodor W. Adorno keineswegs von den Mitgliedern der kalifornischen „Kolonie der Wissenschaftsflüchtlinge“, also aus dem Institut für Sozialforschung, geschätzt, geschweige denn gemochte wurde. Adorno setzte in totalem Ehrgeiz alles daran, dem großen Chef Horkheimer (Mittelmeier spricht sogar von dessen Dominanz als „Diktatur“ auf S. 163) zu gefallen. Nebenbei: Hannah Arendt, so Mittelmeier, konnte Adorno nicht ausstehen (S. 15).
Horkheimer seinerseits hat schon als junger Mann ein sehr enges Freundschaftsbündnis mit Friedrich Pollock (der Ökonom des Instituts) geschlossen, beide blieben ein Leben lang zusammen (S. 43). Als 30 Jähriger heiratete Horkheimer 1926 die 8 Jahre ältere Sekretärin Rose Riekher aus der Firma seines Vaters.
Und, leider auch dies: Walter Benjamin konnte von Horkheimer und Adorno, trotz aller Zureden, nicht überzeugt werden, rechtzeitig in die USA zu flüchten.
Vom gesellschaftlichen Leben im Umfeld von Los Angeles ist im Buch viel die Rede, von Kontakten etwa mit Thomas Mann. Auch die musikalischen Begabungen und Qualitäten Adornos, in Kalifornien stolz präsentiert, kommen zur Sprache.

8. Zwei Philosophen schreiben ein Buch gemeinsam.
Abgesehen von vielen eher das Private betreffenden Hinweisen (etwa auch zur Rolle der Frauen, die meist nur als Gattinnen und gleichzeitig als Sekretärinnen relevant waren), bietet „Freiheit und Finsternis“, wie schon gesagt, in einzelnen Kapiteln immer wieder einige Erläuterungen zum Inhalt dieses so genannten „Jahrhundertbuches“ „Dialektik der Aufklärung“: Es ist, so der Autor, ein letztlich unvollendetes Opus, aber beachtlich ist: Etliche Kapitel wurden in schwieriger gemeinsamer Arbeit von Horkheimer UND Adorno verfasst, das ist für eine philosophische Studie schon eine Ausnahme: Nur ein Beispiel: Dass etwa Kant und Reinhold oder Kant und Fichte gemeinsam ein Buch hätten schreiben können, ist undenkbar.

9. Ängstlich, diplomatisch, auch revisionistisch?
Erstaunlich, wenn nicht verwirrend ist die Tendenz des vorauseilenden Gehorsams vor allem von Horkheimer, der die deutlich kommunistisch, sozialistisch konnotierten Begriffe aus ihrem Buch zu entfernen, damit eine allzu deutliche sozialistische Tendenz nicht zu persönlichen Irritationen (und Ausgrenzung) in der BRD führe. Die italienische Ausgabe des Buches wurde nach eingehenden Untersuchungen und Vergleichen bewertet: es seien ihr von den Autoren „die Stacheln entledigt worden“ (S. 270). Mittelmeier spricht sogar vom Revisionismus der beiden Autoren (S. 271).
Das so genannte „Jahrhundertbuch“ ist zweifellos in einer Haltung von Angst und Rücksichtnahme auf staatliche „Autoritäten“ in den USA (FBI!) entstanden, aber es ist auch bestimmt von dem Willen der Autoren, unbedingt, selbst mit Revisionen, in der philosophischen Welt wahrgenommen und anerkannt zu werden. Die Studenten des „Mai 68“ haben diese wenig kämpferische „diplomatische“ Haltung nicht sehr geschätzt … und sich eher Herbert Marcuse zugewandt.

Martin Mittelmeier, „Freiheit und Finsternis. Wie die „Dialektik der Aufklärung“ zum Jahrhundertbuch wurde“. Siedler Verlag, 2021, 320 Seiten, 24€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Der Teufel hat keine Zeit. Ein neues Buch von Daniel Strassberg.

Eine kleine Hinführung ins philosophisch-politische Denken.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Wieder einmal eine Möglichkeit, ins philosophische Denken zu kommen, bietet das neue Buch von Daniel Strassberg (Zürich). Er arbeitet als Psychoanalytiker und als Philosoph, eine nicht gerade häufige Kombination. 2022 hat er seine „philosophisch-politische Betrachtungen“ unter dem Titel veröffentlicht „Der Teufel hat keine Zeit“ (Rotpunktverlag, Zürich.) Zeit sollten sich allerdings die LeserInnen nehmen während der Lektüre, die anspruchsvoll, aber nicht schwierig ist und ins weitere Fragen führt. Und Fragen verunsichern, das ist auch der Hintergrund des Buches. Es verlangt Denkpausen, Unterbrechungen, anders geht es nicht im Philosophieren.
Der Titel „Der Teufel hat keine Zeit“ wird, soweit ich sehe, im Buch nicht weiter erklärt. Er soll vielleicht bedeuten: Der Teufel hat keine Zeit. Du als Mensch bist kein Teufel (normalerweise), also hast du Zeit und nimm dir Zeit zum Lesen (dieses Buches). Eine hübsche Werbung?

2.
Der Autor hat 41 „Betrachtungen“, kurze Essays, „Denk-Impulse“, veröffentlicht, die zuvor schon (von 2019 bis 2022) im Online-Magazin REPUBLIK.ch veröffentlicht wurden. In 6 Kapiteln werden diese philosophischen „Betrachtungen“ sortiert: Etwa: „Identität und Politik“, „Über die Liebe und andere Schwächen“, „Sprache und Wirklichkeit“… „Das Buch versucht die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft bewusst hervorzuheben, um so das komplexe Wechselspiel von gesellschaftlichem Wandel und veränderten Formen der Subjektivität auszuloten“, schreibt Strassberg (S. 14).

3.
41 philosophisch-politische Essays, leider (zu) eng/klein gedruckt auf 240 Seiten, kann man nicht umfassend rezensieren, es sei denn, es sollte ein neues Opus entstehen.
Was macht dieses Buch im ganzen zu einem „Einstieg“ ins philosophische Denken inmitten der Fragen und Herausforderungen der Gegenwart? Strassberg analysiert z.B alltägliches menschliches Verhalten („Ausreden“, „Sex“, Rechthaben“, „Scham“, „Nähe“ usw.).
In der philosophischen Reflexion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstreicht Strassberg die Bedeutung der Ideologie in diesem (und wohl in jedem) Krieg. Putin und die ihm ergebene russisch-orthodoxe Kirche verbreiten eine Ideologie unter den Russen: Der Krieg wird so in eine verfälschend gefärbte Groß-Erzählung künstlich eingebunden, in der dann der Krieg „nicht mehr völlig absurd erscheint“ (S. 27). Und die meisten, gläubig und dumm gehalten seit Jahrhunderten, akzeptieren das. Noch lange? Gibt es ein Ende der ideologischen Verblödung?

4.
Ein anderes Beispiel: Ohne Ausreden kann eigentlich kein Mensch in der Gesellschaft, im Staat, in der Familie etc. leben und bestehen, der Autor zeigt: „Wir sind allzeit dazu aufgerufen, schonungslos ehrlich zu uns selbst zu sein. Doch ein Leben ohne ein gerütteltes Maß und Selbstbetrug ist unerträglich. Ausreden ermöglichen es, Widersprüche zu leben, ohne dauernd über sie nachdenken zu müssen…“ (S. 41).
Ich habe weiter nachgedacht, was denn der Unterschied zwischen Ausrede und Lüge ist, und wie sehr so viele unserer demokratischen Politiker und internationalen Finanzjongleure und Bischöfe nicht längst die Praxis der Ausreden meisterlich beherrschen.
Treffend auch Strassbergs Analyse, wie „unsere schöne grenzenlose Welt“ dazu führt, dass wir keine räumliche Nähe mehr hochschätzen können und möchten. „Der physische Ort, an dem Menschen zusammenwohnen, begründet kaum noch gemeinsame Interessen“ (S. 167). Anregend auch die Reflexionen zum Thema Bürokratie, „die“ – aufgrund der Computer gesteuerten Fragen und Formulare CM. – „im besten Fall zur Anpassung, im schlimmsten zur Lüge und zum Betrug zwingt, also genau zu dem, was sie verhindern vorgibt“(S. 152).
Weitere „Kost/d.h. Denk-Proben“ zum Weiterdenken und Kritisieren natürlich ließen sich zu jeder „Betrachtung“ liefern.

5.
Fraglich bleiben für mich einige wie immer recht knapp mitgeteilte Denkresultate Strassbergs, etwa unter dem Titel „Das Unnütze“ (S. 140 ff.) Da wird über Adam Smith in einem überraschend wohlwollenden Ton gesprochen, als wäre er der Gründervater einer Theorie der Schönheit und Kultur. „Wir essen nicht, weil wir Hunger haben, sondern weil wir den raffinierten ästhetischen Genuss suchen – auch wenn er ungesund ist“, schreibt Strassberg (S. 139). Ob sich dieser Meinung einiger Leute in Zürich, Paris, New York, Berlin auch die Millionen Hungernden von Südsudan und Madagascar und so weiter anschließen, ist eher ausgeschlossen. Die vom Autor sehr verständnisvoll beschriebene Produktion der Luxus-Güter für die Luxuriösen, Millionäre etc., verdient wirklich weitere kritische Reflexionen. Ich habe sehr große Schwierigkeiten dem Schlusssatz dieses Kapitels auch nur annähernd zuzustimmen: „Unsere überaus effiziente Gesellschaft ruht auf dem verdrängten Fundament des Unnützen“ (S. 140).
Strassberg nennt seine sehr diskutable Überzeugung: „Nicht nützliche, sondern schöne und überflüssige Dinge sind das Schmiermittel jeder Ökonomie“ (ebd.) Da wird offenbar die übliche Kulturproduktion des Schönen für die Schönen (Oper, Ballett, Malerei etc.) mit der Produktion teuerster Mode und Cognacs etc. verwechselt. Wird durch die Produktion von Luxus-Mode und Luxus-Cognacs die Arbeitslosigkeit in Frankreich etwa erheblich reduziert? Eher nein, die Produktionen der genannten Güter sind also kein „Schmiermittel der Ökonomie“!

6.
Ein anderes Beispiel: In dem Beitrag „Warum Entscheidungen nie vernünftig sind“ (S. 120ff). Auf S. 124 heißt es: „Das vernünftige Abwägen von Argumenten, der herrschaftsfreie Dialog, der friedliche Wettstreit der Meinungen und Überzeugungen sind Fiktionen.“ Schon wieder gilt hier der vom Autor zweifellos gewünschte Widerspruch, wie sollte es denn auch anders sein in der Philosophie! Meine Frage also: Sind dann etwa auch die hier vorliegenden „Betrachtungen“ von Daniel Strassberg, die ja argumentieren und Überzeugungen bieten, auch Fiktionen? Ich hoffe nicht, und hoffe insgesamt nicht, dass Argumente und damit die ganze Philosophie ins Fiktive abgleiten. Fiktiv sind viele Romane. Philosophie ist eine Kunst, aber eine Lebenskunst mit geltenden Argumenten. Ist etwa die argumentierende Erklärung der universal geltenden Menschenrechte fiktiv? Viele Politiker betrachten die Menschenrechte als Fiktionen, faktisch. Normativ gesehen sind die Menschenrechte absolut keine Fiktion!

Daniel Strassberg, „Der Teufel hat keine Zeit. Philosophisch-politische Betrachtungen“. Rotpunktverlag. Zürich, 2022, 256 Seiten, 25 Euro.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Christen und Kirchen in der Minderheit: Neueste Entwicklungen in den Niederlanden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.12.2022.

Die Kirchenführer in Deutschland jammern jetzt wieder über die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen.
Es könnte hilfreich sein, einmal über die Grenze, in die Niederlande, zu schauen…

Der Abschied so vieler EuropäerInnen von ihrer Kirchenbindung kann durchaus als ein kultureller Bruch bezeichnet werden. Mit dem Abschied von den Kirchen verändern sich auch die Vorstellungen von Werten, vom Lebensganzen, vom Sinn des Lebens…Das Thema ist also alles andere als bloß „kirchenintern“.

In den Niederlanden, bis ca. 1960 tatsächlich weltweit bekannt als Inbegriff eines sehr lebendigen vielfältigen kirchlichen Landes, sind 2021 nur noch 32 % der Bewohner Mitglieder einer christlichen Kirche.
Holland gilt als ein säkulares Land förmlich als ein Beispiel für das, was andere Länder sehr bald „erwartet“.

Eine Frage bleibt hingegen: Sind alle, die sich „nicht-kirchlich“ nennen, auch Atheisten? Ich vermute die Antwort heißt Nein. Auch dazu gibt es differenzierte Studien. Allgemein-theologisch gesagt: Irgendeinen Gott verehren die (meisten) Menschen immer…Aber dieses Thema führt über einen religionssoziologischen Hinweis hinaus.

1. “Entkirchlichung”
Seit 1970 verabschieden sich Niederländer systematisch und stetig von ihren Kirchen. Das ist alles seit Jahren bestens dokumentiert. Die „Entkirchlichung“, wie man dort sagt, hat eine längere Tradition. Über die Ursachen wurde vielfach geforscht. Jetzt liegen wieder neueste Statistiken vor: Tatsache ist: Die Kirchen repräsentieren eine Minderheit in der Bevölkerung, bei der Altersstruktur der Kirchenmitglieder werden Kirchen sogar allmählich zur sehr kleinen Minderheit…Das Verschwinden von Kirchengebäuden als explizit „religiösen Gebäuden“ aus dem Leben der Städte, Kleinstädte und Dörfer ist in den Niederlanden ganz offensichtlich, viele hundert Kirchengebäude wurden dort abgerissen, verkauft, umgewandelt etc. Der Kommerz bzw. der „Sparzwang“ der Kirchenführung, haben insofern auch das bislang bestimmende Bild westeuropäischer Städte, zu der eben auch Kirchengebäude gehörten, ausgelöscht. Manche Niederländer bedauern das vielleicht allzu schnelle Abreissen von Kirchengebäuden seit 1960.

Zur Erinnerung: Katholische Kirchenführung für die “Austritte” verantwortlich.
Bis 1960 waren die Niederlande ein geradezu extrem kirchliches Land, bezogen auch auf deutsche Verhältnisse, mit vielfältigsten Formen protestantischen Lebens. Und mit einem, wie man in klerikalen Kreisen damals sagte, „äußerst blühendem katholischen Leben“.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1960, die das Individuum in seine umfassende Freiheiten führte, begann der systematische Abschied von der traditionellen Kirchenbindung. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Québec in Kanada eine ähnliche Entwicklung statt. Heute ist die einst „absolut katholische Provinz Québec“ absolut säkular…
Im niederländischen Katholizismus führte die Personalpolitik des Vatikans (Ernennung reaktionärer Bischöfe, etwa: Simonis, Gijsen etc.) zu einem systematischen Abschied von der katholischen Kirche: Sie wurde und wird zurecht als autoritäre, explizit anti-demokratische Organisation wahrgenommen.

Römisch-Katholischsein und Niederländischsein passt nicht zusammen. Progressive katholische Organisationen (die „8. Mei-Bewegung“) sind verschwunden oder sind von der rigiden katholischen Haltung zum Verschwinden gebracht worden. Die Klöster sind in den Niederlanden fast ganz verschwunden. Die Provinz des Dominikaner-Ordens, bis vor 40 Jahren ebenfalls „blühend“, hat noch vier kleine Klöster. Bei den noch etwa 15 holländischen Augustinern ist niemand unter 70 Jahren…. Das Ordensleben – auch der Frauen – stirbt aus. Da und dort versuchen Laien, die alten (klerikalen) Ordenstraditionen auf neue Art fortzuführen.
Es sind Theologen und Religionssoziologen, die die Schuld an dem systematischen Verschwinden des holländischen Katholizismus dem Vatikan, allen voran dem dogmatisch-strengen polnischen Papst Johannes Paul II., geben. Mit anderen Worten: Wie überall, ist die rigide katholische klerikale Kirchenführung auch verantwortlich für diese „Entkirchlichung“. Und das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache!

2. 18 % der Bevölkerung nennen sich katholisch, 14 % protestantisch.
Das „Centraal Bureau voor Statistiek“ (CBS), also das statistische Zentralbüro, hat nun die aktuelle Entwicklung für die Niederlande veröffentlicht (Siehe auch: https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2022/51/bijna-6-op-de-10-nederlanders-behoren-niet-tot-religieuze-groep).
Vor allem bei den Katholiken ist der Abschied von der Kircheninstitution besonders deutlich: Im Jahr 2010 nannten sich noch 27 Prozent der Niederländer Römisch – katholisch; 2021 sind es nur nicht 18 Prozent. Zu den protestantischen Kirchen bekannten sich 2010 18 Prozent, 2022 noch 14 Prozent der Bevölkerung. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur: Bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt der Anteil der Gläubigen 28 Prozent; bei den über 75 Jährigen noch 65 Prozent. Die Kirchen sind also, etwas überspitzt gesagt, nicht nur „Senioren-Organisationen“, sondern letztlich auch langsam aussterbende Gemeinschaften.
Etwa 4,5 % der Bewohner der Niederlande sind mit muslimischen Gemeinden verbunden. Angesichts dieser eher überschaubaren Zahl der Muslime bleibt es fast unverständlich, wie jetzt rechtsextreme Parteien in Holland ihren Hass auf „die MuslimInnen“ und „die Fremden“ in die Öffentlichkeit tragen.

3.
Das ist die Tatsache: im Jahr 2021 nennen sich noch 32 Prozent der Niederländer kirchlich gebunden. Eine Ziffer, die sich etwa an das traditionell nicht-bzw. antikirchliche Tschechien, vor allem Böhmen, annähert, aber noch längst nicht an die entsprechenden Zahlen im Osten Deutschlands, in den so genannten neuen Bundesländern,

4. Leere Kirchen am Sonntag.
Auch die Teilnahme an den Gottesdiensten am Sonntag ist in den Niederlanden sehr schwach: 2021 nahmen 13 Prozent der Kirchenmitglieder wenigstens einmal im Monat an den Gottesdiensten teil, 2010 waren es noch 18 Prozent. Besonders gering ist die regelmäßige Teilnahme an der Messe bei den Katholiken, bei den Protestanten nehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder an den Sonntagsgottesdiensten teil, heißt es in der Studie vom CBS.

5. Auf der Suche nach einer Zukunft.
Beobachter haben den Eindruck, dass viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder und ihre Pastoren (der protestantischen Kirchen) nicht unbedingt in Depressionen fallen, sondern eher nach neuen Konzepten suchen und eine neue kirchliche Praxis probieren. Allerdings ist der Mangel an Pastoren in der großen „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) deutlich zu spüren, das führt zu einem Zusammenschluss verschiedener Gemeinden. Andererseits gibt es Pläne und schon erste Erfahrungen, Gemeindemitglieder, die nicht eine umfassende theologische Ausbildung haben, mit bestimmten Aktivitäten der Gemeinde-Liturgien zu betrauen, etwa in der Gestaltung und Leitung von Trauerfeiern und Bestattungen. Es werden, dem Vorbild der Anglikanischen Kirche folgend, auch Kurse angeboten für Männer und Frauen, die sich neben ihrem (weltlichen) Beruf als Teilzeitstudenten auf den Pastorenberuf vorbereiten. Diese Kurse werden an der „Protestantse Theologische Universiteit“ (in Amsterdam und Groningen) angeboten.

6.
Weil viele Gemeinden und kirchliche Hilfsorganisationen immer noch umfassende soziale Hilfe leisten (Flüchtlingshilfe, Essensausgabe für Arme etc.), haben staatliche Instanzen schon jetzt ihre Sorgen geäußert, was denn an Hilfeleistungen der Kirchen noch möglich bleibt, wenn sie immer mehr zur Minderheit werden.

7. Die freisinnge Kirche der “Remonstranten”
Unter der Vielfalt protestantischer Kirchen in den Niederlanden ist die kleine Kirche der Remonstranten, theologisch gesehen, eine ganz besondere, manche sagen theologisch eine einmalige Kirche in der weiten Ökumene: Die Remonstranten, offizieller Name „Remonstrantische Bruderschaft“, sind die einzige offiziell christliche freisinnige Kirche: Das heißt: Sie halten nicht viel von traditionellen dogmatischen Bindungen, sie versuchen eine neue zeitgemäße Sprache für alte Begriffe, sie eine christlich-humanistische Kirche, die jedem Mitglied die Formulierung des eigenen Glaubensbekenntnisses überlässt.
Die Remonstranten waren niemals eine zahlenmäßig starke Kirche. Jetzt haben sie ca. 5.000 Mitglieder bzw. „Freunde der Remonstranten“, dabei handelt es sich um Menschen, die noch einer anderen Kirche angehören, aber gern im Geist der christlich-humanistischen Remonstranten leben wollen. Auch diese Möglichkeit einer „doppelten Kirchenmitgiedschaft“ ist wohl einmalig in der weiten Ökumene. Aber selbst diese theologisch liberale Kirche hat viel Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen, obwohl sie eigene Projekte des Dialogs mit religiös Interessierten oder auch Religiös-Nicht-Interessierten anbietet.

8. Freie ökumenische “Basis-Gemeinden”
In den 1970ger Jahren bildeten sich in ganz Holland „freie ökumenische (Basis)-Gemeinden, man denke an die „Ekklesia“ in Amsterdam, die von dem Theologen und Poeten (und ehemaligen Jesuiten) Huub Oosterhuis in Amsterdam gegründet wurde oder an die Dominicus-Gemeinde in Amsterdam oder die Basis-Gemeinde „de Duif“, ebenfalls in Amsterdam. Diese freien ökumenischen und alles andere als fundamentalistischen Gemeinden haben sich von den Bindungen an einen Bischof gelöst, sie haben ihre Kirchengebäude gekauft (wie die Dominicus-Gemeinde) … und sie gehen ihren eigenen, unabhängigen Weg in der immer noch bunten Kirchenszene der Niederlande. Aber auch diese freien ökumenischen Gemeinden, die einige Leute (naiv?) für ein Vorbild hielten auch für Deutschland, haben Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen.
Huub Oosterhuis, der Theologe und Poet, hat durch seine Poesie, seine vielen Lieder, Gedichte, Reflexionen, sicher dazu beigetragen, dass viele Gottesdienste in Holland ein beträchtliches poetisches und theologisches Niveau haben. Die Bedeutung der Poesie (und biblisch inspirierten Theologie) Oosterhuis` ist kaum zu überschätzen, selbst wenn der klerikale Katholizismus immer wieder gegen Oosterhuis polemisierte.

9. Die Zukunft?

Wie es mit dem christlichen Glauben und den Kirchen in Zukunft weitergeht, in den Niederlanden wie in West-Europa, ist völlig offen.

Möglich ist, dass sich ein christlicher Glaube bildet, der sich von allem dogmatischen Starrsinn und moralischen engen, Frauen-feindlichen Lehren befreit hat und einige zentrale Aspekte der Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth lebt, in kleinen Basis-Gruppen, auch politisch natürlich im Sinne umfassender Gerechtigkeit.

Aber dass im Ernst noch viele intellektuell wache Menschen diesem rigiden klerikalen katholischen Männer-System, bewusst und stolz anti-demokratisch, anhängen, ist äußerst unwahrscheinlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Philosophie lebt von Erfahrungen der Evidenz, von „ursprünglichen Einsichten“.

Ein Hinweis auf einen zentralen Aspekt im Denken des Philosophen Dieter Henrich.
Von Christian Modehn.

1. Philosophie und Philosophieren
Philosophie und ihr lebendiges Geschehen als Philosophieren ist etwas Außergewöhnliches, kaum zu Definierendes, daran zu erinnern ist alles andere als banal. Philosophieren geschieht inmitten des Lebens und seiner Fragen, und manchmal werden maßgebenden Philosophen Einsichten förmlich „geschenkt“, sie zeigen sich dem Philosophen wie ein unerwartetes Ereignis. Auch darauf hat der Philosoph Dieter Henrich hingewiesen.

2. Dieter Henrich
Dieter Henrich ist einer der wichtigen Philosophen in Deutschland am 17. Dezember 2022 ist er kurz vor Vollendendung seines 96. Lebensjahres gestorben. Sein äußerst umfassendes philosophisches Werk wird inspirierend bleiben, zumal für die, die das Werk von Kant, Hegel und vor allem Fichte und Hölderlin lesen und studieren. Zu Dieter Henrich siehe auch wikipedia: LINK

3. „Ursprüngliche Einsichten“… Religiöse Einsichten….
Hier wird nur auf eine entscheidende Erkenntnis Dieter Henrichs hingewiesen, die sozusagen für „weite Kreise“ bedeutsam sein kann. Henrich hat es verstanden, seine Studien zur Geschichte der Philosophie mit lebensmäßig bedeutsamen Themen zu verbinden.
In seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (C.H.Beck Verlag, München, 2011) entwickelt Henrich ein bislang eher selten beachtetes Thema: Gibt es „Grundeinsichten“, also plötzlich sich zeigende Erkenntnisse und Evidenzen, von denen sich Philosophen in ihrem Denken und in ihrem Leben prägen und bestimmen lassen? Henrich berichtet im ersten Teil dieses zum Teil durchaus „allgemein zugänglichen“ Buches von „einer sich plötzlich eröffnenden Einsicht“ (S. 22), die sich „im Lebensgang von Philosophen“ zeigt. Diese unerwartete, nicht-„gemachte“ Einsicht will Henrich von den eher alltäglichen Einsichten, Entdeckungen usw. abgrenzen. Diese äußern sich etwa in dem Ruf „Ich hab es gefunden“, „Heureka“… Dabei handelt es sich um begrenzte, etwa aufs Technische bezogene Erfindungen.
Henrich aber meint Einsichten „von prägender Bedeutung für ein ganzes Leben“(S. 26), „in denen sich ein Blick in das Ganze der Wirklichkeit auftut“ (ebd.). Und der Philosoph vergleicht diese umfassenden Einsichten (sind es „Geschenke“, „Gaben“ ?) mit den Erlebnissen religiöser Offenbarungen. Diese knappen Hinweise (auf Seite 27) sind wichtig. Denn Henrich, kein Verteidiger des dogmatischen christlichen Glaubens, ermahnt förmlich atheistische Menschen, solche „außerordentlichen Erfahrungen und Einsichten“ religiöser Menschen nicht „für Priestermärchen und Symptome einer Psychose zu halten.“ Zu einer entsprechenden „außerordentlichen (ins Religiöse weisenden) Einsicht“ Ludwig Wittgensteins siehe den Hinweis unter Nr. 7.
Henrich zeigt dann an ungewöhnlichen Einsichten der Philosophen Descartes, Jacob Böhme, Kant, Nietzsche, die Bedeutung der „plötzlichen Grund-Einsicht“ in das Ganze der Wirklichkeit…Dass die Grundeinsicht Heideggers , das „Ereignis“ genannt, also als „Kehre“ (als der Abkehr vom Ansatz von „Sein und Zeit“, CM) eigene Probleme aufwirft, das weiß Henrich (Seite 59f.) Aber die Frage bleibt bei Henrich meines Erachtens offen, ob es etwa angesichts des unkontrollierbaren „gehorsamen“ Hörens auf den Spruch „des“ Seins beim späten Heidegger, auch allgemeine, normative Argumente zur Beurteilung eine Rolle spielen sollten. Mit anderen Worten: Ist jedes philosophische Evidenz-Erlebnis automatisch zu respektieren? Gibt es (auch politisch motivierte) vorgetäuschte Evidenzen etc.?

4. Fichtes ursprüngliche Einsicht
Hier soll nur auf Henrichs Beschreibung der zentralen Grunderfahrung des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hingewiesen werden: Ihm galt schon sehr früh das besondere Interesse Henrichs. 1967 erschien als Broschüre sein wichtiger Text „Fichte ursprüngliche Einsicht“ (Verlag Vittorio Klostermann).
In dem Buch „Werke im Werden“ von 2011 spricht Henrich gleich am Anfang von Fichtes grundlegender Einsicht (S. 40-42). Sie bezieht sich auf etwas Elementares im geistigen Leben, auf das, was den Menschen als Menschen auszeichnet: das Selbstbewusstsein: Fichte setzt sich von Descartes ab; er sah in der „Reflexion“ des Subjekts auf sich selbst auch den Ursprung des Ich. Aus der Reflexion, so wird dort behauptet, entstehe das Ich als Selbstbewusstsein. Aber woher hat die Reflexion sozusagen ihre innere Kraft, ihre Wirksamkeit, fragt Fichte. „Denn Reflexion kann nur bedeuten, dass ein bereits vorhandenes Wissen (!) eigens ergriffen und damit ausdrücklich gemacht wird.“ (Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 12).
Henrich zeigt also in seinen Fichte-Studien, dass das menschliche Selbstbewusstsein vor aller Reflexion schon eine unmittelbare Kenntnis des Subjekts von sich selbst ist. Diese immer schon gegebene unmittelbare Kenntnis des Ich von sich selbst ermöglicht alles geistige Leben, d.h. auch auf die erkennende Reflexion des einzelnen auf sich selbst, auf seine geistige Struktur usw. Das ist für die Menschlichkeit des Menschen von entscheidender Bedeutung: Das Selbstbewusstsein ist etwas unmittelbar Gegebenes! Wer es verstehen will, fragt nach einer Art „Grund“ des Selbstbewusstseins, nach einem „Grund, der für alles Erkennen unausdenkbar ist. Nach Fichtes Lehre von 1798 manifestiert das Selbstbewusstsein das Gesetz der intelligiblen Welt, nach der Lehre von 1801 manifestiert es Gottes Leben“ ( „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, S. 48).
Dieter Heinrich erinnert in „Werke im Werden“, dass diese Einsicht sozusagen eine Evidenz-Erfahrung Fichtes ist, ein Ereignis, ein Geschenk, eine Einsicht, auf die er seine Philosophie gründete. Fichtes Sohn, aber auch sein Enkel haben darüber berichtet. „Nach anhaltendem Meditieren und während Fichte am warmen Winterofen stand, sah er plötzlich, dass nur die im Ich gelegene Subjekt-Objektivität das höchste Prinzip der Philosophie sein könne“ (S. 40). Der Fichte Zeitgenosse, der Philosoph Henrik Steffens, geht in seiner Interpretation noch weiter:
„Wenn das Ich sich selbst erkennt, kann ein philosophisches Wissen gewonnen werden, das dieselbe Gewissheit hat wie das mathematische Wissen“ (Werke im Werden, S. 40). Ein anspruchsvoller Satz im Denken des 18. Jahrhunderts. Heute sind Philosophen mit Vergleichen zur Mathematik äußerst zurückhaltend.
Dieter Henrich hat im Laufe seines philosophischen Denkens die Frage „Was ist Selbstbewusstsein?“ stetig weiter vertieft.

5. Zu Wittgensteins „außerordentlicher Einsicht“
Ausgerechnet, möchte man sagen, habe Ludwig Wittgenstein „einen Moment außerordentlicher Einsicht“ (Henrich) bei einer Aufführung des Volksstücks „Die Kreuzelschreiber“ von Ludwig Anzengruber (verfasst 1872) erleben können. Damals habe Wittgenstein „zum ersten Mal die Möglichkeit einer Religion“ ahnen können (S. 45, „Werke im Werden“). Henrich beschreibt etwas ausführlicher den Zusammenhang des Erlebens, wichtig ist: Wittgenstein habe gespürt und dann gewusst:„Es kann dir nix geschehen“. Es war also das Wissen einer letzten Geborgenheit in dieser Welt (S. 46). Tatsächlich hat Wittgenstein vor allem auch in den Notizen, die unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ (Werkausgabe Band 8, Suhrkamp) veröffentlicht wurden, ausführlicher über seine religiösen Einsichten, seine Stellung zum Christentum usw. geschrieben  LINK   1. . LINK 

6.
Haben alle Menschen  „ursprüngliche Einsichten“ ?
Dieter Henrich ist der Meinung, dass bestimmte Grundeinsichten oder „Schlüsselerfahrungen“ durchaus Alltagserfahrungen sein können, also letztlich Geschehnisse sind, die jedem Menschen widerfahren. Diese „Schlüsselerfahrungen“, die eine neue Sicht, einen neuen Weg, eine Alternative unvermittelt zeigen, können in einem Leben zahlreich sein, sie sind also vielfältiger als „neuen Grund legende ursprüngliche Einsichten“ von Philosophen. Obwohl auch diese ihre erste „ursprüngliche Einsicht“ manchmal immer wieder neu bedenken und neu formulieren, wie etwa Fichte in seinen verschiedenen „Wissenschaftslehren“. Was den Alltag vieler Menschen im Blick auf grundlegende Erfahrungen angeht, erinnert Henrich auch an „Gestaltpsychologen, die sich mit Problemlösungen, die nach vergeblichem Suchen plötzlich einfallen, in Experimenten beschäftigt haben“ (S. 22).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin