Jesus kommt jetzt nach Rom: Neues vom “Großinquisitor”.

Im November 2022 ist das Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen (Rowohlt Verlag Berlin) erschienen.  Im November 2021 wurde vielfach an den 200. Geburtstag von Fjodor Dostojewski erinnert.
Anlass genug, der Spur Dostojewskis im Roman „Die Brüder Karamasow“ zu folgen und jetzt aktuell an die Wiederkehr Jesu Christi in Rom 2021 zu erinnern. Dabei folge ich dicht der Erzählstruktur Dostojewskis.

Von Christian Modehn am 18.11.2022.

Der Beitrag hat vier Teile:
1. Jesus in Rom heute.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

1. Jesus in Rom heute

Iwan erzählt im Jahr 2021 seinem Bruder Aljoscha Karamasow sein neues Poem. Wie schon in Dostojewskis Roman aus dem Jahr 1879 ist Iwan der Religionskritiker, Aljoscha der Fromme in der Familie. Aljoscha ist so erstaunt über die Einsichten seines Bruders, dass er diesmal nur selten wagt nachzufragen.  Iwan also erzählt:
„Jesus Christus ist kürzlich in den trostlosen Vorstädten Roms aufgetaucht. Im Viertel Corviale geht er den Hochhäusern entlang, betritt dunkle, schmutzige Hausflure, spricht mit den Alten, den Frauen mit ihren vielen Kindern. Geld hat er nicht, aber er spürt die göttliche Vollmacht, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen. Darum sammelt er schließlich die Menschen auf einem Platz. Sie erkennen ihn an seiner sanften Sprache, fühlen sich von ihm ernst genommen und verstanden, sie sind erstaunt, wie er, Jesus Christus, die Obdachlosen umarmt, den Flüchtlingen hilft, Zelte zu bauen.

Mit sanfter, aber eindringlicher Stimme fordert Jesus Christus diese Menschen auf, sich gut vorzubereiten, loszuziehen und dann die Paläste im Vatikan zu besetzen. Die Kardinäle sollen aus ihren luxuriösen Wohnungen vertrieben werden. „Vielleicht finden sie als die Nachfolger der armen Apostel Petrus und Paulus bei euch dann eine Bleibe“. Jesus Christus lächelt, nicht ohne Ironie.. Dann fährt er sehr bestimmt fort: „Die berüchtigten Finanzjongleure in der Vatikanbank werden dann zu Altenpflegern umgeschult. Und die vielen hundert Priester und Prälaten in den päpstlichen Behörden werden zu Lehrern ausgebildet für die römischen Vorstädte“. Schließlich fordert er die Flüchtlinge und Obdachlosen auf, mindestens zehn Kirchen und fast leerstehende Klöster in der Innenstadt zu besetzen. „Die stehen ja an jeder Ecke und sind fast nur noch Museen“, sagt Jesus. „Dabei sind Gotteshäuser immer Häuser für die Menschen, die Ausgegrenzten zumal“. Die Leute sollen also, fordert er, die Bänke wegschaffen und Notunterkünfte einrichten. „Für die Besichtigung der Kunstwerke in euren besetzten Kirchen könnt ihr Eintritt verlangen, dann ist für Speis und Trank gesorgt“..

„Jesus Christus weilt in der heiligen Stadt Rom“, das haben die Lokalreporter inzwischen längst dem Vatikan gemeldet. Die Bischöfe und Prälaten in den riesigen Renaissance- und Barock – Gemäuern der kirchlichen Verwaltung sind entsetzt über diese Wiederkunft Jesu Christi in Rom. „Der stört uns doch, der raubt uns die Zeit“, lautet die einhellige Meinung. „Hatte nicht der Großinquisitor in Dostojewskis Erzählung bereits Jesus verboten, sich jemals wieder auf diesem christlichen Boden und dieser kirchlichen Welt zu zeigen?“, fragt ein etwas literarisch gebildeter Substitut der Glaubenskongregation. Er blickt mit müden Augen von einem Papierstapel auf, das sich mit einer erneuten Verurteilung des Frauenpriestertums befasst. Und dabei auch noch den Pflichtzölibat der Priester verteidigen muss.

2. Jesus wird in den Vatikan gebracht und dem Großinquisitor Ratzinger gegenübergestellt.

Mit Hilfe der Mafia sorgen schließlich emsige Beamte der Vatikanbank dafür, Jesus Christus sehr diskret aus der erbärmlichen Vorstadt Roms zu entführen und direkt in den Vatikan zu bringen. Einer der vatikanischen Finanzjongleure hat eine Idee: „Bringt den Kerl bloß nicht in unsere Bank, er soll ins nahe gelegene Gebäude des Heiligen Offiziums, einst die Inquisitionsbehörde, verfrachtet werden“.
Ein obligater SUV der Mafia bringt also Jesus Christus, in einer Jeanshose gekleidet und mit einem Wollpullover, wohlbehalten ins „Heilige Offizium“.  „Am besten gleich ins Büro“ heißt die Devise, in das Büro, in dem Kardinal Ratzinger als Behördenchef und Grossinquisitor viele Jahre wirkte. Aber wie es der Zufall will, schaut Ratzinger, nun als Ex-Papst Benedikt XVI., mal wieder in seiner Behörde nach dem Rechten.

So stehen sich also plötzlich Benedikt XVI. und Jesus Christus gegenüber. Beide schweigen lange Zeit. Und Jesus blickt dann voller Tränen auf den Ex-Papst. „Warum weinen Sie, Herr Jesus“, fragt Ratzinger. Jesus winkt nur ab und flüstert nach einer Weile dem greisen Ratzinger ins Ohr: „Was habt Ihr nur aus meiner so einfachen, so menschenfreundlichen Botschaft gemacht“. EX-Papst Benedikt läuft rot an vor Wut, der Farbe seiner feinen Schuhe übertreffend: „Mit ihrer humanen friedlichen Lehre kommen wir nicht weiter, ihre Bergpredigt taugt nichts im Alltag von Staaten und Kirchen! Sie sind ein naiver Idealist, mein Herr und mein Gott“, schnaubt Benedikt mit letzter Kraft. „Wir als Kirche haben inzwischen unsere eigene Religion geschaffen, wir nennen uns nur noch christlich oder katholisch. Wir haben mit Jesus von Nazareth nichts gemein. Wir wollen nur herrschen, befehlen, verlangen Gehorsam, nicht Glauben“.
Der greise EX Papst Benedikt Ratzinger, der hoch gelobte Theologe dieser Religion, die sich nur noch christlich nennt, greift zum Schreibtisch und übergibt dem leibhaftigen Jesus Christus seine drei dicken Bücher über keinen geringen als …Jesus Christus. „Lesen Sie das“, mahnt der Ex-Papst eindringlich. Aber Jesus Christus greift nach den Druckerzeugnissen und schleudert sie auf den Boden. Eine große goldumrandete Vase aus dem 16. Jahrhundert geht dabei zu Bruch, und ein inzwischen fast blinder Spiegel aus dem Neapel des 17. Jahrhunderts beginnt zu wackeln.

Im Spiegel aber erkennt Jesus Christus, dass Papst Franziskus das Büro des Glaubenshüters betreten hat. Jesus und Papst Franziskus sehen sich schweigend an. Viele Minuten stehen sie einander gegenüber, schauen nicht um sich, blicken sich nur in die Augen. Dann berühren sie einander sanft, streicheln sich am Arm, etwas verlegen auch auf den Wangen. Und Jesus Christus entdeckt, dass Papst Franziskus seine Tränen nicht mehr unterdrücken kann. „Ich bin gescheitert in dieser Welt, in dieser Kirche der verfälschten Religion“, flüstert Papst Franziskus Jesus Christus ins Ohr. „Diese Kirche ist jetzt am Ende, der sexuelle Missbrauch durch Priester hat die Kirche definitiv ruiniert. Es ist aus. Meine Meinung: Die Leute sollen einander lieben und Gott ehren, das ist alles. Aber die Beamten, die Priester, wollen, dass der Betrieb weiterläuft“. Jesus Christus schweigt, aber er nickt mehrmals. Zustimmend.
 Der greise Ex-Papst Benedikt wird ungeduldig und betrachtet von der Seite die beiden. Mit der letzten Energie des obersten Glaubenshüters schreit er: „Jetzt reicht es mir mit euch beiden“.

3. Jesus und Papst Franziskus werden im Büro der Glaubensbehörde des Vatikans erschossen.

An der Stelle der Erzählung wagt es Aljoscha, seinen Bruder zu fragen: „Und wie geht es dann weiter?“ „Du weißt“, sagt Iwan, “dass ich dem Katholizismus und dem ganzen institutionellen religiösen Apparaten kritisch gegenüber stehe. Aber ein bisschen schwer fällt es mir doch, dir als einer frommen Seele das Ende zu erzählen“. „Sag es, bitte“, fleht Aljoscha. „Nun ja, eine geheime Tapetentür hinter dem Rücken des Ex-Papstes Benedikt öffnete sich und … wie von von einem Scharfschützen, aber im Priestergewand, werden beide erschossen, Jesus Christus und Papst Franziskus. Und der Ex-Papst Benedikt? Der hat vor Schrecken einen tödlichen Herzinfarkt bekommen. Die geheime Tür in der Inquisitionsbehörde schloss sich wieder ganz schnell, und das alles geschah sehr diskret, wie üblich, fast wie eingeübt“.
Nach einer Weile sagte Aljoscha kaum vernehmbar: „Und diesen Bericht hast du, Iwan, dir ausgedacht? Oder war es gar ein Traum“?  „Es war gewiss ein Traum, aber ein Traum enthält die Wahrheit.

Aber das Ende habe ich dir noch nicht erzählt: Die drei Leichen waren nämlich ganz schnell aus der Glaubensbehörde herausgeschafft worden, von wem und wohin, das weiß niemand“.
„Und nun?“, fragte Aljoscha. „Alles geht im Vatikan und in Rom wieder seinen üblichen Gang, Nachfragen und Nachforschungen werden nach alter klerikaler Manier unterdrückt“, antwortete Iwan. „Ein paar Arme aus der Vorstadt hatten inzwischen eine Kirche und ein Kloster tatsächlich besetzt, sie wurden aber schnell vom Klerus vertrieben und kehrten in ihr Elend zurück. Alles geht alles im üblichen Ritus weiter, die nächste Papstwahl steht bevor“.
 Und dann sagte Iwan noch sehr bestimmt: „Diese Geschichte kann sich auch in anderen Kirchen, in Genf, in Moskau, in Nigeria, in Washington ereignen.
Und du, Aljoscha, solltest deinen FreundInnen sagen: Denkt euch selbst eine andere Fortsetzung des „Großinquisitors von Dostojewski“: Was geschieht, wenn Jesus Christus plötzlich in unseren Städten herumläuft? Vielleicht ist er auch längst da, und wir sehen ihn nicht, weil wir kirchlich verblendet sind. Und vergessen wir nicht: Dostojewski schrieb die Geschichte vom Großinqisitor als Kritik am römischen Katholizismus.

Heute würde Dostojewski sicher die offizielle russisch-orthodoxe Kirche, vor allem diesen Patriarchen Kyrill als Kriegstreiber dieser Putin-Kirche verurteilen. Auch das sagte Iwan noch, seine Stimme vor Schmerz kaum noch zu hören….Auch Atheisten leiden unter den Verbrechen der Kirchenführer, dachte Aljoscha.

 

 

4. Ein Hinweis auf den „Großinquisitor“ Dostojewskis.

In Fjodor Dostojewskis umfangreichem Roman „Die Brüder Karamasow“ (verfasst 1879-188o) enthält das „Fünfte Buch“ ein Kapitel mit dem Titel „Der Großinquisitor“. Es umfasst in der Neuübersetzung von Swetlana Geier (Fischer-Taschenbuch, 2013) nur 30 Seiten. Das Kapitel erscheint wie eine in sich geschlossene Erzählung:

Iwan, der Atheist, erzählt seinem frommen Bruder Aljoscha, sein „Poem“, wie er sagt. „Glühend vor Eifer habe ich es mir ausgedacht…Mein Poem heißt der Großinquisitor – es ist absurd, aber ich möchte es dir gern erzählen“ (S. 397.)
 Während der Herrschaft der katholischen Inquisition im 16. Jahrhundert erscheint plötzlich und unerwartet Jesus Christus inmitten der Stadt Sevilla. Er wird von den Menschen erkannt, einige bitten um seine heilende Wunderkraft. Der greise Großinquisitor, ein Kardinal, darüber empört, befiehlt, Jesus Christus zu verhaften. Das gläubige Volk protestiert nicht dagegen, es ist dem Kardinal ergeben.
 Jesus Christus wird in einem Verlies untergebracht. Der Großinquisitor besucht nachts den verhafteten Heiland, er wirft ihm vor, überhaupt kein Recht zu haben, hier wieder aufzutreten und so wörtlich, „die Ruhe zu stören“.

Für den Großinquisitor ist Jesus Christus ein Ketzer, den er am nächsten Morgen dem Feuertod übergeben will. In seinem Monolog kritisiert der Kardinal die Auffassung Jesu von der Freiheit eines jeden Menschen…Nur durch die strengen Weisungen der Kirchenführer könnten die Menschen von ihrer individuellen Freiheit befreit werden und zu Untertanen werden.
Die Kirchenfürsten haben also im Laufe der Kirchengeschichte Jesu Lehre von der Freiheit und der Gewissensfreiheit korrigiert bzw. „verbessert“ und so die Menschen zu ihrem Glück gezwungen, und das heißt: Sie folgen nun den kirchlichen Weisungen als unfreie, aber in kirchlicher Sicht glückliche Menschen.
Der Großinquisitor geht so weit, sich zum Antichristen zu bekennen: „Wir sind nicht mit Dir im Bunde, sondern mit ihm, (dem Antichristen), das ist unser Geheimnis!“ Die Kirche folgt also dem Antichristen! Dies ist für die Kirchenführer eine Tatsache, die sie nicht öffentlich preisgeben, selbst wenn sie unter diesem geheim gehaltenen Verrat an der Lehre Jesu leiden.
Der Großinquisitor erwartet eine Antwort Jesu. Er hat während des ganzen Monologs geschwiegen.

Dann aber – ganz überraschend – küsst Jesus Christus den greisen Inquisitor…und der öffnet die Gefängnistür und sagt: „Geh, und komme nicht wieder niemals, niemals. Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Plätze der Stadt. Der Gefangene geht.“ (S. 424).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wir philosophieren immer schon: Ideen zum Welttag der Philosophie am 17.11.2022.

Von Christian Modehn und Hartmut Wiebus.

Zum “Welttag der Philosophie” am 17.11.2022.

1. Nur einen Tag lang Philosophieren? Das kann doch nicht der Sinn des „Welttages der Philosophie“ sein. Am 17. November 2022 wird dieser Welttag, auf Vorschlag der UNESCO, wieder einmal – ja was denn – „begangen“? „Gestaltet“? Gefeiert“? Vergessen? Ignoriert, weil es angeblich Wichtigeres gibt?

Der „Welttag der Philosophie“ hat nur den Sinn, daran zu erinnern, dass Menschen „immer schon“ in ihrem Leben philosophieren. Philosophieren ist also nur ein anderer Name für geistiges, vernünftiges Leben.
Was heißt: Philosophieren geschieht „immer schon“?
Zum Beispiel in jeder Entscheidung, die in einer Alternative geschieht, inmitten der Frage: Für welche Möglichkeit entscheide ich mich… Da kommen meine eigenen, meist unbewussten Werte, „immer schon gelebt“, und Normen zur Geltung.

2. Philosophie geschieht also als Philosophieren, als der Praxis des Denkens, des Nachdenkens, des Vorausdenkens, des kritischen Urteilens. Und Philosophieren findet immer im Gespräch statt, das beginnt schon beim inneren Selbst-Gespräch in meinem Denken (siehe Reflexion auf Alternativen) und … vor allem wichtig: im Dialog mit anderen. Dialog kann philosophisch oft zum Streitgespräch werden, und das ist gut so. Streiten ist das Ringen um eine tiefere Erkenntnis, auch um eine solche, die unbedingt gilt? Wir denken: Ja, darum geht es. Deswegen sind wir auch von Kant inspiriert. Stichwort: Kategorischer Imperativ!

3. Wir haben von 2007 bis 2020 philosophische Salonabende gestaltet, meistens monatlich, auch Ausflüge und Feiern, alles Versuche, das kritische Denken miteinander zu pflegen, auch und gerade zu explizit religiösen Fragen. Und angesichts der hoffnungslos erstarrten kirchlichen (katholischen) Institutionen wollten wir einen Weg weisen in eine eigene religiöse, spirituelle Haltung, die vor der Vernunftkritik bestehen kann. Auch zum Welttag der Philosophie hatten wir früher größere Veranstaltungen organisiert… das war einmal … aber dies nur ganz nebenbei gesagt.

4. Philosophie ist prinzipiell alles andere als eine schwierige Wissenschaft, wie etwa die Mathematik.
Nur sind leider viele philosophische Texte von Philosophen oft schwer verständlich, schwer „zugänglich“. Liegt das immer an der Schwierigkeit der behandelten Themen? Sicher auch! Manchmal aber auch an dem Ehrgeiz der Herren und Damen Philosophie-Professoren, die tatsächlich leider heute im ganzen der weiten wissenschaftlichen Welt eine Nebenrolle spielen. In diese Nebenrolle haben sie sich oft selbst manövriert – auch wegen ihrer eigenen schwierigen Texte, die dann ein „Alleinstellungsmerkmal“ DER Philosophie ausdrücken sollen. Heidegger war wohl von dieser Idee fixiert, etwas „ganz Besonderes“ liefern zu müssen. Und dann ereignete sich ihm das Sein und nur drei Leute verstanden ihn, die anderen staunten…

Ein anderes Beispiel: Der nun wirklich weltbekannte französische Philosoph Bruno Latour (1947 -2022) schätzte die Philosophie über alles, wie er mehrfach betonte (vgl. “Le Monde”, 11. Oktober 2022, S. 29). Er sagte als sein Bekenntnis: “Die Philosophie, sie ist so schön” (ebd.).” Die Philosophie  – und die Philosophen wissen das – ist diese erstaunliche Form, die sich für das Ganze, die Totalität interessiert. Und die diese  Totalität niemals erreicht, weil dieses Ziel gar nicht zu erreichen (zu wissen) ist, sondern (nur) zu lieben ist. Die Liebe, das ist das Wort, das Motto, der Philosophie” (ebd. Seite 29, Übersetzung C.M.) Latour arbeite gern im Team, er schätzte die empirische Untersuchung, die Soziologie…Siehe etwa sein letztes wichtiges Buch “Zur Entstehung einer ökologischen Klasse”, gemeinsam mit dem jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz, Suhrkamp, 2022, LINK.

5. Aber philosophische Texte sind auch literarische Texte, philosophische „Texte“ sind auch Kunstwerke, auch Kompositionen der Musik, auch Landschaften, auch Gesichter, auch Fotos, auch Eindrücke von dem grausigen Kriegsgeschehen: Überall ist Philosophie, man muss nur mit der entsprechenden Haltung des Nachdenkens und vor allem des Fragens diese Welten betrachten. Und dann passiert etwas im Neu-Verstehen der Welt, und … das Leben wird nicht immer leichter beim Verlust von Naivität. Zum Philosophieren gehört Mut. „Wage es…“ sagt Kant.

6. Philosophieren als Praxis der Philosophie wird dann zur Lebenshaltung, manchmal sogar zur Lebenshilfe. Dies ist eine Einschätzung, die Philosophieprofessoren in ihrem
abgeschotteten Uni-Dasein oft ablehnen. Dass heute in der Häufung der Krisen der Welt die PhilosophInnen meistens schweigen – zu den Krisen – hängt sicher damit zusammen: Diese Herren und Damen zieren sich, kritische und warum auch nicht vorläufige Hilfen im Leben vorzuschlagen.
Aber wenn kritisches eigenes Nachdenken nicht mehr hilft inmitten des Lebens, was hilft dann noch? Doch wohl nicht ein religiöser Fundamentalismus, der sich wie eine Pest heute ausbreitet in allen großen Religionen als Institutionen!

7. Damit wird eine enge, niemals aufzulösende Verbindung des einzelnen Philosophierenden bzw. der philosophischen Gruppen mit der realen politischen Situation deutlich: Philosophieren heute ist niemals eine kulturelle Idylle für “Schöngeister”.

Philosophieren konfrontiert jeden und jede mit den universal geltenden Menschenrechten, mit der Aufforderung, für die Herrschaft der Menschenrechte einzutreten. Und Politikern, die in unseren Demokratien Blabla reden oder taktisch zögern im Eintreten für die Menschenrechte, etwa zugunsten des Widerstandes gegen die Herrscher im Iran, in aller Schärfe und Ablehnung zu begegnen.  Zu den Menschenrechten gehört heute die Klimagerechtigkeit wie auch der Kampf gegen totalitäre Systeme.

Wer sich im Denken für die Welt des Politischen öffnet d.h. logischerweise öffnen muss, wer also für die Menschenrechte eintritt, erlebt erst die ganze Fülle und Tiefe philosophischen Denkens. Die Philosophierenden werden sich im Denken schützen können, um in dieser Situation nicht zu verzweifeln. Hoffen war ja eines der großen Themen Immanuel Kants. Er fand Überlebens-Hoffnung auch in einer vernünftigen (selbstverständlich nicht in einer konfessionell- klerikal begrenzten) Kirche bzw. Religion. Man lese Kants wichtige Schrift  “Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. LINK.

8. Die Bedeutung der Philosophie bzw. der Philosophen in der Gegenwart wird selbstverständlich in großer Vielfalt beurteilt. Wer philosophierend lebt, fragend und suchend und zweifelnd und gerade inmitten des Zweifelns am Zweifeln zweifelnd und so neue Gewissheit gewinnend, wird seine persönliche Antwort geben: Was ist Philosophie?
Allerdings: Kann „meine Philosophie“ nur „meine“ sein ? Oder sollte ich mich öffnen den Einsichten anderer …um dann zu einer neuen Gestalt „meiner“ Philosophien zu gelangen.

Michel Foucault (1926-1984), um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Begrenztheit der klassischen Philosophie als System, als Idealismus, als Lehre von „der“ Wahrheit überwinden wollen. Er verstand sich als Historiker, Soziologe, Schriftsteller und eben auch als Philosoph, aber dann mit einer merkwürdigen Definition seiner Philosophie. In seinem Buch „Von der Subversion des Wissens“ ( Frankfurt, 1987) heißt es: „Ein Typ philosophischer Tätigkeiten besteht darin, dass man die Gegenwart einer Kultur diagnostiziert. Dies scheint mir die wahre Funktion zu sein, die den Individuen, welche wir Philosophen nennen, zukommen kann“ (S. 27).

Um Diagnose also geht es Foucault in seiner Philosophie. Aber Diagnose ist Beschreibung eines Zustandes, der, etwa in der Medizin, als Krankheit, als Übel bestimmt werden kann. Und Krankheit als Krankheit erkennen, ist wieder eine normative Leistung, die Gesundheit als Ziel vor Augen. Wendet sich Philosophie also der kranken Kultur diagnostisch zu, dann hat sie immer auch und immer schon eine normative Idee vor Augen. Davon sprach Michel Foucault nicht. In dem genannten Buch sagt er mit Blick auf Nietzsche: „Die Philosophie hat die Aufgabe des Diagnostizierens, sie sucht nicht mehr eine Wahrheit, die für alle zu allen Zeiten gültig ist“ (S. 12). Damit lehnt Foucault eine universelle Wahrheit ab, für Kant und die Seinen schon ein Problem. Und sie würden fragen: Ist universelle Wahrheit aber doch implizit gemeint, wenn Foucault wirklich Diagnose meint, die einen Befund von Krankheit, Übel etc. ALS solchen erkennt. Verschiedene Völker verschiedener Zeiten werden konkrete Krankheiten je anders diagnostizieren und in ihrer Qualität bewerten, aber sie werden immer Krankheit als etwas zu Überwindendes verstehen und darstellen.

Damit will ich nur darauf hinweisen, wie schwierig es ist, sich philosophisch mit der Frage zu befassen: Was ist meine Philosophie, wo hat sie ihre Grenzen, wo sind ihre selbstgewählten, aber noch unreflektierten Einschränkungen. Philosophieren ist also das lebendige Leben inmitten aller Zweifel und Widersprüche. Anders „geht“ geistiges Leben nicht. Nur Fundamentalisten predigen das Gegenteil.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. www.religionsphilosophischer-salon.de

Link zum Welttag der Philosophie 2022: LINK
Link zu den Veranstaltungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons von 2009 bis 2020. LINK

Eine neue Hymne der “Republikaner” in den USA: “Ich bete an die Macht der Lüge”. Anläßlich der „Midterm – Wahlen“ in den USA am 8. November 2022.

Mehr als eine philosophische Satire!
Von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht 2017.

1. Lüge und Wahrheit lassen sich nicht unterscheiden in den Äußerungen von Politikern und Wählern der TRUMP Partei, der Republikaner. Zweifelsfrei dominiert dort die Lüge. Trump selbst schämt sich natürlich auch jetzt nicht, wie vor kurzem schon als Präsident, Lügen lautstark einzuhämmern. Und das Volk zu Schandtaten aufzuhetzen.
Die Lügen der Trump-Leute und ihres Führers vergiften die Menschlichkeit, zerstören die Kultur, spalten die Gesellschaft.

2. Die vielen fundamentalistisch – naiven Frommen unter den Republikanern sollten aus ihrem „eifrigen“ Bibel-Studium wissen: Der Teufel, an den diese Leute ja glauben, wird von Jesus von Nazareth „der Vater der Lügen“ genannt (Johannes Evangelium, 8, 44). Aber diese Frommen, die Lügner, lassen dieses Bibelwort für sich selbst nicht gelten, sie sind im klassischen theologischen Sinn „Häretiker“, d.h. „Auswähler“.

3. Die demokratische Welt weltweit schaut hilflos zu, wie das Lügen Normalität in den USA wird, nicht nur dort freilich, in diesem so genannten christlichen Land. Als Meister der Lügen sind Trump und Putin ganz enge Verwandte.

4. Vielleicht tröstet es die demokratischen Menschen weltweit, wenn sie sich mit einer Satire etwas entspannen können. Es geht also um einen neuen TEXT einer speziellen für Republikaner gedachten US – Hymne.

Diese Hymne hat den Titel: Ich bete an die Macht der Lüge.

5. Ich bete an die Macht der Lüge,
die sich in Trump und andren zeigt;
Ich geb mich hin den Lügenworten,
wodurch ich Wurm verblödet werd;
ich will, anstatt mal nachzudenken,
im Meer der Lügen mich versenken…

Für die Trump-Hymne gilt auch diese Neufassung der 4. Strophe vo “Ich bete an die Macht der Liebe”:

O Trump, dass dein Nam verschwinde
Im Geiste aller ausgelöscht
Möcht deine triste Lügenwelt
Aus Herz und Sinn vernichtet sein.
Im Wort, im Werk, in allen Wesen
Sei Wahrheit und sonst nichts vorhanden.

6. Der Text dieser neuen Trump – Hymne ist inspiriert von einem Choral von Gerhard Tersteegen aus dem Jahr 1750. Dieses Kirchen-Lied spielte schon im 18. Jahrhundert eine “grandiose” Rolle beim militärischen Zapfenstreich. Ohne diesen Song kommt auch heute kein großer Zapfenstreich der Bundeswehr aus.
Eigentlich ist dieser Song eine Schande. Denn in diesem frommen Erguss von Herrn Tersteegen wird der “Mensch als Wurm” bezeichnet. Sicher fühlten sich und fühlen sich viele Soldaten als „arme Würmer“ angesichts bevorstehender, tödlicher Kämpfe gegen „den Feind“. Man denke auch an die russischen Soldaten im Krieg Putins gegen die Ukraine.

7. Dies ist die bekannte Strophe des vertrauten Kirchenliedes von Gerhard Tersteegen:

Ich bete an die Macht der Liebe,
 die sich in Jesus offenbart;

ich geb mich hin dem freien Triebe,
 wodurch ich Wurm geliebet ward;

ich will, anstatt an mich zu denken, 
ins Meer der Liebe mich versenken.

Nebenbei: Das Lied ist noch immer im „Evangelischen Gesangbuch“, Regionalteil Rheinland-Westfalen-Lippe als Nr. 661 vertreten. Arme Würmer, kann man dann nur sagen, die solches noch singen…

Die vierte Strophe dieses Liedes heißt im Evangelischen Gesangbuch:

O Jesu, dass dein Name bliebe

im Herzen tief gedrücket ein;

möcht deine süße Jesusliebe

in Herz und Sinn gepräget sein.

Im Wort, im Werk und allem Wesen

sei Jesus und sonst nichts zu lesen.

Für die Trump-Hymne gilt auch diese Neufassung dieser 4. Strophe:

O Trump, dass dein Nam verschwinde
Im Geiste aller ausgelöscht
Möcht deine triste Lügenwelt
Aus Herz und Sinn vernichtet sein.
Im Wort, im Werk, in allen Wesen
Sei Wahrheit und sonst nichts vorhanden.

8. Trump der Lügner: George Packer, weltweit bekannter Journalist und Autor von “The Atlantic Magazine”, schreibt in der “ZEIT” vom 29.4.2020: “Trumps wichtigstes Werkzeug beim Regieren war die Lüge…”
Der „Tagesspiegel“ hat am 19.1.2020 auf Seite 3 die Anzahl der Lügen dokumentiert, die Trump in der Zeit seiner Herrschaft verbreitet hat: Im Oktober 2018 waren es zum Beispiel 1.288 von Mister Trump verbreitete Lügen; im November 2019 “nur” 900 Fake News. Dabei sind die Lügen nur ein Aspekt dieser insgesamt “unmoralischen, soziopathischen Persönlichkeit”, wie ein hochrangiger Trump-Mitarbeiter in dem neuen Buch “Warnung aus dem Weißen Haus” (Quadriga-Verlag 2020) schreibt: “Trump missbraucht und pervertiert die Demokratie“.9

9. Auch diese neue Hymne kann selbstverständlich in der alten Melodie gesungen werden, die der in St. Petersburg wirkende ukrainische Komponist Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751–1825) ursprünglich für Tersteegens Text verfasst hat.

10. Auch dieser Tipp noch: Diese neue Lügen-Hymne “zu Ehren” von Trump sollte Übersetzungen haben ins Türkische, Russische, Englische, Italienische, Österreichische, Koreanische, Chinesische usw.

Copyright: Christian Modehn, Berlin. Religionsphilosophischer Salon Berlin. Die Erstveröffentlichung 2017 fand viel Interesse der LeserInnen dieser Website, deswegen aus aktuellem Anlass eine Neufassung dieses Beitrags.

Von der Erschaffung der Welt durch Gott: Aktuelle Deutungen des Mythos.

Gott grenzt das Übel und das Ungeheuer nur ein, er begrenzt es. Das ist seine Schöpfungtat.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Über die Erzählungen, also die Mythen der Bibel im Buch „Genesis“ wird noch heute gestritten. Etwa über die Frage: Wie ist die Weisung Gottes an die Menschen zu verstehen, sich die „Erde untertan“ zu machen? (vgl.Gen 1,28, Menschen dürfen Tiere töten Gen 9,1-4). Wird da eine totale Herrschaft der Menschen über Natur und Tiere von Gott gutgeheißen? So wurde der Text oft verstanden: Der Mensch ist der „Unterwerfer der Erde“ (Gen.1, 28). Jetzt bemühen sich Theologen und Kirchenleitungen, diese Herrschaft des Menschen über die Natur korrekt zu verstehen und damit die Herrschaft des Menschen erheblich einzuschränken. Die Öko-und Klimakatastrophen haben die Theologen also auch etwas aufgeweckt.

2.
Es gilt insgesamt, dass endlich viele theologisch Ungebildete mehr über die biblischen Schöpfungsmythen lernen, theologische Naivität darf nicht länger das Denken verstören. Es gilt also zu lernen, beim Thema „Schöpfung der Welt und der Menschen durch Gott“. Davon erzählt der Mythos im Buch Genesis gleich zweimal. Das Thema war lange ein Kampfplatz zwischen naiver Theologenherrschaft und Natur-Wissenschaft. Heute wird selbst in populären Aufsätzen zum Thema Schöpfung von katholischen Theologen betont: In den biblischen Mythen der Genesis ist überhaupt nicht die Rede von einem absoluten Anfang der Welt, also einer Art Schöpfung aus dem Nichts, klassisch „creatio ex nihilo“. Jegliches „wortwörtliches Verstehen“ der Bibel, auch der Mythen im Buch Genesis, ist schlicht und einfach Unsinn. Wer als evangelikaler Fundamentalist solche Bibel – Deutungen verbreitet, trägt nur zur Verwirrung und Verblödung der Menschen bei. Leider sind diese Leute auch (rechtsextrem) politisch aktiv.
Zur kritischen Information zu einigen Aspekten siehe die Aufsatzsammlung „Christlicher Schöpfungsglaube heute“ (Grünewald-Verlag 2020).

3.
Die neun Beiträge in dem Buch wollen auch eine zeitgemäße Schöpfungsspiritualität fördern.
Mir erscheint es aber wichtig, hier eine zentrale Erkenntnis in den Mittelpunkt zu stellen:
Der Begriff Schöpfung der Welt durch Gott will keine kausalen Zusammenhänge aussprechen. Also: Gott ist nicht der „Macher“ der Welt. Er ist „nur“ der Ordner des vorgefundenen Chaos. „Der erste Vers der Genesis bezeichnet NICHT den Anfang der Schöpfungstätigkeit Gottes“, schreibt der katholische Theologieprofessor Georg Steins (S. 19). „Mit dem Erschaffen ist also NICHT die Idee eines absoluten Anfangs verbunden, sondern der AUFBAU GEORDNETER VERHÄLTNISSE“ (ebd., Hervorhebungen von CM).
Georg Steins betont weiter: Gott findet also (um in dieser mythologischen Redeweise zu verblieben CM) ein tohu wabohu vor, eine Welt der Finsternis und Unordnung lebensfeindlicher Mächte. Und was tut Gott in dieser Interpretation des Mythos? Gott zieht (nur) Grenzen, er hegt diese schädlichen Gefahrenquellen (nur) ein. Diese Eingrenzung des Übel sei die entscheidende Schöpfungsaktivität Gottes, sagt Steins: „Das Chaotische wird zu einem Teil der Schöpfung und verliert an bedrohlicher Macht“ (S. 21). Oder noch einmal: „Das Chaotische, tohu wabuhu, muss nicht vernichtet, sondern eingefügt und eingehegt werden“ (S. 22) „Nicht von der Idee der Herstellung aus wird Schöpfung konzipiert, sondern in der Perspektive des Anordnen und Ordnens“ (S. 23). Für diese Erkenntnis bietet Georg Steins seine eigene, neue Übersetzung von Genesis 1,1-4 an, mit entsprechenden Zeilenverschiebungen:
„Anfangs
als Gott den Himmel und die Erde schuf –
… die Erde war unwirtlich und unheimlich,
… Finsternis über der Chaosflut
… Gotteswind hin und her fahrend über der Wasserfläche
Sprach Gott…“

4.
Die Autoren des Buches Genesis haben also offenbar kein Interesse zu erklären, woher die ungeordnete Welten-Masse denn selbst stammt. Diese findet Gott (immer noch als der Allmächtige gedacht?) vielmehr vor. Georg Steins beantwortet nicht die Frage: Wer hat dann diese ungeordnete chaotische Masse „geschaffen“, gab es sie schon „vor dem Auftreten Gottes“, möchte man wissen. Oder ist dieses Fragen schon vermessen? Der katholische Theologe Steins gibt darauf keine Antwort. Die Autoren dieses Textes der Genesis lebten im babylonischen Exil und mussten in ihrer Niederlage einen starken Gott konzipieren, einen das Chaos ordnenden Gott erschaffen! Gott zur Stunde Null im Weltganzen interessierte nicht.
Ebenso vermeidet er eine Auseinandersetzung mit der Erbsünde, dieser Ideologie des alt gewordenen heiligen Augustinus, die in der kirchlich noch immer gelehrten Form in den Mythen der Genesis keine Begründung findet.

5.
Das im Mythos angesprochene Bild der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen erwähnt Georg Steins. „Sie ist funktional verstanden, nicht essentiell. Nicht etwas IM Menschen macht ihn gottgleich, sondern seine Rolle in der Schöpfung, konkret die umfassende Sorge für die Ordnung“ (S. 24).
Da hätte meines Erachtens eine Auseinandersetzung mit Hegel gut getan, für den klar ist: Nur weil Gottes Geist IM Menschen, in dem endlichen Geschöpf, lebt, kann überhaupt eine Versöhnung von Gott und Welt gedacht werden. Die Welt ist zwar das „Andere“ zu Gott, aber ein Anderes, das mit Gott eng verbunden, „identisch“ ist, sagt Hegel. Wäre das anders, könnte Gott nicht als Gott gedacht werden, denn dann hätte er als unvollkommener Gott noch eine gottlose Welt stets neben sich… „Es ist unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem ihm Fremden, (also der Endlichkeit des Menschen, CM) identisch gesetzt hat“, sagt Hegel in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Suhrkamp Ausgabe Band 17, S. 292.

6.
Auch ein Beitrag über die Enzyklika von Papst Franziskus „Laudatio si“ (2015) von Ottmar Edenhofer und Christian Flachsland ist in dem genannten Sammelband enthalten. Dieser Aufsatz endet mit dem Kapitel „Herausforderung an die Kirchen“, dazu gehört auch die „Überprüfung kirchlichen Wirtschaftens“ (S. 48). Dabei beklagen die beiden Autoren die geringen Befugnisse der Umweltbeauftragten in den Kirchenleitungen.
Die Autoren hätten auch eine ausführliche Forderung formulieren sollen: Wie kann der Vatikan ab sofort mit der Vielfliegerei der Bischöfe und Kardinäle umgehen, und sie wenn möglich abschaffen, wenn ständig irgendwelche Konferenzen mit dem Papst und der vatikanischen Bürokratie stattfinden und sich Bischöfe z.B. aus Chile oder dem Pazifik in Rom einfinden müssen. Die Frage drängt angesichts einer in nicht so fernen Zeit bevorstehenden Bestattung des EX-Papstes Benedikt XVI. und einer neuen Konklave: Wieviel CO2 Emissionen geschehen dann durch diese Herren Kardinäle in ihrer Hin und Her Fliegerei. Erst wenn solche Fragen ernsthaft diskutiert werden in theologischen Büchern über die „Bewahrung der Schöpfung“, können diese Texte wirkliche kritische Aufmerksamkeit finden.

Stefan Voges (Hg.), “Christlicher Schöpfungsglaube. Spirituelle Oase oder vergessene Verantwortung?“ Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern, 2020, 153 Seiten, 32 Euro.

Die einzelnen Beiträge:
Georg Steins
Wovon sprechen die biblischen Erzählungen „am Anfang“?

Ottmar Edenhofer/Christian Flachsland
Laudato si’. Die Sorge um die globalen Gemeinschaftsgüter

Andreas Benk
Schöpfung als Befreiung
Plädoyer für eine visionäre Schöpfungstheologie

Klaus Müller
„Schöpfung“ – philosophisch gegen den Strich gebürstet

Gotthard Fuchs
„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ … in deiner Urständ fröhlich ist“
Thesen zur christlichen Schöpfungsspiritualität

Bärbel Wartenberg-Potter
Plädoyer für eine grüne Reformation

Daniel Munteanu
Schöpfungsspiritualität als kosmische Liturgie

Franz Neidl
Die universale Schöpfungsgemeinschaft
Eine Botschaft in zwei Varianten, mit Blick auf das Verbindende

Stefan Voges
Tiere, unsere Mitbewohner im gemeinsamen Haus
Eine Konkretisierung von Laudato si’ in der Spur einer theologischen
Zoologie

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Gegen den Wahn, sich in „Identitäten“ abzukapseln. Für einen radikalen Universalismus.

Über ein wichtiges neues Buch des Philosophen Omri Boehm. In manchen Aussagen geradezu sensationell. Haben das die Theologen endlich bemerkt?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Am 30.9.2022 veröffentlicht.

1.
Nun haben sich schon wieder Nationalisten als stärkste Parteien durchsetzen können: die Rechtsextremen und die Post-Faschisten in Italien bei den Wahlen am 25.9.2022. Ihnen gemeinsam ist die Fixierung auf die „Identität“, die sich immer über das entscheidende Wort „zuerst“ definiert: Also nun auch „Italien zuerst“, wie die postfaschistische Girorgia Meloni betont, wie früher schon Madame Le Pen mit ihrem „Frankreich zuerst“ (Le Pen) oder auch „America first“ von Mister Trump.

2.
In dieser Situation einer zunehmenden nationalen und ins Faschistische abgleitenden Identitäts-Politik ist das neue Buch des Philosophen Omri Böhm von besonderer aktueller Bedeutung. Der Titel „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“ (Propyläen-Verlag, 2022) beschreibt sein philosophisches Programm, das Boehm mit aller Schärfe und Klarheit der Argumentation vorträgt. Boehm, Jahrgang 1979, ist israelischer und deutscher Staatsbürger, er lehrt als Associate Professor für Philosophie an der „New School of Social Research“ in New York.

3.
Die heutige Betonung einer angeblich absoluten Geltung der Identitäten betrifft nicht nur die nationalistischen und faschistischen politischen Strömungen. Identitäts-Fixierungen werden sichtbar, so Boehm, in zahlreichen aktuellen Theorien und Ideologien. Etwa, wenn behauptet wird, dass vorrangig die Identitäten von Geschlechtern oder sozialen und politischen Minderheiten respektiert werden müssen, dass also „meine Bindung“ an „meine besondere Gruppe“ (bzw. Nation) wichtiger sei als mein Respekt der universalistischen Werte der Menschheit.
Jedoch gilt: An dieser „allgemeinen“ Menschheit mit ihren universalen Rechten und Pflichten hat jeder einzelne Mensch als Mensch zweifelsfrei Anteil. Und diese allen gemeinsame Bindung an die Menschheit mit ihren Rechten und Pflichten muss bestimmender und vorrangiger sein als die begrenzten Werte, die aus meiner/unserer immer begrenzten Identität (etwa als Homosexueller, als Indigener, als Katholik usw.) folgen.

Boehm tritt also in aller Schärfe für einen „universellen Humanismus“ ein, das betont er schon in seinem „Prolog“ auf S. 12. Er zeigt, dass der moralische Universalismus die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen bedeutet, für die universale Gerechtigkeit und für alle geltende Gleichheit einzutreten und diese zu leben und auch politisch zu gestalten.

4.
Die Kämpfer für die „identischen“ Rechte von bestimmten, abgegrenzten Gruppen (etwa „LGBTQ-Menschen, S. 13) will Boehm keineswegs diffamieren. Er will nur beweisen, dass sie in ihrem Einsatz für ihre Identitäten durchaus die Verbindung mit den universalen Grundrechten benötigen, soll denn das Engagement zum Ziel führen, also für sie selbst auch erfolgreich sein. Der universelle Humanismus soll also für Boehm „ein Kompass, sogar eine Waffe“ sein (S. 14). Und Boehm weiß, dass es viele „falsche Universalisten“ gibt, die mit ihren Sprüchen und Taten nur die westliche Vorherrschaft meinen, etwa: Von Menschenrechten groß schwadronieren, aber sich selbst nicht an sie binden. Das trifft etwa für die katholische Kirchenführung zu, dieses Beispiel nenne ich, nicht Boehm.

5.
Immanuel Kant ist für Omi Boehm „der unverzichtbare Denker“ (16). Kant hat, sage ich nun mit einem klassischen Begriff, „Wesentliches“ vom Menschen gedacht. Boehm meint dasselbe, wenn er betont: Kant habe den Menschen „frei von jeder Beimischung biologischer, zoologischer, historischer und soziologischer Tatsachen“ (16) erkannt. Diese Konzentration Kants auf das Allgemeine, „Wesentliche“ des Menschen bzw. der Menschheit, nennt Boehm durchgehend in seinem Buch „abstrakt“. Der entscheidende Begriff „des“ Menschen, muss also Kant folgend, „abstrakt bleiben“ (16), das betont Boehm immer wieder.
Ich möchte fragen, ob es geschickt ist, diesen universalen „Wesensbegriff“ des Menschen „abstrakt“ zu nennen. „Abstrakt“ hat oft eine negative Konnotation.
Aber abgesehen davon: Durch Kant wird die Menschlichkeit des Menschen nicht durch natürliche Bestimmungen festgelegt, sondern durch die geistigen Leistungen der Freiheit, zu der auch die Pflicht gehört, das moralische Gesetz in mir als unbedingt auch für mich geltend wahrzunehmen und ihm zu folgen. Denn der Mensch kann in seiner Freiheit dem moralischen Gesetz in seiner Lebenspraxis folgen, betont Kant, warum sonst würde sich dieses moralische Gesetz denn sonst im Menschen überhaupt unbedingt zeigen?
Wenn der Mensch sich von sich distanzieren kann, gleichsam auf sich und sein Tun “von iben rauf schaiut”, wenn er also fragen kann, was er tun soll, dann zeigt er sich darin als freie Person. Er kann dem kategorischen Imperativ prinzipiell folgen!
Dieser „kategorische Imperativ“ ist eine geistige Wirklichkeit, diese ist „nicht von Menschen gemacht“ (17), sie kann also auch nicht von Menschen ausgelöscht werden. D.h.: Der kategorische Imperativ ist also nicht an bestimmte Konventionen gebunden oder an historische Umstände, er gilt universell. Nur im Respekt vor einem „höheren Gesetz“ (20), also dem Kategorischen Imperativ, kann der einzelne darauf hoffen, dass seine persönlichen Wünsche (etwa hinsichtlich der Bindung an eine Identität) von anderen respektiert werden. Jeder, der ernsthaft seine eigenen Identitäten verteidigt, braucht als argumentative Unterstützung notwendigerweise die universalen Menschheitswerte der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit. „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit  löscht die Identitäten ja nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können“. (155).

6.
Boehm ist mit der jüdischen Spiritualität bestens vertraut. Seine besondere Leistung ist, dass er auch in seinem neuen Buch alt vertraute biblische Erzählungen korrigiert, etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel, des Alten Testaments, die sich auf die Gestalt Abrahams beziehen. Abraham ist für Boehm die entscheidende und prägende Figur der Bibel: Abraham hat als gläubiger Mensch den Mut, Gott zu widersprechen und sogar noch weiter zu gehen… Boehm betont: Dass es für Gott eine noch über ihm stehende Gerechtigkeit gibt, der auch Gott unterworfen ist. Gerechtigkeit, durch die Vernunft der Menschen erkannt, steht nicht über den göttlichen Geboten, mehr noch: Auch Gott selbst steht in der Erfahrung Abrahams unter dem universalen Gebot der Gerechtigkeit! Was für eine Aussage, deren Konsequenzen leider Boehm nicht weiter entwickelt! Diese Erkenntnis führt zu einer radikalen Kritik des überlieferten und konfessionell immer nicht prägenden Begriff Gottes!

7.
In seiner Auseinandersetzung mit Gott angesichts der Bestrafung von Sodom und Gomorrah betont Abraham: „Sollte der Richter aller Welt, Gott, nicht gerecht richten“? (Genesis, 18., Vers 25). Die universelle Gerechtigkeit, die eben auch die Rettung der wenigen Unschuldigen in Sodom und Gomorrha betrifft, ist also wichtiger und größer als Gott selbst! Gort muss sich an das Prinzip der Gerechtigkeit binden!
Diese Erkenntnis bezieht Boehm auch auf die bekannte Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaac. Boehm zeigt: Abraham widerspricht Gott, und er opfert seinen Sohn gerade NICHT, wie es Gott anfänglich verlangte. Boehm hat zu dieser biblischen Erzählung ausführliche Studien betrieben. In der „Jüdischen Allgemeinen“ hat er schon am 24.2. 2015 darüber kurz berichtet: „Ich versuche nun, zu zeigen, dass zwei Verse dieser biblischen Geschichte in Wirklichkeit nachträgliche Hinzufügungen zum Originaltext sind. Es handelt sich um die Verse 11 und 12 in Genesis, Kapitel 22, in denen der Engel des Herrn Abraham im letzten Moment davon abhält, seinen Sohn zu töten. Wenn man diese Verse – eine spätere Einfügung – wieder herausnimmt, bekommt man eine in sich geschlossene, aber völlig andere Geschichte. Das heißt: Abraham entscheidet selbst und auf eigene Verantwortung – ohne das Eingreifen des Engels –, Gottes Weisung nicht zu befolgen“. Deshalb meint Boegm: Ungehorsam ist ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und gerade nicht blinder Gehorsam.
Noch einmal: In seinem neuen Buch betont Boehm: „Da die Gerechtigkeit universell ist, steht sie auch über der Autorität der einen wahren Gottheit“ (53). Diese über allem und allen stehende Gerechtigkeit ist entscheidender noch als Gott! Das in dieser Deutlichkeit zu sagen, ist sensationell, weil dann Gott nicht mehr der „Aller-Oberste“ ist. Es gibt noch eine Art „Gott über Gott“, dies ist die universale Gerechtigkeit. Aber die zeigt sich in der Erfahrung der Menschen als eine nicht von Menschen gemachte und von Menschen verfügbare Wirklichkeit.

8.
Ist diese oberste Gerechtigkeit also selbst „wahrhaftig“ göttlich zu nennen, sozusagen der „oberste Gott“? Sollte sie, diese universale Gerechtigkeit, dann nicht auch – in welcher Form – verehrt werden?
Diese Frage wird leider von Boehm nicht erörtert. Nebenbei: Es gab ja bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich schon den Gedanken, dass es einen „Gott über Gott“ gibt. Und auch Meister Eckart hat unterschieden zwischen Gott und der Gottheit, die er allerdings für unerkennbar bzw. undefinierbar hielt. Eine weitere Frage: Ist nicht diese oberste Gerechtigkeit („über Gott“ noch stehend) auch notwendigerweise dann doch (allzu) menschlich gedacht? Wenn ja, was sicher ist: Wie kann man dann aber noch an einem „eigentlich“ unerkennbaren, bildlosen Gott des Alten Testaments festhalten?

9.
Boehm zeigt weiter in seinem Buch, wie der Bürgerrechtler Pastor Martin Luther King ebenfalls die universalen Menschenrechte in seinem Kampf zugunsten der Rechte der Schwarzen an die erste Stelle setzte.
Eher auf die US-amerikanische Situation bezogen sind Böhms Auseinandersetzungen mit dem dort überaus populären Philosophen Richard Rorty: Er entwickelt eine eher „liberal“ genannte Philosophie, die sich auch nicht scheut, die Bedeutungslosigkeit der Philosophie für die Politik öffentlich zuzugeben. Auch der us-amerikanische Philosoph Dewey wird von Boehm heftig kritisiert, weil er eine kategorisch geltende Wahrheit ablehnt.

10.
Omi Boehm, geboren in Haifa, setzt sich seit einigen Jahren auch mit der Politik des Staates Israel auseinander, vor allem was den Aufbau gerechter Verhältnisse mit den Palästinensern angeht. Er kritisiert auch in seinem neuen Buch, so wörtlich, „die Apartheitstruktur“ (S. 150), die die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland „seit vielen Jahren betreibt“. Wie alle westlichen liberalen Demokratien ist in Böhms Sicht auch der Staat Israel „auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (S. 152). Diese Identitätspolitik der Palästinenser wie der Juden kann nur, so Boehm, „jeweils zur Auslöschung der anderen führen“. Boehm plädiert für die „Einstaatenlösung“.

11.
So wird Omi Boehm durch seine erneute Auseinandersetzung mit Israel zu der Erkenntnis geführt: „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch auslöschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigen Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen“ (154).

12.
Das Buch „Radikaler Universalismus“ verlangt eine konzentrierte Lektüre, es ist aber nicht für die wenige Fachphilosophen“ geschrieben. Ausnahmsweise muss man als Rezensent einmal sagen: Ich hätte mir sogar noch ausführlichere Darstellungen und Begründungen und Ausweis von Konsequenzen gewünscht.

13.
Kants Studie „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sollte in dem Zusammenhang viel mehr gewürdigt werden. Vielleicht gelingt das zum Kant Jubiläum 2024 (300. Geburtstag). Kants Vorschläge könnten den Christen (auch den Juden und Muslime) Möglichkeiten zeigen, ohne dogmatische Bindungen und ohne religiöse fixierte Institutionen ein vernünftiges religiöses Leben zu gestalten. Eben in der Überordnung des Ethischen (des moralisch guten Lebens) über die religiösen Gebote und Gesetze, über die kirchlichen Lehren sowieso, wie Kant dringend fordert! Ausführliche Hinweise, siehe: LINK.

Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022, Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian. 175 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Der neue Faschismus – die Gefahr für die Menschheit heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.9.2022.

Das Motto: „Der Faschismus – auch der Post-Faschismus – ist die organisierte Ablehnung des menschlichen Lebens. Er ist eine Anti-Moral“ (Paul Mason).

Nun also auch die Niederlande: Eine F-Partei, eine faschistoide Partei um ihren Führer Theirry Baudet: Siehe den Link aus der Süddeutschen Zeitung vom 30.Okt. 2022. LINK.  https://www.sueddeutsche.de/politik/niederlande-baudet-faschismus-1.5683879

1.
Man spricht diskret von „Post-Faschismus“. Um etwa die Partei „Fratelli d Italia“ zu bewerten.

Giorgia Meloni, Chefin dieser Partei, bekennt sich öffentlich als Katholikin. Sie hat Kontakte mit den extrem konservativen, traditionalistischen Kreisen im Vatikan und in Italien: Sie besuchte noch kurz vor den Parlamentswahlen am 25.9.2022 aus Sympathie den bekannten reaktionären Kardinal Robert Salah im Vatikan . Sie hielt auf dem katholischen “Weltfamilienkongress” in Verona (29.-31.3.2019) eine militante, von den TeilnehmerInnen begeistert aufgenommene Rede (Nein zur “Gender-Ideologie”, Ende der Abtreibungen, Lob der Frömmigkeit im Mittelalter usw.), mit der Pro-Life-Bewegung ist Meloni eng verbunden. An die Zeit des Faschismus erinnert ihr persönliches und politisches Motto: “Gott, Vaterland, Familie”. Dieser katholische Familienkongress in Verona war ein Höhepunkt in der Bündelung reaktionärer und katholischer Ideologen und “Bewegungen”, so dass sogar einige Bischöfe sich vorsichtig distanzierten, wie Kardinal Parolin. Am Kongress nahm Fürstin Gloria von Thun und Taxis teil, auch der rechtsextreme LEGA-Chef Salvini hielt eine Rede. Diese regelmässigen katholischen Weltkongresse, genannt “Familienkongresse” , sind mit der katholisch geprägten internatioanlen Pro-Life -Bewegung ein Zentrum katholisch-reaktionären Denkens und politischen Handelns.

2.
Diese „Fratelli“, diese „Brüder Italiens“, bewegen sich in der Einschätzung der Politologen in der Grauzone zwischen Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Faschismus.
Diese „rechtsextreme Grauzone“ setzt sich überall in Europa durch:
Von der Le Pen Partei „Rassemblement National“ und der Partei von Eric Zemmour in Frankreich, über die Rechtsextremen in Schweden (SD, „Schwedendemokraten“) und Griechenland („Goldene Morgenröte“) und Spanien („Vox) und Ungarn („Jobbik“ und z.T. sicher auch „Fidesz“ von Herrn Orban) und Polen („Nationale Bewegung“ und „Freiheit“ und Teile der PIS) und Österreich (FPÖ) und Deutschland (AFD und viele kleinere Parteien) und den Niederlanden („Partei für die Freiheit“, Wilders, und „Forum für Demokratie“ usw.) und Belgien („Vlaams Belang“) und Vereintes Königreich („British National Party“) und Slowenien „Slowenische Nationale Partei“) und Kroatien („Kroatische Partei des Rechts“, HSP) und Dänemark ( Danske Folgepartei) und Finnland („Wahre Finnen“) . usw.
Überall in Europa (und in den USA und Lateinamerika) finden rechtsextreme Parteien immer mehr Zuspruch mit ihrer wirren Ideologie. Um es klar zu sagen: Diese Parteien sind zerstörerisch, sie zerstören Demokratie und Menschenwürde und Menschenrechte und Frauenrechte, sie werden in der Politikwissenschaft oft „postfaschistisch“ genannt.

3.
Ein erster Schritt des Widerstandes: Die zerstörerischen Ideologien dieser rechtsextremen, postfaschistischen Parteien kritisch studieren und mit anderen debattieren. Dabei darf es nicht bleiben: Politische Aktionen müssen dann folgen.
Alle demokratischen Organisationen, auch die Kirchen, sollten das Studium des Rechtsextremismus und Post – Faschismus in den Mittelpunkt stellen.
Ein provozierendes, aber mögliches Beispiel: Anstelle der Predigten sollten regelmäßig in den Sonntags-Gottesdiensten Informationen über den neuen Faschismus stattfinden, über die seelische und materielle Disposition, ins Faschistische abzurutschen: Dann wären die Kirchen und ihre Prediger auf der erforderlichen Höhe der Zeit und vom Ritus des „Immergleichen“ (Predigens) befreit. Das hätte den Vorteil, dass sich die Pfarrer und Prediger genau politisch bilden müssen. Diese Neuorientierung des Predigens ist um so dringlicher, weil viele „praktizierende Katholiken“ – etwa in Frankreich – post-faschistische Parteien wählen. Und die Diskussionen nach dem Gottesdiensten wären sicher sehr lebendig.

4.
Der Begriff „Post-Faschismus“ bedeutet mehr als eine Zeitangabe, also, nach („post“) dem Faschismus von Mussolini und nach der Nazi-Ideologie Hitlers. „Post“ benennt den aktuellen Wandel des Faschismus, förmlich sein modernisiertes Versteckspiel. „Neo-Faschismus“ würde die Bürger vielleicht doch noch stören.“Post-“ weckt den Eindruck des Harmloseren.
Aber die Verwendung des „Post-“ ist alles andere als harmlos:

5.
Heutiger Faschismus bedient sich – wie der frühere Faschismus – einer Mythologie, einer Erzählung, also der ideologischer Propaganda, um die Demokratie zu zerstören.
Paul Mason hat in seiner großen Studie „Faschismus“ (Suhrkamp Verlag, 2022) darauf aufmerksam gemacht und fünf Strukturelemente herausgearbeitet:
Heutiger „Postfaschismus“ verkündet: Es findet in der Welt der Reichen Europas ein „Austausch der Bevölkerung“ statt. Durch die Zuwanderung von Fremden, von Muslimen, Afrikanern, Lateinamerikanern etc. werde ein „Genozid“ an der weißen Bevölkerung Europas und Nordamerikas betrieben. Minderwertige übernehmen also die Macht der Wertvollen Menschen, und das sind dieser postfaschistischen Ideologie folgend, die weißen Europäer.
Es sind die Menschenrechte, also die universalen (!) humanen Ideen der Moderne, die diesen Genozid zulassen und befördern. Menschenrechte werden von Demokratien verteidigt. Also müssen Demokratien verschwinden, so die postfaschistische Ideologie.
Die Idee der Menschenrechte als Eintreten für die Rechte der Armen und Ausgebeuteten wurde von westlichen marxistischen Denkern vertreten. Darum bekämpfen die Post-Faschisten entschieden „den“ Marxismus und alles „Linke“, wie schon die früheren Faschisten, etwa Mussolini.
Durch die sogenannten, angeblich „harmlos“ erscheinenden „normalen“ rechtspopulistischen Parteien in den noch halbwegs funktionierenden Demokratien wird Druck auf die Demokratie ausgeübt, es werden Netzwerke von Unzufriedenen gefördert, die massiv die liberale Demokratie zum großen Übeltäter erklären und symbolisch zerstörerisch und gewaltsam zu agieren beginnen.
Es wird in den post-faschistischen Führer-Kreisen auf einen „Tag X“ hin gearbeitet, an dem die genannten post-faschistischen Projekte durchschlagen und in Form von Bürgerkriegen die liberale und sozial eDemokratie ausschalten. In Brasilien droht der post-faschistische Präsident Bolsonaro etwa mit einem Bürgerkrieg, für den Fall, dass er nicht wieder zum Präsidenten gewählt wird.

6.
Die stärker werdende Welle der post-faschistischen Bedrohung in ganz Europa wird durch die aggressive Einmischung von Putin noch weiter verstärkt. Der Krieg Russlands bzw. des Diktators Putins gegen die Ukraine gehört zu einem großen Plan: Die Demokratien zu zerstören, auch die Demokratien in Europa. Sein Mittel: Diese postfaschistischen Parteien finanziell unterstützen. „Dies ist die erste Säule der Theorie der extremen Rechten: die Erwartung einer globalen Katastrophe, welche die Moderne, die Aufklärung, vollkommen rückgängig machen wird. Dies soll nicht wie in den Projekten Hitlers oder Mussolinis in einem einzelnen Staat geschehen oder durch Eroberungen verwirklicht werden. Sondern in Form eines simultanen globalen Zerfalls von Staaten und Institutionen“ (Paul Mason, a.a.O., S. 63). (Siehe auch Nr. 9. in diesem Hinweis)

7.
Der Faschismus bzw. jetzt der Post-Faschismus drückt sich gern mit einem international verbreiteten Slogan aus: Immer ist darin das Wort ZUERST enthalten: „Amerika first“. Oder „La France d abord“ oder „Les Francis d abord“. „Deutsche den Deutschen….“ „Gli Italiani primo“ (Motto von Matteo Salvini und anderen Rechtsextremen).
Diese Slogans mit dem Wort „zuerst“ (first, d abord, primo usw). ziehen Grenzen und Wertungen zwischen den Menschen: Es gibt in dieser Ideologie die Wertvollen, die „zuerst“ gut leben sollen. Dies sind die weißen Europäer, christlich geprägt oder jüdisch, wie Rechtsextreme jetzt gern sagen, um Muslime abzuwerten und minderwertig zu finden. Und die anderen, eben diese Minderwertigen, die bestenfalls den Wertvollen (Weißen) zu billigen Diensten zur Verfügung stehen dürfen. Selbst die rechtsextremen „brauchen“ also doch zum Funktionieren ihrer Wirtschaft noch die Armen, die Flüchtlinge, die Gestrandeten, die Hilflosen, weil diese das sklavenähnliche Hilfspersonal für die weiße Elite stellen.

8.
Zu Giorgia Meloni (geb. 1977), ein mögliche Regierungschefin, und ihre Partei „Fratelli d Italia“: Dieser Titel bezieht sich auf die ersten Worte der italienischen Nationalhymne, ein deutlicher Hinweis auf die nationale Fixierung der Partei.

Die Umfrage zur Akzeptanz der Wähl für diese Partei:
August 2019: 6,1 %
Juli 2022: 22 %.

Sofia Ventura, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bologna. schreibt in einer Studie der „Friedrich Ebert Stiftung“:

„Melonis kulturelle und politische Auffassungen zeugen unter anderem vom Fortbestand eines zweideutigen Verhältnisses zum
italienischen Faschismus und Postfaschismus, von der Vision einer illiberalen und organizistischen Gesellschaft, auf der sie eine reaktionäre Lesart der Rechte des Individuums aufbaut – wobei der oder die Einzelne stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist – , sowie von einem essenzialistischen und ethnozentrischen Begriff von Nation und von einer Interpretation des 20. Jahrhunderts, die die Werte relativiert, die nach der Niederlage des nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind, von einer manichäischen Gegenüberstellung von Volk und Elite und von einer verschwörungs-theoretischen Auslegung der Wirklichkeit“…. „Der Hass auf Einwander_innen geht Hand in Hand mit dem so genannten welfare chauvinism, das heißt der Auffassung, dass die Vorteile des Sozialstaates nur bestimmten Gruppen, etwa den Einheimischen des jeweiligen Landes, vorbehalten sein sollten.
In diesem Zusammenhang betont Meloni stets, dass es erforderlich sei, Italiener_innen beim Bezug von Sozialleistungen zu bevorzugen…”
“Melonis FdI bewegt sich in eine weniger konservative als vielmehr reaktionäre, souveränistische, nationalistische und illiberale Richtung. Mit diesen Positionen tritt Meloni zu den Wahlen am
25.9.2022 an, die nach dem von der 5-Sterne-Bewegung und den mit ihr regierenden Rechtsparteien Forza Italia und Legaprovozierten Sturz der Regierung Draghi (21.7.2022) angesetzt wurden. Anders als 2018 ist Fratelli d’Italia diesmal die in Umfragen stärkste Partei der Rechten und ihre Vorsitzende die natürliche Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin im Falle eines Sieges. Von ihrem Erfolg oder Misserfolg wird mit Sicherheit das Wohl der italienischen Demokratie abhängen. Er wird sich als Gradmesser der italienischen Demokratie erweisen“.

Zit. eines Beitrages von Sofia Ventura, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bologna. Quelle:    LINK

9.
Siehe auch den Beitrag von Christian Modehn vom Mai 2022 „Putin der Faschist“.  LINK

Der “Tagesspiegel” hat am 18.9.2022 auf S. 4 eine Dokumentation publiziert über „Putins beste Freunde“, darin wird die finanzielles Unterstützung Putins (den einige Beobachter einen Faschisten nennen) für seine Freunde in den post-faschistische Parteien in (West)Europa dargestellt.
„Fest steht, dass Meloni von den „Fratelli d Italia“ im Falle eines Wahlsiegs am 25.9.2022 mit den beiden Putin-Freunden Salvini und Berlusconi regieren würde – ein Ergebnis, das dem Kreml-Herrscher sehr genehm wäre. Denn dann könnte Italien innerhalb der EU auf ein Ende der Sanktionen gegen Russland hinarbeiten“. (den Tagesspiegel Beitrag schrieb Claudia von Salzen).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ludwig Wittgenstein – in einem neuen Handbuch umfassend dargestellt.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.9.2022

Das aktuelle Motto, ein Zitat Wittgensteins: “Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen.“ (Siehe Nr. 4 in diesem Hinweis)

1.
Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) ist einer der denkwürdigsten und einflußreichsten Philosophen. Dabei fällt er sozusagen aus dem Rahmen der üblichen „Philosophie-Professoren an Universitäten“. Nicht nur, weil er nur ein Buch zu „Lebzeiten“ veröffentlichte. Vor allem: Für ihn war persönliches Leben und philosophisches Denken in einer spannungsreichen Verbindung. Wittgenstein schwankte existentiell zwischen einer üblichen Laufbahn an einer Universität und einem schlichten Alltagsleben, auch als Grundschullehrer.
Wittgenstein hinterließ einen großen Umfang an Studien und Notizen, die seine ständige philosophische Selbstkorrektur und Entwicklung dokumentieren. Er war äußerst vielseitig begabt, manche nennen ihn ein Genie, kompetent in der Mathematik und Logik, aber auch im Maschinenbau und als Architekt, er schätzte Literatur, Musik und Kunst und auch zur Religion hatte er einen eigenen, besonderen Zugang entwickelt.
2.
Philosophisch gebildete Kreise können nun ein anspruchsvolles „Wittgenstein -Handbuch“ für ihr Studium, auch als Einstieg, nutzen, ein Handbuch, das umfassend den ganzen Wittgenstein und sein vielfältiges Werk darstellen und erklären will. Das Buch hat 482 Seiten, umfasst 94 Kapitel, neben einer ausführlichen Biographie vor allem Hinweis zu seinem umfassenden Werk, auch zum Briefwechsel. Herausgegeben ist dieses Buch von den Wittgenstein-Spezialisten Stefan Majetschak (Kunsthochschule Kassel) und Anja Weinberg (Uni Wien). Das Buch wird in der Fülle der äußerst vielen speziellen Wittgenstein Studien, auch angesichts der verschiedenen Wittgensteingesellschaften in Norwegen, England, Österreich usw., sicher die Bedeutung einer wichtigen Erstinformation wie auch eines grundlegenden Nachschlagewerk haben.

3.
Ein solches umfassendes Wittgenstein-Lexikon kann selbstverständlich nicht in wenigen Worten „besprochen“ werden.
Den Schwerpunkten unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin entsprechend, interessierte uns besonders das Kapitel „Religion“, ein Thema, das für Wittgenstein auch lebensmäßig alles andere als marginal ist. Der Philosoph Ludwig Nagl hat den entsprechenden Beitrag im Handbuch verfasst. „Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders: Ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt“, so Wittgenstein in einem Gespräch mit Maurice Drury. Ob Wittgenstein „wirklich“ kein religiöser Mensch war, wird heftig diskutiert, zu deutlich ist in seinen Notizen persönliche Betroffenheit von religiösen Aussagen, zumal des Neuen Testaments (Ludwig Wittgenstein wurde katholisch getauft). Wichtig ist seine Erkenntnis, dass die Sinnfrage nicht wissenschaftlich beantwortet werden kann, sondern ins Religiöse, in den Glauben, weist. „Wie soll ich leben“, bleibt die zentrale Frage Wittgensteins. Schon in jungen Jahren las er Tolstoi, Dostojewski, vor allem Augustinus schätzte er sehr und Kierkegaard. Gerade die Auseinandersetzung mit Augustin und Kierkegaard führte Wittgenstein zu theologischen Aussagen, die stark an die dialektische Theologie etwa eines Karl Barth erinnern, darauf weist Ludwig Nagl leider nicht hin. Von einer „vernünftigen Theologie“, im Katholizismus mit der Pflege der Gottesbeweise üblich, hielt Wittgenstein gar nichts! Wegen des Dogmas des 1. Vatikanischen Konzils, dass die Existenz Gottes „durch die natürliche Vernunft bewiesen werden kann“, war es ihm „unmöglich, Katholik zu sein“ (S. 365 im Handbuch).

4.
Je mehr sich Wittgenstein von den Erkenntnissen seines frühen Werkes, des „Traktates“, löste, um so deutlicher wurde sein Interesse für Religion und die Frage „Was ist Glauben“. Für ihn war in der persönlichen Bindung an Christus nicht der Glaube, sondern die Liebe entscheidend. Aber für die religiöse Haltung gilt wohl insgesamt: Sie „ist nicht verständlich, es ist aber auch nicht unverständlich“ (S. 365 im Handbuch), ein typischer Wittgenstein Satz, möchte man meinen, der sich um „extreme“ Differenzierung bemüht.
Dass die christliche Religion zur Institution, also zur Kirche wurde, findet Wittgenstein sehr problematisch: „Zu seinem Freund Drury sagte er: „Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen“ (S. 365 im Handbuch).

5.
Auch das Stichwort Glauben und Wissen in der Rubrik „Begriffe und Themen“im Handbuch ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon von großem Interesse. Deutlich zeigt Nuno Venturinha ,dass Wittgenstein an dem Thema schon sehr früh arbeitet, später aber den „überkommenen (also vom Menschen nicht abzuschaffenden, C.M.) Hintergrund” des menschlichen Geistes verteidigt: Übersetzt heißt dies: Es gibt geistige Strukturen, die niemals durch Lernen und Unterricht erworben werden, sondern die vorgefunden und da sind, wie etwa die Form des Glaubens. Glauben ist für Wittgenstein in seinen Hinweisen „Über Gewissheit“ grundlos im Menschen „vorhanden“. Wir Menschen haben also etwas Vorgegebenes, „das weder wahr noch falsch sei“, wie Wittgenstein in „Über Gewissheit“ schreibt (S. 205). Da hätte mich interessiert, ob eine Verbindung zu Kant gegeben ist, etwa hinsichtlich dessen Erkenntnis des „Faktums der Vernunft“.

6.
In dem Zusammenhang ist es erstaunlich, was der katholische Religionsphilosoph, der Jesuit Prof. Friedo Ricken, München, etwa zu den „Vermischten Bemerkungen“ Wittgensteins zur Religion betont: „Sie gehören für mich zum Tiefsten, was ich in der neueren philosophischen Literatur zu diesem Thema gefunden habe, aus ihnen sprechen ein tiefer Ernst und eine überzeugende Ehrlichkeit”.(Friedo Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Stuttgarrt, 2003, S. 29).

7.
Man wird in dem „Handbuch“ die Erörterung der Stichworte Politik, Gesellschaft oder Staat vergeblich suchen, darf man daraus schließen, dass diese Themen Wittgenstein philosophisch nicht interessierten?

8.
Soweit ich sehe, wird in dem „Handbuch“ nicht explizit von einer homosexuellen Neigung Wittgensteins gesprochen, die vielfältigen Freundschaften mit jungen Männern werden ausgeführlich angesprochen. Entsprechende Behauptungen zur Homosexualität Wittgensteins vonseiten des Biographen William Barley (von 1973) gelten wohl jetzt als übertrieben. Hingegen hat der Wittgenstein Forscher Ray Monk später noch einmal diskret davon gesprochen, im Personenregister des Handbuches wird Monk nicht erwähnt. Und es ist sicher gar kein Zufall, dass eine große Wittgenstein Ausstellung unter dem Titel „Verortungen eines Genies“ (Ausstellung 18. März bis 13. Juni 2011) ausgerechnet im „Schwulen Museum“ , damals noch in Berlin-Kreuzberg, stattfand. Der Junius-Verlag hatte ein reich mit Fotos ausgestattetes, hervorragendes Begleitbuch publiziert. Justus Noll hat in dem Buch einen Artikel über „Schüler, Freunde und Liebhaber“ verfasst.

9.
Wittgenstein bleibt ein zweifellos einseitiger, aber außergewöhnlich inspirierender Philosoph, auch, weil er sein Denken mit seinem eigenen Leben und Leiden aufs engste verbunden hat. Peter Sloterdijk hat schon recht, wenn er in seiner kleinen Skizze über Wittgenstein (in „Philosophische Temperamente“, München 2009) schreibt: „Es tritt das Profil eines Denkers an den Tag, der unzweifelhaft zu den Sponsoren der künftigen Intelligenz gehören wird. Noch in ihren logischen Härten und menschlichen Einseitigkeiten hält Wittgensteins Intensität Geschenke von unabsehbarer Tragweite an die Nachwelt bereit“ (S. 128 f.)

10. Zugänge zu Wittgensteins Werk:
„Im deutschsprachigen Raum veranstaltet die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft (http://www.alws.at) seit 1976 internationale Wittgenstein-Symposien in Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich, einem Ort nahe Trattenbach, in dem W. einen Teil seiner Zeit als Volksschullehrer verlebte. Die Vorträge dieser Symposien werden in zwei Buchreihen, den Contributions of the Austrian Wittgenstein Society sowie den Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society – New Series veröffentlicht (letztere Reihe enthält auch weitere Publikationen; https://www.degruyter.com/serial/PALWS-B/html).
In Fortsetzung der in den 1990er Jahren von der Deutschen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft begründeten digitalen, seinerzeit im Diskettenformat verbreiteten Zeitschrift Wittgenstein Studies gibt deren Nachfolgeorganisation, die Internationale Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. (ILWG) (http://www.ilwg.eu) seit 2010 die Reihe Wittgenstein-Studien. Internationales Jahrbuch für Wittgenstein-Forschung sowie die Buchreihen Über Wittgenstein (deutsch) und On Wittgenstein (englisch) heraus“. (Zitat aus dem „Handbuch“)

11.
Im März 2016 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis zum Thema „Wittgenstein – ein religiöser Philosoph“ publiziert.

LINK

2011 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis publiziert zum Thema: „Das Mystische und das Unaussprechliche“ (Zu Wittgenstein).

LINK

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
J. B. Metzler Verlag, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.