„Wie die Lepra zerfraß die Gier die Kirche“

Die aktuelle Kirchenkritik des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
„Gegen den Strich“ („A rebours“) ist das wichtigste und bis heute am weitesten verbreitete Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans (1848-1907). Er wollte, wie er später sagte, mit dem Roman „um jeden Preis etwas Neues schaffen“, einen Text, der die Mentalität des „Fin de Siècle“ widerspiegelt und reflektiert.
Der Roman, 1884 veröffentlicht, wurde mit vielen Begriffen “eingeordnet”, darunter „Literatur der Dekadenz“… Michel Houellebecq hat sich in seinem Roman „Unterwerfung“ mehrfach auf Huysmans bezogen und durchaus eine Huysmans-„Renaissance“, auch in Deutschland, angestoßen… Der Roman hat autobiographischen Charakter.

2.
Manche haben „Gegen den Strich“ („A rebours“) einen Anti-Roman genannt, und sie können sich dabei auf Huysmans Äußerungen beziehen. Er sagte 1903 (im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches), die „Romanform hätte er nur als Rahmen benutzt für ernstere Themen“. Das heißt: Der Roman enthält auch sozusagen Fragmente sachlicher Essays.

3.
Eines dieser „ernsteren Themen des Romans“ mit 16 Kapiteln ist die katholische Kirche. 1884 hatte sich Huysmans noch nicht explizit der katholischen Kirche angeschlossen, das wurde erst deutlich in seinem Roman „Unterwegs“ (1895). Von 1899 bis 1901 lebte er als Laienmitglied („Oblate“) in einem Haus des Benediktinerklosters Ligué bei Poitiers. Aber er war schon als junger Autor 1884 stark an religiösen Fragen interessiert, die ihn auch zu esoterischen Erfahrungen führten, dargestellt etwa in dem Roman „Là-Bas“, der auch sein Interesse am Satanismus dokumentiert.

4.
Zu den „ernsten Themen“ des Romans „Gegen den Strich“ gehört also die Kirchenkritik im 16. Kapitel, sie äußert der Protagonist des Romans, Des Esseintes, aber in dessen Urteil wird die Position Huysmans sichtbar. An dessen Kirchenkritik heute, 2022, zu erinnern ist wichtig, weil es immer noch überraschend ist, wie spirituell interessierte Autoren in Frankreich vor der radikalen Trennung von Kirchen und Staat dort (1905) den Katholizismus grundlegend kritisierten. Huysmans hat seine heftige Kirchenkritik im Roman „Gegen den Strich“ auch nach seiner „katholischen Wende“ verteidigt, deutlich im Vorwort zur zweiten Auflage 1903. (vgl. das Nachwort von Ulla Komm in der deutschen Ausgabe des Romans, DTV 2021, S. 264).

5.
Aus aktuellen Gründen also ist es interessant zu sehen, wie Elemente heutiger Kirchenkritik sich schon in einem Roman von 1884 wiederfinden. Trotz einiger Reformen des 2. Vatikanische Konzils (1962-65) wurde keine grundlegende Reformation eingeleitet: Die Allmacht des männlichen Klerus ist bis heute ungebrochen.
Die kritische Position Huysmans ist sogar eher konservativ geprägt! Huysmans verabscheut die „Gewinnsucht“, „diesen pekuniären Juckreiz“ des Klerus (S. 255). „Die Klöster hatten sich in Fabriken für Pillendreher und Likörhändler verwandelt“. (Man denke heute an die Brauereien mancher Klöster)….Der Autor geht förmlich, als empirischen Beleg, fast alle Orden und Klöster durch, also nennt er etwa (S. 255) die Schokolade aus dem Kloster Citeaux, den Likör der Trappisten, den Likör der Benediktiner, den „Chartreuse“ der “Ordensbrüder des heiligen Bruno“, also der Kartäuser, usw.

6.
„Wie die Lepra zerfraß die Gier die Kirche, beugte die Mönche über Verzeichnisse und Rechnungen“… „Der Handel war in die Kirche eingedrungen, wo „anstelle der Choralbücher dicke Rechnungsbücher auf den Pulten lagen“ (S. 255).
Man schaue sich heute, zum Studium der aktuellen Lage, etwa die Etats der großen Klöster und Stifte in Deutschland oder Österreich oder Belgien an, falls überhaupt Informationen zur „Finanzlage“ dieser sich „arm“ nennenden Mönche publiziert werden. (Fußnote 1) Man denke daran, dass etwa der Orden der „Legionäre Christi“, gegründet von dem allgemein als Verbrecher bewerteten Pater Marcial Maciel, in der spanischen Welt treffend und zurecht als „Millionarios Christi“ bezeichnet usw…
Und man lese als eine aktuelle Fortsetzung zur Gier des (vatikanischen usw.) Klerus die faktenreiche Studie des italienischen Vaticanologen Emiliano Fittipaldi „Avaricia“ („Habsucht“) über die Finanz-Skandale im heutigen Vatikan (Editionen Akal, Madrid 2015).

7.
Huysmans schreibt die entscheidenden, heute gültigen Worte: „Es sind nicht einmal die Physiologen (Naturwissenschaftler und Materialisten, CM) oder die Ungläubigen, die den Katholizismus zertrümmern, es sind die Priester persönlich, deren ungeschickte Werke noch den festesten Glauben ausrotteten“ (S. 257).

8.
Diese Zitate sind Reflexionen des Protagonisten Des Esseintes im Roman „Gegen den Strich“. „Für ihn (den Suchenden, Verzweifelten, sicher auch seelisch Belasteten) gab es entschieden „keinen Ankerplatz, kein Ufer“ mehr, heißt in den letzten Zeilen des Romans (S. 258).

9.

Angedeutet wird in dem Roman eine gewisse,  im allgemeinen sich eher verklemmt äußernde Homosexualität des Protagonisten. Im 9.Kapitel des Romans hingegen wird deutlich von einer Begegnung des Esseintes mit einem jungen Mann in Paris berichtet: “Aus dieser zufälligen Begegnung war eine fordernde Freundschaft entstanden, die monatelang anhielt” (S. 133). Aber an diese erotisch geprägte Freundschaft kann  des Esseintes nur “mit Erschauern” zurückdenken. Sie war für ihn ein “verlockendes und unerbitterliches Joch”, weil er als frommer Katholik und Jesuitenschüler die Abhandlungen der Theologie “über die Verstöße gegen das sechste und neunte Gebot” (S. 133) verinnerlicht hatte. Die sexualethischen Forderungen der Kirche und ihrer Theologen erscheinen ihm als “außermenschliches Ideal”, das keine Befreiung bringt, sondern sogar eher  “das gesetzeswidrige Ideal der Wolllust nährt” (ebd.).

Nebenbei: Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer weist in seiner Studie  “Außenseiter” (Suhrkamp 1981, S. 262) , darauf hin, dass es durchaus Anregungen Huysmans auf Oscar Wilde in dessen Konzeption von “Dorian Gray” gegeben hat. Ausführlicher zur Homosexualität im Werke Huysmans und  im Roman “Gegen den Strich”: Ein Beitrag von Patrick Mimouni:     LINK

 

Fußnote 1:
Einen Hauch von Transparenz bieten einige der großen Klöster in Österreich. Die Prämonstratenser in Schlägl beziffern ihren Waldbesitz mit 6.500 Hektar (also 65 Quadratkilometer). Einnahmen bietet ihnen auch die Brauerei, ein Hotel, und die Produktion von Ökostrom in Wasserkraftwerken usw. Das Augustiner-Chorherren-Stift Klosterneuburg nennt selbst als Eigentum 8000 Hektar Wald! Es hat 108 Hektar Weinanbau, 700 Wohnungen sind Stifts-Eigentum und 4.000 Pachtverträge für Immobilien. Natürlich kostet der Erhalt des prachtvollen Kloster-Palastes viel Geld, allerdings hilft bei Renovationen kräftig der österreichische Staat.
Das sehr wohlhabende Klosterneuburg hat z.B. 2013 15.000 Euro für Hochwasseropfer gespendet, auch der Armen in Rumänien wird mit relativ gesehen bescheidenen Spenden gedacht (Quelle: Spenden des Klosterneuburg:
http://www.stift-klosterneuburg.at/suche/
Zu Saft Schlägl: Der Waldbesitz beträgt derzeit ca. 6500 ha. Damit liegt das Stift auf dem 6. Rang der Stifte Österreich: http://www.stift-schlaegl.at/prodon.asp?peco=&Seite=373&UID=&Lg=1&Cy=1

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Widerspruch zu der These:„Es gibt keinen (christlichen) Glauben ohne einen ihn tragende Institution“.

Diese These wird behauptet in PUBLIK FORUM, Ausgabe 8.Juli 2022, Seite 10. Sie ist im Zusammenhang der Kirchenaustritte in Deutschland formuliert, der Titel des Beitrags „Das große Kirchensterben“.

Diese These finde ich in mehrfacher Hinsicht falsch:

1.
Der Glaube (gemeint ist im Beitrag immer der christliche) wird theologisch in allen Konfessionen als ein Geschenk Gottes an die Menschen, also als Gnade, bezeichnet. Aber auch, und das ist genau so wichtig: Christlicher Glaube wird zugleich möglich durch das Bemühen der Menschen, als Fragen und Suchen nach Gott.

2.
Für die Zurückweisung der These ist der zweite Aspekt entscheidend: Denn Suchen und Fragen nach Gott kann der Mensch immer auch ohne eine kirchliche Institution. Von „tragender Institution“ ist ja in der These die Rede. Was auch immer das Bild von der „tragenden Institution“ meinen mag: Eine Institution (wer denn innerhalb der Institution?) soll unseren Glauben „tragen“…

3.
Ich betone: Wer den Gott der Christen und die Bindung an ihn, den Glauben an ihn sucht, kann die Bibel lesen, vor allem mit Kommentaren der Bibelwissenschaft die Texte richtig und zeitgemäss verstehen. Er oder sie kann Texte der Mystiker lesen (Meister Eckart, Thomas Merton, Dietrich Bonhoeffer usw.) und sich auf neue Denk – und Lebensweg führen lassen.
Wer sich von der Weisheitslehre, der „Lebensphilosophie“ des Neuen Testaments ansprechen lässt, kann, als Experiment sozusagen, eine Glaubenspraxis beginnen, also die Nächstenliebe leben und meditativ beten. Durch das Studium und das Leben nach den praktischen Weisungen des Neuen Testaments kann sich dann die Kraft oder auch die Kraftlosigkeit des christlichen Glaubens erschließen. Und der Mensch kann sich dann auch sagen: Dieser Lebensweisheit, in Vielfalt formuliert im Neuen Testament) will ich gern folgen: Dann beginnt das, was man „christlichen Glauben“ nennt.

4.
Der christliche Glaube hat nicht tausendundeinen Inhalt oder gar hunderte von Paragraphen eines Katechismus. Der christliche Glaube hat nur die eine Erkenntnis: Der Mensch sieht sich in seinem Geist verbunden mit einem unendlichen Geheimnis, das viele spirituelle Menschen mit dem Symbol „Gott“ nennen. Dieses Verbundensein mit einem unendlichen Lebensgeheimnis wird immer wieder fragmentarisch entdeckt in der Nächstenliebe, im Eintreten für Gerechtigkeit und in der meditativen Praxis, auch in der Poesie des Gebetes, aber auch im Hören von Musik, in der Auseinandersetzung mit Kunst usw.

5.
Es wäre in meiner Sicht verheerend, gerade in diesen Zeiten des radikalen kirchlichen Umbruchs, also des Auszugs vieler hunderttausend Christen aus den Kirchen, der These folgend, die Bindung des Glaubens an eine „ihn tragende Institution“ zur notwendigen Bedingung des Glaubens und des Glaubenskönnens zu machen.

6.
Diese These ist auch deswegen falsch, weil die Institution, also die römische Kirche, insgesamt als „tragende Institution“ überhaupt nicht mehr glaubwürdig ist, weil sie nicht mehr den freien Glauben eines reifen Menschen ermöglicht und fördert. Diese Kirche wird auch unter dem unentschiedenen, manchmal etwas reformerischen, manchmal etwas traditionell-volkstümlichen Papst Franziskus eher als unbelehrbarer, nicht reformierbarer klerikaler Verein erlebt. Die vielen Belege dafür müssen hier nicht wiederholt werden.

7.
Darum gilt diese Ermunterung, persönlich formuliert: „Du brauchst als glaubender Christ keine tragende Institution. Wenn dich „einer“ trägt, dann ist es das „göttliche Lebensgeheimnis“. Es kann aber sein, dass du Menschen triffst, mit denen du über deine religiösen Lebenserfahrungen sprechen kannst.“
Dann sind dies die „zwei oder drei versammelt“, von denen Jesus sprach, suchende, zweifelnde, glaubende Menschen, die sich in seinem Namen versammeln, das heißt an ihn denken, die Texte des Neuen Testaments kritisch lesen, Jesus von Nazareth als einen Lehrer der Weisheit schätzen und in seinem Sinne zur meditativen Stille finden, zu einem unzeitgemäßen Leben in dieser verrückten Welt und zur bescheidenen gemeinsamen Feier bei Brot und Wein, natürlich ohne herrschenden Klerus…

9.
Nein, liebe „Ausgetretene“ und Fragende, Zweifelnde…ihr braucht wirklich NICHT diese tragende kirchliche Institution. Die römische Kirche als System trägt euch spirituell nicht, sie ignoriert euch, besonders die Frauen und die Homosexuellen, die Armen zumal, denen man caritativ spendet, aber oft nicht politisch zur Befreiung beisteht. Das schließt nicht aus, dass innerhalb der Kirche doch viele authentische Christen leben, deren Interesse mehr am Wohl der Menschen, der Armen zumal, liegt als am Befolgten von Dogmen und moralischen Weisungen der angeblich „tragenden Institution Kirche“.

10.
Viele sprechen jetzt zurecht von einer grundlegenden, grundstürzenden Zeitenwende. Diese Zeitenwende ist nach den vielen Skandalen, der Reformationsunfähigkeit der Römischen Kirche, der bleibenden Allmacht des Klerus usw. im Katholizismus längst geschehen.
Diese Zeitenwende ist DA, man muss sie nur erkennen und als solche aussagen. Diese Zeitenwende bedeutet inhaltlich: Es gibt christlichen Glauben auch ohne eine „tragende Institution“. Wer zu glauben versucht, findet im Alltag Menschen (vielleicht eine Gemeinschaft), mit denen er Lebens – und Glaubenserfahrungen austauschen kann.
Andererseits sollte es als Antwort auf die Zeitenwende viele offene Gesprächsforen geben, „philosophische Salons“ außerhalb der Kirchenmauern, wo sich unterschiedlich suchende und fragende Menschen zum Gespräch, zur „Begegnung“ treffen. Und diese Gesprächsforen können sich dann zu kleinen „Gemeinden“ entwickeln, zu Kreisen der Freundschaft und des Dialogs und der Hilfsbereitschaft. Diese Gruppen werden sich vernetzen mit sozialkritischen NGOs oder auch spirituellen Gruppen, etwa des Buddhismus, um die Begrenztheiten eines nur christlichen Lebens zu überwinden.

11.
Angesichts der radikalen Zeitenwende sind also radikale Formen des spirituellen Neubeginns wichtig. Die alten kirchlichen katholischen Institutionen erscheinen oft nur noch als finanziell gutausgestattete, aber noch halbwegs zusammengeflickte Skelette einer Institution, die gerade nicht mehr trägt, nicht mehr tragen kann, sondern die die Menschen fallen lässt, weil diese von Männern beherrschte Institution Antworten gibt, die keiner mehr versteht. Diese Kirchen-Institution reicht viel zu oft Steine statt Brot als spirituelle, d.h. menschlich-hilfreiche Nahrung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Katholische Theologie an deutschen Universitäten kann keine freie Wissenschaft sein

Zum neuen „Staatsvertrag Berlin – Katholische Kirche“

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Nun gibt es seit einigen Monaten ein so genanntes „Zentral-Institut für katholische Theologie“ an der Berliner Humboldt-Universität. Um den Lehrbetrieb rechtlich zu gestalten, haben das Land Berlin und die katholische Kirchenführung einen Vertrag geschlossen, der am 30.Juni 2022 ohne jeglichen Einwand vom Abgeordnetenhaus „zur Kenntnis“ genommen wurde.
Der nächste Schritt ist bedeutsam: Die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und der Apostolische Nuntius in Deutschland (also der Botschafter des Vatikanstaates) Bischof Nikola Eterovic können also den Vertrag dann unterzeichnen.

Es ist also der päpstliche Nuntius, der den Vertrag von katholischer Seite unterzeichnet, die Macht des Papstes greift bis nach Berlin in ein Institut der staatlichen Universität.

2.
Der Staatsvertrag, bezogen auf das Zentralinstitut für katholische Theologie sieht – wie sonst auch in Deutschland üblich – vor: Die Katholische Kirchenführung, also die Bischöfe, sind mit exklusiven Rechten ausgestattet: Bei der Berufung der Professoren können sie mitentscheiden, das gleiche gilt für die inhaltliche Gestaltung der Studiengänge usw. Vor allem: Ein katholischer Theologe kann nicht mehr in dem genannten Institut tätig sein, wenn er – in der entscheidenden Sicht der klerikalen Kirchenführung – gegen die offizielle Dogmatik (die die Kirchenführung formuliert und einzig kompetent beurteilt) verstößt oder einen Lebenswandel führt, der von der klerikalen Kirchenführung als „unkatholisch“ abqualifiziert wird. Man denke etwa daran, dass ein dort beschäftigter Priester abgesetzt werden muss, wenn er heiratet. Ähnliches gilt, wenn ein homosexueller katholischer Theologieprofessor mit seinem Mann den Ehevertrag schließt. Oder wenn eine katholische Theologin offen bekennt: ich habe abgetrieben….

3.
Unter diesen allseits schon seit Jahren bekannten Bedingungen für das Funktionieren katholischer Theologie an den deutschen staatlichen Universitäten kann man nur noch einmal betonen: Eine solche katholische Theologie, abhängig von der Leitungsstruktur einer Großorganisation, ist keine freie Wissenschaft und kann niemals eine freie Wissenschaft sein.

4.
Was würde die Öffentlichkeit sagen, wenn die Slawistik – Professoren mit dem Schwerpunkt Russische Sprache an deutschen Universitäten nur im Einvernehmen mit der russischen Staatsführung berufen werden könnten, wenn der russische Staat die Lehrpläne an deutschen Universitäten etc. mitbestimmen würde…
Der jetzt in Berlin lehrende katholische Theologe Georg Essen war am 19.10.2018 zu einem Interview im Deutschlandfunk eingeladen. Christoph Heinemann stellte diese Frage: „Könnte man nicht auch sagen, der Bundesverband der Deutschen Industrie muss bei der Berufung von Professorinnen und Professoren für Wirtschaftswissenschaft ein Wort mitreden?“ Darauf antwortete der katholische Theologe Essen: „Wenn man das so miteinander vergleichen könnte, dann hätten Sie recht. Man kann es aber nicht und das liegt daran, dass das Zueinander von Staat und Kirche das Selbstbestimmungsrecht der Kirche kennt, und das bedeutet auch dann rechtlich und staatskirchenrechtlich vereinbart dieses Mitspracherecht.“

Mit anderen Worten: Die katholische Kirche spielt als gesellschaftliche Gruppe eine exklusive Sonderrolle, ihr wird vom Staat ein „Selbstbestimmungsrecht“ zuerkannt, d.h. die Kirchenführung kann auch an einer katholisch – theologischen Fakultät einer staatlichen Universität prinzipiell schalten und walten, wie sie es will.

Prof. Georg Essen hatte in dem genannten Interview dieses System zu verteidigen versucht, weil die staatlichen katholischen Fakultäten eben Mitarbeiter der Kirche ausbilden, Religionslehrer, Pastoralreferenten usw. Das stimmt: Aber müsste dann nicht auch der Justizminister ein Wort in den juridischen Fakultäten mitreden, weil doch dort eben Richter, Anwälte usw. ausgebildet werden, das Beispiel ließe sich auf die medizinischen Fakultäten usw. leicht übertragen.

5.
Noch einmal: Katholische Theologie an staatlichen Universitäten – auch in Berlin – kann aufgrund des Einflusses der Leitung der Organisation Kirche keine freie und eigenständige Wissenschaft sein.  Frei wäre katholische Theologie an einer staatlichen Universität erst, wenn die Kirchenführung keine Privilegien der Mitentscheidung an der Uni mehr hat. Das aber setzt eine Veränderung der Kirche-Staat-Gesetze in Deutschland voraus, also eine Trennung von Kirchen und Staat, die den Namen verdient. Aber: Die katholische Kirche könnte aus eigener Einsicht auf ihre Mitentscheidung an katholisch-theologischen Fakultäten offiziell verzichten… Dazu wird es bei den Machtinteressen der Kirchenführung aber sicher nicht kommen.

Über Religionen, Kirchen, Sekten usw. forschen in Deutschland (leider viel zu wenige) kirchlich unabhängige Religionswissenschaftler, Religionssoziologen, Religionsphilosophen.
Mitarbeiter der Kirche sollten an eigenen kirchlichen Hochschulen ausgebildet werden, die ganz von der Kirche finanziert werden. Dort können dann etwa so viele Opus-Dei-Professoren oder Mitglieder des “Neokatechumenalen Weges” etc… lehren und forschen, wie es der Kirchenführung gefällt. Also eine Hierarchie-hörige Theologie betreiben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Kirchenaustritte sind eine Erlösung für die Kirche”

Über steile Thesen aus offiziellem protestantischen Munde.
Ein Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht am 3.7.2022, erneut veröffentlicht am 11.3.2023.

Der Ausgangspunkt:
Eine maßgebliche protestantische Theologin, Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, bewertet jetzt die zunehmenden Kirchenaustritte als „Erlösung“. Dabei versteht sie Erlösung als Befreiung vom System der Volkskirche. …hin zu einer Minderheitenkirche. Sehr optimistisch wird diese Minderheitenkirche „Freiwilligenkirche“ des „mündigen Bekennens“ genannt, Frau Jahn schreibt:. „Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens“, so Kristin Jahn am 30.6.2022 in Fulda. (Quelle: Pressemeldung des Ev. Kirchentages vom 1.7.2022)

Hinter dieser These der Theologin Kristin Jahn steht die (unausgesprochene) Überzeugung: Die gegenwärtige Kirche ist selbst reformunfähig, sie kann ihre eigenen Mitglieder nicht mehr in der Kirche „halten“, geschweige denn für die Kirche begeistern.
So bleibt also der irgendwie „gelähmten“ Kirchen – Führung und – Institution und – Bürokratie nichts anderes übrig, als sich über die Kirchenaustritte von hunderttausenden Christen pro Jahr zu freuen – als Erlösung sogar.

Erlösung gibt es für eine reformatorische, kritische Theologie nur dann, wenn sich nun die „Ausgetretenen“ von den vielen belastenden Dogmen und Kirchengesetzen, den veralteten Liedern und unverständlichen Gebeten befreien. Das sollten die verbliebenen Mitglieder auch tun.

Eine kritische Reflexion:
1. „Kirchenaustritt als Erlösung“
Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen und schrumpfen … und wahrscheinlich werden sie, hält dieser Trend an, in etwa 40 Jahren fast verschwunden sein, zahlenmäßig betrachtet. Die Zahl der Austritte aus diesen trotz allem noch machtvollen Organisationen, mit ihren Milliardenetats bis heute, nimmt zu. Und was tun Verantwortliche dieser schrumpfenden Großorganisation: Sie zeigen sich geradezu glücklich über diese Entwicklung: So sagte Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, am 30.6.2022 in Fulda auf einem Podium mit dem Titel “Wohin steuern die christlichen Kirchen?“: „Die evangelische Kirche steht sich aus meiner Sicht oft selbst im Weg mit ihrem Amtsverständnis und Kirchenordnungen, die noch aus einer Zeit resultieren, in der man durch Sitte und Tradition in Kirche war. Diese Zeiten sind vorbei. Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens.”

2.
Kirchenaustritte als Erlösungsprozess zu deuten: Eine steile These. Konservative, evangelikale Christen, zu denen ich absolut nicht gehöre, könnten einwenden: Erlösung im klassischen Sinne kann doch einzig durch Jesus Christus kommen und nicht durch Kirchenaustritte.

3. “Die  nicht immer jugendlichen Freiwilligen“
„Erlöst“, so denkt die Kirchentagsgeneralsekretärin, sollen sich aber nicht etwa die Millionen EX-Kirchenmitglieder fühlen, weil sie, „ausgetreten“, nun keine Kirchensteuer mehr zahlen müssen.
Nein, „erlöst“ soll sich die Institution Evangelische Kirche fühlen, das „System“, wie Frau Jahn sagt. Freude also darüber, dass sich die Kircheninstitution nun – endlich – auf dem Weg hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit befindet. Aber worin ist diese Hoffnung begründet? Die verbliebenen evangelischen Kirchenmitglieder sind, wenn sie öfter als am Heiligabend in die Kirche zum Gottesdienst gehen, eher „ältere Semester“. Wie lange kann man mit Senioren die „Kirche der Freiwilligkeit“ gestalten?
Diese Hoffnungen auf „Erlösung“ sind deswegen haltlos, weil man immer noch nicht im Detail weiß, welche Altersgruppen aus den Kirchen ausgetreten sind, man weiß nichts über deren ökonomischen Status, nichts über deren Bildungsniveau. Es gibt keine präzise soziologische Forschung der „Ausgetretenen“.

4.
Wer jetzt aus der katholischen Kirche in Deutschland austritt, hat sicher andere Gründe und Motive als die austretenden Protestanten. Es ist bereits ein Zeichen für die geringe Kenntnis der eigenen Konfessionalität, wenn Protestanten aus ihrer Kirche austreten, weil sie den Papst nicht hochschätzen oder den zölibatären Klerus….

5. „Wenn Kirchenleute sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen“
Auf der genannten Tagung konnte der protestantischen Erlösungsthese der katholische Theologe Prof. Thomas Söding zustimmen: “Wir werden eine Kirche der freiwilligen Entscheidung sein müssen.“ Ob es dann, bei den realistisch gesehen wenigen freiwillig Entschiedenen noch Kirchentage/Katholikentage und gut bezahlte Generalsekretärinnen oder gut bezahlte Domherren und bestens bezahlte TheologieprofessorInnen an staatlichen Universitäten geben wird, ist wohl eher ausgeschlossen. Man könnte also diese Ausführungen in Fulda deuten als „das begeisterte Sägen auf dem Ast“, auf dem es sich für Kirchenangestellte bisher materiell sehr gut leben ließ.

6. „Das Lämmelein (Jesus) will gern leiden“
Aber das ist nicht mein zentrales Thema. Wenn man schon das hochwertige Wort „Erlösung” im Zusammenhang der zunehmenden Kirchenaustritte verwenden will: Erlöst wird durch den erlösenden Kirchenaustritt die Menschheit, speziell die Christenheit, von der Macht eines dogmatischen und moralischen Glaubenssystems, das auf alle Fragen, die irgendwie mit Gott zu tun haben, umfassende Antworten hatte und hat.
Eine solche Befreiung vom Wahn der allwissenden Dogmen und tausend Kirchengesetzen ist tatsächlich eine Erlösung, von der allerdings keine Generalsekretärin, kein Bischof, kein Theologieprofessor zu sprechen wagt. Sie genieren sich, endlich das Wort „Zeitenwende“ auch auf die kirchliche dogmatische Verfasstheit ihrer Kirchensysteme anzuwenden.
Die globale Zeitenwende findet aber durch die Kirchenaustritte schon seit langem statt. Christen verabschieden sich nicht nur von den Dogmen, sondern, um nur ein nahe liegendes Beispiel aus den Gottesdiensten zu nennen, auch von den Kirchenliedern: Diese muten als Text dem heutigen Menschen Unsägliches an Gedankenwirrwarr zu, die tausend Beispiele kann ich hier nicht dokumentieren. Zu den katholischen immer noch üblichen Marienbildern habe ich das exemplarisch gezeigt. LINK.
Man lese bitte auch die theologisch befremdliche Theologie der evangelischen Passions – und Karfreitagslieder , etwa: „Ein Lämmlein (gemeint ist Jesus von Nazareth, CM) geht und trägt die Schuld der Welt und ergibt sich auf die Würgebank … und spricht ich wills gern leiden“ (Nr. 83 Ev. Gesangbuch, Text von Paul Gerhardt 1647!) Auch die heute irritierenden Texte von Bachs Kantaten wären ein eigenes Thema, schön ist da nur die Musik….

7. „Die Reihen fest geschlossen“
Man denke im katholischen Bereich auch daran, dass bis 1975, also bis zur Herausgabe eines neuen katholischen Gesangbuches, die 6. Strophe des sehr beliebten und oft in überfüllten Messen geschmetterten katholischen Liedes „Ein Haus voll Glorie schauet“ heißt:“ Viel tausend schon vergossen mit heilger Lust ihr Blut. Die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut, Gott wir loben dich, Gott wir preisen dich….“ usw.
Die 7. Strophe verstärkt dann den Charakter eines Kampfliedes „Auf eilen liebentzündet auch wir zum heilgen Streit, der Herr, ders Haus gegründet, uns ewigen Sieg verleiht“….
Fraglich ist, ob der Nazi Horst Wessel für seine Lied-Zeile „Die Reihen fest geschlossen“, Anregungen von diesem sehr oft gesungenen katholischen „Kampflied“ aus dem Jahr 1877 empfing. Für die katholische Kirche aber gilt nach wie vor: Die „Reihen sind fest geschlossen“ : Dies ist eine Art Ideal des herrschenden Klerus…Häretiker, Abweichler und Reformer wissen ihr trauriges Lied davon zu singen…Und die Laien, die Masse der Gehorchenden und Gehorsamen,  sollte sich sicher fühlen, abgeschottet von den Gefahren, den Gefährdern, den Irrlehrern, den Refomratorn. Die geschlossene katholische Welt als Burg – das war das Ideal.Und der Wahn, der krank machte als Snbgrenzung von allem Modernen … bis 1962, mit den minimalen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils.
Und das ist vielleicht der größte Skandal bei diesem Sing-Sang: Die erste Strophe des Liedes (Gotteslob Nr. 639) darf immer noch gesungen werden, trotz aller Missbrauchsskandale durch Priester, trotz aller Macht des Klerus nach wie vor, trotz aller immer noch vorhandener Benachteiligung der Frauen in der Römischen Kirche: Da heißt es also: „Ein Haus VOLL GLORIE SCHAUET, weit über alle Land. Aus engem Stein erbauet, von Gottes Meisterhand…“ Theologisch zudem falsch: Hat Gott, der Ewige, höchstpersönlich diese römisch-katholische Kirche gegründet und, so wie sie ist, aufgebaut? Wer glaubt denn so etwas?

8.
Was bedeutet nun Erlösung für Christen, die durch ihren Kirchenaustritt spirituelle Freiheit erlangen:Sie werden von Lasten befreit, von einer Institution die „Steine statt Brot“ den Glaubenden reicht, ihnen das Leben schwer macht… Ich will das nur am Beispiel der katholischen Kirche zeigen: Da umfasst der Inhalt des zu Glaubenden tatsächlich 717 Seiten im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche”, herausgegeben von der damaligen Ratzinger Behörde, der „Glaubenskongregation“, im Jahr 1993.

9. Der christliche Glaube ist einfach und undogmatisch
Erlösung inmitten der aktuellen theologischen Zeitenwende (Kirchenaustritte, Zusammenbruch kirchlicher Glaubwürdigkeit usw.) bedeutet: Der christliche Glaube als religiöse Lebenshaltung und Lebenspraxis kann auf einigen wenigen DINA4 Seite dargestellt werden als Anregung und Impuls. Wichtig ist: Der christliche Glaube ist in seiner Lehre einfach.
Konfessionelle Verschiedenheiten verschwinden bei einer kontemplativen Lebenshaltung: Sie wird der göttlichen Wirklichkeit im Menschen, in jedem Menschen, inne. Wenn von Gott die Rede sein soll, dann nur: Gott ist Geist, präsent in der Welt und in Menschen. Diese Erfahrung ist keine billige Vertröstung, sondern eine Einladung, geistvoll (d.h. vernünftig, den Menschenrechten praktisch folgend) in der Welt zu handeln, zugunsten des Gemeinwohls und immer unter dem Anspruch des Kategorischen Imperativs.
Dieses „einfache Christentum“ sieht Jesus von Nazareth als ein Vorbild der Lebendigkeit, die Bibel wird bei kritischer Lektüre als Buch von Weisheit empfohlen, neben anderen religiösen Texten. Und man kann sich als Christ mit anderen versammeln, um Jesu zu gedenken, in der Mediation, im Dialog, beim gemeinsamen Mahl der Solidarität. Und dieses einfache Christentum sucht das gleichberechtigte und lernbereite Gespräch mit anderen (nicht nur religiösen) Menschen.

10. Lektüre Empfehlungen
Die hier nur skizzierte These der Erlösung als Befreiung von der starren klerikalen Dogmenwelt könnte für die „Ausgetretenen“ inspirierend sein, selbständig zu suchen und neue spirituelle Dimensionen zu entdecken.
Dabei können Texte von Philosophen und Mystikern hilfreich sein. Unter anderem auch die Spiritualität des mittelalterlichen und zugleich modernen Meister Eckart, für den Einheit des Menschen mit der göttlichen Wirklichkeit im Zentrum des Glaubens steht. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht, meint Eckart!! Als Einstieg für Anfänger: „Vom Wunder Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten“, Reclam Verlag 2,60 Euro.
Wer die Mühe der Eckart-Lektüre jetzt noch nicht so will: Dem empfehle ich die kontemplativen und gleichzeitig politischen Texte des us-amerikanischen Mönchs Thomas Merton, etwa das leicht zugängliche Buch: „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, Freiburg, 2009.

Zu den Austrittszahlen

Für die katholische Kirche:
2012 haben 118.300 Katholiken die Mitgliedschaft in der Kirche gekündigt.
2021 waren es 359.200 Katholiken.

Weitere umfassende Informationen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4052/umfrage/kirchenaustritte-in-deutschland-nach-konfessionen/

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Liberale Theologie ist Befreiungstheologie!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.6.2022.

1.
Der Autor des Tagesspiegels Malte Lehming schreibt auf Seite 1 dieser Zeitung (am 8.Juni 2022) unter der Überschrift: “FDP in der Regierung: Aus liberal wird unsozial“. Dies ist ein treffendes und von sehr vielen geteiltes Urteil angesichts der politischen Verfehlungen der FDP in der Bundesregierung. Die Liste ist lang, sie reicht von der Abwehr der Maskenpflicht in Corona-Krisen-Zeiten über das bei Lobbyisten übliche Nein zum Tempolimit bis zum Plädoyer für die Subventionierung des Tankrabattes zugunsten des Profits der Ölkonzerne und dem FDP-üblichen Nein zur Vermögenssteuer usw. Manche interpretieren diese Haltung treffend: Die wenigen Reichen noch reicher machen und die Armen in ihrem Elend ein bißchen, “großzügig-geizig”  unterstützen! Malte Lehming schreibt: „Offenbar ist es besser für viele Liberale der FDP, falsch zu regieren als nicht zu regieren“.

2.
Nun versteht sich die FDP, ideologisch und auch philosophisch betrachtet, explizit als liberale Partei.

Und das Wort „liberal“ hat auch in der Theologie oft eine Rolle gespielt. In vergangenen Tagen wurden wir oft gefragt: Welches Verständnis von liberal bei dem Stichwort liberale Theologie gilt denn in den religionsphilosophischen und theologischen Hinweisen von Christian Modehn?

3.
Liberale Theologie verstehen wir in unseren Hinweisen als eine in Europa, in Deutschland, not-wendige Befreiungstheologie.
Damit bleibt aber die Verbundenheit mit bestimmten Traditionen der europäischen liberalen Theologie. Diese war und ist geprägt vom Anspruch, auch innerhalb der Theologie, wenn sie denn Wissenschaft an den Universitäten sein will und sein soll, wissenschaftlich zu arbeiten: Also im Studium der Bibel die historisch-kritische Methode zu wählen; allem Fundamentalismus zu wehren; auch die Entstehung der kirchlichen Dogmen historisch-kritisch zu studieren und diese als Ausdruck des religiösen Glaubens einer bestimmten Zeit zu relativieren. Und auch die Institutionen der Kirchen werden als relative, stets zu reformierende Strukturen verstanden, die keine andere Aufgabe haben, als zu individuell geprägtem Glauben des einzelnen und der Gemeinden zu ermuntern. Liberale Theologie ist also, wie das ursprüngliche liberale politische Denken, herrschaftskritisch. Sofern die Institutionen der Kirchen den Glauben der Gemeinden und der einzelnen behindern und Reformen stören, verhält sich liberale Theologie – in unserem Sinne – kritisch bis ablehnend zu diesen „unbeweglichen, versteinerten Kirchen-Institutionen“. Jeder und jede religiöse Person möge dann den eigenen Weg gehen! Religiöser Glaube ist nichts Masochistisches. Eine Vorstellung, die sich sogar bei dem katholischen Theologen Karl Rahner SJ findet in seiner Konzeption einer transzendentalen Theologie. Für ihn sind die Dogmen der Kirchen sozusagen Schöpfungen der glaubenden Menschen, die sich als Schöpfer dieser Glaubensüberzeugungen dann in diesen, weil es ja „ihre“ sind, wiederfinden können… Immerhin, das ist für katholische Verhältnisse schon viel.
4.
Eine heutige liberale Theologie verdankt zweitens – in unserer Sicht – viel den Impulsen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Diese ist ein Projekt der Emanzipation der Armen innerhalb einer vom Kolonialismus und Klerikalismus verdorbenen Kirchen-Organisation. Der ursprüngliche liberale Geist der Gleichberechtigung kommt also in der Befreiungstheologie zum Ausdruck: Es ist das Engagement für Freiheit und Gerechtigkeit gerade der Armen und Ausgegrenzten, das im wahrsten Sinne „liberal – befreiend“ ist. Diesem Projekt wissen sich heute freilich nicht konservative oder sich liberal, also neokapitalistische Parteien verbunden, sondern linke Parteien. Der neue Geist des Liberalen lebt also bei den demokratischen und selbstkritischen linken Parteien. Und theologisch gilt: Wenn etwa in den Basisgemeinden Lateinamerikas Frauen und Männer, also „Laien“, Gemeindevorsteher sind und als solche auch selbstverständlich die Eucharistiefeier leiten sollten, dann kommen da liberale Prinzipen zum Ausdruck. Die in der Forma allerdings bei der nicht-liberalen katholischen Kirchenzentrale im Vatikan keine Geltung haben.

5.
Eine heutige liberale Theologie in Deutschland kann also ein Störfaktor für die kirchlichen Institutionen sein, wenn (und weil!) diese Institutionen als Bürokratien den lebendigen und freien Glauben der einzelnen und Gemeinden behindern. Diese Kritik der machtvollen Institutionen ist aber kein Selbstzweck, wie etwa die permanente Kritik liberaler politischer Parteien am starken und als zu mächtig interpretierten Staat. Es gibt hingegen für liberale europäische Theologie auch kirchliche, amtliche Strukturen bzw. mindestens einzelne Gemeinde, die dem liberalen vernünftigen Grundimpuls entsprechen.

6.
Damit ist deutlich: Eine heutige liberale Theologie (in Deutschland) als europäische Form einer Befreiungstheologie hat gar nichts mit liberalen Parteien, gar nichts mit der FDP, zu tun. Eine heutige europäische liberale Theologie als Befreiungstheologie kann den Ideologien und Lobby-Bindungen der FDP nur Widerspruch leisten und … andere, linke und ökologische Parteien unterstützen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

E.T.A. Hoffmann vor 200 Jahren gestorben: Er zeigte das Unheimliche im Dasein.

Ein Hinweis von Christian Modehn zum 25. Juni 2022.

Ernst Theodor Amadeus Wilhelm Hoffmann ist  der “europäisch und weltweit einflussreichste deutschsprachige Romantiker”, so der Literaturwissenschaftler Prof. Rüdiger Görner in seiner Studie “Romantik. Ein europäisches Ereignis” (Fußnote 1). Den dritten Vornamen “Amadeus” nahm Hoffmann an, weil er Mozart so verehrte…

1.
Ernst Theodor Amadeus Wilhelm Hoffmann (geb. am 24.1. 1776 in Königsberg – gestorben am 25.6.1822 in Berlin):
Keine Etikette passt auf ihn, er lässt sich nicht einsortieren, nicht so leicht festlegen: Dazu war er vielfach zu sehr begabt, als Schriftsteller und Dichter, als Musikkritiker und Komponist, Jurist und bildender Künstler, Bühnenfachmann… und … überschwänglicher Weinliebhaber. Ein “Gesamtkünstler”, wie Rüdiger Görner betont (Fußnote 3). Heinrich Heine hat wohl recht, wenn er Hoffmann anderen Autoren der Romantik vorzieht, weil Hoffmann trotz seiner maßlosen Phantasie, die auch Fratzen und Gespenster wahrnahm, „sich immer an der irdischen Realität festklammerte“ und nicht „in der blauen Luft schwebte, wie Novalis“. Hoffmann gilt auch zurecht als einer der großen Berliner Autoren, seine literarisch besonders fruchtbaren Jahre lebte er in Berlin, von 1814 bis zu seinem Tod 1822. E.T.A. Hoffmann, eine herausragende Gestalt  der deutschen Dichtung.
2.
Anläßlich seines 200. Todestages am 25. Juni 2022 ist die beste Form der Erinnerung, wieder einmal aus seinem sehr umfangreichen literarischen Werk einige besonders inspirierende Texte zu lesen, viele Text sind berühmt und werden immer noch viel gelesen, wie „Die Elixiere des Teufels“ oder „Das Fräulein von Scuderi“. Wieder zu entdecken sind sicher auch einzelne irritierende Texte der „Nachtstücke“ (1817), wie „Das öde Haus“ oder „Der Sandmann“. Politisch – kritisch gegen den Polizeistaat Preußen schreibt Hoffmann in seiner Geschichte „Meister Floh“. Und von dem Buch „Serapionsbrüder“ ließ sich eine Gruppe von Autoren sogar kurz nach der Russischen Revolution inspirieren und nannte sich 1921 stolz „Serapionsbrüder“. Wo Phantasie und – wenigstens gedanklicher – Ausstieg aus den gegebenen Verhältnissen wichtig werden, können Ideen von E. T. A.Hofmann inspirieren.
3.
Hofmann nahm sich die Freiheit, oft durch Wein und Sekt unterstützt, seiner Phantasie großen Raum zu gewähren, in den irdischen Realitäten das Phantastische, Bedrohliche, Erstaunliche, Fremde wahrzunehmen. Er ließ sich gedanklich und vor allem im Traum forttragen und in andere Welten entführen. Und er nahm dabei seine Leser mit. Die starre Welt angestaubter Begriffe der rationalisierten Bürokratie mochte er gar nicht, einem Verstand, der nur kalt rechnet und die Welt entzaubert, schenkte er kein Vertrauen. Natürlich glaubt Hoffmann nicht an seine Gespenster, die Hexen oder Wiedergänger, sie sind Metaphern für den Streit und die Auseinandersetzung von universellen Kräften, die sich im Geist und den Geistern finden. Bei allem Interesse am „Ungewöhnlich-Schaurigen“ ist er ein Meister der genauen Beobachtung der Menschen in der Gesellschaft. Nichts ist ihm verhasster als die Langeweile, die in der Lebenswelt der braven Bürger, der so genanten Philister, sich immer mehr durchsetzt. Darum wurde zurecht vorgeschlagen, Hoffmann als einen „Romantiker des phantastischen Realismus“ zu würdigen. Sogar noch André Breton und Charles Baudelaire haben sich auf ihn bezogen.
4.
E.T.A. Hoffmann wird oft in die „Epoche der Romantik“ eingereiht. Aber Romantik ist kein eindeutiger Begriff, und manche populäre Kennzeichen „der“ Romantik treffen auf ihn nicht zu: Nur einige Beispiele: Sentimental ist seine Sprache nicht; er liebt die Satire; provokativ will er sein; vom Katholizismus hält er im Unterschied zu vielen Romantikern nicht viel, obwohl er sich in die Klosterwelt und Heiligenkulte gut eingearbeitet hatte. Man denke an seinen Roman „Die Elixiere des Treufels“, der 1812 in Bamberg entstand, nach einem Besuch im dortigen Kapuzinerkloster.
5.
Hoffmanns persönlicher, undogmatischer Glaube an ein „Leben nach dem Tod“ wird von ihm kurz vor dem Tod in dem Fragment „Die Genesung“ mit der Farbe grün beschworen. „Denn grün ist in diesem Monat Mai (der Niederschrift der „Genesung“) das Kleid der Erde, in der er bald ruhen wird. Hoffmann schreibt: O! Grün, Grün! Mein mütterliches Grün! – Nimm mich auf in deine Arme“ (zit. in E.T.A. Hoffmann, Rowohlt Monographien, 1966, S. 155). Die Autorin dieser Monographie, Gabrielle Wittkop-Ménardeau, sieht in diesen Worten „eine Sehnsucht nach der Verschmelzung mit der universalen Seele“ (ebd.) Werner Bergengruen weist auch darauf hin, dass Hoffmann von einem Glauben an die Vorsehung Gottes als einer ewigen Macht bestimmt sei. (Nachwort in der Ausgabe „Die Elixiere des Teufels“, Buchgemeinschaftsausgabe o.J., S. 349).
5.
An Hoffmanns Vorschläge, das „Wesen“ der Musik besser zu verstehen, sollte heute erinnert werden. Dabei spielt eine für die Musikphilosophie relevante Rezension eine große Rolle, die Hoffmann anläßlich der Aufführung von Beethovens 5. Sinfonie (1808) verfasst hatte. Die Instrumentalmusik wird von ihm besonders beachtet. Musik sei, „begriffs-, objekt- und zwecklos“, sie spreche „das Wesen der Kunst am besten und rein aus“. „Was sich in Worten nicht sagen lasse, das mache Musik zugänglich“…“Musik führt hinaus in das Reich des Unendlichen“ (zit.„Philosophie der Musik“, in: Enzyklopädie Philosophie Band II, Felix-Meiner-Verlag Hamburg, S. 1984). Oft wird dieses Wort Hoffmanns zitiert: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben“.

E.T.A. Hoffmann, der cor allem Komponist sein wollte, aber gerade als  Musiker nicht so hoch geschätzt wird wie als Schriftsteller.
6.
Es muss noch betont werden, dass E.T.A. Hoffmann anders als viele deutsche (katholische) Romantiker kein politischer Reaktionär war. Er war als Jurist, als Kammergerichtsrat in Berlin, unter den „liberal Gesinnten“ angesehen, er verteidigte die rechtsstattlichen Prinzipien gegenüber seinen Vorgesetzten, er litt unter den Disziplinarverfahren. Während der so genannten Demagogen-Verfolgungen nach 1817 gehörte er zu den Verteidigern der Reformen!
Wenn Hoffmann auch manchen seiner Zeitgenossen als skurril, zu phantastisch, zu sehr dem Wein ergeben erschien: Nicht nur als Dichter, nicht nur als Komponisten, auch politisch musste man ihn viel mehr lesen und ernst nehmen.
7.
Wer über die Grenzen des Verstandes nachdenkt, wenn er sich ins technische Handhaben einschließt, wer sich fragt, wohin das Transzendieren des Geistes führen kann, sollte E.T. A. Hoffmann lesen. Seine Phantasie ist überraschend und störend, sie zeigt unbekannte Seiten des geistigen Lebens, aber sie plädiert nicht für den Aberglauben. Seine literarischen Werke sind außergewöhnlich, manches ist Ausdruck einer seelischen „Übersensilibilität“ und Überspanntheit, sicher auch gefördert durch seinen sehr großzügigen Konsums von Wein etc. Er hat sich in seinem ganzen Werk “mit psychischen Phänomenen und psychopathologischen Problemen beschäftigt” (Fußnote 2). … “Sein Wissen über den Wahn präsentierte er  – darin folgte er einem Hauptgebot der Romantik – künsterlisch in Form von Erzählungen”. Mechanistische Erklärungen für wahnhafte Zustände lehnte er ab, zugunsten eines holistischen Zugangs zu den Problemen…

Der Dichter E.T.A. Hoffmann ist nicht ins Charismatische und Unverständliche einer unvernünftigen, „außer-logischen“ Sondersprache (Dada) „abgedriftet“, er hat vielmehr versucht, die unheimliche Tiefe des Daseins zu ergründen, als Widerstand gegen die Banalisierung der Wirklichkeit. Philosophen haben auch die Tiefe des Daseins zu ergründen gegen alle Normalisierung und Verflachung des Geistes. Aber ihre Rede bleibt eher nüchtern.

Fußnoten

(1) Rüdiger Görner, “Romantik. Ein europäisches Ereignis”, Reclam Verlag, 2021, 384 Seiten, dort S. 107).

(2) ders., S. 200 und 201.

(3) ders., S. 250.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Pfingsten – Fest der Philosophen? Ein Vorschlag von Hegel!

Ein Hinweis von Christian Modehn.
Dieser Beitrag wurde im Mai 2021 publiziert, aus aktuellem Anlass im Juni 2022 noch einmal.

1.
Der Beitrag versucht, Pfingsten, das Fest des Geistes, des heiligen, vernünftig zu erklären: Pfingsten ist nicht das Fest, das dem charismatischen Trallala von Charismatikern und Pfingstlern überlassen werden darf. Pfingsten ist ein Fest der absoluten Bedeutung und Würde eines jeden Menschen und deswegen auch ein Impuls, politisch Gerechtigkeit zu gestalten: Im Sinne der wesentlichen Gleichheit und Würde aller Menschen.

2.
Für den Philosophen Hegel (1770 – 1831) ist Pfingsten als Fest des Geistes von höchster Bedeutung. Pfingsten kann im philosophischen Sinn ein Tag des geistvollen Gesprächs sein, ein Tag der Debatte, der Feier (für Hegel niemals ohne Wein !) und der Reflexion darüber, wie eine geistvolle, also menschenwürdige Gesellschaft mit einem Rechtsstaat gestaltet werden kann. Pfingsten also: Ein Fest der Vernunft.

3.
Wer philosophisch nach der Bedeutung des Pfingst-Festes fragt, also jenes Feiertages der Erinnerung an die Gabe des „heiligen Geistes“ an die Gemeinde nach dem Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth gedenkt, der sollte sich auch an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnern.
Er ist der Philosoph des Geistes: Seine Philosophie hat den Geist als ihr Thema und sonst eigentlich nichts, könnte man sagen. Diese Erfahrung der alles gründenden Bedeutung des Geistes könnte man auch „Voraussetzung“ des Denkens Hegels nennen. Dabei ist es selbstverständlich: Eine reflektierte und kritisch betrachtete Voraussetzung als Philosoph zu haben ist an und für sich jeder Philosophie eigen, auch für die „Materialisten“. Vielen Menschen ist, wie schon einige Jahre nach Hegels Tod, der Geist, auch das Erleben des eigenen Geistes, so fern und fremd, dass es einer neuen Anstrengung bedarf, sich auf die Geist-Philosophie einzulassen und sie als Hilfe zu sehen, das eigene Leben transparenter werden zu lassen.

4.
Um gleich den Kern der Hegelschen Geist – Philosophie anzudeuten: Die Philosophie hat im Hegelschen Selbstverständnis „keinen anderen Inhalt als die christliche Religion. Aber die Philosophie (Hegels) gibt (d.h. gestaltet C.M.) den christlichen Inhalt in der FORM DES DENKENS. Die Philosophie stellt sich so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe“ (in: „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, II., Suhrkamp, S. 341).
Mit anderen Worten: In der Philosophie wird der christliche Glaube in die Klarheit und Systematik des Denkens und des Gedankens geführt, der Glaube wird in eine gedankliche, begriffliche Form verwandelt und so „aufgehoben“, also bewahrt und auf eine neue Ebene gehoben. Unter dieser Bedingung schaut Hegel die überlieferten Begriffe und Ereignisse der christlichen Religion an. Dabei wird der Begriff, das Denken, zum Kriterium in der „philosophischen Übersetzung“ christlicher Ereignisse: Hegel schreibt: „Das Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt (auch der Religionen) sich bewähren und beglaubigen soll“ (ebd., S. 341).

5.
In seiner „Philosophie der Religion“, in Berlin als Vorlesung mehrfach vorgetragen, spielt deswegen auch das philosophisch zu verstehende Pfingst–Ereignis eine zentrale Rolle. Hegel erörtert dieses Thema ausführlich im Kapitel „Die Idee im Element der Gemeinde: Das Reich des Geistes“, in dem es – theologisch formuliert – um die Wirklichkeit der Kirche, der Gemeinde, geht. Das heißt: Nach der unmittelbaren Erfahrung der historischen Gestalt Jesu ereignet sich also mit dem Pfingstfest der Übergang des Verstehens weg vom äußeren, historischen Ereignis hin zu einem „geistigen Element“, wie Hegel schreibt (ebd., S. 301). Indem das Neue Testament lehrt, der Geist sei „ausgegossen“ in die Gemeinde und letztlich über alle Menschen, übersetzt der Philosoph diese Erfahrung in die Worte: “Die Subjektivität erfasst nun ihren unendlichen Wert: Vor Gott sind alle Menschen gleich“: Damit werden auch politische Perspektiven der freien Gestaltung von Staat und Gesellschaft eröffnet, die Hegel ausführlich entwickelt. Die vernünftige Freiheit muss die Welt bestimmen, wahre Versöhnung, also „Erlösung“ im christlichen Sinne, „besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben“ (S. 332).
Aber entscheidend bleibt: Pfingsten ist das Symbol dafür, dass Gott und Mensch, Gott und die Menschheit, sich nicht mehr als Fremde und Ferne entfremdet und unversöhnt gegenüberstehen. Pfingsten ist das Symbol für die innerste Einheit von Göttlichem und Menschlichen, von Gott und Welt. Dies allein könnte man sagen ist der Focus, auf den sich Hegels Philosophie ALS Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie konzentriert.

6.
Uns interessiert hier im Zusammenhang des Pfingstfestes Hegels deutlicher Hinweis auf die in den Menschen „gegenwärtige Göttlichkeit“ (durch den Heiligen Geist) (S. 305). In der Gemeinde (Kirche) sammeln sich diese nun mit dem göttlichen Geist beschenkten Menschen.
Man muss als philosophischer Leser den anspruchsvollen philosophischen Aussagen tatsächlich standhalten, etwa wenn Hegel sagt: „Dies ist der Glaube der Gemeinde: Der einzelne Mensch wird gewusst als Gott und (d.h. präziser, CM) mit der Bestimmung, dass er der Sohn Gottes sei, mit all dem Endlichen befasst, das der Subjektivität als solcher in ihrer Entwicklung angehört“ (S. 312). Der Mensch ist als endlicher Mensch zugleich Sohn Gottes, ein gewaltiger Anspruch, der schon im Neuen Testament grundgelegt ist. Und den Hegel nur philosophisch reflektiert.

7.
Im Gedenken an Pfingsten wird der Mensch, jeder Mensch, zu einem mit Gott verbundenen Wesen erhoben. So ist, wie Hegel schreibt, „die Versöhnung an und für sich vollbracht“ (S. 318). Gott und Mensch sind nicht länger Fremdes. Sie sind – in gewisser Hinsicht – eins.

8.
Aber Versöhnung ist für Hegel stets praktisch-politisch, es geht entschieden um die Gestaltung der Freiheit in der Welt (Staat, Gesellschaft). Pfingsten ist insofern ein politisches Fest der Freiheit. Dabei traut Hegel diese Leistung, den Rechtsstaat mit zu gestalten, ausschließlich der protestantischen Religion zu. Der römische Katholizismus ist für ihn nach wie vor zu stark in der mittelalterlichen Welt befangen und in seinem Glauben zu veräußerlicht (Wunderglauben, Reliquien…) und als klerikale Organisation auch korrupt. Das heißt nicht, dass Hegel nicht auch die Engstirnigkeit des zeitgenössischen Protestantismus kritisiert hätte oder gar am Katholizismus wichtige erfreuliche Elemente gesehen hätte, wie etwa eine gewisse Vorliebe fürs philosophische Denken im Mittelalter. Zu Hegel und der Katholizismus: LINK .

9.
Trotz der Erkenntnis, dass „an sich“ die Versöhnung, also die innere Einheit von Gott und Mensch, geschehen ist, bleibt doch die Tatsache: Dass in der weltlichen, der politischen Wirklichkeit (auch zur Zeit der Vorlesungen Hegels in Berlin) noch Verwirrung, Zwiespalt und Entfremdung fortbestehen. „Diese Versöhnung ist selbst nur eine partielle, ohne äußere Allgemeinheit“ (S. 343, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II.). Dies muss Hegel am Ende seiner Vorlesungen mit Melancholie, wenn nicht Hilflosigkeit eingestehen. Mit anderen Worten: Der Geist von Pfingsten als Geist der Versöhnung und Freiheit muss sich noch umfassend durchsetzen und greifbare, soziale Gestalt werden!

10.
Uns interessiert noch ein Aspekt, der bisher in der Hegel-Forschung nicht so starke Berücksichtigung findet: Die eher versteckt, implizit anwesende mystische Dimension seines Denkens. 1830 sagte Hegel in einer Rede anlässlich der „Erinnerung an die Augsburgische Konfession von 1530“: „Gott wollte den Menschen zu seinem Ebenbild und seinen Geist, der ein Funke des ewiges Lichts ist, diesem (göttlichen) Licht zugänglich machen“. (S. 33, in den „Berliner Schriften“, Ausgabe Meiner, S 33).
Der menschliche Geist als „Funke des ewigen Lichtes“: Diese Formulierung erinnert an den mittelalterlichen Philosophen und „Mystiker“ Meister Eckhart, für den sich die geistige Verbindung des Menschen mit Gott in dem Begriff “göttlicher Funke“ ausdrückt. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ erwähnt Hegel Meister Eckart ausdrücklich als Vorbild im Verstehen der christlichen Religion als einer Lehre, die die Einheit von Göttlichem und Menschlichen entfaltet. Diese Einheit ist „das Innerste“ des Christentums. „Meister Eckart, ein Dominikanermönch, sagt unter anderem in einer seiner Predigten über dies Innerste: Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe…“ (S. 209). Und Hegel legt allen Wert darauf zu betonen, dass diese Einheit von Gott und Mensch alles andere als „Pantheismus“ sei.
 In seinen Vorlesungen zur „Geschichte der Philosophie“ bietet Hegel nach der Darstellung der in seiner Sicht oberflächlichen und verstandesmäßig abstrakt argumentierenden mittelalterlichen Scholastik auch ein knappes Kapitel zur „Mystik“ (in der Suhrkamp Werkausgabe II, S. 583 ff.) Dabei nennt er Meister Eckart nicht, hingegen z.B. ausführlicher Raimundus Lullus. Im Unterschied zur Scholastik sieht Hegel in den Mystikern „edle Männer, die der scholastischen Sucht nach Verendlichung aller Begriffe „gegenüberstanden“ (S. 583). Er nennt Mystiker „fromme, geistreiche Männer“, die „echtes Philosophieren betrieben haben”.
Dieser „göttliche Funke“ führt, so Hegel in seinem Vortrag im Jahr 1830, nicht nur in eine höhere Erkenntnis, sondern vor allem in die Liebe zu Gott.
Die mystische Erfahrung bleibt für Hegel immer bedenkenswert.

11.
Eine Zusammenfassung: Hegel hat also zu Pfingsten einen vernünftigen Vorschlag zu unterbreiten: „Pfingsten ist das Fest der Anwesenheit des Göttlichen, des Ewigen, modern formuliert: der tragenden Sinnerfahrung, in jedem Menschen“. Pfingsten ist das Fest des Ewigen, anwesend in einem jeden. Das Ewige als das Göttliche überdauert das Endliche, auch der Geist des endlichen Menschen hat dadurch „ewige Dauer“.
 Aber diese geisterfüllte Lebensform muss der Mensch sich „erarbeiten“: „Ich soll mich dem gemäß machen, dass der Geist in mir wohne, das ich geistig sei. Die ist meine, die menschliche Arbeit. Dieselbe ist Gottes von seiner Seite. Er bewegt sich zu dem Menschen und ist in ihm durch Aufhebung des Menschen. Was als mein Tun erscheint, ist alsdann Gottes Tun. Und ebenso auch umgekehrt“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, Suhrkamp Verlag, S. 219).

12.
Nebenbei: Es ist bemerkenswert, dass Voltaire, wahrlich alles andere als ein Verteidiger der alten kirchlichen Dogmatik, in seinem „Philosophisches Wörterbuch“ (1764) schreibt: „Möglicherweise gibt es in uns etwas UNZERSTÖRBARES, das empfindet und denkt, ohne dass wir die geringste Vorstellung davon haben, wie dieses Etwas beschaffen ist“ (Reclam, Leipzig, 1967, S. 82). Hegel hat diese Vorstellung erklärt und auf den begriff gebracht“.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin