Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

Der wahnsinnige Mönch als Künstler: Hugo van der Goes

Überlegungen zu dem Gemälde von Emile Wouters: „Hugo van der Goes“

Hugo van de Goes, Krank Wouters
Hugo van der Goes als kranker Mönch (im Vordergrund). Gemälde von Emile Wouters

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Zum Gemälde:
Ein Mönch, am Rande des Wahnsinns, verstört, in sich geschlossen, so sitzt er angstvoll da. Umgeben von anderen Mönchen und einem Knabenchor mit Musizierenden. Ein einsamer Mönch, in tiefer Depression. Ein Mönch, der Suizidgedanken geäußert hat. Nun soll er musikalisch geheilt werden.

2. Ein peinliches Thema
Der seelisch schwer kranke Mönch: Nicht gerade ein häufiges Thema in der Kunst, nicht in der Literatur oder der Theologie. Eher ein peinliches Thema für die Oberen der Klöster und Bistümer bis heute.

3. Bemerkenswertes
Vieles ist bemerkenswert an diesem Gemälde des belgischen Künstlers Emile Wouters (1846 [Brüssel] – 1933 [Paris])
Das Gemälde (1872) führt in die spätmittelalterliche Klosterwelt des 15. Jahrhunderts.
Die leidende Person ist ein sehr bedeutender Künstler der Niederlande: Hugo van der Goes (um 1440 [Gent] bis 1482[Oudergem bei Brüssel]. Und er ist als angesehener Künstler, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er im Jahr 1475 in das Kloster der „Augustiner-Chorherren“ , das so genannte „Roode Klooster“ bei Brüssel, eintritt. Es galt als eher strenges „Reform-Kloster“ der sogenannten „Windesheimer – Kongregation“. Diese Kongregation besteht heute wieder, sie verweist aber auf der eigenen website nicht auf ihren berühmten Mitbruder.

4. Im Kloster die Askese pflegen
Hugo van der Goes lebte vor dem Eintritt ins Kloster recht üppig, er war Mittelpunkt der Kunstszene, ständig beschäftigt, seine Kunst war begehrt in den höchsten Kreisen, am Hof, auch in Italien. Er war hoch angesehen als „Dekan der Malergilde“. Aber nach dem plötzlichen Tod seiner innig Geliebten, berichtet Adolphe Wouters, (S.12, Fußnote 1) war er so tief verwundet und erschüttert, dass er sich aus der Welt zurückziehen wollte.
Weil er nicht mit der Frau verheiratet war, nahm in das Kloster auf. Hugo wollte dort eigentlich bescheiden als Laien-Mönch leben, also nicht als angesehener Priester. Aber das Kloster war so stolz, einen der bedeutendsten Künstler als Mitglied zu haben und gewährte ihm, dem eher untergeordneten Laien-Bruder die Teilnahme am Leben der höher gestellten Priester. Er durfte etwa in deren separatem Speisesaal essen. Und vor allem: Hugo konnte im Kloster weiter als Künstler arbeiten, dort hat er viele seiner berühmten und hoch begehrten Werke geschaffen. „Die Anbetung der Hirten“ (in einer Ruine wird Jesus geboren !) ist dort entstanden oder der „Tod Mariens“ (jetzt im Groeningen Musselin Brügge). Diese Gemälde zeigen, wie viele Goes-Arbeiten, Menschen in starker und durchdringender seelischer Anspannung.

5. Klosterleben als Krise
Diese Frage wird wohl bei der geringen historischen Kenntnis von Hugo van der Goes Leben nie geklärt werden: Ob ihm, dem spirituell Erschütterten und Suchenden, diese Bevorzugung im Kloster auch entsprochen hat. Vor allem: Ob der Eintritt ins Kloster also dem Künstler tatsächlich seelisch gut getan hat oder ob die schmerzlichen Erfahrungen des Verlustes seiner Geliebten „unbearbeitet“ blieben.

6. Suizid-Gedanken
Der Künstler – Mönch Hugo hatte sich 1481 in Köln aufgehalten und war dort und während der Rückreise ins Kloster seelisch zusammengebrochen. Er versuchte unterwegs, seinem Leben ein Ende zu setzen, berichten seine Begleiter. Im Kloster angekommen, wird der erkrankte Mönch von der Leitung seines Klosters betreut. Es gibt den Versuch, damals schon, die Idee, Musik als Therapie einzusetzen. Wie einst König Saul nach den Berichten des Alten Testaments vom Zitherspiel Davids (1 Sam 16,14-23) seelisch geheilt wurde, so erhoffte man sich auch Heilung von der Musik, im Gemälde Wouters ist auch der fürsorgliche Prior des Klosters Pater Thomas van Vossem zu sehen.

7. Musiktherapie
Hugo van der Goes wurde durch die Musik-Therapie und die Fürsorge im Kloster wohl ein wenig beruhigt, aber der Wunsch nach einem asketischen Leben war stärker. Er lehnte nun die übliche Bevorzugung im Kloster ab: Er nahm seine Mahlzeiten nun im Kreise der einfachen Laien-Brüder ein, die als schlichte Arbeiter für das Leben des Klosters und der entscheidenden betenden, studierenden Priester-Mönche sorgten.

8. Historisches
Ein Verwandter des Malers Emile Wouters, Alphonse Wouters, hatte 1872 die Schrift „Hugues Van der Goes, sa vie et ses œuvres“ veröffentlicht. Darauf bezog sich Emile Wouters. LINK 

Ab Seite 12 werden die Erinnerungen eines anderen Mönches, Gaspar Ofhuys aus Tournai (gestorben 1523), an Hugo van der Goes publiziert, es sind Überlegungen eines Mitbruders im Kloster, kurz nach dem Tod von Hugosgeschrieben, aber bis 1872 nicht veröffentlicht. Sie bieten wohl authentische Hinweise.

9. Ein Genie, dem Wahn verfallen?
Wurde Hugo van der Goes wahnsinnig oder depressiv, weil er ein Genie war, wie manche behaupten? Ich vermute aufgrund der Erlebnisse im Kloster wurde Hugo eher seelisch überfordert und zerrissen. Das gesuchte einfache Leben der Askese fand Hugo im Kloster jedenfalls nicht.

10. Ausstellung in Berlin
Die Ausstellung fast aller der wenigen erhaltenen Werke des Maler Hugo van der Goes werden in der Berliner Gemälde-Galerie (bis 16. Juli 2023) ausgestellt.

11. Religiöse Krise bei katholischen Künstlern
Im Mittelalter (und in der Barock-Zeit) widmeten sich die meisten Künstler äußerst häufig den klassischen christlichen Themen vor allem des Neuen Testaments, der Geburt Jesu, der Kreuzigung, der Auferstehung, der Himmelfahrt, dem Tod Marias, der Trinität mit der Taube als dem Symbol des nicht darstellbaren Heiligen Geistes.
Wer als Künstler immer auf diese Themen fixiert blieb, dazu gedrängt von den Aufträgen frommer, aber finanzkräftiger HerrschaftenDie „älteste Tochter der Kirche“ (etwa Kaiser Maximilian), musste der nicht bei dieser Monotonie der Themen irgendwie leiden, sich eingeschränkt fühlen: Immer dasselbe Thema malen in immer neuen Variationen. Es wurde in der Kunstgeschichte meines Wissens nicht untersucht, welche Belastungen Künstler in sich verspürten bei dieser gewissen Monotonie. Sie durften natürlich keine Kritik äußern, sonst wären sie – im Mittelalter – auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Mit anderen Worten: Wenn sich Künstler, aber auch Literaten und Schriftsteller allzu deutlich verpflichten, immer wieder dieselben Themen der offiziellen Kirchenlehre darzustellen, können sie sich aufgrund der Monotonie des Themas, also der Übermacht des Heiligen und ineins des Leidens (Jesu am Kreuz) aus den Bahnen des gesunden Verstandes geworfen werden. Mystik und Wahn sind bereits ein Thema der Forschung, etwa am Beispiel der „Konvulsionäre“, der Frommen auf dem Friedhof von St. Médard in Paris im 18. Jahrhundert, die in der göttlichen Ekstase unter heftigen Zuckungen litten… Aber das Thema „thematische Monotonie“ (oder schädliche Routine) als krankmachendes Erleben wird bisher nicht auf Künstler, auf Maler, bezogen…
Welche große Befreiung geschah in der Renaissance, welch große Befreiung dann in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, als endlich das alltägliche Leben dargestellt wurde, freilich immer mit moralischem Fingerzeig!

Fußnote: (1)
Adolphe Wouters, „Hugo van der Goes. Sa vie et ses oeuvres“, Bruxelles 1872.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

“Vorbildlicher Klerus” – Frankreichs Kirche schmückt sich mit seligen Priestern

Die „Märtyrer-Priester“ der Pariser Commune
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das Ansehen des französischen Klerus könnte in diesen Zeiten (2022) schlimmer nicht sein: Tausendfach wurde von staatlicher Seite sexueller Missbrauch von Kindern durch Priester dokumentiert. Sexuelle Übergriffe von hoch angesehenen Gründern „neuer geistlicher Gemeinschaften“ (etwa die Brüder Philippe, Dominikaner, oder P. Delfieux, St. Gervais) empfinden gläubige Laien als spirituelle Katastrophe. Genauso die jetzt bekannte sexuelle Belästigung von Frauen durch prominenten Theologen (Jean-Fr. Six). Oder die Absetzung von Erz-Bischöfen wegen „erotischer Beziehungen mit einer Frau“ (Aupetit, Paris) oder wegen allzu offensichtlicher reaktionärer pastoraler Praxis (Ravel, Strasbourg). Erfreulich für viele die vom Vatikan verordnete Überprüfung des reaktionären Bischofs von Toulon (Rey) … und so weiter und so weiter.

2.
Das Ansehen des Klerus sollte nun wohl etwas aufpoliert werden, als am 22. April 2023 in Paris offiziell fünf französische Priester feierlich selig gesprochen wurden, mit Zustimmung des Papstes, natürlich. Diese Priester sind offiziell als Märtyrer anerkannt, sie können also, katholischer Lehre entsprechend, als Fürsprecher an Gottes Thron um Hilfe angefleht werden. Diese Priester wurden, so heißt es, wegen ihres Glaubens erschossen, und zwar in der „Blutwoche“ der Pariser Commune im Mai 1871. Und wer waren die Täter? Es waren Laien, katholisch getaufte Laien aus Paris. Sie haben die Priester erschossen. Eine Untat, gewiss. Aber, das muss man wissen: Sie wurde begangen in einer Art Bürgerkrieg: In Zeiten der Commune wollten sehr viele Pariser Bürger ihre Stadt selbst verwalten und regieren. Aber der Klerus war außerstande, diese demokratischen Forderungen der Pariser, vor allem der Arbeiter, zu verstehen oder gar zu unterstützen. Der Klerus stand aufseiten der Herrscher, die sich nach Versailles zurückgezogen hatten, sie warteten förmlich nur auf eine Zuspitzung der verzweifelt kämpfenden Communarden. Die haben die Nerven verloren und ihre gefangenen Geiseln, die Priester, erschossen. Jetzt konnten die Herrscher (der Katholik Adolphe Thiers) so brutal wie möglich zuschlagen … in der Blutwoche, in der ca. 20.000 Communarden ermordet wurden, katholische Laien. Sie wurden von den ebenfalls sich katholisch nennenden Truppen der Herrscher hingemetzelt.
Diese Zusammenhänge muss man kennen, um die Seligsprechung der fünf erschossenen Priester angemessen zu verstehen: Unter den 20.000 erschossenen Communarden, alle katholisch getaufte Laien, waren sicher auch Menschen, die am Wohl der Armen interessiert waren, wie etwa der erschossene Priester Père Henri Planchat.

3.
Aber wie schon bei den Seligsprechungen der Priester, die im Spanischen Bürgerkrieg umgekommen waren, galt die kirchenamtliche Zuweisung von Seligkeit bzw. Heiligkeit den Anhängern der alten, der nicht-demokratischen Ordnung. Die Kirche liebt eben selige und heilige Vorbilder, die von aufständischen Republikanern und Demokraten erschossen werden. Da lässt es sich dann leichter die Mordtaten und die Gewalt der anderen, der herrschenden katholischen reaktionären Seite übersehen… In rebellischen und demokratischen Kreisen nach Seligen oder Heiligen zu suchen, lohnt sich für den Seligen-und Heiligenkult der Kirche offenbar nicht. Die rechte und rechtsextreme Presse in Frankreich hat jedenfalls über diese Seligsprechung jubiliert. Vielleicht auch mit dem Hintergedanken, dass das Volk sich gegen den Herrscher (Macron) erheben kann. Nur waren es eben 1870/71 linke Bürger, die den autoritären Staat überwinden wollten.

Gewalt gegen den Klerus wird heute von fundamentalistischen Muslimen ausgeübt oder von fanatischen Kirchenfeinden, die so oft schöne Kirchengebäude verwüsten…Eine Schande!

4.
Zur Vertiefung zwei Beiträge vom März 2021:

– Zur Pariser Commune im allgemeinen: LINK
– Zur Erschießung der Priester durch Communarden: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jacques Gaillot gestorben – Hinweise zu einem außergewöhnlichen Bischof!

Bischof Jacques Gaillot ist am 12. April 2023 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Hinweise von Christian Modehn am 13.4.2023.

Es ist keine Übertreibung: Jacques Gaillot war ein ganz außergewöhnlicher Bischof, ein Mensch, der frei und mutig als Bischof lebte und als Bischof lehrte, was er selbst vor seinem Gewissen im Angesicht der Moderne und der Bibel leben und lehren konnte. Er war alles andere als ein Kirchen-Funktionär, er fühlte sich frei …und nicht unbedingt verpflichtet, die offizielle Lehre der katholischen Kirche zu vertreten. Denn er wusste: Diese ganze alte Kirchenlehre und ihre alte Moral sind oft Ausdruck einer vergangenen Ideologie. Und er wusste: Christlicher Glaube ist zuerst Solidarität mit den Armen und mit den vom Kapitalismus arm Gemachten weltweit, mit den Obdachlosen, den Flüchtlingen, den Ausländern, den sexuellen Minderheiten, den Wohnungslosen. Darum fühlte sich Bischof Gaillot in diesen Kreisen am wohlsten.

Ich habe seit 1982 Jacques Gaillot mehrfach getroffen und über ihn zahlreiche Ra­dio­sen­dungen, Zeitschriftenbeiträge und Filme fürs ERSTE (ARD) realisiert.

Aus meinen zahlreichen Veröffentlichungen nur diese Hinweise:

Abschied und Trauer: Gedenken an Jacques Gaillot LINK

Grundlegend, ein Buch-Beitrag von 2010: “Aus Gewissensgründen NEIN sagen”:  LINK

Ebenso: “Menschlichkeit zuerst”: LINK 

Ökumene mit Protestanten auch im gemeinsamen Abendmal praktizieren: LINK

Für die “Homo-Ehe” (2013): LINK

Für eine humane Form der aktiven Sterbehilfe:  LINK

Wird Bischof Gaillot vom Papst rehabilitiert? LINK

Zwei Halbstunden-Dokumentationen fürs ERSTE (ARD) über JACQUES GAILLOT: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Rabvier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Sexueller Missbrauch durch einen hochrangigen Priester im Spanien des 17. Jahrhunderts: „Der Prozess versandete“…

Eine historische Studie zum sexuellen Missbrauch.

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht 2021, aktualisiert am 23.7.2023

1. Zur Einführung:

Die Geschichte der Homosexuellen war und ist eine von der heterosexuellen Mehrheit ignorierte Leidensgeschichte. In 69 Staaten wird auch heute noch, 2023, Homosexualität strafrechtlich verfolgt, in 11 Staaten droht Homosexuellen die Todesstrafe. Quelle: LINK   
Ohne körperliches Leiden, ohne Verfolgung, ohne Scheiterhaufen konnten nur einige wenige prominente Homosexuelle, modern gesprochen ohne „Outing“, überleben, es waren Fürsten und Päpste, Bischöfe und Pfarrer und Ordensobere und „einfache Mitglieder“ von Ordensgemeinschaften.
Und wie bei der jeder Geschichte von unterdrückten Minderheiten gibt es, abgesehen vom Judentum, auch keine ausgebreitete, gründliche Forschung zur Geschichte der Verfolgung der Homosexuellen, obwohl etwa in Spanien und Italien viele Dokumente zur Verfolgung und Ausrottung der Homosexuellen durch die katholische Inquisition in den Archiven vorliegen.

2.

Es ist förmlich ein Glückstreffer, wenn man in Deutschland Beiträge kirchenunabhängiger Historiker findet zu dem Thema. Ich empfehle die Lektüre des Aufsatzes von Prof. Raphael Carrasco „Sodomiten und Inquisitoren im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts“. Die Studie ist erschienen in dem Sammelband „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“, hg. von dem Historiker Alain Corbin, Wagenbach Verlag, 1992, dort S. 45-58. Die französische Ausgabe erschien 1989. Das Buch ist auf Deutsch nur noch antiquarisch verfügbar…

3. Über den sexuellen Missbrauchs eines spanischen Priesters aus dem Merzedarier-Orden im 17. Jahrhundert , dargestellt von Raphael Carrasco, siehe die ausführliche Darstellung:  LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

„Verräterkind“: Ein Roman von Sorj Chalandon. Widerstand in Frankreich gegen ein autoritäres Regime.

Der Roman hat zwei „Protagonisten“: Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“ und einen Kollaborateur, den Vater des Autors.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein neuer Roman des französischen Autors und Journalisten Sorj Chalandon (geb.1952) mit dem Titel „Verräterkind“ (DTV, 2022, übersetzt von Brigitte Große): Über die Literaturkritik hinaus ist der Roman ein Anlass, weiter zu fragen. Was bedeutet die Kollaboration vieler Franzosen mit den Nazis? Warum sollte die Résistance in Deutschland (wieder) entdeckt werden? Wer unterstützte den „Schlächter von Lyon“, den SS-Mann und Gestapo-Chef Klaus Barbie, nach 1945? Und wie ist die Beziehung der Katholiken zu Pétain und der Résistance?

Teil 1: Hinweise zum Roman „Verräterkind“

1.
Der Roman spricht von Verbrechen der SS in Frankreich, besonders von den Untaten des Gestapo-Chefs Klaus Barbie in Lyon von Februar 1943 bis September 1944.
Im Mittelpunkt: Der Prozess gegen Barbie in Lyon im Jahr 1987.
Parallel dazu erzählt Sorj Chalandon von der Geschichte seines Vaters in der Zeit des Pétain – Regimes. Er war damals ein „salaud“, ein Dreckskerl, sagte der Großvater dem Enkel. Und dieser Typ, so will es der Autor, tritt dann im Roman als Beobachter des Barbie-Prozesses auf, während sein Sohn Sorj zugleich im Gerichts-Saal anwesend ist. Er berichtet als Journalist für die Pariser Tageszeitung „Libération“.
Sorj Chalandon muss gleichzeitig zwei unterschiedliche Prozesse verarbeiten: Den gegen Barbie und seinen privaten Prozess, den er nun gegen seinen Vater, den „Dreckskerl“, führen will. Er will ihm zeigen, dass er die Wahrheit über den „Verräter-Vater“ kennt.

2.
Der Roman ist unter dem Titel „Enfant de salaud“, also: „Kind eines gemeinen Kerls“, eines „Dreckskerls“, erschienen. Der französische Titel ist umfassender und deutlicher als „Verräterkind“. Der Vater des Autors hat sein Kind und die Mutter Jahre lang belogen, seine wahre Identität verschwiegen und riesige Lügenwelten, angeblich heldenhafter Taten, von sich selbst verbreitet. Die Realität ist: Er hat sich als Kollaborateur durchgeschlagen. Nach dem Ende des Pétain-Regimes wurde er angeklagt, verurteilt und zwei Jahre, von 1944 bis 1946, inhaftiert.
Erst im Jahr 2020 konnte Sorj Chalandon in die Strafakten seines Vater (Anklage: als Kollaborateur) einsehen, zwei Jahre später veröffentlichte er den Roman. Er lässt also seinen Vater mit diesem Wissen im Roman an dem Barbie-Prozess von 1987 teilnehmen.

3.
Diese kunstvolle Verbindung zweier unterschiedlicher Prozesse offenbart eine Gemeinsamkeit beider Täter: Weder Barbie noch sein Vater sind zum Bekenntnis der eigenen Schuld bereit und in der Lage. Beide sind seelisch erkaltete, moralisch „erstorbene“ Gestalten, selbst wenn die Bedeutung der Verbrechen Barbies sehr viel grausamer sind als die Lügen des Vaters.
Barbie ließ 44 jüdische Waisenkinder in Izieu deportieren, er gab sie dem sicheren Tod im KZ preis. Barbie war auch für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance, auch für den Tod des vorbildlichen Jean Moulin verantwortlich. „Barbie folterte mit Schneidbrennern, glühenden Schürhaken, Elektroschocks, kochendem Wasser und einer ganzen Sammlung an Peitschen, Werkzeugen und Knüppeln, die bei Verhören vor ihm auf dem Schreibtisch lagen“, berichtet wikipedia im Beitrag „Klaus Barbie“.

4.
„Dass der Barbie-Prozess überhaupt stattfand, ist in Frankreich schon als Erfolg und als Sieg über die Partei des Vergessens gewertet worden; nicht ganz ohne Grund, denn in den vier Jahren vor dem Prozess war vor einer öffentlichen Abrechnung mit der Vergangenheit gewarnt worden, die alte Wunden aufreißen und die Einheit der Nation gefährden könne“, schreibt der Journalist Lothar Baier, ein Spezialist für französische Politik, in seinem Buch „Firma Frankreich. Eine „Betriebs-Besichtigung“ (Berlin,1988, Seite 98 f.). Barbie wurde 1987 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, er starb 1991 im Alter von 77 Jahren im Lyoner Gefängnis an Krebs. Er war wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Zweiter Teil: Weiterführende Hinweise zur Politik und zu den Kirchen

5.
Barbie, 1913 in Bad Godesberg geboren, konnte sich gleich nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands niederlassen. Er wurde von den amerikanischen Behörden als Agent beschäftigt, als Mitarbeiter des CIC (Counter Intelligence Corps), gegen ein gutes Honorar suchte er angeblich untergetauchte Nazis.

6. Der Klerus hilft Klaus Barbie bei der Flucht
Im Jahr 1951 gelang Barbie die Flucht nach Bolivien, vor allem durch die großzügige Hilfe des katholischen Klerus. Bekannt ist diese Hilfsbereitschaft der Kirche für Nazi-„Größen“ als so genannte „Rattenlinie“, treffender wurde sie auch als „Klosterlinie“ bezeichnet, wegen der großzügigen Verstecks der flüchtenden Nazis in Klöstern, etwa in Südtirol: Führende Mitarbeiter der Kirche (allen voran der Österreicher Bischof Hudal, 1885-1963), halfen vom Vatikan aus Hunderten Tätern des Nazi-Regimes, etwa Adolf Eichmann oder Josef Mengele und eben auch Klaus Barbie.
Der Historiker Prof. Peter Hammerschmidt hat sich in seiner Dissertation (von 2013) auch ausführlich mit der Barbie-Flucht mit Hilfe des Klerus befasst. Hammerschmidt erwähnt die geradezu „vorzügliche“ Hilfsbereitschaft des aus Bosnien-Herzegowina stammenden Franziskaner-Paters Krunoslav Draganovovic (1903-1983) für Barbie und seine Familie in Genua: „Verunsichert, aber dennoch optimistisch betrat die Familie Barbie am 12. März 1951 italienischen Boden und wurde in Genua von Pater Krunoslav Draganovic empfangen: In seinen Memoiren schreibt Barbie: Ich schaute mich nach einem Geistlichen um und sah ihn nicht weit von uns entfernt stehen. Er kam auf uns zu, nannte mich beim Namen und zeigte mir ein Passfoto von mir, das er in der Hand versteckt hielt.“
Draganovic organisierte für die Familie „Altmann“ (dies war der neue Name Barbies) zwei entscheidende Dokumente: Ein bolivianisches Einreisevisum und eine Reiseerlaubnis des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Am 16. März begleitete der Priester die Neuankömmlinge zum bolivianischen Konsulat in Genua, wo Klaus Barbie die Anträge mit seinen neuen biographischen Daten ausfüllte…Barbie zeigte sich noch in seinen Memoiren tief beeindruckt von Draganovics Organisationstalent und seiner Hilfe bei der Beschaffung der begehrten Dokumente…„Draganovic bewerkstelligte diese Angelegenheit mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die ich bis heute noch bewundere. Alle Türen zu den Behörden standen ihm offen“, so Barbie in seinen Memoiren (S. 245 in Hammerschmidts genannten Buch). (Quelle:  LINK )

7. Barbie – der BND Mitarbeiter
In Bolivien war Barbie enger Mitarbeiter des Diktators Banzer, er war viele Jahren dort zuständig für Techniken der Unterdrückung und Folter, aber auch für Waffenhandel und Drogenschmuggel.1966 arbeitete er von dort aus sogar einige Monate für den Bundesnachrichtendienst BND, unter seinem Namen „Klaus Altmann“… “Dass Barbie überdies gute persönliche Kontakte in Westdeutschland hatte, ist erst 2011 bekannt geworden“, so Peter Hammerschmidt. „Dieses Aktenmaterial legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen, die nachweislich bis 1980 in die Bundesrepublik durchgeführt wurden, eben auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz protegiert wurde, zu einem Zeitpunkt, als Barbie identifiziert war, und – so zeigt das Aktenmaterial – offenbar hat Barbie in Deutschland auch neofaschistische Organisationen aufgebaut und hat eben dort auch Waffendeals abgewickelt.“ (Quelle: LINK )

Barbie wurde in Bolivien, auch aufgrund der Recherchen des Ehepaars Klarsfeld, entdeckt und, nun unter demokratischen Verhältnissen in Bolivien, 1983 nach Lyon ausgeliefert…

8. Die Organisation „Die stille Hilfe“ (der Nazis) in der BRD

Nach 1945 sammelten sich in der BRD Nazi-Freunde in einem Verein, um ihre geliebten Nazi-Verbrecher zu schützen und zu stützen. Sie nannten ihren Verein „Stille Hilfe“. Zu den „Betreuten“ der „Hilfe“ gehörte auch Klaus Barbie. In ihrem zweiten Rundbrief aus dem Jahr 1991 meinten die „Stillen Helfer“ , Barbie habe „im Kriege seinen Dienst für die deutschen Besatzungsaufgaben getan“.(Quelle: DER RECHTE RAND, Nr. 15 vom  Januar / Februar 1992, S. 3 ff.).
Die Gründung der „Stillen Hilfe“ fand 1949 in München statt, im Haus der Erzbischöflichen Ordinariates München mit Weihbischof Neuhäusler unter dem Titel »Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe«, aus dem dann 1951 die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V“ hervorging, gegründet von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg. Neuhäuslers Rechtsberater und Geschäftsführer des Komitees, Rudolf Aschenauer, vertrat vor Gericht Kriegsverbrecher und war im rechtsextremen Milieu aktiv..
Präsidentin des Nazi-Vereins „Stille Hilfe“ war Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg (* 6. April 1900 in Darmstadt als Gräfin von Korff genannt Schmising-Kerssenbrock; † 24. Januar 1974 in Heiligenhaus)
Sie hatte am 30. April 1930 Wilhelm Prinz von Isenburg und Büdingen (1903–1956) geheiratet, der 1937 Professor für Sippen- und Familienforschung in München wurde und die Rassenideologien des NS Regimes vertrat. Sie selbst wurde von der Hitler Partei als „politisch zuverlässig“ eingestuft.
Auch hohe protestantische Geistliche (wie Bischof Theophil Wurm, 1888-1953) gehörten zur „Stillen Hilfe“, aber der hohe katholische Klerus ließ sich seine Hilfsbereitschaft für Nazis nicht nehmen: Im Jahr 1955 wurde der Kölner Weihbischof Wilhelm Cleven (1893-1983) ins Präsidium der „Stillen Hilfe“ berufen.
Der Nazis fördernde Verein wurde als „gemeinnützig“ anerkannt: „Bis 1993 war der Verein, der in dieser Zeit 27 Mitglieder und ein paar Hundert Spender zählte, als gemeinnützig anerkannt. Der Verfassungsschutz stufte ihn als “harmlos” ein. Nach außen sprach Gudrun Burwitz (die Tochter Heinrich Himmlers) nicht darüber: Sie helfe, wo sie könne, sagte sie 1998 der “Times”. Mehr gab sie nie preis, SPIEGEL am 29.6.2018 (Quelle: LINK

9. Die Résistance:
Unter den vielen Aspekten der Résistance wird hier an das in Deutschland weithin unbekannte, vorbildliche Engagement der Bewohner der kleinen Stadt Cambon-sur-Lignon (Département Haute Loire, Auvergne) erinnert.

In Chambon-sur-Lignon (2.400 Einwohner heute) leben vor allem Protestanten, die sich in der entlegenen Gegend vor der Verfolgung durch das katholische Königreich zeitweise schützen konnten. Die Bewohner dieser „protestantischen Insel“ in Frankreich haben den Geist des Widerstandes bewahrt … und während des Pétain-Regimes Juden geholfen, die der Willkür der deutschen Besatzer und der Kollaboration der Franzosen hilflos ausgesetzt waren. Die Protestanten dort haben in ihren Häusern und Wohnungen ingesamt 5.000 Juden versteckt, eine unglaubliche Leistung in dieser Zeit. Es waren vor allem die protestantischen Pastoren André Tocmé und Edouard Theis, die zu dieser Hilfsbereitschaft aufriefen. Sie erinnerten an die Verfolgungen, die die Vorfahren im 18. Jahrhundert unter den katholischen Herrschern erlebt hatten: Und diese Erinnerung war mehr als eine rein geistige, spirituelle Idylle. Die Bürger von Chambon-sur-Lignon begleiteten unter großen Gefahren Juden bis zur Schweizer Grenze, auf Wegen, die ihre Vorfahren im 18.Jahrhundert schon gehen mussten.
1990 hat der Staat Israel die damaligen Bewohner des Stadt Chambon-sur-Lignon und die benachbarten Dörfer als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Diese „kollektive Ehrung“mit dem herausragenden Titel „Gerechte unter den Völkern“ ist einmalig… 2007 wurden diese ungewöhnlichen Menschen auch vom französischen Staat durch eine Zeremonie im Pariser Pantheon geehrt. Einer der Juden, der dort im Versteck überleben konnte, Erich Schwam hat dem Dorf eine Erbschaft von 3 Millionen Euro hinterlassen. Damit will er helfen, dass die Kinder des Städtchens eine gute Zukunft haben…. Jerome Lévy hat über Erich Schwam einen Dokumentarfilm realisiert. LINK

Nebenbei: Auch Albert Camus hatte enge Verbindungen zu dieser kleinen Stadt: Er lebte seit 1942 öfter dort, um zu schreiben und der guten Luft wegen, um seine Tuberkulose zu heilen. Und er erfuhr wohl von der Hilfsbereitschaft der Menschen dort. Die Geschichte seines Romans „Die Pest“ verdankt sich vielen Eindrücken dort, dem Ort des Widerstandes.. (Siehe das Stichwort Chambon-sur-Lignon in: „Dictionnaire Albert Camus“, ed. Laffont, Paris 2009, S. 127f.)
Informationen zu Chambon-sur-Lignon:LINK  

10. Die katholische Kirche im Pétain-Regime und die katholische Résistance.

Die Verehrung der Katholiken für Pétain, besonders in den ersten Jahren des Regimes, war sehr umfassend. Die meisten Bischöfe waren froh, dass Pétain eine „révolution nationale“ repräsentierte, in einem autoritären Staat, das den Namen Republik oder Demokratie nicht mehr beanspruchte. Die von Katholiken so sehr gefürchtete Dominanz der Freimauer, Sozialisten und „Laizisten“ war mit Pétain überwunden. Dass er und seine Minister mit Hitler sehr eng verbunden waren, wurde in Kauf genommen. Pétain gewährte den katholischen Schulen endlich wieder alle finanziellen Vorteile; Kreuze schmückte die öffentlichen Räume, das autoritäre Motto „Arbeit, Familie, Vaterland“wurde als Inbegriff des Christlichen interpretiert. Die meisten Bischöfe schwiegen, als Juden deportiert wurden. „Wegen eines unmittelbaren und letztlich nebensächlichen Vorteils für die Kirche opferten die Bischöfe die Proklamation der wichtigsten Prinzipen des Christentums, der menschlichen nämlich“, so die Historiker Francois und Renée Bédarida, zit. in Christian Modehn,“ Religion in Frankreich“, Gütersloh 1993, s. 83). Einige katholische Priester und Laien waren auch in der Résistance aktiv, aber vergleichen mit der kommunistischen Résistance waren es doch kleine Gruppen. Es ist bezeichnend, dass General de Gaulle die Befreiung Frankreichs in der Pariser Kathedrale Notre Dame ohne die Anwesenheit des politisch belasteten Kardinals Suchard feiern wollte. Neun Bischöfe wurden im Rahmen der „Reinigung“ aus ihren Ämtern entfernt, de Gaulle hatte eine viel umfassendere Befreiung von bischöflichen Pétain- Sympathisanten verlangt. Aber, vom Vatikan unterstützt, setzte sich in der Kirchenführung der Wille durch, das Schweigen der Bischöfe und die hohe Anzahl der Priester als Kollaborateure für die Zukunft zu ignorieren. „Die Kirche versuchte nicht, ihre eigene Vergangenheit anzunehmen und mit Mut ihre Verfehlungen anzuerkennen. Staat dessen hat sie es vorgezogen, Winkelzüge zu machen und zu spintisieren und tausend Rechtfertigungen zu finden“ (F. Und R. Bedarda, a.a.O, s 84).

11. Der Chef der Milice in Lyon, Paul Touvier, findet Zuflucht in Klöstern, bloß weil er „so katholisch erschien“…

Paul Touvier war 1943-1944 Chef der (mit dem Vichy-Regime Pétains kollaborierenden) Milice in Lyon. Er hat dort systematisch Juden verfolgt und Mitglieder der Résistance. „Der Judenmord war ihm ein persönliches Anliegen“, betonen Historiker übereinstimmend. Schon am 10.9. 1946 wurde er in Lyon – in Abwesenheit – zum Tode verurteilt.
Der Fall Touvier ist etwas Besonderes: Der katholische Miliz-Chef konnte sich viele Jahre, bis zum 24.Mai 1989, den Gerichten entziehen, weil er auf die Hilfe von Klerikern zählen konnte und in verschiedenen französischen Klöstern der offiziellen katholischen Kirche Zuflucht und Unterkunft fand. Von der Polizei entdeckt wurde er in Nizza, im dortigen Priorat der traditionalistischen Pius-Bruderschaft, der Gemeinschaft des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre.
Paul Touvier wurde 1915 geboren, er wuchs in einer streng-katholischen Familie auf. Wie sehr viele französische Katholiken zu der Zeit lehnte er die republikanischen, „laizistisch“ genannten Werte Frankreichs ab zugunsten des autoritären, nazifreundlichen Pétain-Regimes.
Als 1966 das Todesurteil verjährte (nach 20 Jahren, so war das damals in Frankreich üblich), setzte sich Erzbischof Villot von Lyon für Touvuier ein, 1971 wurde Touvier sogar von Staatspräsident Pompidou begnadigt. Dies löste weite Empörung aus, zumal bekannt war, dass Touvier „das meiste des von ihm beanspruchten Vermögens tatsächlich von deportierten Juden geraubt hatte.“ (Quelle: wikipedia, Paul Touvier).
Ein weites Netzwerk aus Klerus und Klöstern unterstützte Touvier auf seiner Flucht vor der Justiz weiterhin. Vor allem das Hauptkloster der Kartäuser „La Grande Chartreuse“ muss erwähnt werden, das mit dem flüchtenden Touvier „enge und ausdauernde Verbindungen“ unterhielt (zit. in „Paul Touvier et l église“, Ed. Fayard, 1992, S. 136): Ähnliche enge Verbindungen gab es mit dem Benediktinerkloster Hautecombe und dem Trappistenkloster Tamié. Touvier verbreitete bei seinen, manchmal sogar ahnungslosen Gastgebern diese Lüge, unschuldig zu sein, er habe nur der legitimen Macht gedient und dabei versucht, das Schlimmste von einen Mitbürgern abzuwehren.
Um 1957 fand Touvier entschieden Hilfe von Monsignore Charles Duquaire, dem Sekretär des Lyoner Kardinals Gerlier. „Monsignore Duquaire hat im wahrsten Sinne Paul Touvier und seine Familie adoptiert. Er hat sich in dessen Dienst gestellt, er wurde sein Beschützer, sein Stratege. Die vielen Unternehmungen Duquaires zwischen 1959 und 1973 waren nicht nur seine Hauptsorge, sondern seine wichtigste Aktivität. Duquaire, 1907 geboren, hat als Priester in Rom Kirchenrecht studiert und wurde in dem Fach promoviert. Seit 1950 arbeitete er als Sekretär von Kardinal Gerlier, 1956 wurde er Prälat seiner Heiligkeit, des Papstes. „Die Verteidigung Touviers wurde in gewisser Weise Duquaires zweite Berufung“ (S. 159). In dem Buch „Paul Touvier et l église“ wird Duquaire eine „komplexe Persönlichkeit genannt (S. 161), er fühlte sich allen Ausgegrenzten gegenüber als der „barmherzige Samariter“. So ist für ihn der Paul Touvier „ein Opfer der Ungerechtigkeit“. Und das sagte Duquaire im Wissen, dass die Milice, die Touvier leitete, „einen widerwärtigen Charakter hatte.“ (S.162).
1994 wurde Touvier wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslanger Haft verurteilt, er starb an Krebs 1996 im Gefängnis Fresnes.
In der traditionalistischen Haupt-Kirche St.Nicolas du Chardonnet (Paris) wurde ein Requiem für Paul Touvier gefeiert. Auch das ist bezeichnet für die rechtsextremen Sympathien der Pius-Bruderschaft in Frankreich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

………..

Die Bestattung und das Requiem der Traditionalisten und ihrer reaktionären Freunde zugunsten des Milice-Chefs Paul Touvier, ein Bericht der Tageszeitung „Liberation“, Paris, 26. Juli 1996. Als Beispiel für die unglaubliche Präsenz reaktionärer rechtsextremer Gruppen in Frankreich.

„Requiem pétainiste pour Touvier. Messe intégriste à Paris et inhumation à Fresnes pour l’ancien milicien“.
par Renaud DELY et Jean HATZFELD
publié le 26 juillet 1996 à 7h48   LINK

Quelle: https://www.liberation.fr/france-archive/1996/07/26/requiem-petainiste-pour-touvier-messe-integriste-a-paris-et-inhumation-a-fresnes-pour-l-ancien-milic_176198/)