Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, ist gestorben (31.12.2022): Der selbsternannte „Mitarbeiter der Wahrheit“ belehrt die Welt und die Kirche nicht mehr.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 31.12.2022.

Zum “geistlichen Testament” Benedikt XVI.,  am 31.12.2022 im Vatikan veröffentlicht: LINK

Ratzinger verstand sich als Kardinal wie als Papst als oberste kirchliche “Reinigungskraft” (von “Säuberung” sprach er klugerweise nicht). LINK

Der konservative Ratzinger war mit dem theologisch sozusagen noch konservativeren Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) befreundet, das sagte Ratzinger 1977. LINK

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer auch Religionskritik. Deren Maßstab ist keine dogmatische Kirchenlehre, sondern die sich selbst reflektierende kritische Vernunft, verpflichtet den universal geltenden Menschenrechten. Religionskritik ist immer auch Kirchen-Kritik. Sie ist deutlicher und präziser als die katholische Theologie, weil diese Theologie immer noch abhängig ist von der Hierarchie.

1. Was bleibt von Papst Benedikt XVI.?
Die Frage ist zentral und entscheidend: Was hat der „große“ Theologieprofessor Joseph Ratzinger, Erzbischof, Kardinal, Chef der obersten Glaubensbehörde, enger Freund und ständiger theologischer Berater von Papst Johannes Paul II, dann als Papst Benedikt XVI., bewirkt? Hat er vielleicht sogar eine weltpolitische Bedeutung? Welche Impulse für die christliche Welt hat er gesetzt? Auf welchen Weg hat er die katholische Kirche geführt?

Man vergesse nicht, de facto hat Joseph Ratzinger, seit 1982 im Vatikan, die katholische Kirche geprägt, beherrscht, bestimmt, förmlich als “theologischer Zweit-Papst” an der ständigen Seite von Papst Johannes Paul II.  Ratzinger war seit 1982 als Kardinal Büro-Chef der alles entscheidenden vatikanischen Glaubensbehörde. Ratzinger hat also den Weg der römischen Kirche viele Jahre, seit 1982, bestimmt, und nicht erst seit 2005, dem Jahr seiner Wahl zum Papst.

Die vielen Bücher und Vorträge Ratzingers werden (nur) den Kreis konservativer Theologen erfreuen. Diese Texte sind Ausdruck einer eurozentrischen, ganz auf die Bewahrung des “traditionell Römisch-Katholischen” gerichteten Theologie. Theologie als freie und unabhängige Wissenschaft gab es für Ratzinger/Benedikt XVI. nicht.

2. Benedikt XVI. wollte die klerikale Macht: „Klerus zuerst“
Diese Frage ist die entscheidende Frage: Benedikt XVI., als der Theologe Joseph Ratzinger, hat die katholische Kirche immer als Klerus-Herrschaft verstanden und verteidigt: „Der Klerus zuerst“ war seine Devise, auch bei allen seinen Vertuschungen sexuellen Missbrauchs durch Priester. Von denen er wusste, LINK, die Tatsache aber lange leugnete….Die hierarchische Struktur der Klerus-Kirche war ihm heilig, er glaube das wirklich: Diese klerikale Männerhierarchie ist tatsächlich von Gott selbst so gewollt.
Diese Überzeugung würde jeder nachdenkliche Mensch fundamentalistisch nennen: Darf man es Wahn nennen: „Gott selbst will diesen (angeblich zölibatären) Klerus“. Benedikt XVI. als Theologe Joseph Ratzinger, liebte diese Welt der Männer, d.h. der Kardinäle, Bischöfe etc., diese Bevorzugten und Gott-Erwählten, die in ihrer Herrschaft aber von keinem untergeordneten Laien gewählt wurden, sondern sich selbst wählten, ernannten, hofierten, bekämpften und jetzt wieder bekämpfen.

Ergänzung am 13.1.2023: Siehe das neue international verbreitete Buch von dem Liebling Ratzingers/Benedikt XVI. Erzbischof Georg Gänswein, der bescheidene Titel “Nichts als die Wahrheit”. So wird auch dieser “päpstliche Hof” (angeblich von Gott selbst so gewollt) wie schon der britische Hof zum Dauer – Thema der Klatschpresse… Und der Glaube geht dabei verloren. Klatsch und Tratsch der Hierarchie werden wichtiger als der einfache humane und solidarische Glaube im Sinne Jesu von Nazareth.

Benedikt XVI. als Kardinal hatte sich das Motto ausgesucht: Cooperatores veritatis: Mitarbeiter DER Wahrheit. Nicht etwa: Mitarbeiter Jesu Christi. Nein, es musste schon DIE Wahrheit sein, die er und nur er förmlich internalisiert hatte (um nicht zu sagen durch das exzessive Studium der Bücher seines Lieblings-Theologen Augustinus „gefressen“ hatte).

3. Was und wen Benedikt XVI. /Joseph Ratzinger/ ausgelöscht hat
Vernichtet hat er zusammen mit Johannes Paul II.weite Bereiche der Befreiungstheologien, vernichtet hat er viele kritische katholische TheologInnen; vernichtet hat er mit seiner Wahrheit die Zuversicht der katholischen Frauen, gleichwertige TeilhaberInnen in den Ämtern der Kirche zu werden; vernichtet hat er jegliche ökumenische Zukunft als Feier des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken und Protestanten. Vernichtet er hat die kritischen Basisgemeinden Lateinamerikas, hingegen die neuen geistlichen theologisch sehr konservativen Bewegungen (Neokatechumenale, Opus Dei, Legionäre Christi, Charismatiker usw.) hat er unterstützt.
Nur den reaktionären orthodoxen Popen und Exarchen und Patriarchen war er sehr wohl gesonnen, diese eher nationalistischen und reaktionären Kirchenführer wollte er mit Rom versöhnen. Gott sei Dank gelang ihm das nicht, sonst wäre jetzt vielleicht der Putin-Ideologe und Kriegstreiber Patriarch Kyrill I. ständiger Berater auch im Vatikan.

Die Liste der theologischen Irrtümer dieses Papstes Benedikt XVI: alias Joseph Ratzinger ist lang. Das meiste ist längst gesagt worden, auch auf dieser website.

4. Vernünftig war sein Rücktritt als Papst (aber er hätte gar nicht zum Papst erst gewählt werden sollen)
Gelobt werden muss als seine vernünftige Tat der Rücktritt als Papst im Jahr 2013. Aber der Emeritus zog sich nicht als Eremit in die schönen Dörfer Oberbayerns zurück, sondern er wohnte als eine immer wieder von reaktionären Klerikern hofierte päpstliche Autorität dicht im Vatikan als Nachbar von Papst Franziskus. Das Wort „Gegenpapst“ wagte kaum jemand auszusprechen.

5. Bleibt der Katholizismus klerikal, antidemokratisch, Frauen ausgrenzend usw.?
Ist der Katholizismus denn nun – unter dem angeblich progressiven Papst Franziskus – etwas weniger klerikalisiert, ist er menschlicher, jesuanischer, geschwisterlicher geworden? Haben die Herren im Klerus ihre totale Macht über die Kirche abgelegt? Leider nein.
Die Herren glauben offenbar allen Ernstes nach wie vor: Der liebe Gott im Himmel hat die römische Kirche, so wie sie ist, gewollt. Und kein protestantischer Theologe schreit laut auf und ruft nach Rom oder Limburg oder Köln usw…: Liebe Brüder, kommt zur kritischen Vernunft! Ihr braucht einen zweiten Luther!
Und man bedenke weiter: Diese totale Klerus-Fixierung der Kirchenführung, auch die explizite Ablehnung von Demokratie als Gestaltungsprinzip der Kirche, haben zu der Austrittswelle aus der Kirche entschieden beigetragen. Der Klerus vertreibt die katholisch Glaubenden aus der Kirche, das ist eine Tatsache.
Die Bilanz der Regierung von Papst Benedikt XVI. fällt also, wenn man ehrlich ist und kritisch, sehr negativ aus, oder positiv, wenn man sich an der Schwächung der römischen Kirche wegen Mitgliederschwund erfreut…

6. Das große Bestattungs-Spektakel, life übertragen in alle Welt, die deswegen so traurig erscheinen muss.
Die Trauer über den Tod von Joseph Ratzinger sollte also sehr begrenzt sein.
Aber man ahnt schon, welch ein Aufwand wieder betrieben wird, um Benedikt/Ratzinger mit allem klerikalen Pomp zu verabschieden. Die Flugzeuge aus aller Welt werden überfüllt nach Rom einfliegen, warme Worte, unkritisch, werden gesprochen.

So werden einige nachdenkliche Theologen und Philosophen vor allem über diesen klerikalen Zustand der römischen Kirche trauern.  Aber die große weite Welt der politischen und religiösen Repräsentanten wird noch einmal Tage lang, einige Frauen sicher mit Pleureusen, den „deutschen Papst“ noch einmal – und sich selbst – feiern. Kritische Stimmen zu Benedikt XVI./Ratzinger LINK

LINKS:
“Papst Benedikt XVI./Ratzinger/ ist politisch rechtslastig”: LINK

Benedikt XVI. ist politisch “rechtslastig” – Religionskritische Perspektiven zu Joseph Ratzinger

Dieser Papst versteht sich oberste theologische Reinigungskraft: LINK

Ratzinger/Ex-Papst Benedikt: Die gescheiterte oberste Reinigungskraft

Kardinal Sarah, Liebling von Papst Benedikt XVI.

Kardinal Sarah: Über den Liebling von EX-Papst Benedikt

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Philosophie lebt von Erfahrungen der Evidenz, von „ursprünglichen Einsichten“.

Ein Hinweis auf einen zentralen Aspekt im Denken des Philosophen Dieter Henrich.
Von Christian Modehn.

1. Philosophie und Philosophieren
Philosophie und ihr lebendiges Geschehen als Philosophieren ist etwas Außergewöhnliches, kaum zu Definierendes, daran zu erinnern ist alles andere als banal. Philosophieren geschieht inmitten des Lebens und seiner Fragen, und manchmal werden maßgebenden Philosophen Einsichten förmlich „geschenkt“, sie zeigen sich dem Philosophen wie ein unerwartetes Ereignis. Auch darauf hat der Philosoph Dieter Henrich hingewiesen.

2. Dieter Henrich
Dieter Henrich ist einer der wichtigen Philosophen in Deutschland am 17. Dezember 2022 ist er kurz vor Vollendendung seines 96. Lebensjahres gestorben. Sein äußerst umfassendes philosophisches Werk wird inspirierend bleiben, zumal für die, die das Werk von Kant, Hegel und vor allem Fichte und Hölderlin lesen und studieren. Zu Dieter Henrich siehe auch wikipedia: LINK

3. „Ursprüngliche Einsichten“… Religiöse Einsichten….
Hier wird nur auf eine entscheidende Erkenntnis Dieter Henrichs hingewiesen, die sozusagen für „weite Kreise“ bedeutsam sein kann. Henrich hat es verstanden, seine Studien zur Geschichte der Philosophie mit lebensmäßig bedeutsamen Themen zu verbinden.
In seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (C.H.Beck Verlag, München, 2011) entwickelt Henrich ein bislang eher selten beachtetes Thema: Gibt es „Grundeinsichten“, also plötzlich sich zeigende Erkenntnisse und Evidenzen, von denen sich Philosophen in ihrem Denken und in ihrem Leben prägen und bestimmen lassen? Henrich berichtet im ersten Teil dieses zum Teil durchaus „allgemein zugänglichen“ Buches von „einer sich plötzlich eröffnenden Einsicht“ (S. 22), die sich „im Lebensgang von Philosophen“ zeigt. Diese unerwartete, nicht-„gemachte“ Einsicht will Henrich von den eher alltäglichen Einsichten, Entdeckungen usw. abgrenzen. Diese äußern sich etwa in dem Ruf „Ich hab es gefunden“, „Heureka“… Dabei handelt es sich um begrenzte, etwa aufs Technische bezogene Erfindungen.
Henrich aber meint Einsichten „von prägender Bedeutung für ein ganzes Leben“(S. 26), „in denen sich ein Blick in das Ganze der Wirklichkeit auftut“ (ebd.). Und der Philosoph vergleicht diese umfassenden Einsichten (sind es „Geschenke“, „Gaben“ ?) mit den Erlebnissen religiöser Offenbarungen. Diese knappen Hinweise (auf Seite 27) sind wichtig. Denn Henrich, kein Verteidiger des dogmatischen christlichen Glaubens, ermahnt förmlich atheistische Menschen, solche „außerordentlichen Erfahrungen und Einsichten“ religiöser Menschen nicht „für Priestermärchen und Symptome einer Psychose zu halten.“ Zu einer entsprechenden „außerordentlichen (ins Religiöse weisenden) Einsicht“ Ludwig Wittgensteins siehe den Hinweis unter Nr. 7.
Henrich zeigt dann an ungewöhnlichen Einsichten der Philosophen Descartes, Jacob Böhme, Kant, Nietzsche, die Bedeutung der „plötzlichen Grund-Einsicht“ in das Ganze der Wirklichkeit…Dass die Grundeinsicht Heideggers , das „Ereignis“ genannt, also als „Kehre“ (als der Abkehr vom Ansatz von „Sein und Zeit“, CM) eigene Probleme aufwirft, das weiß Henrich (Seite 59f.) Aber die Frage bleibt bei Henrich meines Erachtens offen, ob es etwa angesichts des unkontrollierbaren „gehorsamen“ Hörens auf den Spruch „des“ Seins beim späten Heidegger, auch allgemeine, normative Argumente zur Beurteilung eine Rolle spielen sollten. Mit anderen Worten: Ist jedes philosophische Evidenz-Erlebnis automatisch zu respektieren? Gibt es (auch politisch motivierte) vorgetäuschte Evidenzen etc.?

4. Fichtes ursprüngliche Einsicht
Hier soll nur auf Henrichs Beschreibung der zentralen Grunderfahrung des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hingewiesen werden: Ihm galt schon sehr früh das besondere Interesse Henrichs. 1967 erschien als Broschüre sein wichtiger Text „Fichte ursprüngliche Einsicht“ (Verlag Vittorio Klostermann).
In dem Buch „Werke im Werden“ von 2011 spricht Henrich gleich am Anfang von Fichtes grundlegender Einsicht (S. 40-42). Sie bezieht sich auf etwas Elementares im geistigen Leben, auf das, was den Menschen als Menschen auszeichnet: das Selbstbewusstsein: Fichte setzt sich von Descartes ab; er sah in der „Reflexion“ des Subjekts auf sich selbst auch den Ursprung des Ich. Aus der Reflexion, so wird dort behauptet, entstehe das Ich als Selbstbewusstsein. Aber woher hat die Reflexion sozusagen ihre innere Kraft, ihre Wirksamkeit, fragt Fichte. „Denn Reflexion kann nur bedeuten, dass ein bereits vorhandenes Wissen (!) eigens ergriffen und damit ausdrücklich gemacht wird.“ (Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 12).
Henrich zeigt also in seinen Fichte-Studien, dass das menschliche Selbstbewusstsein vor aller Reflexion schon eine unmittelbare Kenntnis des Subjekts von sich selbst ist. Diese immer schon gegebene unmittelbare Kenntnis des Ich von sich selbst ermöglicht alles geistige Leben, d.h. auch auf die erkennende Reflexion des einzelnen auf sich selbst, auf seine geistige Struktur usw. Das ist für die Menschlichkeit des Menschen von entscheidender Bedeutung: Das Selbstbewusstsein ist etwas unmittelbar Gegebenes! Wer es verstehen will, fragt nach einer Art „Grund“ des Selbstbewusstseins, nach einem „Grund, der für alles Erkennen unausdenkbar ist. Nach Fichtes Lehre von 1798 manifestiert das Selbstbewusstsein das Gesetz der intelligiblen Welt, nach der Lehre von 1801 manifestiert es Gottes Leben“ ( „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, S. 48).
Dieter Heinrich erinnert in „Werke im Werden“, dass diese Einsicht sozusagen eine Evidenz-Erfahrung Fichtes ist, ein Ereignis, ein Geschenk, eine Einsicht, auf die er seine Philosophie gründete. Fichtes Sohn, aber auch sein Enkel haben darüber berichtet. „Nach anhaltendem Meditieren und während Fichte am warmen Winterofen stand, sah er plötzlich, dass nur die im Ich gelegene Subjekt-Objektivität das höchste Prinzip der Philosophie sein könne“ (S. 40). Der Fichte Zeitgenosse, der Philosoph Henrik Steffens, geht in seiner Interpretation noch weiter:
„Wenn das Ich sich selbst erkennt, kann ein philosophisches Wissen gewonnen werden, das dieselbe Gewissheit hat wie das mathematische Wissen“ (Werke im Werden, S. 40). Ein anspruchsvoller Satz im Denken des 18. Jahrhunderts. Heute sind Philosophen mit Vergleichen zur Mathematik äußerst zurückhaltend.
Dieter Henrich hat im Laufe seines philosophischen Denkens die Frage „Was ist Selbstbewusstsein?“ stetig weiter vertieft.

5. Zu Wittgensteins „außerordentlicher Einsicht“
Ausgerechnet, möchte man sagen, habe Ludwig Wittgenstein „einen Moment außerordentlicher Einsicht“ (Henrich) bei einer Aufführung des Volksstücks „Die Kreuzelschreiber“ von Ludwig Anzengruber (verfasst 1872) erleben können. Damals habe Wittgenstein „zum ersten Mal die Möglichkeit einer Religion“ ahnen können (S. 45, „Werke im Werden“). Henrich beschreibt etwas ausführlicher den Zusammenhang des Erlebens, wichtig ist: Wittgenstein habe gespürt und dann gewusst:„Es kann dir nix geschehen“. Es war also das Wissen einer letzten Geborgenheit in dieser Welt (S. 46). Tatsächlich hat Wittgenstein vor allem auch in den Notizen, die unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ (Werkausgabe Band 8, Suhrkamp) veröffentlicht wurden, ausführlicher über seine religiösen Einsichten, seine Stellung zum Christentum usw. geschrieben  LINK   1. . LINK 

6.
Haben alle Menschen  „ursprüngliche Einsichten“ ?
Dieter Henrich ist der Meinung, dass bestimmte Grundeinsichten oder „Schlüsselerfahrungen“ durchaus Alltagserfahrungen sein können, also letztlich Geschehnisse sind, die jedem Menschen widerfahren. Diese „Schlüsselerfahrungen“, die eine neue Sicht, einen neuen Weg, eine Alternative unvermittelt zeigen, können in einem Leben zahlreich sein, sie sind also vielfältiger als „neuen Grund legende ursprüngliche Einsichten“ von Philosophen. Obwohl auch diese ihre erste „ursprüngliche Einsicht“ manchmal immer wieder neu bedenken und neu formulieren, wie etwa Fichte in seinen verschiedenen „Wissenschaftslehren“. Was den Alltag vieler Menschen im Blick auf grundlegende Erfahrungen angeht, erinnert Henrich auch an „Gestaltpsychologen, die sich mit Problemlösungen, die nach vergeblichem Suchen plötzlich einfallen, in Experimenten beschäftigt haben“ (S. 22).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wir sind die Letzten: Max Horkheimer als „letzter Bürger“ … und die „Letzte Generation“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.Dezember 2022.

1. Das Vorwort:
Ein Wort geht um, mehr als ein Wort: „Die letzte Generation“. Und es erinnert daran, dass im Laufe der Geschichte schon oft Menschen sich als „die Letzten“ – angesichts großer Umbrüche und Katastrophen – bezeichnet haben. Anläßlich des Selbstverständnisses von Klimaaktivisten als „der Letzten Generation“ ist es interessant zu wissen, in welchem Sinne zuvor schon Menschen sich „als die Letzten“ verstanden haben.
Dabei wird hier der Schwerpunkt auf Äußerungen des Philosophen und Soziologen Max Horkheimer gesetzt. Aber auch auf entsprechende Stellungnahmen von Nietzsche, Karl Kraus und dem Apostel Paulus wird hingewiesen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Wir sind die Letzten“ ist nicht nur von historischem Interesse, sie betrifft das (philosophische) Selbstverständnis der Menschen insgesamt. Wer würde leugnen, dass er/sie angesichts der kulturellen, sozialen, politischen, religiösen Umbrüche und tiefgreifenden Veränderungen heute nicht auch das Gefühl hat, irgendwie zu einer „letzten Generation“ zu gehören?

2. Horkheimer, der letzte Bürger
Vor 80 Jahren nannte sich der Philosoph Max Horkheimer im Exil, im schönen Los Angeles, Kalifornien, einen der „letzten Bürger“. Horkheimer war seit 1929 Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt am Mai. Er selbst wie andere Mitarbeiter mussten vor den Nazis flüchten, 1934 fanden er und sein Institut Zuflucht in den USA.
Horkheimer verstand sich als einen der letzten „Bürger“,besser gesagt „Großbürger“ der alten kapitalistischen Welt.
Max Horkheimer (geboren 1895, gestorben 1973) war Sohn eines Kunstbaumwoll-Fabrikanten. Als junger Mann machte aber nicht die vom Vater vorgesehene Karriere als Unternehmer, sondern er wurde Philosoph, Soziologe und … gläubiger Sozialist, gut vertraut mit dem Werk von Karl Marx und dem Sozialismus in gläubiger Haltung verpflichtet.
Horkheimer war selbstkritisch genug, er wusste: Wie sehr er auch „marxistisch ausgebildet sein mag und wegen dieser Ausbildung die Diktatur des Proletariates gutheißen mag, so war er doch nicht für die Diktatur des Proletariates zu gebrauchen“, schreibt Martin Mittelmeier in seiner neuen Studie „Freiheit und Finsternis. Wie die `Dialektik der Aufklärung´ zum Jahrhundertbuch wurde“ (2022, Siedler Verlag). Horkheimer war 1941 von New York nach Kalifornien umgezogen, sein neues Zuhause war eine sehr hübsche Villa in Pacific Palisades bei Los Angeles (Mittelmeier S.34), er wohnte in der Nachbarschaft von Thomas Mann…
Warum, das ist die Frage, meinte Horkheimer, als der Zweite Weltkrieg tobte und die Vernichtung der Juden in Europa systematisch betrieben wurde, für die künftige Revolution nicht geeignet zu sein? Weil er, so sein offenes Bekenntnis, Bürger war, zu sehr wohl Bürger war und bürgerlich dachte, bürgerlich lebte und den bürgerlichen Luxus selbst in Krisen und Kriegszeiten immer noch genoss. Man muss es wohl Horkheimer hoch anrechnen, zu dieser Form der Selbstkritik in der Lage gewesen zu sein.

3. Horkheimer als letzter Bürger darf noch genießen
Aber Horkheimer fand dann doch als Bürger, inmitten der angenehmen Umgebung Kaliforniens, eine sehr originelle Möglichkeit, seinen eigenen, durchaus ins Staunen versetzenden Beitrag zur proletarischen Revolution zu leisten. Damit sind nicht die theoretischen, philosophischen wie soziologischen Studien (oft gemeinsam mit Theodor W. Adorno) unmittelbar gemeint. Horkheimer entdeckte, dass er als der wahrscheinlich „letzter Bürger“ vor der sozialistischen Revolution die Aufgabe habe, das für ihn übliche großbürgerliche Leben geradezu fortzusetzen. Nicht Verzichten aufs Bürgerliche, sondern Fortsetzung der bürgerlichen Privilegien war seine Maxime. Er redete sich dabei einerseits die Hoffnung ein: Sein materiell gut ausgestattetes Leben in Kalifornien könne – nach der sozialistischen Revolution – auch für die jetzt materiell Leidenden, die Proletarier, Realität werden. Andererseits sah Horkheimer die historische Bedeutung seines privilegierten Lebens in Kalifornien auch in der Rolle eines „Statthalter des guten Lebens“, wie Mittelmeier schreibt (S. 36). Er fühlte sich als „Statthalter“ des guten Lebens, oder man könnte auch sagen, er lebte stellvertretend wohlhabend für die vielen anderen, denen es nicht gut ging. Wenigstens einigen wenigen mit großbürgerlicher Herkunft darf es, geschichtsphilosophisch betrachtet, gut gehen, sie bewahren dann auch die Erinnerung an das materiell gute Leben einst im Kapitalismus.
Horkheimer sah sich auch als die letzte großbürgerliche Figur, die voller Trauer schon ahnt, dass den armen Proletariern dieses Luxus-Leben dereinst nicht vergönnt sein wird.
Als dieser „letzte Mensch“ des Großbürgertums freute er sich, mit eingestanden Gewissensbissen zwar, in letzter Minute „vor dem erwarteten Untergang des Kapitalismus“ genussfähig geblieben zu sein: Wenigstens er, sozusagen als Symbolfigur des Übergangs von der alten kapitalistischen Welt zum Sozialismus, durfte noch materiellen Luxus genießen. Ohne Ironie sah sich Horkheimer in dieser Rolle! In den „Nachgelassenen (post mortem) veröffentlichten Schriften“ (Band 12, S.231 in Horkheimer „Gesammelte Schriften“, Fischer Verlag) beschreibt er schon 1935 seine Haltung, die auch im kalifornischen Exil gilt: :
„Es macht einen Unterschied im Hass gegen diese kapitalistische Welt aus, ob man ihre Früchte vom Genuss oder nur vom Zusehen kennt. Zorn, Hohn und laute Verachtung gegen die Freuden einer raffinierten Zivilisation sind etwas anderes als die Trauer dessen, der sie genossen hat und die andern davon ausgeschlossen sieht. Diese letzten Bürger sind genussfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau …“.

4. Abstrakte Solidarität
Eine verstörende Aussage, leider nicht von brillanter Deutlichkeit: Welche „Lehre“ ließe sich aus diesem Bekenntnis des „letzten Bürgers ziehen? Vor der großen politischen Wende haben einige wenige das Recht, genussvoll und materiell gut abgesichert zu leben, obwohl der 2. Weltkrieg längst viele hunderttausend Tote „produziert“ und in den KZs das europäische Judentum ausgelöscht wird von den Nazis. Horkheimer hat wohl ein schlechtes Gewissen dabei, aber er ändert sein gutes Leben nicht. Das Teilen, die Solidarität mit den Unterdrückten und Leidenden, etwa mit den Arbeitern in den USA, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Seine politische Hoffnung auf ein gutes (materiell gutes) Leben auch für die Proletarier, bleibt abstrakt. Abstrakt bleibt auch der Glaube Horkheimers an die Revolution und die Wohltaten der Revolution. Dies ist Ausdruck seines tiefen, aber abstrakten Gefühls für universelle Gerechtigkeit, das er schon als reicher Fabrikantensohn empfand.

5. Hannah Arendt kritisiert Horkheimer
Martin Mittelmeier weist in seiner Studie darauf hin, dass das gute genussvolle, bürgerlich gediegene Leben Horkheimers in Kalifornien von keiner geringeren als Hannah Arendt kritisiert wurde. „Sie haben immer noch Geld, aber sie sind mehr und mehr der Meinung, dass sie sich damit einen ruhigen Lebensabend sicher müssen“ (S. 35).

6. Klima-Aktivisten der “letzten Generation” sind echte Demokraten!
Die Klimaaktivisten jetzt, Dezember 2022, fordern mit ihren provozierenden, bewusst störenden Aktionen (Sich-Festkleben auf Straßen und Flughäfen usw.), dass endlich die deutsche Regierung alles tut, die von ihr selbst gesetzlich formulierte Verpflichtung Wirklichkeit werden zu lassen: Deutschland bis 2045 klimaneutral zu gestalten. Von diesem als Gesetz formulierten Ziel, beschlossen im Jahr 2021 noch von der Merkel-Regierung, ist Deutschland weit entfernt. Weil die Klimakatastrophe weiter „Fahrt aufnimmt“, handeln diese jungen Leute als die „letzte Generation“. Sie wird kaum mehr menschenwürdig leben können, das gilt noch viel mehr für Menschen in der sogenannten südlichen, armen Welt… Und diese jungen Aktivisten wissen: Die Älteren bzw. die Alten bestimmen Politik und Ökonomie, sie sind in ihrer Sturheit ihrerseits auch die letzte Generation. Nämlich die letzte Generation derer, die es sich bei der Klimakatastrophe relativ gut gehen lassen, die „das gute Leben nicht schmähen“, wie Horkheimer selbstkritisch sagte. Diese alten und wohlhabenden Leute in der reichen Welt lassen sehenden Auges den „Karren gegen die Wand laufen“, tun nur halbherzig etwas, um diese Welt auch den jungen Generationen lebenswert zu lassen.
Schlimmer noch: Viele von diesen Alten, im Klimaschutz Unentschlossenen, besonders in Kreisen der CDU und FDP, betrachten diese jungen Aktivisten der „letzten Generation“ als Verbrecher. Wer sich auf der Straße festklebt, wird selbst von Bischöfen (wie in Berlin Stäblein, ev., und Koch, kath.) mit dem Urteil des „Rechtsbruchs“ diffamiert. Als würde nicht eine Katastrophe ungewöhnliche Mittel erfordern. Die Mehrheit der Menschen folgt den üblen Verleumdungen der rechten Presse, diese Mehrheit sollte dankbar sein für diesen Weckruf der Verzweifelten, die nicht nur an der Klimakatastrophe verzweifeln, sondern auch an der Tatsache, dass die Bundes-Regierung ihr Klima-Schutzgesetz vom August 2021 vergessen hat (siehe: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672). Die Autorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Herrmann hat recht: „Die Klima-Aktivisten verstoßen gegen Gesetze, um darauf hinzuweisen, dass täglich Gesetze gebrochen werden – und zwar durch den den Staat. Die Letzte Generation sieht sich als Retterin der Demokratie. Sie will erreichen, dass demokratisch gewählte Volksvertreter demokratisch erlassene Gesetze umsetzen“ (TAZ., 17.Dezember 2022, Seite 2).
Und es ist ein Skandal, wenn manche Leute die Gefahr, die von den wirklich gewaltbereiten gemein gefährlichen rechtsextremen Reichsbürgern und der AFD ausgeht, mit der Präsenz der Letzten Generation vergleichen. „Der Staat ist inkonsequent, indem er Klimagesetze erlässt, an die er sich den nicht hält“. Das ist der Skandal, auf den auch die „Letzte Generation“ mit Nachdruck hinweist. Ulrike Herrmann schreibt weiterhin treffend: „Die Letzte Generation sind die echten Demokraten und sie glauben an den Staat“ (TAZ, 17.12.2022, S 2.).

7. Max Horkheimer klebt sich fest?
Wie hätte sich Horkheimer als einer der „letzten Bürger“ zu der „Letzten Generation“ verhalten? Dies ist eine spekulative Frage. Möglicherweise, wenn man die allgemeine Ängstlichkeit und den nur theoretischen Mut Horkheimers bedenkt: Er hätte als der „letzte der gut lebenden Groß-Bürger“ sicher nicht leidenschaftlich die jungen Leute der LetztenGeneration unterstützt und verteidigt, er hätte sich auf Frankfurts Strafen nicht festgeklebt, vielleicht hätte er wenigstens gegen die üble Verleumdung von Rechts und der Springer-Presse laut protestiert… Ein Horkheimer, der sich auf der Autobahn festklebt, ist aber undenkbar. Ein anderer, an den wir aus aktuellem Anlass denken müssen, Heinrich Böll, der Literaturnobelpreisträger vor 50 Jahren, 1972, hätte dies sicher getan. Er war nicht nur ein Theoretiker. Er war zum Beispiel aktiv bei der Mutlangen Blockade 1983 dabei.

8. Nietzsches “letzte Menschen”
Auch Friedrich Nietzsche spricht in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883) von den „letzten Menschen“. Sie stehen am Übergang zu einer neuen Menschheitskultur, die vom Übermenschen bestimmt sein wird. Er wird der schöpferische, ingesamt freie und herrschende Mensch sein, er wird den Nihilismus überwinden. Die „letzten Menschen“ sind als Menschen auch moralisch betrachtet „die Letzten“, weil sie sich als brave Bürger einschließen in ihre kleine Welt, die sich mit metaphysischen Sicherheiten aus Angst umgibt. Diese „Letzten“ sind lethargisch, müde, abseits jeder Kreativität. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“, schreibt Nietzsche.

9. “Die letzten Tage der Menschheit”
Auch auf Karl Kraus und sein großes Opus „Die letzten Tage der Menschheit“ soll hingewiesen werden. 1922 wurde diese Tragödie publiziert, sie „spielt“ im 1. Weltkrieg und zeigt, dass die letzten Menschen im Krieg und schon vor dem Krieg vor allem die verlogenen und gedankenlosen Bürger sind, zumal die Journalisten. Sie sind zu nichts anderem imstande, als dumme Sprüche zu verbreiten. Dummheit und Gedankenlosigkeit führen in den Krieg, bestimmen den Krieg, zerstören die Vernunft. Die „Letzten“ das sind die moralisch gesehen „letzten Bürger“ der so genannten „Intelligenz“. Diese letzten Menschen bewertet Karl Kraus als Verbrecher.

10. Paulus lebt im Schatten der Wiederkunft Jesu Christi als letzter Mensch, aber auch als einer der ersten Christen.
Ein letzte Hinweis auf den Apostel Paulus. Er war geprägt vom Glauben der ersten Gemeinde: Sie erwartete die Wiederkunft Jesu Christi alsbald, offenbar auch noch in der eigenen Gegenwart. Wie sollen sich Menschen auf dieses große Ereignis der Wiederkunft einstellen, wie sollen sie noch leben, das sind Fragen mit denen sich Paulus etwa in seinem Ersten Thessalonicher Brief (verfasst im Jahre 50) oder im Ersten Brief an die Korinther (verfasst im Jahre 53) befasst. Jesus von Nazareth war etwa im Jahr 33 am Kreuz elend gestorben.
Paulus nannte im Jahre 50 (die Gemeinde in Thessalonich „die Lebenden, die noch übrig geblieben sind“ (1 Thess, 4,17), Damit will er sagen: Es sind die noch auf Erden Weilenden, die :„übrig gelblieben sind“ vor der alsbald erwarteten Wiederkunft Jesu Christi…
Angesichts der grundstürzenden Veränderung der Welt durch die Wiederkunft Jesu Christi empfiehlt Paulus der Gemeinde in Korinth zu leben, als lebte man schon nicht mehr nach den Üblichkeiten der Welt: „Wer eine Frau hat, soll sich verhalten, als habe er keine. Wer die Welt nützt, soll so tun, als nütze er sie nicht (1 Kor. 7,29). Alles Weitermachen wie bisher, könnte man sagen, aber mit dem inneren Abstand, alles Weltliche nicht mehr ernst nehmen, „so tun als ob“, möchte man sagen: Das ist die Lehre des Apostels Paulus für die „letzte Generation“ in Korinth und Thessalonich. Das Wesentliche kommt später, sollte erwartet und innerlich vorbereitet werden. Das war ja einst (für manche Wissende heute immer noch) der Sinn des „Advent“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Annie Ernaux: Ihre Spiritualität, ihr Glaube und ihr Unglaube…

… Annie Ernaux und der Katholizismus.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Annie Ernaux hat den Literaturnobelpreis 2022 erhalten. In Frankreich werden ihre Arbeiten schon seit längerer Zeit nicht nur gelesen, sondern auch vielfach kritisch untersucht. Ihre Werke erscheinen bei Gallimard, eine Auszeichnung! Zur Geschichte von Annie Ernaux gehört auch zweifelsfrei, wie sie selbst schreibt, ihre Verbindung mit der katholischen Kirche seit der Kindheit. Ihre Ausbildung erhielt sie bei Nonnen in Yvetot; als sie in Rouen an der Universität studierte, wohnte sie in einem Wohnheim der Nonnen. Ihre Verbundenheit mit Kirche, Religion und Spiritualität ist also kein Nebenthema im Werk der Autorin. Ein Mittelpunkt ihrer Bücher bleibt die Darstellung der französischen Gesellschaft radikal aus der Sicht einer Frau, die aus „einfachen Verhältnissen“ kommt, für die Rechte der Frauen kämpft, die beruflichen Erfolg hat… und den totalen Konsum heute heftig attackiert.

2.
Es ist für deutsche Verhältnisse schon erstaunlich: Als bekannt wurde, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhält, nahm sogar ein ziemlich prominenter katholischer Erzbischof, Pascal Wintzer von Poitiers, Stellung: In der katholischen Tageszeitung „La Croix“ (Paris) am 6.10.2022 sowie auch zuvor in der Presse des Bistums Poitiers. Nun ausgerechnet einen Bischof als einen Literaturkritiker zu erwähnen, soll hier nur bedeuten, dass der hohe Klerus in Frankreich sich offenbar nicht nur permanent mit sich selbst beschäftigen muss, vor allem wegen des sexuellen Missbrauchs auch in den eigenen bischöflichen Reihen. Pascal Wintzer, Jahrgang 1959, wurde wie Ernaux in der Normandie geboren, als bischöflichen Wahlspruch wählte er: „Löscht den Geist nicht aus“. Wintzer schreibt in dem genannten Artikel: „In ihren Büchern gebraucht Annie Ernaux eine direkte Sprache, oft roh, geradeheraus („cru“). Es geht ihr darum, eine Sprache abzuwehren, die von dem Realen, Wirklichen, distanziert oder die (nur) den sozialen Abstieg betont. Sondern Ernaux bevorzugt eine „écriture plate“, eine flache Schreibweise, also einfache Worte aus dem Alltag und von jedermann, diese Worte verlangen keine abstrakte Hermeneutik“.
Dann erinnert der Bischof weiter an das Buch „L` Evénement“ (veröffentlicht 2000), in dem Annie Ernaux auch von einer Beichte spricht, in der sie ihre Abtreibung dem Priester bekennt. “Ich fühlte mich im Licht, in der Wahrheit („dans la lumière“), für den Priester war ich eine Verbrecherin. Als ich die Kirche verließ, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war“. (Übers. C.M.) Der katholische Bischof beendet seine Würdigung des Werkes Annie Ernaux`: „Sie ist eine kämpferische Schriftstellerin, sie kann Ablehnung hervorrufen, sie hat Verleumder; mir scheint indessen, dass sie eine der großen französischen Autoren der Gegenwart ist – damit drücke ich meine normannische Solidarität vielleicht auch aus – … Sie spricht zu den Frauen; sie kann die Männer über die Frauen aufklären (éclairer à leur propos“)“. Nebenbei: Erzbischof Wintzer hatte schon wohlwollend kritisch das Werk des Schriftstellers Michel Houellebecq gewürdigt. LINK

3.
Annie Ernaux beschreibt nicht nur ihren individuellen Abschied von der Religion., d.h von der katholischen Kirche in ihrem „Hauptwerk“ genannten Buch „Les années“. Erschienen ist dieses Buch 2008 in Frankreich, seit 2017 liegt eine deutsche Übersetzung vor. Ernaux` Erinnerungen und Einschätzungen des Katholizismus Anfang und Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre sind etwas ausführlicher (in der Suhrkamp Ausgabe S. 161 f.) Annie Ernaux beginnt mit dem klaren und soziologisch treffenden Urteil: „Der Katholizismus verschwand aus dem Alltag. In den Familien wurden Bibelkenntnisse und die religiösen Bräuche nicht mehr überliefert. Man benötigte die Religion nicht mehr, um die eigene Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen und so blieb außer ein paar Ritualen nichts von ihr übrig… Außerhalb des Philosophieunterrichts konnte man nicht mehr ernsthaft über Gott und den Glauben diskutieren“. Wenn Ernaux von Religion/Katholizismus spricht, tritt sie, so sagt sie, „ins Museum unserer Kindheit“ ein (S. 223). Geblieben ist ihr trotz allem „eine Vorliebe für Bach und Kirchenmusik“ (S. 186).
Und Annie Ernaux fügt als gute Beobachterin und Gesellschaftskritikerin hinzu: Es gab 1984 bekanntlich große, man möchte sagen, gewaltige Demonstrationen für den Erhalt der katholischen Privatschulen. Ernaux kommentiert sehr zutreffend … und ihre Worte gelten auch für die Verteidiger der konfessionellen Privatschulen in Deutschland und anderswo: „Nicht der Glaube trieb die Eltern auf die Straße, sondern die weltliche Überzeugung, sie hätten ein Produkt (katholische Privatschule) erworben, das den Erfolg ihrer Kinder garantierte“ (S. 162).
Annie Ernaux kennt die katholische Kirche genau: Sie wurde von ihrer Familie, besonders der Mutter, kirchlich unterwiesen, die werktags zur Abendmesse geht (S. 104). „Der Kirchenkodex stand über allem“ (S. 46), sie erwähnt Wallfahrten (S. 25), sie spricht von der Erstkommunion (S. 46), nennt einen in Frankreich durchaus zurecht berühmten Jesuiten, Père Michel Riquet, (S. 38), sie beklagt die eher rassistisch gefärbten Unterweisung zum Islam (S. 46).
Schon in der Einführung zum Buch „Les Années“ betont sie, dass der Verlust der Religion für den einzelnen wie für die Gesellschaft nicht umstandslos Ausdruck eines „Fortschritts“ sein kann. Sie schreibt ganz Anfang, in dieser „Einleitung“: „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“ (S. 17). Wahrscheinlich könnte eine lebendige, z.B. nicht-frauenfeindliche Religion wie der Katholizismus, einen Beitrag leisten, die totale Konsumwelt einzuschränken, die Ernaux in „Les Années“ heftigst beklagt.
Man lese nur ihre Einschätzung des kommerzialisierten Weihnachten und die dabei sichtbare völlige Hilflosigkeit der Kirche, Weihnachen prägend spirituell zu gestalten: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, „der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten, zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“ (ebd.)
Etwas kryptisch bleiben ihre Worte, wenn sie an die Auseinandersetzungen mit dem Islamismus denkt: „Die Religion war zurück, aber es war nicht mehr unsere, nicht die, an die man nicht mehr glaubte, die man nicht weitergegeben hatte und die letztlich die einzig richtige war, oder wenn man so wollte die beste…“ (S. 223).

4.
Ihre eigene Geschichte, auch ihren Abschied vom Katholizismus, deutet Ernaux als typisch für die heutigen Menschen, die Frauen zumal. Entscheidend ist für Ernaux: Die Kirche bestimmt nicht mehr das Denken über die Sexualität, sie bestimmt nicht mehr die Praxis der Sexualität, „der Bauch der Frauen ist von der Herrschaft der Kirche befreit. Die Kirche hat ihr wichtigstes Aktionsfeld, die Herrschaft über die Sexualität, verloren. Dadurch hat sie alles verloren“ (Gallimard, Quarto, P. 1025). Das weiß Rom, und deswegen führt der Vatikan den sinnlosen Kampf, irgendwie noch die allerletzte Bastion, die Vorherrschaft über die Sexualität zu behalten, etwa im Verbot der Ehe für Homosexuelle oder wenigstens der Segnung von homosexuellen Paaren. Sehr gern segnet der katholische Klerus seit Jahrzehnten hingegen Autos, Pferde, Handys, natürlich auch Waffen, darauf hat der religionsphilosophische Salon schon vor Jahren hingewiesen, Erzbischof Heße aus Hamburg hat sogar ein Walross im Zoo gesegnet. Zu Erzbischof Heße: LINK.

5.
Ihre bleibende Spiritualität – außerhalb der Kirchen – deutet Annie Ernaux an: Sie wollte mit dem Buch („Les Années) „ihren Beitrag zur Revolte leisten. Von diesem Vorhaben ist sie zwar nicht abgerückt, aber mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, das jetzt auf unsichtbare Gesichter fällt…ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war…“(S. 254).
Das Licht“ einfangen“, es bewahren, sich an das Licht halten…la lumière, dieses große französische Wort, das nicht nur (philosophische) Aufklärung und philosophische Kritik bedeutet, sondern eben hier auch „Licht, das bleibt“, „Licht, in dem wir stehen und leben“. Als Gabe (vom wem?) sozusagen.

6.
Aber es wäre natürlich viel zu einschränkend, die Spiritualität von Annie Ernaux nur in einem explizit religiösen oder gar dogmatischen Zusammenhang zu bedenken. Man muss sagen: Ihre Spiritualität ist ihr Eintreten als Schriftstellerin für die Rechte und die Würde der Frauen vor allem. Und ihr Kampf gegen die bornierte Männer-Welt IST geistvoll, also spirituell. Und darin zeigt sich Ernaux` umfassender sozialer Humanismus: Als trotzige geistige Haltung, die sich als letztlich dann doch hilflose Kritik des Konsumismus äußert, aber auch in ihrer Sehnsucht nach den gelungenen Feiern im Kreis der Familie, dem gemeinsamen Essen, dem Sprechen und Reden und Streite und eben auch der vielen banalen Worte, auch der Langeweile, die bei solchen Familienfeiern bekanntlich nahezu üblich sind.

7.
Zum Schluss ein politischer Hinweis: Anders als viele führende PolitikerInnen, auch in Deutschland, erkannte Annie Ernaux schon beim Schreiben von „Les Années“ (also in den Jahren 2006, 2007, veröffentlicht wurde das Buch 2008) den wahren Charakter von Wladimir Putin. Sie nennt ihn (S. 219) einen „kleinen, eiskalten Mann mit undurchschaubaren Ehrgeiz“, „sie blickt jetzt nur noch mit Verzweiflung auf Russland“. Eine kluge vorausschauende Einschätzung, die man sich von angeblich kompetenten Politikerinnen Europas gewünscht hätte, sie haben aus ökonomischen Gründen Putins Sprüchen geglaubt… und preisen ihn gar im Zustand geistiger Verwirrung als einen „lupenreinen Demokraten“ bis heute. Und diese „Verwirrten“ werden dafür nicht bestraft…

Annie Ernaux, “Die Jahre”. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, 2022 (7.Auflage), 256 Seiten, 11€

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Die Schlange war klug“: Eine richtige Interpretation der biblischen Mythologie zur Menschwerdung des Menschen.

Über ein neues Buch des Judaistikprofessors Peter Schäfer
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Untertitel zeigt die weite Perspektive: Peter Schäfer untersucht ziemlich umfassend „Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens“. Er diskutiert also die Erzählungen vom Ursprung der Welt, wie sie altorientalische Epen oder die Lehren der Philosophen Platon, Aristoteles und Philon bieten. Die „Kosmotheologie“ Platons im Buch „Timaios“ findet Peter Schäfer „letztlich misslungen“ (S. 15) und bei Aristoteles sei ohnehin kein Schöpfungsmythos zu finden. So kann sich Schäfer in dem Buch doch vor allem auf sein Forschungsgebiet, die Judaistik, konzentrieren. Aber es ist keine Frage: Viele der „breiteren Kreise“ der LeserInnen, für die Schäfer ausdrücklich schreiben will, werden sich vor allem für die „kluge Schlange“ im biblischen Paradies interessieren und damit für ein neues, richtiges Verstehen der alttestamentlichen, der biblischen Mythen. Und da kann der Autor tatsächlich übliche, christliche Deutungen korrigieren. Peter Schäfer ist ein renommierter Judaist, er leitete als Katholik einige Jahre auch das Jüdische Museum in Berlin. Man kann nur hoffen, dass viele konservative Katholiken und Evangelikale die Erkenntnisse Peter Schäfers diskutieren und rezipieren. Denn viele sich fromm nennende Leute lehren immer noch, das „Essen vom Baum der Erkenntnis“ auf Einladung (Verführung) der Schlange führe nur zur bösen Autonomie des Menschen. Autonomie des Menschen (und des Christen) ist bekanntlich heute noch und schon wieder ein Kampfbegriff zumal in katholischen Kreisen. Diese Leute des 21. Jahrhunderts wollen überhaupt nicht autonom, nicht frei, sondern nur gehorsam den göttlichen und menschlichen Autoritäten (und ihren klerikalen Führern) sein. Anerkennung des Vorgegebenen, des angeblich Objektiven, der unwandelbaren Offenbarung, diese Bindung an das Starre zeichnet diese Leute aus. Sie sind also noch mittelalterlichen Denkweisen verpflichtet. Man sieht an diesen Hinweisen, wie wichtig das Buch von Peter Schäfer ist.

2.
Das Thema „Die kluge Schlange im Paradies“ ist alles andere als eine Spezialität einiger weniger Wissenschaftler! Die Frage nach dem Ursprung und Beginn der Welt und der Menschwerdung des Menschen bewegt viele, sie ist ein umfassendes Projekt der Naturwissenschaften, aber eben auch ein Thema, das aufgrund seiner bleibenden Erstaunlichkeit in die Welt der literarischen, philosophischen und religiösen Mythen führt. Diese bieten selbstverständlich keine wissenschaftliche Erklärung der „Welten-Schöpfung“, aber diese Mythen haben eine eigene Bedeutung auf spiritueller und religiöser Ebene.

3.
Die Hebräische Bibel, also das von Christen genannte Alte Testament, enthält zwei Erzählungen von der Erschaffung der Welt durch Gott. Beide Mythen untersucht Schäfer, der ältere Text wurde im 1. Jahrtausend (vor Chr.) verfasst, der zweite im biblischen Text Genesis an erster Stelle platzierte um 600 (vor Chr.). Es hätte interessant und hilfreich sein können, mehr vom Entstehungsort dieses Textes zu lesen, nämlich dem babylonischen Exil (568-538 vor Chr.): In dieser Situation der Niederlage, der Verzweiflung, war es offenbar für Israel ein religiöses Bedürfnis, literarisch von der Macht des einen Gottes als des Welten-Schöpfers zu erzählen…
Nur zwei Hinweise, die Schäfer ausführlich diskutiert: Der erste Schöpfungsbericht setzt offenbar voraus: Gott fand, als er dann die Welt schuf und ordnete, eine Art „Erd-Masse“ schon vor, ein tohu wabohu, ein totales Durcheinander. Da entstand die Frage der Gelehrten: Ist diese dort genannte unheimliche „Erd-Masse“ auch von diesem einen Gott Israels geschaffen, sozusagen vor seiner eigentlichen Schöpfungstat? Was bedeutet dann aber die alte theologische Überzeugung, Gott habe die Welt „aus dem Nichts“ erschaffen, also ohne jede „Vor-Gegebenheit“? Schon der mittelalterliche Bibelkommentator Raschi befasste sich mit der „Akzeptanz einer materiellen Vorwelt“, er sieht darin aber „die alleinige und unbegrenzte Schöpfungsmacht seines Gottes“ (S. 39). In den späteren rabbinischen Schriften wird diese Frage immer wieder diskutiert und es setzte sich die Überzeugung durch. „Auch die angeblich vorweltliche Materie wurde in all ihren Bestandteilen von Gott geschaffen“ (S. 323). Recht heftig äußert sich etwa Rabban Gamliel, ein jüdischer Patriarch (gestorben um 114), der „mit äußerster Schärfe“ die Leute verfluchte, so Schäfer wörtlich, die da lehrten: Gott habe einen „vorweltlichen Urstoff“ vor seiner eigentlichen Schöpfungstat vorgefunden! (S. 312). Auf diese Weise wird ausgeschlossen, als hätte es vor dem Welt erschaffenden Gott schon einen anderen Gott gegeben, einen Schöpfer dieser Masse des tohu wabuho…. Solche Meinungen hätten den strengen Monotheismus erheblich gestört, erstaunlich nur, dass auch in jüdischen Kreisen, etwa des 1. Jahrhunderts, von jüdischen Gelehrten Verfluchungen von Irrlehrern ausgesprochen wurden … mit dem Wunsch, „diese mögen „sofort tot umfallen“ (ebd.) Der strenge Monotheismus kann sich nur mit Gewalt durchsetzen…

4.
Wichtiger sind die Ausführungen Peter Schäfers zur viel besprochenen „Verführung des Menschen durch die Schlange“ im Paradies. Um die ausführlichen Erörterungen Schäfers zusammenzufassen: Das Essen vom Baum der Erkenntnis ist für jüdische Interpretationen nur die notwendige Voraussetzung, dass der Mensch zur Erkenntnis, also zur Vernunft kommt. Wäre der Mensch gehorsam immer im Paradies geblieben, wäre er nie ein freier, selbstbewusster Mensch geworden. Es war in der Deutung dieses Mythos ohnehin nicht die Bestimmung des Menschen, unsterblich zu sein, wäre er denn im Paradies gehorsam geblieben. Nur weil der Mensch Gottes Verbot übertritt, „kann er in die reale Welt entlassen werden“ (S. 56). Also: Die Schlange war sehr klug, als sie die Menschen zum Ungehorsam verführte. Das geht soweit, dass Schäfer betont: „Das bedeutet im Klartext, dass „Gottes Drohung eine leere Drohung war“ (S.55). Gott meint es offenbar im Paradies gar nicht so ernst mit seinen Geboten, könnte man dann in dieser Mythologie weiter denken…

5.
Natürlich gehört zum Thema auch eine Diskussion der christlichen Erbsünden-Lehre. Da bietet Peter Schäfer nicht viel Neues. Adam kann „keineswegs für die Fehler aller anderen Generationen verantwortlich gemacht werden“ (S. 22). „Von einer Erbsünde kann bei Paulus keine Rede sein“ (S. 342). Wieder einmal analysiert ein Wissenschaftler die falsche Übersetzung eines zentralen Verses des Römerbriefes des Apostels Paulus (5, Kap., Vers 12). Augustinus meinte aus dem Text herauslesen zu können: Paulus lehre, dass alle Menschen in Adam gesündigt hätten, dass also förmlich in seiner Figur die ganze Menschheit zur Sünderin geworden sei. (S. 349). Dabei meint Paulus: Seit Adam betrifft der Tod alle Menschen, WEIL alle sündigen, WEIL alle Menschen Sünder (aber eben nicht Erbsünder) sind.
DieAugustinische Erbsünden-Lehre (treffender ist Erbsünden – Ideologie) hat etwa der Philosoph Kurt Flasch vor vielen Jahren schon sehr ausführlich kritisiert, leider erwähnt Peter Schäfer die Studien von Kurt Flasch nicht. Auch Schäfer betont: Paulus habe in keiner Weise die Überzeugung vertreten, die noch von der katholischen Kirche gelehrt wird: Dass in der Zeugung eines jeden Menschen diese Sünde weitergegeben wird. Diese Erbsünden-Ideologie hat ein Ziel: Es soll die Universalität der Notwendigkeit der Taufe aller Menschen (!) gelehrt werden, der Taufe, die zur Mitgliedschaft in der Kirche führt, aber dieses Sakrament kann unter normalen Bedingungen eigentlich nur der Klerus spenden. So wird durch die Erbsündenlehre des Augustinus auch die Unersetzlichkeit des Klerus zementiert. Darauf weist Schäfer nicht hin.

6.
Die Kritik an der Erbsündenlehre des Augustinus führt Schäfer dann auch zu Kant, der sich als einer der ersten explizit gegen diese offizielle kirchliche Lehre wandte. Und dann folgt zum Schluss eine sehr lesenswerte Kritik des heute noch/wieder ständig zitierten Nazi-Ideologen und Antisemiten Carl Schmitt. Auch für ihn ist die kirchlich offizielle Erbsündenlehre ein Argument, um wegen der behaupteten allgemeine Verderbtheit der Menschen den autoritären Staat, das Freund-Feind-Denken und den Krieg zu verteidigen (vgl. S.381).

7.
Ich hätte mir nach dieser vielfach anregenden Studie ein Schlusswort gewünscht, woher die dauerhafte Kraft und populäre Macht der biblischen Mythen herrührt. Und dann hätte man auch Stellung nehmen können, warum angesichts der Problematik des Monotheismus immer mehr Leute für einen Polytheismus als sympathische, freundliche, wenn nicht gar demokratische Haltung (etwa Odo Marquard) eintreten.

8.
Und man nimmt als Nicht – Judaist mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis, dass die rabbinischen Lehrer im 5. Jahrhundert (nach Chr.) betonen: Dieses Land Israel gehört dem Volk Israel „und es wird denen weggenommen, die seiner sich so sicher fühlen“, also damals den Christen, es war ihr „heiliges Land“ … und heute? Diese frühe Behauptung gewissermaßen „nationalistischer” Art wird von Peter Schäfer nicht weiter entwickelt. Er referiert nur die Rabbinen: „Dieses Land gehört letztlich nur Gott, und Gott nimmt es, von wem er will, und gibt es, wem er will, im Auf und Ab der Geschichte. Doch eines bleibt klar: Am Ende gehört das Land dem Volk Israel“ (S. 297). Peter Schäfer schreibt diese Sätze als Interpretation der alten rabbinischen Welt. Er verschweigt, dass dieses Denken auch heute die Politik im Staat Israel bestimmt, man denke jetzt (November 2022) an die Koalition der Rechtsextremen unter dem ebenfalls sehr rechten Netanyahu. Und man muss wohl die Frage stellen dürfen: Ist diese uralte, aber offenbar noch sehr bestimmende rabbinische Interpretation vom „jüdischen Land nur für die Juden“ Ausdruck einer gefährlichen fundamentalistischen Bibel-Interpretation? Sie ist heute nicht nur für eine vernünftige Theologie, sondern auch politisch, friedenspolitisch, obsolet geworden!

Peter Schäfer, „Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens“. C.H.Beck Verlag, München, 2022, 448 Seiten, 34,00 €. Das Buch enthält 16 prächtige farbige Bildtafeln, sie bieten einen Einblick in die Geschichte der Ikonographie der Schöpfungsmythen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Wir philosophieren immer schon: Ideen zum Welttag der Philosophie am 17.11.2022.

Von Christian Modehn und Hartmut Wiebus.

Zum “Welttag der Philosophie” am 17.11.2022.

1. Nur einen Tag lang Philosophieren? Das kann doch nicht der Sinn des „Welttages der Philosophie“ sein. Am 17. November 2022 wird dieser Welttag, auf Vorschlag der UNESCO, wieder einmal – ja was denn – „begangen“? „Gestaltet“? Gefeiert“? Vergessen? Ignoriert, weil es angeblich Wichtigeres gibt?

Der „Welttag der Philosophie“ hat nur den Sinn, daran zu erinnern, dass Menschen „immer schon“ in ihrem Leben philosophieren. Philosophieren ist also nur ein anderer Name für geistiges, vernünftiges Leben.
Was heißt: Philosophieren geschieht „immer schon“?
Zum Beispiel in jeder Entscheidung, die in einer Alternative geschieht, inmitten der Frage: Für welche Möglichkeit entscheide ich mich… Da kommen meine eigenen, meist unbewussten Werte, „immer schon gelebt“, und Normen zur Geltung.

2. Philosophie geschieht also als Philosophieren, als der Praxis des Denkens, des Nachdenkens, des Vorausdenkens, des kritischen Urteilens. Und Philosophieren findet immer im Gespräch statt, das beginnt schon beim inneren Selbst-Gespräch in meinem Denken (siehe Reflexion auf Alternativen) und … vor allem wichtig: im Dialog mit anderen. Dialog kann philosophisch oft zum Streitgespräch werden, und das ist gut so. Streiten ist das Ringen um eine tiefere Erkenntnis, auch um eine solche, die unbedingt gilt? Wir denken: Ja, darum geht es. Deswegen sind wir auch von Kant inspiriert. Stichwort: Kategorischer Imperativ!

3. Wir haben von 2007 bis 2020 philosophische Salonabende gestaltet, meistens monatlich, auch Ausflüge und Feiern, alles Versuche, das kritische Denken miteinander zu pflegen, auch und gerade zu explizit religiösen Fragen. Und angesichts der hoffnungslos erstarrten kirchlichen (katholischen) Institutionen wollten wir einen Weg weisen in eine eigene religiöse, spirituelle Haltung, die vor der Vernunftkritik bestehen kann. Auch zum Welttag der Philosophie hatten wir früher größere Veranstaltungen organisiert… das war einmal … aber dies nur ganz nebenbei gesagt.

4. Philosophie ist prinzipiell alles andere als eine schwierige Wissenschaft, wie etwa die Mathematik.
Nur sind leider viele philosophische Texte von Philosophen oft schwer verständlich, schwer „zugänglich“. Liegt das immer an der Schwierigkeit der behandelten Themen? Sicher auch! Manchmal aber auch an dem Ehrgeiz der Herren und Damen Philosophie-Professoren, die tatsächlich leider heute im ganzen der weiten wissenschaftlichen Welt eine Nebenrolle spielen. In diese Nebenrolle haben sie sich oft selbst manövriert – auch wegen ihrer eigenen schwierigen Texte, die dann ein „Alleinstellungsmerkmal“ DER Philosophie ausdrücken sollen. Heidegger war wohl von dieser Idee fixiert, etwas „ganz Besonderes“ liefern zu müssen. Und dann ereignete sich ihm das Sein und nur drei Leute verstanden ihn, die anderen staunten…

Ein anderes Beispiel: Der nun wirklich weltbekannte französische Philosoph Bruno Latour (1947 -2022) schätzte die Philosophie über alles, wie er mehrfach betonte (vgl. “Le Monde”, 11. Oktober 2022, S. 29). Er sagte als sein Bekenntnis: “Die Philosophie, sie ist so schön” (ebd.).” Die Philosophie  – und die Philosophen wissen das – ist diese erstaunliche Form, die sich für das Ganze, die Totalität interessiert. Und die diese  Totalität niemals erreicht, weil dieses Ziel gar nicht zu erreichen (zu wissen) ist, sondern (nur) zu lieben ist. Die Liebe, das ist das Wort, das Motto, der Philosophie” (ebd. Seite 29, Übersetzung C.M.) Latour arbeite gern im Team, er schätzte die empirische Untersuchung, die Soziologie…Siehe etwa sein letztes wichtiges Buch “Zur Entstehung einer ökologischen Klasse”, gemeinsam mit dem jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz, Suhrkamp, 2022, LINK.

5. Aber philosophische Texte sind auch literarische Texte, philosophische „Texte“ sind auch Kunstwerke, auch Kompositionen der Musik, auch Landschaften, auch Gesichter, auch Fotos, auch Eindrücke von dem grausigen Kriegsgeschehen: Überall ist Philosophie, man muss nur mit der entsprechenden Haltung des Nachdenkens und vor allem des Fragens diese Welten betrachten. Und dann passiert etwas im Neu-Verstehen der Welt, und … das Leben wird nicht immer leichter beim Verlust von Naivität. Zum Philosophieren gehört Mut. „Wage es…“ sagt Kant.

6. Philosophieren als Praxis der Philosophie wird dann zur Lebenshaltung, manchmal sogar zur Lebenshilfe. Dies ist eine Einschätzung, die Philosophieprofessoren in ihrem
abgeschotteten Uni-Dasein oft ablehnen. Dass heute in der Häufung der Krisen der Welt die PhilosophInnen meistens schweigen – zu den Krisen – hängt sicher damit zusammen: Diese Herren und Damen zieren sich, kritische und warum auch nicht vorläufige Hilfen im Leben vorzuschlagen.
Aber wenn kritisches eigenes Nachdenken nicht mehr hilft inmitten des Lebens, was hilft dann noch? Doch wohl nicht ein religiöser Fundamentalismus, der sich wie eine Pest heute ausbreitet in allen großen Religionen als Institutionen!

7. Damit wird eine enge, niemals aufzulösende Verbindung des einzelnen Philosophierenden bzw. der philosophischen Gruppen mit der realen politischen Situation deutlich: Philosophieren heute ist niemals eine kulturelle Idylle für “Schöngeister”.

Philosophieren konfrontiert jeden und jede mit den universal geltenden Menschenrechten, mit der Aufforderung, für die Herrschaft der Menschenrechte einzutreten. Und Politikern, die in unseren Demokratien Blabla reden oder taktisch zögern im Eintreten für die Menschenrechte, etwa zugunsten des Widerstandes gegen die Herrscher im Iran, in aller Schärfe und Ablehnung zu begegnen.  Zu den Menschenrechten gehört heute die Klimagerechtigkeit wie auch der Kampf gegen totalitäre Systeme.

Wer sich im Denken für die Welt des Politischen öffnet d.h. logischerweise öffnen muss, wer also für die Menschenrechte eintritt, erlebt erst die ganze Fülle und Tiefe philosophischen Denkens. Die Philosophierenden werden sich im Denken schützen können, um in dieser Situation nicht zu verzweifeln. Hoffen war ja eines der großen Themen Immanuel Kants. Er fand Überlebens-Hoffnung auch in einer vernünftigen (selbstverständlich nicht in einer konfessionell- klerikal begrenzten) Kirche bzw. Religion. Man lese Kants wichtige Schrift  “Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. LINK.

8. Die Bedeutung der Philosophie bzw. der Philosophen in der Gegenwart wird selbstverständlich in großer Vielfalt beurteilt. Wer philosophierend lebt, fragend und suchend und zweifelnd und gerade inmitten des Zweifelns am Zweifeln zweifelnd und so neue Gewissheit gewinnend, wird seine persönliche Antwort geben: Was ist Philosophie?
Allerdings: Kann „meine Philosophie“ nur „meine“ sein ? Oder sollte ich mich öffnen den Einsichten anderer …um dann zu einer neuen Gestalt „meiner“ Philosophien zu gelangen.

Michel Foucault (1926-1984), um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Begrenztheit der klassischen Philosophie als System, als Idealismus, als Lehre von „der“ Wahrheit überwinden wollen. Er verstand sich als Historiker, Soziologe, Schriftsteller und eben auch als Philosoph, aber dann mit einer merkwürdigen Definition seiner Philosophie. In seinem Buch „Von der Subversion des Wissens“ ( Frankfurt, 1987) heißt es: „Ein Typ philosophischer Tätigkeiten besteht darin, dass man die Gegenwart einer Kultur diagnostiziert. Dies scheint mir die wahre Funktion zu sein, die den Individuen, welche wir Philosophen nennen, zukommen kann“ (S. 27).

Um Diagnose also geht es Foucault in seiner Philosophie. Aber Diagnose ist Beschreibung eines Zustandes, der, etwa in der Medizin, als Krankheit, als Übel bestimmt werden kann. Und Krankheit als Krankheit erkennen, ist wieder eine normative Leistung, die Gesundheit als Ziel vor Augen. Wendet sich Philosophie also der kranken Kultur diagnostisch zu, dann hat sie immer auch und immer schon eine normative Idee vor Augen. Davon sprach Michel Foucault nicht. In dem genannten Buch sagt er mit Blick auf Nietzsche: „Die Philosophie hat die Aufgabe des Diagnostizierens, sie sucht nicht mehr eine Wahrheit, die für alle zu allen Zeiten gültig ist“ (S. 12). Damit lehnt Foucault eine universelle Wahrheit ab, für Kant und die Seinen schon ein Problem. Und sie würden fragen: Ist universelle Wahrheit aber doch implizit gemeint, wenn Foucault wirklich Diagnose meint, die einen Befund von Krankheit, Übel etc. ALS solchen erkennt. Verschiedene Völker verschiedener Zeiten werden konkrete Krankheiten je anders diagnostizieren und in ihrer Qualität bewerten, aber sie werden immer Krankheit als etwas zu Überwindendes verstehen und darstellen.

Damit will ich nur darauf hinweisen, wie schwierig es ist, sich philosophisch mit der Frage zu befassen: Was ist meine Philosophie, wo hat sie ihre Grenzen, wo sind ihre selbstgewählten, aber noch unreflektierten Einschränkungen. Philosophieren ist also das lebendige Leben inmitten aller Zweifel und Widersprüche. Anders „geht“ geistiges Leben nicht. Nur Fundamentalisten predigen das Gegenteil.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. www.religionsphilosophischer-salon.de

Link zum Welttag der Philosophie 2022: LINK
Link zu den Veranstaltungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons von 2009 bis 2020. LINK

Julian Barnes Bekenntnisse: Propaganda für den Polytheismus und das Heidentum.

Der neue Roman von Julian Barnes „Elizabeth Finch“
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Eine neue religionsphilosophische und theologische Debatte steht bevor: Die Diskussionen werden sich – wie manchmal schon zuvor – mit dem Rühmen des Polytheismus (Heidentum) befassen und der schon üblichen Verurteilung „des“ Monotheismus, also auch der christlichen Kirchen.

1.
Julian Barnes, weltweit bekannter englischer Autor und Essayist, hat einen neuen Roman publiziert: “Elizabeth Finch“ ist der Titel. Auf Französisch liegt der Roman schon seit dem 1. September. Deswegen hat „Le Monde“ Barnes in London besucht, einen langen Artikel veröffentlicht mit wichtigen Zitaten von Barnes (veröffentlicht am 26. August 2022, S. 12, in der Beilage „Le Monde des Livres“.) Der Roman “Elisabeth Finch” von Julian Barnes liegt nun (Mitte November 2022) auch auf Deutsch vor.

2.
Barnes zeigt sich in dem Beitrag als leidenschaftlicher Verteidiger des Polytheismus, für ihn identisch mit dem Heidentum. Und konsequenterweise als leidenschaftlicher Gegner „des“ Monotheismus. Das Christentum erwähnt er ausdrücklich, er denkt aber wohl auch an die beiden anderen monotheistischen Religionen, das Judentum und das Islam. Aber es ist wohl auch die Verachtung der gegenwärtigen Kirchen (auch der Kirche in England), die ihn zur Verurteilung des Monotheismus motiviert.

3.
Im Roman ist die Protagonistin, Elizabeth Finch, eine Kulturwissenschaftlerin, eine explizite Verehrerin des römischen Kaisers Julian Apostata: Er wandte sich als Christ wieder dem alten römischen und griechischen Glauben des Polytheismus bzw. dem Heidentum zu und wollte die sich herausbildende Vormachtstellung des Christentums zurückdrängen. Er lebte von 331 bis 363, als Kaiser regierte er von 360 bis 363, er starb am Tigris, damals im persischen Reich, im Kampf gegen das Sassanidenreich.
Die Begeisterung der Professorin Finch für den „abtrünnigen“ („Apostat“) Kaiser Julian wird von ihrem Schüler Neil erzählt. Er erinnert sich, wie Elizabeth Finch davon öffentlich sprach, wie der Monotheismus (gemeint ist das Christentum) eine Katastrophe für die Menschheit war, wie der Monotheismus als „Herrschaft und Korruption zur Auszehrung des europäischen Geistes führte“. Auch dies: Dass Julian Apostata moralisch viel höher stand als die ganze Reihe der Päpste. Und dass mit dem Ende des Heidentums, mit seinem Propagandisten Kaiser Julian, die Lebensfreude aus Europa verschwand…

4.
Sehr verwunderlich ist, dass Julian Barnes in dem Interview mit „Le Monde“ selbst sehr heftig Partei ergreift für den Polytheismus und das Heidentum. Zu Beginn gesteht Barnes: „Ich bin überhaupt nicht religiös, alle Religionen sind Fiktionen. Aber ich glaube, unter allen Religionen sind diejenigen, die sich auf den Polytheismus gründen, am besten erfolgreich“. Kaiser Julian Apostat habe mit seiner Toleranz gegenüber allen bestehenden, also heidnischen Religionen, so wörtlich, einen „Supermarkt der Religionen“ erfunden. Das findet Barnes gut, deutet das als Toleranz, laut „Le Monde“.
Das ist der Gipfel der Phantasie: Wenn Kaiser Julian Apostata länger gelebt hätte, dann hätte unsere Welt eine andere, eine bessere Richtung genommen. Julian hätte dann, so der Wunsch des Autors Barnes, das Christentum marginalisiert. Christliche Priester hätten nur noch „eine bescheidene Rolle gespielt neben den Heiden und Druiden, den Anbetern der Bäume usw.“ Dann „träumt“ (so wörtlich) sich der weltbekannte Autor Barnes laut „Le Monde“ in eine heidnische Welt, in der es dann aufgrund der angeblichen Toleranz des Heidentums keine Kriege gegeben hätte, eine bessere Förderung der Wissenschaft ebenso, behauptet Barnes. Und vor allem hätten die Menschen in einer Hoffnung gelebt, die sich ganz ausschließlich aufs irdische Dasein bezieht und nicht, so wörtlich, dem „absurden himmlischen Disneyland im Jenseits nach dem Tod“ geglaubt.
Julian Barnes erinnert sich in dem Gespräch mit Le Monde an die Romanschriftstellerin Anita Brookner (1928-2016), sie hätte so hübsch gesagt: „Monotheismus. Monomanie. Monogamie. Monotonie: Nichts Gutes im menschlichen Zusammenhang beginnt mit der Vorsilbe MONO“.

5.
Die Auseinandersetzung mit diesen Lobeshymnen auf Kaiser Julian Apostata und die angeblich enormen menschlichen und wissenschaftlichen Vorzüge des Heidentums, des Polytheismus, muss ausführlich geführt werden.
Es ist bekannt, dass der Polytheismus auch in philosophischen Kreisen ein gutes Ansehen genießt, man denke an an den Philosophen Odo Marquard, der 1978 einen vielbeachteten Vortrag hielt „Lob des Polytheismus“ (in: „Abschied vom Prinzipiellen“, Reclam, 1981, S. 91 -116). Man denke an die Vordenker der „Neuen Rechten“, etwa an den Franzosen Alain de Benoît, der auf Deutsch 1982 sein Buch „Heidesein. Zu einem neuen Anfang. Eine europäische Glaubensperspektive“ veröffentlichte (Graber Verlag in Tübingen). Zuvor war schon in dem genannten Verlag der Sammelband „Das unvergängliche Erbe“ erschienen, mit dem bezeichnenden Untertitel „Alternativen zum Prinzip der Gleichheit“ (herausgegeben von Pierre Krebs). Damit wurde schon im Untertitel angedeutet: Der zu überwindende Monotheismus, etwa das Christentum, setze stark auf das Prinzip der prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Und das wollen die genannten Herren rund um Alain de Botton nun gar nicht. Antisemitismus und Heidentum/Polytheismus gehören oft zusammen…

6.
Auch das gilt: Der Monotheismus kann selbstverständlich nicht pauschal verteidigt werden. Monotheistisch-fromme Menschen, etwa Christen, Theologen, Päpste usw .haben im Laufe der Kirchengeschichte ihre Haltung bewiesen: „Wir besitzen die absolute Wahrheit, und wir drängen diese unsere absolute Wahrheit allen anderen auf, durch Kolonialismus, Mission, Bekehrung“. Da hat sich also die Überzeugung durchgesetzt, subjektiv etwas Wahres erkannt zu haben, total auf objektive Welt, in die Gesellschaft, die Staaten übertragen. Und die Kirchen als Institutionen haben die nur für den einzelnen Menschen privat mögliche absolute Wahrheit ins Objektive, ins Allgemeine, als allgemeine Lehre, übertragen. Und dann begann die Katastrophe des Kolonialismus usw.

7.
Es muss hier nicht ausführlich besprochen werden, dass selbstverständlich innerhalb des Monotheismus, also der Kirchen, einzelne und Gruppen lebten und leben, die den Respekt der universalen Menschenrechte über ihre subjektive Glaubensform stellen. Man denke an Franz von Assisi oder auch an den Verteidiger der Indigenas, Pater Bartolome de las Casas.
Eine pauschale Verurteilung des Monotheismus, wie sie Julian Barnes versucht, ist schlicht und einfach historisch falsch. Genauso, wie es auch falsch ist, den Polytheismus pauschal gut und prächtig zu finden. Tatsache ist, dass heidnische Religionen, man denke an die Azteken, in ihrer rituellen Praxis nicht gerade ein Inbegriff der Menschlichkeit und Sanftheit waren. Ob der polytheistische Hinduimsus pauschal so menschenfreundlich ist, bleibt angesichts der jetzigen Hindu-Nationalisten sehr fraglich. Und ob die germanischen heidnischen Stämme einst nun große wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht hätten, wie Barnes hofft, ist auch fraglich.
Und kann man heute gar nicht davon davon absehen, dass viele Soziologen und Politologen von den neuen Göttern des Kapitalismus und Neoliberalismus sprechen, Götter, die das permanente Wachstum gebieten und die Herrschaft der „Alternativlosigkeit“ predigen. Diese neuen materiellen Götter des polytheistischen Kapitalismus haben bei vielen jedenfalls keine gute Presse. Gott sei Dank, oder den Göttern sein Dank!

8.
Allein differenzierendes Argumentieren hilft bei dem Thema weiter und eine genau Kenntnis der Geschichte des spätrömischen Reiches, als es um das Zusammenleben von Heiden und Christen (und Juden) ging. Dazu gibt es vorzügliche historische Studien von bedeutenden Historikern, ich nenne nur den Engländer E.R. Dodds, Gräzist in Oxford, von ihm liegt auf Deutsch u.a.vor: „Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst“ (Suhrkamp, 1985).

9.
Es wäre im einzelnen zu zeigen, dass die universal geltenden Menschenrechte erst im Zusammenhang des Monotheismus möglich wurden. Die Menschenrechte sind ein Produkt der philosophischen Aufklärung, aber diese lebte von dem Gedanken, dass es ein oberstes Prinzip (manche nannten es noch Gott, die Deisten) geben muss als schöpferische Kraft fürs Entstehen aller Menschen. Über diese oberste schöpferische Kraft (Monotheistisch) sind also alle Menschen über die eine gemeinsame Herkunft miteinander verbunden, als Brüder und Schwestern.

10.
Es muss weiter untersucht werden, wie sich vor allem im Katholizismus eine offiziell nicht eingestandene polytheistische Tradition entwickelt hat, man müsste also ernsthaft über den Marienkult reden als Form der Verehrung einer weiblichen Gottheit; man müsste über den Kult der Engel sprechen, heute sehr beliebt, nicht nur bei den geschätzten 20 Engelbüchern von Pater Anselm Grün, sondern auch bei „kirchenfernen“ Leuten. Man müsste sprechen die Heiligenkulte, die Reliquienkulte, die Segnungen von Bäumen und Autos und Handys und Tieren im Katholizismus. Und vor allem: Allen Ernstes müsste endlich gezeigt werden, wie polytheistische Inhalte im Glauben an die Trinität enthalten sind, der Theologe Edward Schilleeeckx hat drauf hingewiesen. Für Kirchenchefs ein peinliches Thema!

11.
Man ist aber insgesamt sehr erstaunt, wie ein „weltbekannter“ Autor wie Julian Barnes (40 Bücher, übersetzt in 30 Sprachen und vielfach mit Preisen überschüttet) sich derart fürs Heidentum heute einsetzen kann.
Aber Religionsphilosophen können auch dankbar sein, dass durch die ziemlich oberflächlichen Behauptungen und „Träume“, wie Barnes selbst sagt, das Thema „Wie böse ist denn nun =der= Monotheismus“ gründlicher diskutiert wird. Und deutlich werden muss auch: Alle rechtsextremen Kreise heute wie damals schmücken sich gern mit heidnischen Ideologien oder Versatzstücken von Edda und Wotan usw. Und sie sind oft Antisemiten!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.