Blaise Pascals 400.Geburtstag. Er analysiert das seelische Elend des Menschen, um für einen radikalen Glauben zu werben.

Größe und Grenzen des viel gerühmten Blaise Pascal (1623-1662)
Ein Hinweis von Christian Modehn

Über biographische Details informiert, unter anderen Publikationen, auch wikipedia. Wir konzentrieren uns auf einige zentrale philosophische und theologische Fragen.

1.

Viele Behauptungen Pascals sind populär, sie werden in Sonntagsreden und Feuilletons zitiert, sind manchmal schon zu schlichten „Wandkalender-Weisheiten“ geworden:
– „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.”
– „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.“
– “Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“
– “Die Niedrigkeit des Menschen geht so weit, dass er sich den Tieren unterwirft bis zur Anbetung“

2.
Es gibt fast keinen Philosophen oder Schriftsteller „von Bedeutung“, zumal in Frankreich, der sich nicht ausführlich zu Pascal, meist lobend, geäußert hat. Es ist fast so, als gehöre es zum guten Ton, Pascal mit einem Hauch der Bewunderung zu erwähnen. Auch die Liste der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Philosophen, Schriftsteller und Laien-Theologen Pascal ist umfangreich.
Pascal als Naturwissenschaftler, Mathematiker, Erfinder ist nicht Thema dieses Hinweises. Er wurde in dem Zusammenhang oft ein Genie genannt, weil er seit seinen ersten Lebensjahren hervorragende naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse und bis heute gültige Einsichten hatte und technische Erfindungen vorzuweisen hat… Aber nach seiner Bekehrung zu einer Form radikalen Christentums (d.h. Katholizismus als radikale Gnadenlehre) standen diese wissenschaftlichen Themen nicht mehr im Mittelpunkt seiner Interessen.

Und das Verwirrende an der Person Pascals ist: Er denkt naturwissenschaftlich – klar, aber im philosophische Denken, das für ihn ein bestimmtes theologisches Denken ist, ist er letztlich gebunden an Mythen und Dogmen. Klares Denken der Vernunft gibt es für ihn im religiösen Bereich nicht mehr. Existiert also eine gewisse Spaltung im Denken dieser einen Person Blaise Pascal? Diese Frage kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Wir weisen hier nur auf einige philosophische und theologische  Strukturen von Pascals Leben und Denken hin.

3.
Wer sich aber als Philosoph kritisch mit Pascal befasst und entsprechend äußert, wie Voltaire, dem werden „gehässige Äußerungen“ unterstellt oder gar „Angriffe“, weil er an „wesentlichen Gedanken Pascal vorbeigeht“, so die Voltaire-Kritik von Eduard Zwierlein in seiner „Skizze zur Wirkungsgeschichte“ (Pascals) in seinem Buch „Blaise Pascal. Gedanken“, Suhrkamp Studienausgabe, 2012, S. 286.
Aber es ist heute die Frage: Worin besteht denn die aktuelle Bedeutung, worin bestehen möglicherweise Pascals hilfreiche Erkenntnisse für die Probleme der Menschen der Gegenwart?

4.
Pascals Analysen und Interpretationen zum „Wesen“ des Menschen, zu seiner „Natur“, wie er sagte, konzentrieren sich auf die Schattenseiten menschlicher Existenz. Es geht Pascal vorrangig in seinen anthropologischen Hinweisen um die „zerrissene, zwiespältige Natur” „des“ Menschen, also des Franzosen und Europäers im 17. Jahrhundert.
Pascals ausführliche Analysen zum seelischen und geistigen Elend (und manchmal fehlen auch nicht Hinweise zum Elend der politischen Verhältnisse) sind heute selbstverständlich mit der üblichen Distanz, mit Abstand und Zweifel zu würdigen. Dies gilt vor allem von Pascals Grundidee, dieses Elend des Menschen in einem zweiten Schritt dann auf die Erlösung des seelischen Elends, der menschlichen Zerrissenheit zu lenken. Pascals sieht die Verwirrung und sogar die „Zerstörung“ des Menschen im Mythos der Erbsünde: Ob man sich diesem Kirchen-Dogma in einem kritischen theologischen Denken heute anschließen kann und darf, ist die Frage. Wir beantworten die Frage mit Nein.
Dies sind jedenfalls die zentralen Themen des Philosophen und Laien-Theologen Blaise Pascal unmittelbar nach seiner Bekehrung im Jahr 1654, die er als Bruch in seinem Leben verstand und als Abschied von dem ihm vertrauten und wohl auch geschätzten „mondänen Leben“ der feinen Pariser Gesellschaft.

5.
Blaise Pascals philosophisches – theologisches Hauptwerk, „Pensées“ genannt, scheint nach wie vor viele Menschen ins Nachdenken, in Erschütterungen, ins Grübeln zu führen über die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz.
Die „Pensées“ werden ein Buch genannt, das nach Pascals Tod im Jahr 1662 zum ersten Mal 1670 veröffentlicht wurde, das aber danach, zumal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, immer wieder neu in einigen historisch-kritischen Ausgaben herausgegeben wurde.
Hinterlassen hatte Blaise Pascal seine „Gedanken“ in vielen, meist noch ungeordneten Papieren, die erst nach seinem Tod entdeckt wurden. Seit 1656 arbeitete Pascal an diesen Notizen und kürzeren Texten, sie waren von ihm gedacht als eine „Apologie des Christentums“: Eine Form des radikalen Katholizismus verteidigen, für ihn werben, zu ihm hinführen, das war sein Thema seit seiner „mystischen“ und plötzlichen Bekehrung am 23. November 1654. Er stellte dann seine naturwissenschaftlichen Forschungen zurück, um sich ganz vorrangig dem „Studium des Menschen“ zu widmen. Aber diese Reflexionen zum Wesen des Menschen dienen der Hinführung zum katholischen Glauben. Die theologische Interessen des Laien-Theologen Pascal (er hatte sich bestimmte theologische Einsichten selbst angeeignet, viele wurden ihm im Gespräch mit Theologen erschlossen) belegen auch die Publikationen wie der „Dialog mit M. de Saci“ oder „Das Mysterium Jesu“. Hoch geschätzt, auch wegen der Kraft ihrer Sprache, sind Pascals „Lettres Provinciales“, die er 1656-1657 unter dem Pseudonym Louis de Montalte veröffentlichte, diese Briefe waren ein damals heikles Unternehmen: Denn sie kritisieren heftig und scharf die Theologie der damals einflußreichen Jesuiten. Sie gelten Pascal als zu liberal und zu mondän, im moraltheologischen Sinne als Laxisten. Im Jahr 1660 wird eine lateinische Ausgabe dieser “Lettres“ öffentlich in Paris verbrannt.

6.
Pascals Grundüberzeugung, wie sie in den „Pensées“ greifbar wird: Der Mensch ist in seinem Wesen immer widersprüchlich, zerrissen, verlogen, raffiniert, er ist verführt von Ablenkungen; der Mensch vernachlässigt die Pflege seiner Seele, sieht nicht, dass das Herz, das Gemüt, wichtiger ist als die Vernunft. Er ist den unendlichen Räumen des Weltalls hilflos und verlassen ausgesetzt. „Die Lage des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit“.

7.
Pascal argumentiert in seinen gedanklichen Entwürfen, „Pensées“ genannt, durchaus philosophisch, er kennt die Philosophie Descartes und Montaigne, auch die Stoiker, wie Epictet, aber er ist insgesamt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Eigenständigkeit philosophischen Denkens bestimmt. Er kann zwar schreiben: „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“ (NR 89, S. 50.) Aber er hat stets die Überzeugung, dass es nur ein einziges „richtiges“ philosophisches Denken gibt, und das ist ein Denken, das sich dem biblischen Gott hingibt, also im Sinne Pascal dann in dieser Selbstaufgabe „richtig denkt“. Und dem „Herzen“ als der Mitte der Gefühle allen Vortritt lässt. Das “Denken des Herzens” beansprucht Pascal für sich: Nur dieses Denken des Herzens nimmt wahr, so meint er: Das Elend des Menschen, es findet die Lösung, die Erlösung in der Gestalt Jesu Christi, im Glauben allein.

8.
Die Philosophie, meint Pascal, kann sich nicht selbst begründen, das Denken muss dem Glauben Platz machen, nur im Glauben wird Gott erreicht. Der christliche Glaube reinigt in gewisser Weise das Denken und damit auch das Verhalten der Menschen; sind die Menschen doch durch die Erbsünde verdorben: „Die Natur (des Menschen) ist verderbt. Der Mensch handelt nicht der Vernunft gemäß, die sein Wesen ausmacht“ .
Philosophieren hat also im Sinne Pascals nur den Zweck, die Grenzen des Denkens philosophisch aufzuzeigen, um dann den Sprung in den Glauben, d.h. in seine Form des radikalen katholischen Glaubens, zu fordern bzw. zu diesem Sprung aufzurufen.
Philosophie hält der sich philosophisch bildende Pascal für ungeeignet, zu Gott zur führen. Eine Ausnahme hat er gemacht in seiner umstrittenen WETTE, dazu ein Hinweis Nr. 14.

9..
Darin wird die Radikalität des religiösen Fanatikers Pascal deutlich, der das Elend der Menschen zeigt, um dann mit einer Art „Keule“ die Erlösung zu behaupten. Man fragt sich manchmal, ob alle die vielen, die voller Bewunderung „ihren „Pascal“ hoch loben, auch diese eher explizit theologischen Kapitel seines Werkes gelesen haben.
Schon 1646 lernt Pascal die radikale Gnadenlehre des katholischen Bischofs Cornelius Jansen von Ypern, 1585 – 1638 kennen, diese Theologie wurde deswegen auch „Jansenismus“ genannt. Die Theologie des katholischen Bischof Jansenius erweckte eine bestimmte Interpretation der Gnadenlehre des Augustinus zu neuem Leben, in der manche auch Anklänge an die radikale Gnadenlehre des Reformators Calvin entdecken wollen.

10.
Dennoch verkehrt Pascal nach 1646, dem Jahr der ersten Bekehrung, zunächst weiter in den „mondänen Salons“ von Paris und gibt sich allerhand Vergnügungen hin, angeblich gelangweilt, aber er ist dennoch dabei…
Ende 1653 beginnt Pascal, sich von dieser Welt der Freigeister zu distanzieren. Nach einem schweren Unfall, aus dem er sich wunderbar errettet fühlt, (Wunder sind DAS Lieblingsthema des frommen Pascal), erlebt er kurz danach, am 23.November 1654, in der Nacht,  eine Art mystisches Erlebnis der unmittelbaren Gottesverbundenheit. Er verfasst, dicht am mystischen Ereignis selbst, eine Art Erleuchtung, die als „Memorial“ auch heute bekannt ist. Er näht sich diesen Text in seinen Mantel ein, um ihn als eine Art Begleitschutz immer bei sich zu haben und niemals zu vergessen. Dies ist die Zeit, in der sich Blaise Pascal der Spiritualität des Zisterzienserinnen Klosters “Port Royal“ immer mehr annähert: Im Kloster lebt seine Schwester Jacqueline als Nonne, das Kloster denkt und lebt gemäß der strengen Gnadenlehre von Bischof Jansen und kommt deswegen in heftigste dogmatische Konflikte mit Pariser Theologen der Universität und der politischen Führung. Denn eine Art katholischer Sonderlehre stört den absoluten Herrschaftswillen des Königs: Er will eine einzige katholische Kirche beherrschen, nicht über mehrere Traditionen, die als Konkurrenz auftreten.
Pascal unterstützt den entscheidenden Theologen des Klosters Port Royal, Antoine Arnould (1612-1694) in seiner radikalen Gnadentheologie gemäß den Weisungen Bischof Jansens. Pascal verteidigt also offen den Jansenismus.
Der Kampf um die richtige Gnadenlehre eskaliert, der Papst zwingt die Nonnen, sich von den Lehre des Jansenius zu trennen, dem Befehl entsprechen sie auch. Pascal lehnt diese Leistung des Gehorsams  ab, er bleibt also Anhänger der jansenistischen Lehre.  Aber, und das ist erstaunlich, er kümmert sich gerade dann doch wieder um weltliche Dinge, diesmal um den Aufbau eines gemeinnützigen Transportunternehmens für die Stadt Paris… Schwer krank stirbt Blaise Pascal im Alter von 39 Jahren am 17. August 1662. Er wird in der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont begraben.

11.
Es geht also Pascal in der Suche nach Erlösung um einen Sprung: von der Erkenntnis des menschlichen Elends hinein in den Glauben an Gott: Aber dieser Sprung in Gott hinein ist für ihn keine Leistung des Menschen, sondern Gnade und Gabe Gottes allein. Pascal argumentiert dabei streng biblizistisch, er hält alle Aussagen des Neuen Testaments, so wie sie damals formuliert wurden, für Gottes Wort. Allein schon deswegen gilt es Abstand zu nehmen von jeglicher „Pascal-Begeisterung“. Um so mehr, als sein Verständnis von katholischer Kirche  heute an die Traditionalisten der Pius-Brüder des Anti-Konzils-Bischofs Marcel Lefèbvre erinnert. Der Philosophiehistoriker und Pascal-Spezialist Wilhelm Schmidt-Biggemann schreibt in seinem Buch „Blaise Pascal“ (C.H.Beck Verlag, 1999) auf Seite 145: „Da der Mensch (im Sinne Pascals) aus der Sünde nur durch die Gnade herausfindet, die Kirche aber die Gnadenmittel verwaltet, war die Zugehörigkeit des Gläubigen zur Kirche notwendig.“ Auch Schmidt-Biggemann nennt Pascal ausdrücklich „einen Jansenisten“ (S. 146), also einen Gläubigen im Sinne der strengen Sonder-Theologie des Bischofs Jansenius. Zur Wirkung der Jansenisten in Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert, siehe Nr. 16.

12.
Der Grund für die totale Unfähigkeit des Menschen, von sich aus zum Glauben zu kommen: Für Pascal ist es die totale Last der Erbsünde. Denn das ist heute so Befremdliche und so wenig Hilfreiche am Denken des Blaise Pascal: Diese Fixiertheit auf die totale Macht der Erbsünde ist heute höchst problematisch, weil die “Erbsünde,” im Paradies angeblich geschehen, ein Mythos ist, der dann vom „Kirchenvater“ Augustinus mit aller Macht durchgesetzt wurde, obwohl es begründeten Widerstand gegen das Dogma der Erbsünde gab. Im ganzen wird heute von kritischen Theologen diese Erbsünden – Lehre als der größte Schaden anerkannt, den ein Dogma jemals anrichtete.

13.
Voltaire und Pascal
„Der Kampf Voltaires gegen Pascal war ein Kampf um ein vernünftiges Verständnis des Christentums“, schreibt der Philosoph und Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt/M. 2008, S. 346). Zum Verständnis des menschlichen Wesens trage die Erbsündenlehre aber nichts bei, sie sei ein „theologischer Roman orientalischer Herkunft“, so fasst Kurt Flasch die Position Voltaire zum Thema zusammen. Alles, was die Erbsündenlehre zu erklären behauptet, “lässt sich aus der Betrachtung der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens, verständlich machen“ (ebd.) In seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (Frankfurt/M. 2020) setzt sich Kurt Flasch sehr ausführlich mit Pascal auseinander: „Was war das Pascalsche Christentum der Gnadenschriften? Es war ernst, düster, streng, gewissenhaft, scholastisch kostümiert…er beschrieb drohend den Inhalt seiner Art von Christentum. …. Es werden nicht alle Getauften gerettet usw…“ (S. 154f.). Flasch fasst zusammen: „Das Pascalsche Christentum ist ein tristes Christentum“ (ebd.). „Er duldete im Christentum weder Vielfalt noch Wandel“ (S. 158).

14.
Einer der merkwürdigsten Texte Pascals ist der kurze Essay, der als „Wette“ bekannt wurde. Es geht um die Frage: Wer ist mehr im Vorteil, wer an Gott glaubt oder wer nicht an Gott glaubt?
Pascal, der sonst der Kraft philosophischer Reflexion gerade in Bezug auf die Gotteserkenntnis misstraut, wagt nun einen – für fromme Leute – geradezu gotteslästerlichen Vorschlag: Pascal sagt, ganz knapp zusammengefasst: es ist für jeden Menschen, selbst für den Ungläubigen, sinnvoller und vor allem vorteilhafter, an Gott zu glauben als nicht an Gott zu glauben.
Denn wenn man sich entscheidet, an Gott zu glauben, folgt man auch den ethischen Werten, die Gottes Kirche, also die Katholische, lehrt: Dadurch wird man tugendhaft und glücklich in diesem Leben auf Erden. Und wird dann nach dem Tod von Gott mit dem ewigen Leben im Himmel belohnt. Wer also glaubt, kann nichts falsch machen. Denn selbst wenn es Gott nicht gibt, was sich in Sicht Pascals erst post mortem feststellen läßt, hat doch immer ein schönes und gutes Tugend-Leben gelebt, also auch in der Hinsicht nichts falsch gemacht.
Wer als Atheist auf seiner Position beharrt, lebt nicht gemäß den glücklich machenden Tugendweisungen der Kirche. Er wird also auf Erden unglücklich sein. Und wenn es denn Gott gibt, kann der Atheist post mortem dann nur erleben, dass der strafende Gott ihn, den bösen Atheisten, in die Hölle stürzt.
Also, liebe Leute, möchte man sagen, seid raffiniert und glaubt an Gott und folgt der Morallehre der Kirche. So einfach ist das also. Eigentlich eine blamable Argumentation: Ist die Moral der Kirche wirklich so vieles an Glück bringend? Jedenfalls Pascal behauptet in dieser Wette: Nur einzig der glaubende Mensch ist in der „Wette“ der Gewinner…Wenn aber der Gewinner sein himmlisches Glück erst post mortem erlebt, ist dies nicht gerade die „feine Art“, für diese Wette zu werben…

15.
Was bleibt? Pascal war ein theologischer Fanatiker!
Kaum hatte sich Pascal dem christlichen Glauben zum ersten Mal intensiv zugewandt (1646), klagte er gleich den Theologen Jacques Forton der Irrlehre an, wegen „rationalistischer Ideen zur Menschwerdung Gottes“. Der Erzbischof von Rouen zwingt deswegen den Theologen zum Widerruf.
Pascal war ein religiöser Fanatiker von Anbeginn, schreibt später Voltaire über Pascal, sicher eine treffende Erkenntnis, wenn man an Pascals an glühendes Eintreten dann doch für für die rigorose Erbsündenlehre des alten Augustinus denkt. Auch Pascals „Lettres Provinciales“ waren als „Kampfschrift“ gegen die „liberalen“ Jesuiten gemeint, dabei waren die Jesuiten wie Pascal von den Grundeinsichten klassischen katholischen Erlösungslehre und der hierarchischen Kirchenleitung überzeugt, die Jesuiten waren alles andere „als humanistische-freidenkerische Theologen. Es waren also Streitereien um Details, in heutiger Sicht. Privat versuchte Pascal den radikalen Weisungen Jesu von Nazareth zu folgen, große Teile seiner Habe spendet er für caritative Zwecke und verlangt für sich ein „Armenbegräbnis“.

16.
Der Jansenismus hat die katholische Kirche Frankreichs viele Jahrzehnte belastet. Er bildete als Massenbewegung tatsächlich so etwas wie eine zweite katholische Kirche in Frankreich, offiziell von den Herrschern und den maßgeblichen Theologen verfolgt. König Ludwig XIV. ließ z.B. das berühmte Kloster Port Royal im Jahr 1712 zerstören, und als die Pariser Bischöfe, wie etwa Christophe de Baumont, die jansenistischen Priester dort ausgrenzten und deren Gläubige bestraften, „wird ganz Paris erst recht jansenistisch erweckt“, wie die Historikerin Monique Cottret betont. Pariser Politiker greifen ein und bestimmen, alle Gläubigen sollten die Sakramente oft im Alltag empfangen dürfen, während der Erzbischof dagegen ist, weil die Gläubigen nur unwürdige Sünder sind … Eine totale Verwirrung für die Glaubenden ist diese Verschiedenheit der Lehren, sie führt die einfachen Leute zur Verwirrung, letztlich auch zum Abschied von der Kirchenbindung. Die in Frankreich so oft dokumentierte „Entchristlichung“ bestimmter Regionen, wie in Burgund oder Zentralfrankreich (Bourges, Nevers, Albi, aber auch Limoges, Guéret usw.), wird oft mit der verwirrenden Vielfalt katholischen Glaubens, nach offizieller Art und nach jansenistischer Art, begründet, wobei der offizielle Katholizismus bis ins 19.Jahrhundert zudem eher „gallikanisch“, d.h. also ein französischer, nicht aber römisch-päpstlich bestimmter Katholizismus war.

17.
Es ist erstaunlich, dass bis heute so viele, auch sich atheistisch nennende Philosophen, von Pascal im allgemeinen geradewegs in Schwärmen kommen, wie der atheistische Philosoph André Comte-Sponville, er schreibt in „Le Magazine littéraire.Pascal“ November 2007, S. 58. „Er ist ein immenses Genie“. Der Soziologe und Philosoph Edgar Morin schreibt (in seinem Buch „Mes Philosophes“, Paris 2013, S.53 -62 vollere Lob: „Pascal ist von einer unerhörten Aktualität“ (S. 58). Am bekanntesten sind wohl die Bekenntnisses Albert Camus zu Pascal, den Camus „den Größten von allen, gestern und heute“ nennt. Und in seinen „Carnets“ gesteht Camus ein, zu den Menschen zu gehören, die von Pascal zwar erschüttert, aber nicht bekehrt werden“. (So die Notizen von Camus am 6.11.1956, siehe den Pascal-Beitrag in „Dictionnaire Albert Camus“, Paris 2009, S. 649).
Auch Friedrich Nietzsche hat sich mit Pascal befasst und ihn sogar gelobt, weil er als Christ sich redlich um Selbstkritik bemüht habe. Aber keineswegs will Nietzsche das Denken Pascals hochschätzen, denn Pascal betreibe den „Selbstmord der Vernunft“ (so in „Jenseits von Gut und Böse“, Nr. 45, 46,…), ein Abschied von der Vernunft, „inspiriert vom christlichen Glauben.“ Pascal selbst sei, so Nietzsche, „durch den christlichen Glauben als Philosoph psychisch vernichtet worden…“
Peter Sloterdijk hat in seiner Porträtsammlung „Philosophische Temperamente“ (München 2009) auch einige knappe Hinweise zu Pascal niedergeschrieben, immer in gewohnter globaler, sprachlich manchmal leicht verschlüsselter Einschätzung der Denker. Für Sloterdijk wird Pascal zu einem Autor „für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken“, was immer das bedeuten mag ( S. 54). Ähnlich nebulös ist Sloterdijks Behauptung: „Pascal ist der erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung“ (S. 56). Nebenbei: Der wievielte „Sekretär“ wäre dann Peter Sloterdijk?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Offene Kirchen contra verschlossene Religion? Aber: Wozu sind die „offenen Kirchen“ offen …. wenn sie denn offen sind?

Ein Hinweis zu den Dorf-Kirchen im Land Brandenburg
Von Christian Modehn

1.
„Was machen wir, wenn die Gläubigen wegbleiben? Müssen wir Dorf – Kirchen (in Brandenburg) verschließen, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen in der Hoffnung auf wieder christlich engagiertere Zeiten? Oder können wir sie anders oder auch gewissermassen mit queren Ideen nutzen?“

2.
Solche Fragen, die zu „queren Ideen“, also provozierenden Vorschlägen, direkt auffordern, liest man nicht gerade oft in kirchlichen Publikationen. Diese Sätze stehen aber auf Seite 3 im Vorwort der Broschüre „Offene Kirchen 2023“, das Heft hat den Titel „Gotteshäuser im Wandel“, gemeint sind „Gotteshäusern“ auf den Dörfern der Mark Brandenburg.

3.
Zum Hintergrund:
Das Thema Dorfkirchen im Land Brandenburg ist alles andere als ein marginales, „bloß kirchliches“ Sonderthema. Diese Kirchengebäude, so klein, so bescheiden sie auch sein mögen, sind oft die einzige sichtbare und ästhetisch oft auch ansehnliche Erinnerung an „Kultur“ und kulturelle Traditionen in den Dörfern. Die Kirchen sind Zeugen einer religiösen Vergangenheit, die selten glorreich oder glanzvoll war in Preußen bzw. in Brandenburg. Aber immerhin, diese Gebäude aus alter Zeit, haben die DDR-Anti-Kirchenpolitik mehr schlecht als recht überstanden, auch die kirchenfeindliche Nazi-Zeit oder die problematische enge Verbindung der Kirche mit dem Staat im Kaiserreich usw.
Aber sie sind bis heute in gewisser Weise doch noch kleine „Lichtblicke“ in den sonst an kulturellen, architektonischen Höhepunkten sehr armen Regionen Brandenburgs. Dort freut man sich schon über gepflegte Ruinen von Zisterzienser-Klöstern (etwa in Chorin oder in Zinna) oder denkt an das von sehr konservativen österreichischen Mönchen wieder „belebte“ Barock-Kloster Neuzelle…LINK   Wie sollte auch die Kirche glänzen, wenn 2022 nur 14 % der Bevölkerung Brandenburgs sich evangelisch nennen und 3,6% katholisch, alle Mitglieder sind nicht mehr die Jüngsten. 2011 waren noch 17 % evangelisch und 3,0% katholisch. Das heißt, die Kirchenbindung wird in absehbarer Zeit nicht mehr deutlich wahrnehmbar sein. Ein Phänomen, das alle neuen Bundesländer besonders betrifft.

4.
Etwa 1.500 Dorfkirchen soll es nach ungefähren Zählungen im Land Brandenburg jetzt geben, etwa 850 dieser Kirchengebäude sind uralt, ursprünglich im 13., 14. Jahrhundert errichtet. Und es gibt verschiedene Initiativen, die sich um den Erhalt und die Renovierung dieser Dorfkirchen kümmern, bekannt ist der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“. Jährlich veröffentlicht er eine Broschüre, im Jahr 2023 mit dem Titel „Gotteshäuser im Wandel“. Aus dem Vorwort wurde schon am Anfang dieses Beitrags zitiert. Die Frage ist: Was wird aus den zum Teil mit viel persönlichem Einsatz und öffentlichen Geldern restaurierten Dorfkirchen und was aus den noch zu renovierenden?
Das Thema ist aber auch sozialwissenschaftlich relevant: Denn sind die Kirchen in den Dörfern nur Denkmäler aus vergangenen Zeiten, also äußerst selten genutzte, fast immer verschlossene Gebäude? Dann sind die Dörfer ein weiteres Mal wie tot erscheinende Orte mit einigen „Überlebenden“: Verschlossen sind schon fast alle Gaststätten von einst, nicht mehr vorhanden die kleinen Lebensmittelmittel-Geschäfte, kaum noch benutzt die Bushaltestellen der selten fahrenden Busse, weit entfernt vom Dorf die medizinische Versorgung, die Sparkassen usw. Schon jetzt ist es Tatsache: Eine gewisse Melancholie, manchmal eine Depression, kann den Besucher in dieser Gegend überfallen, wenn er diese Dörfer etwa der Uckermark besucht, er besucht sie, eingeladen von der Schönheit der Natur dort, den Alleen, der Stille.

5.
Wer einige „quere Ideen“ also theologisch-kritische Ideen formuliert, muss realistisch beginnen: Wer an diese Kirchen voller Neugier und auf der Suche nach Momenten spiritueller Sammlung herantritt, findet sie in Brandenburg jedenfalls meist verschlossen. Bestenfalls mit einer handgeschrieben Information, an der Kirchentür mit Reißnagel angeheftet: Bei Frau X Y im Dorf könne man sich ja den Schlüssel besorgen. Und sonntags um 10 Uhr? Da kann der Besucher lesen, dass der nächste Gottesdienst in dieser Kirche erst in 3 Wochen wieder stattfindet. Kein irgendwo ausliegendes Gemeindeblättchen hat den Mut, ehrlich mitzuteilen, wie viele Seelen denn an diesen Gottesdiensten teilnehmen. Wer dann zufällig in den Dörfern bei Gemeindemitgliedern nachfragt, erhält meistens als Antwort: „Na ja, Heiligabend ist die Kirche voll, sonst kommen so 8-10 Leute zum Gottesdienst“. Vom Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen ist auch keine Rede… Eine sterbende Kirche als in oft recht hübsch herausgeputzten kleinen verschlossenen Kirchen? Diese Erkenntnis sollte nicht verdrängt werden.

6.
Nun also die offiziell gewünschten „queren“, also kritischen Ideen.

– Die Gottesdienste: Nach wie vor finden evangelische Gottesdienste eher selten in den Kirchen der Dörfer statt. Und es sind Gottesdienste, die der üblichen, vorgeschriebenen liturgischen Ordnung folgen. Also mit all den inhaltlich kaum noch nach vollziehbaren Gebeten und Liedern. Solche Gottesdienste zu feiern ist freilich für viele PfarrerInnen einfacher als sich kreativ etwas Neues zu überlegen.
Es sind also fast immer herumreisende Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Gottesdienste etwa einmal im Monat in den jeweiligen Dorfkirchen halten, die zu ihrem „Sprengel“ „gehören“. Muss das so sein?

Die systematische Ausbildung von Laien als Gemeindeleitern und Gottesdienstleitern aus den Dörfern selbst gab es offensichtlich nicht. Sie könnten im Team oder einzeln wöchentlich einen Gottesdienst anbieten. Das hätte der Ausbau einer Basis-Laien-Kirche sein können. Aber dafür ist es wohl nun – aufgrund der Altersstruktur auf den Dörfern – zu spät. Die Kirche hat den Aufbau einer lebendigen Laien-Kirche verschlafen oder hat nicht im entferntesten daran gedacht. Basisgemeinden waren auf Kirchentagen etwas Bejubeltes für Lateinamerika, nicht für Brandenburg oder die Dörfer in der ganzen Republik. Diese „quere Idee“ können wir uns also abschminken, für eine Laien-Basis-Kirche ist es. – mangels Personal – wohl zu spät. Ein solcher Gedanke an kirchliches Versagen kann manchen Theologen in eine gewisse Trauer führen, wenn er auch bedenkt, wie viele Milliarden Euro in all den Jahren durch den kirchlichen Betrieb geflossen sind. Wohin bloß, in die Kosten für das etablierte Personal?
Lebendige Kirchengemeinden können nur entstehen, wenn endlich konsequent in den Gottesdiensten eine neue Sprache, begründet in einer neuen Theologie, praktiziert wird. Theologische übliche Floskeln, aus Gottesdiensten zu Heiligabend oder Karfreitag bekannt, sind verbraucht und leer: „Der Erlöser ist da“, „deine Sünden sind dir vergeben“, „Christi Blut rettet dich“, „Das Lämmlein geht und trägt die Schuld“. ….und so weiter…

Es müssen in diese Dorfkirchen explizit auch Dorfbewohner eingeladen werden, die nicht Mitglieder der Kirche sind. Sie könnten anstelle der üblichen Sonntagsgottesdienste zu „Lebensfeiern“, Meditationen, musikalisch – literarische Besinnung, Austausch über dringende (auch politische) Lebensfragen anstelle der üblichen Gottesdienste (zusammen mit Kirchenmitgliedern) eingeladen werden. Natürlich nicht um 10 Uhr wie üblich, sondern etwa um 15 Uhr mit anschließendem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Kirche oder im Garten etc.

– In Berlin leben so viele Musik-Studenten, viele junge Künstler, viele junge Autoren, viele junge kreative Menschen aus ganz Europa und der Welt: Warum können die nicht regelmäßig – etwa zur Sommerzeit – in den renovierten Kirchen (mit den oft auch funktionierenden Orgeln und Instrumenten) auftreten und „Salon-Veranstaltungen“ gestalten, mit entsprechender Werbung in Berlin und in der Mark. Warum soll das scheitern? …
In Thüringen wurden einige kleine Kirchen als „Herbergskirchen“ umgestaltet, berichtet Elke Bergt in dem Heft „Gotteshäuser im Wandel“(S.10). Warum gibt es „Wohn – Herbergs-Kkrchen“ nicht auch in Brandenburg?

Es muss möglich sein, dass diese Dorfkirchengemeinden zu „ökumenischen Gemeinden“ offiziell erklärt werden: Die Katholiken könnten ihre äußerst wenigen Priester entlasten, die gestreßt von einer Kirche zur anderen hetzen, um ihre Sonntags-Messen zu lesen. Es müsste den Katholiken, ihren Bischöfen auch, klar sein: Soll der Glaube dort überleben, dann nur durch ökumenische Praxis. Also sollten Katholiken explizit zu den Gottesdiensten oder besonderen „Lebensfeiern“ in den evangelischen Dorfkirchen eingeladen werden, als gleichberechtigte ökumenische Gemeindemitglieder. Die Protestanten hätten dabei wohl die geringeren Probleme als die Katholiken bzw. deren auf die Reinheit der uralten Lehre bedachten Bischöfe. Aber warum könnte nicht wenigstens endlich einmal in einer Region als „Experiment“ Ökumene im vollen Umfang praktiziert werden? Ich vermute, die Protestanten hätten auch nichts dagegen, wenn gelegentlich die Katholiken in den Kirchen den dringenden Wunsch haben, eine Marien-Andacht in der einst evangelischen, nun aber ökumenischen Kirche zu feiern.Selbstverständlich müsste diese Kirche und müssten die Gemeinden als ökumenische Gemeinden offiziell gelten. Mit der Zahlung und Verteilung der Kirchensteuer käme man schon klar…Hier fehlt der Platz um dieses Modellprojekt „Ökumene in Brandenburg“ ausführlich darzustellen…

Selbstverständlich müssten diese Dorf-Kirchen auch offen sein für andere Religionen, etwa für Buddhisten oder Yoga-Übende oder für Freunde der Sufi-Mystik oder jüdischen Theologen, die die Bibel auslegen? Warum könnten einige Kirchen in den Dörfern, wo Literaten und Schriftsteller schon wohnen, nicht auch Literaturkirchen werden? Oder zentrale Treffpunkte für Menschen, die sich intensiv für die ökologische Wende einsetzen.
Vielleicht sollte die Kirche im nahegelegenen Berlin nach Kirchen-Paten suchen, die sich im Team um eine Kirche und die Gestaltung der Veranstaltung dieser ihrer einen Kirche kümmern, weil sie selbst in dem einen oder anderen Dorf oft zu Gast sind oder dort ihre „Zweitwohnung“ haben.

– Aber warum und zu welchem Zweck sollten denn die Dorfkirchen überhaupt tagsüber offen sein? So viele herausragende Kunstwerke gibt es ja dort nicht zu bestaunen, so viele wertvolle Kirchenfenster oder Taufengel auch nicht. Der einzige dringende Grund: Diese Kirchen sind Orte der Meditation, der Stille, der Einkehr, des Gebets. Deswegen sollten sie offen sein. Und ein Pfarrer könnte sich ja zweimal pro Woche in die Kirche setzen für eine Stunde setzen und mit den Besuchern Lebensfragen besprechen oder Hinweise zu Meditation und Gebet geben. In Frankreich sind die (katholischen) Kirchengebäude bekanntlich die Orte, wo Pfarrer anzutreffen sind, das ist ihr „Arbeitsplatz“ auch außerhalb der üblichen Sonntagsgottesdienste…

– Über die Frage: Müssen wirklich diese fixierten unbequemen Holzbänke in den Dorfkirchen stehen?  wäre nachzudenken. Oder können nicht auch bequeme, fürs Meditatieren und Beten geeignetere Sessel und Stühle oder Kissen diese ewigen “Kirchenbänke” ersetzen? Ich würd micht gern länger in einer Dorfkirche ausruhen, meditieren etc., wenn nicht diese Bänke herumstehen wü+rden. Oder ist das etwa alles vom “Denkmalschutz” geregelt?

– Aber noch eine Idee, eine „quere“ aber als eine“ queere“ Idee. Queer also: Warum können manche Dorfkirchen nicht gastfreundlich sein auch für queere Menschen, also etwa Sonntag mittags den Pfarrgarten und die Kirche öffnen für den queere Menschen und deren FreundInnen. Etwa auch für Gruppen aus Berlin, die gern einmal auf dem Land, in einem Dorf, Momente der Besinnung, der Erholung usw. suchen. Es wird doch nicht schon so weit gekommen sein, dass diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wird, weil es auf den Dörfern schon so viele AFD Leute oder explizitere Nazis gibt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der “Förderkreis Alte Kirchen Berlin Brandenburg e.V.”,: www.altekirchen.de ;  altekirchen@gmx.de

Ein Orts-und Personenregister der “Offenen Kirchen” (Broschören) von 2000-2023: www. altekirchen.de/offene-kirchen/register

Siehe auch einen Beitrag von Chrostian Modehn über  “Theodor Fontane und seine Dorfkirchen”:  LINK

“Stille in leeren Kirchen” eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, NDR “Glaubenssachen”:   LINK

Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, “Leere Kirchen, lebendige Spiritualität”. LINK

Ein Buchhinweis, zu einem Foto-Buch, ein Dokument verfallener, verlassener Kirchen vor allem in Frankreich, eine Besprechung und Buchempfehlung von Christian Modehn  LINK

 

 

 

 

Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

Der wahnsinnige Mönch als Künstler: Hugo van der Goes

Überlegungen zu dem Gemälde von Emile Wouters: „Hugo van der Goes“

Hugo van de Goes, Krank Wouters
Hugo van der Goes als kranker Mönch (im Vordergrund). Gemälde von Emile Wouters

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Zum Gemälde:
Ein Mönch, am Rande des Wahnsinns, verstört, in sich geschlossen, so sitzt er angstvoll da. Umgeben von anderen Mönchen und einem Knabenchor mit Musizierenden. Ein einsamer Mönch, in tiefer Depression. Ein Mönch, der Suizidgedanken geäußert hat. Nun soll er musikalisch geheilt werden.

2. Ein peinliches Thema
Der seelisch schwer kranke Mönch: Nicht gerade ein häufiges Thema in der Kunst, nicht in der Literatur oder der Theologie. Eher ein peinliches Thema für die Oberen der Klöster und Bistümer bis heute.

3. Bemerkenswertes
Vieles ist bemerkenswert an diesem Gemälde des belgischen Künstlers Emile Wouters (1846 [Brüssel] – 1933 [Paris])
Das Gemälde (1872) führt in die spätmittelalterliche Klosterwelt des 15. Jahrhunderts.
Die leidende Person ist ein sehr bedeutender Künstler der Niederlande: Hugo van der Goes (um 1440 [Gent] bis 1482[Oudergem bei Brüssel]. Und er ist als angesehener Künstler, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er im Jahr 1475 in das Kloster der „Augustiner-Chorherren“ , das so genannte „Roode Klooster“ bei Brüssel, eintritt. Es galt als eher strenges „Reform-Kloster“ der sogenannten „Windesheimer – Kongregation“. Diese Kongregation besteht heute wieder, sie verweist aber auf der eigenen website nicht auf ihren berühmten Mitbruder.

4. Im Kloster die Askese pflegen
Hugo van der Goes lebte vor dem Eintritt ins Kloster recht üppig, er war Mittelpunkt der Kunstszene, ständig beschäftigt, seine Kunst war begehrt in den höchsten Kreisen, am Hof, auch in Italien. Er war hoch angesehen als „Dekan der Malergilde“. Aber nach dem plötzlichen Tod seiner innig Geliebten, berichtet Adolphe Wouters, (S.12, Fußnote 1) war er so tief verwundet und erschüttert, dass er sich aus der Welt zurückziehen wollte.
Weil er nicht mit der Frau verheiratet war, nahm in das Kloster auf. Hugo wollte dort eigentlich bescheiden als Laien-Mönch leben, also nicht als angesehener Priester. Aber das Kloster war so stolz, einen der bedeutendsten Künstler als Mitglied zu haben und gewährte ihm, dem eher untergeordneten Laien-Bruder die Teilnahme am Leben der höher gestellten Priester. Er durfte etwa in deren separatem Speisesaal essen. Und vor allem: Hugo konnte im Kloster weiter als Künstler arbeiten, dort hat er viele seiner berühmten und hoch begehrten Werke geschaffen. „Die Anbetung der Hirten“ (in einer Ruine wird Jesus geboren !) ist dort entstanden oder der „Tod Mariens“ (jetzt im Groeningen Musselin Brügge). Diese Gemälde zeigen, wie viele Goes-Arbeiten, Menschen in starker und durchdringender seelischer Anspannung.

5. Klosterleben als Krise
Diese Frage wird wohl bei der geringen historischen Kenntnis von Hugo van der Goes Leben nie geklärt werden: Ob ihm, dem spirituell Erschütterten und Suchenden, diese Bevorzugung im Kloster auch entsprochen hat. Vor allem: Ob der Eintritt ins Kloster also dem Künstler tatsächlich seelisch gut getan hat oder ob die schmerzlichen Erfahrungen des Verlustes seiner Geliebten „unbearbeitet“ blieben.

6. Suizid-Gedanken
Der Künstler – Mönch Hugo hatte sich 1481 in Köln aufgehalten und war dort und während der Rückreise ins Kloster seelisch zusammengebrochen. Er versuchte unterwegs, seinem Leben ein Ende zu setzen, berichten seine Begleiter. Im Kloster angekommen, wird der erkrankte Mönch von der Leitung seines Klosters betreut. Es gibt den Versuch, damals schon, die Idee, Musik als Therapie einzusetzen. Wie einst König Saul nach den Berichten des Alten Testaments vom Zitherspiel Davids (1 Sam 16,14-23) seelisch geheilt wurde, so erhoffte man sich auch Heilung von der Musik, im Gemälde Wouters ist auch der fürsorgliche Prior des Klosters Pater Thomas van Vossem zu sehen.

7. Musiktherapie
Hugo van der Goes wurde durch die Musik-Therapie und die Fürsorge im Kloster wohl ein wenig beruhigt, aber der Wunsch nach einem asketischen Leben war stärker. Er lehnte nun die übliche Bevorzugung im Kloster ab: Er nahm seine Mahlzeiten nun im Kreise der einfachen Laien-Brüder ein, die als schlichte Arbeiter für das Leben des Klosters und der entscheidenden betenden, studierenden Priester-Mönche sorgten.

8. Historisches
Ein Verwandter des Malers Emile Wouters, Alphonse Wouters, hatte 1872 die Schrift „Hugues Van der Goes, sa vie et ses œuvres“ veröffentlicht. Darauf bezog sich Emile Wouters. LINK 

Ab Seite 12 werden die Erinnerungen eines anderen Mönches, Gaspar Ofhuys aus Tournai (gestorben 1523), an Hugo van der Goes publiziert, es sind Überlegungen eines Mitbruders im Kloster, kurz nach dem Tod von Hugosgeschrieben, aber bis 1872 nicht veröffentlicht. Sie bieten wohl authentische Hinweise.

9. Ein Genie, dem Wahn verfallen?
Wurde Hugo van der Goes wahnsinnig oder depressiv, weil er ein Genie war, wie manche behaupten? Ich vermute aufgrund der Erlebnisse im Kloster wurde Hugo eher seelisch überfordert und zerrissen. Das gesuchte einfache Leben der Askese fand Hugo im Kloster jedenfalls nicht.

10. Ausstellung in Berlin
Die Ausstellung fast aller der wenigen erhaltenen Werke des Maler Hugo van der Goes werden in der Berliner Gemälde-Galerie (bis 16. Juli 2023) ausgestellt.

11. Religiöse Krise bei katholischen Künstlern
Im Mittelalter (und in der Barock-Zeit) widmeten sich die meisten Künstler äußerst häufig den klassischen christlichen Themen vor allem des Neuen Testaments, der Geburt Jesu, der Kreuzigung, der Auferstehung, der Himmelfahrt, dem Tod Marias, der Trinität mit der Taube als dem Symbol des nicht darstellbaren Heiligen Geistes.
Wer als Künstler immer auf diese Themen fixiert blieb, dazu gedrängt von den Aufträgen frommer, aber finanzkräftiger HerrschaftenDie „älteste Tochter der Kirche“ (etwa Kaiser Maximilian), musste der nicht bei dieser Monotonie der Themen irgendwie leiden, sich eingeschränkt fühlen: Immer dasselbe Thema malen in immer neuen Variationen. Es wurde in der Kunstgeschichte meines Wissens nicht untersucht, welche Belastungen Künstler in sich verspürten bei dieser gewissen Monotonie. Sie durften natürlich keine Kritik äußern, sonst wären sie – im Mittelalter – auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Mit anderen Worten: Wenn sich Künstler, aber auch Literaten und Schriftsteller allzu deutlich verpflichten, immer wieder dieselben Themen der offiziellen Kirchenlehre darzustellen, können sie sich aufgrund der Monotonie des Themas, also der Übermacht des Heiligen und ineins des Leidens (Jesu am Kreuz) aus den Bahnen des gesunden Verstandes geworfen werden. Mystik und Wahn sind bereits ein Thema der Forschung, etwa am Beispiel der „Konvulsionäre“, der Frommen auf dem Friedhof von St. Médard in Paris im 18. Jahrhundert, die in der göttlichen Ekstase unter heftigen Zuckungen litten… Aber das Thema „thematische Monotonie“ (oder schädliche Routine) als krankmachendes Erleben wird bisher nicht auf Künstler, auf Maler, bezogen…
Welche große Befreiung geschah in der Renaissance, welch große Befreiung dann in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, als endlich das alltägliche Leben dargestellt wurde, freilich immer mit moralischem Fingerzeig!

Fußnote: (1)
Adolphe Wouters, „Hugo van der Goes. Sa vie et ses oeuvres“, Bruxelles 1872.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

“Vorbildlicher Klerus” – Frankreichs Kirche schmückt sich mit seligen Priestern

Die „Märtyrer-Priester“ der Pariser Commune
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das Ansehen des französischen Klerus könnte in diesen Zeiten (2022) schlimmer nicht sein: Tausendfach wurde von staatlicher Seite sexueller Missbrauch von Kindern durch Priester dokumentiert. Sexuelle Übergriffe von hoch angesehenen Gründern „neuer geistlicher Gemeinschaften“ (etwa die Brüder Philippe, Dominikaner, oder P. Delfieux, St. Gervais) empfinden gläubige Laien als spirituelle Katastrophe. Genauso die jetzt bekannte sexuelle Belästigung von Frauen durch prominenten Theologen (Jean-Fr. Six). Oder die Absetzung von Erz-Bischöfen wegen „erotischer Beziehungen mit einer Frau“ (Aupetit, Paris) oder wegen allzu offensichtlicher reaktionärer pastoraler Praxis (Ravel, Strasbourg). Erfreulich für viele die vom Vatikan verordnete Überprüfung des reaktionären Bischofs von Toulon (Rey) … und so weiter und so weiter.

2.
Das Ansehen des Klerus sollte nun wohl etwas aufpoliert werden, als am 22. April 2023 in Paris offiziell fünf französische Priester feierlich selig gesprochen wurden, mit Zustimmung des Papstes, natürlich. Diese Priester sind offiziell als Märtyrer anerkannt, sie können also, katholischer Lehre entsprechend, als Fürsprecher an Gottes Thron um Hilfe angefleht werden. Diese Priester wurden, so heißt es, wegen ihres Glaubens erschossen, und zwar in der „Blutwoche“ der Pariser Commune im Mai 1871. Und wer waren die Täter? Es waren Laien, katholisch getaufte Laien aus Paris. Sie haben die Priester erschossen. Eine Untat, gewiss. Aber, das muss man wissen: Sie wurde begangen in einer Art Bürgerkrieg: In Zeiten der Commune wollten sehr viele Pariser Bürger ihre Stadt selbst verwalten und regieren. Aber der Klerus war außerstande, diese demokratischen Forderungen der Pariser, vor allem der Arbeiter, zu verstehen oder gar zu unterstützen. Der Klerus stand aufseiten der Herrscher, die sich nach Versailles zurückgezogen hatten, sie warteten förmlich nur auf eine Zuspitzung der verzweifelt kämpfenden Communarden. Die haben die Nerven verloren und ihre gefangenen Geiseln, die Priester, erschossen. Jetzt konnten die Herrscher (der Katholik Adolphe Thiers) so brutal wie möglich zuschlagen … in der Blutwoche, in der ca. 20.000 Communarden ermordet wurden, katholische Laien. Sie wurden von den ebenfalls sich katholisch nennenden Truppen der Herrscher hingemetzelt.
Diese Zusammenhänge muss man kennen, um die Seligsprechung der fünf erschossenen Priester angemessen zu verstehen: Unter den 20.000 erschossenen Communarden, alle katholisch getaufte Laien, waren sicher auch Menschen, die am Wohl der Armen interessiert waren, wie etwa der erschossene Priester Père Henri Planchat.

3.
Aber wie schon bei den Seligsprechungen der Priester, die im Spanischen Bürgerkrieg umgekommen waren, galt die kirchenamtliche Zuweisung von Seligkeit bzw. Heiligkeit den Anhängern der alten, der nicht-demokratischen Ordnung. Die Kirche liebt eben selige und heilige Vorbilder, die von aufständischen Republikanern und Demokraten erschossen werden. Da lässt es sich dann leichter die Mordtaten und die Gewalt der anderen, der herrschenden katholischen reaktionären Seite übersehen… In rebellischen und demokratischen Kreisen nach Seligen oder Heiligen zu suchen, lohnt sich für den Seligen-und Heiligenkult der Kirche offenbar nicht. Die rechte und rechtsextreme Presse in Frankreich hat jedenfalls über diese Seligsprechung jubiliert. Vielleicht auch mit dem Hintergedanken, dass das Volk sich gegen den Herrscher (Macron) erheben kann. Nur waren es eben 1870/71 linke Bürger, die den autoritären Staat überwinden wollten.

Gewalt gegen den Klerus wird heute von fundamentalistischen Muslimen ausgeübt oder von fanatischen Kirchenfeinden, die so oft schöne Kirchengebäude verwüsten…Eine Schande!

4.
Zur Vertiefung zwei Beiträge vom März 2021:

– Zur Pariser Commune im allgemeinen: LINK
– Zur Erschießung der Priester durch Communarden: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jacques Gaillot gestorben – Hinweise zu einem außergewöhnlichen Bischof!

Bischof Jacques Gaillot ist am 12. April 2023 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Hinweise von Christian Modehn am 13.4.2023.

Es ist keine Übertreibung: Jacques Gaillot war ein ganz außergewöhnlicher Bischof, ein Mensch, der frei und mutig als Bischof lebte und als Bischof lehrte, was er selbst vor seinem Gewissen im Angesicht der Moderne und der Bibel leben und lehren konnte. Er war alles andere als ein Kirchen-Funktionär, er fühlte sich frei …und nicht unbedingt verpflichtet, die offizielle Lehre der katholischen Kirche zu vertreten. Denn er wusste: Diese ganze alte Kirchenlehre und ihre alte Moral sind oft Ausdruck einer vergangenen Ideologie. Und er wusste: Christlicher Glaube ist zuerst Solidarität mit den Armen und mit den vom Kapitalismus arm Gemachten weltweit, mit den Obdachlosen, den Flüchtlingen, den Ausländern, den sexuellen Minderheiten, den Wohnungslosen. Darum fühlte sich Bischof Gaillot in diesen Kreisen am wohlsten.

Ich habe seit 1982 Jacques Gaillot mehrfach getroffen und über ihn zahlreiche Ra­dio­sen­dungen, Zeitschriftenbeiträge und Filme fürs ERSTE (ARD) realisiert.

Aus meinen zahlreichen Veröffentlichungen nur diese Hinweise:

Abschied und Trauer: Gedenken an Jacques Gaillot LINK

Grundlegend, ein Buch-Beitrag von 2010: “Aus Gewissensgründen NEIN sagen”:  LINK

Ebenso: “Menschlichkeit zuerst”: LINK 

Ökumene mit Protestanten auch im gemeinsamen Abendmal praktizieren: LINK

Für die “Homo-Ehe” (2013): LINK

Für eine humane Form der aktiven Sterbehilfe:  LINK

Wird Bischof Gaillot vom Papst rehabilitiert? LINK

Zwei Halbstunden-Dokumentationen fürs ERSTE (ARD) über JACQUES GAILLOT: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Rabvier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.