Pinochet und die Kirche in Chile: Erinnerungen anläßlich des 11.9.1973.

Über einen Krieg von reaktionären Katholiken gegen demokratische Katholiken in Chile.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
An eine der brutalsten Diktaturen in einem katholischen Staat Lateinamerikas sollten wir uns jetzt erinnern: Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, wurde der demokratisch gewählte Präsident Chiles, Salvador Allende, von den Militärs mit Unterstützung der USA abgesetzt. General Augusto Pinochet übernahm die Macht in Form einer Militärdiktatur, sie dauerte bis zum 11.3.1990. Der demokratische gewählte sozialistische Präsident Allende nahm sich am 11.9.1973 das Leben, offenbar, als Luftstreitkräfte den Präsidenten – Palast La Moneda bombardierten.

2.
Nur einige Hinweise zur Erinnerung können hier mitgeteilt werden, also keine umfassende Geschichte der Ereignisse.
Den Interessen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin entsprechend, also auch der Studien von Religionskritik und Kirchenkritik, wollen wir Hinweise geben zu der Frage: Wie hat sich die katholische Kirche in Chile und der Vatikan (Papst) zur Militärdiktatur Pinochet’s verhalten. Welche Bedeutung hat die so genannte „Pastoralreise von Papst Johannes Paul II. in Chile im Jahr 1987? Und welche Kirche gestalteten die Bischöfe nach dem Ende der Pinochet Herrschaft. Gestalteten sie nun eine geschwisterliche Kirche in einem Staat auf dem Weg zur Demokratie? Siehe Nr. 13 dieses Hinweises.

3.
Zur Erinnerung an die Gräueltaten des Pinochet-Regimes: Wikipedia veröffentlicht in dem Artikel „Putsch in Chile 1973“ (gelesen am 26.8.2023): Es gab unmittelbar nach dem Putsch massenweise Verhaftungen von Oppositionellen, also Linken, die wie üblich oft als Kommunisten bezeichnet wurden. „Öffentliche Gebäude wie Stadien, Konferenzhallen und Schulen wurden zu Lagern umgerüstet. Der berühmteste Fall ist das Estadio Nacional, in dem alleine mehr als 40.000 Gefangene zusammengetrieben worden sind. Im Nationalstadion von Santiago wurden die Opfer interniert, viele von ihnen gefoltert und getötet. Insgesamt wurden vermutlich etwa 3197 (gesicherte Anzahl der Opfer) bis 4000 Menschen während der Diktatur ermordet, der Großteil davon in den Wochen nach dem Putsch“. Die us-amerikanische „School of the Americas“ hatte auch Militärs aus Chile in perfekter Folter und Unterdrückung ausgebildet, wie für viele andere lateinamerikanische Länder, etwa in Zentralamerika. Die berühmte Demokratie der westlichen Welt wurde zur Ausbilderin der Folterer und zur Förderin im Niedergang der Demokratie in Lateinamerika. Über die widerwärtigen Methoden der Verfolgung und Folter unter Pinochet wurde ein offizieller Bericht von 700 Seiten veröffentlicht, dessen Lektüre starke Nerven erfordert:
 LINK

4.
Die Ermordung von Priestern durch ein katholisches Militärregime ist nicht stärker bedauerlich als die Ermordung und Folter von Laien. Aber eine Diktatur eines katholischen Diktators und katholischer Generäle zeigt ihr wahres Gesicht, wenn sie sogar vor der Folter, Ermordung und Vertreibung von Priestern nicht zurückschreckt, die diese konservativ katholischen Herren gern als Hochwürden, als Geistliche, als Mittler zwischen Gott und den Menschen bezeichneten. Schon im ersten Jahr der Diktatur wurden 45 Priester ausgewiesen, mehrere getötet. Die Anzahl der ausreisenden (meist ausländischen) Priester stieg dann ständig weiter an.

5.
General Pinochet hat sich immer offen als Katholik bezeichnet. Er hat seine Ausbildung an katholischen Privatschulen erhalten, geleitet von katholischen Ordensleuten aus dem Maristen-Schulbrüder-Orden und dem Orden der Priester von den Heiligen Herzen (SSCC ist die Abkürzung): BBC hat über die pädagogische Bildung Pinochets in katholischen Privatschulen am 25.11.2015 berichtet: LINK 
Zuerst studierte Pinochet im Jahr 1926 im Kolleg der Maristenbrüder in Quillota; von 1928 bis 1932 im Kolleg der „Priester von den heiligen Herzen“ in Valparaiso. „Wir beteten auf Latein, wir kannten auch einige Sätze“, berichtet Pinochet und wikipedia erwähnt unter den „berühmten“ Schülern dieses Kollegs auch Pinochet, ´mit dem Zusatz, „Diktator“. Nach den katholischen Kollegien besuchte Pinochet die „Escuela Militar“, die Militärschule. Quelle: LINK

6.
Als General und später als Diktator von 1973 – 1990 hat sich Pinochet stets in einer christlichen Mission gesehen: Er verstand sich selbst als Erlöser, er bediente sich dabei biblischer Begriffe, deutete sich nicht nur als Schützer Chiles, sondern auch als möglicher Märtyrer für Chile, sein Regime rechtfertigte er als „heiligen Krieg“, er fühlte sich intensiv verbunden und beschützt mit der Nationalheiligen Maria, Virgen del Carmen. Papst Johannes Paul II. erlaubte es sich 1987, den ganzen Staat Chile dieser Jungfrau Maria del Carmen zu weihen: LINK . Pinochet war sehr glücklich darüber. Schließlich glaubte er auch, dass er das Attentat vom 7.9.1986 nur überlebt habe durch den Schutz der Maria del Carmen. LINK  
Zur Selbst-Stilisierung Pinochets als Erlöser Chiles siehe die Studie von Elizabeth Abigail Sampson, Uni Costa Rica: LINK  dort vor allem Seite 77.
Auch der Chef der großen Hilfsaktion deutscher Katholiken für Lateinamerika, ADVENIAT, Bischof Franz Hengsbach, folgte in gewisser Weise der Verehrung für Pinochet, indem er die linkskatholische chilenische Bewegung von Priestern und Laien, „Christianos por el socialismo“, „Christen für den Sozialisten“, heftig verurteilte, zum Beispiel mit seinem Studienkreis „Kirche und Befreiung“ und auch in dem Buch „Kirche in Chile – Abwehr und Klärung“, Aschaffenburg 1976). „Adveniat“ mit seinen viele Millionen umfassenden jährlichen Kollekten war damals streng konservativ, anti-befreiungstheologisch…

7.
Der us-amerikanische Theologieprofessor William Cavanaugh hat in seiner Studie „Torture and the Eucharist: Theology, Politics, and the Body of Christ. Oxford, 1998“ nach Aufenthalten in Chile gezeigt: Die Militärdiktatur Pinochet war eine Verfolgung mit Folter und Mord von Katholiken (Pinochet und seine Militärs sowie die Berater) gegen andere Katholiken – im Namen der Verfolgung von Kommunisten. Die Diktatur Pinochet war in gewisser Weise auch ein Religionskrieg innerhalb einer Kirche, der katholischen. Das Buch gibt es auch in französischer Sprache leider nicht auf deutsch. William Cavanaugh lehrt an der berühmten DePaul University in Chicago.

8.
Papst Johannes Paul II., der Reisepapst, hat auch Chile besucht, allerdings erst im April 1987, als die Diktatur sich fest etabliert hatte, viele Oppositionelle flüchten mussten und einige tausend ermordet wurden.
Der Besuch des Papstes hinterlässt im Rückblick einen gespaltenen Eindruck: Einerseits spricht der Papst die überall möglichen und üblichen pastoralen Worte und Ermahnungen: Doch bitte an die Armen zu denken, die Gerechtigkeit nicht zu vergessen, eine bessere Welt aufzubauen und so weiter. Meines Wissens nannte Papst Wojtyla die Verhältnisse in Chile niemals präzise eine Diktatur, die es zugunsten einer Demokratie zu überwinden gilt. Er sprach nicht explizit von Folter, Verfolgung, Zensur. Sein gesamter Auftritt war also eher milde und fromm gestimmt und deswegen ungefährlich für die Clique der Diktatur. Nur „zwischen den Zeilen“ konnten Kenner Kritisches in den vielen Ansprachen lesen. Dennoch haben viele tausend Chilenen dem Papst zugejubelt. Der Chile-Spezialist Veit Straßner spricht sogar von einer „Massenmobilisierung, wie das Land sie seit den Zeiten der Unidad Popular (also in der Regierungszeit des demokratisch gewählten Präsidenten Allende) nicht mehr erlebt hatte“ (Quelle: „Chile“ in dem Band „Kirche und Katholizismus seit 1945“, Band 6, 2009, Paderborn), S. 403. Straßner erwähnt hinsichtlich der expliziten Kritik am Regime durch Papst Wojtyla nur symbolische Handlungen, die als Kritik offenbar verstanden wurden: „So besuchte der Papst eine Studentin im Krankenhaus, die während einer Demonstration von Polizisten mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Ebenso verwendete er bei einem Gottesdienst die blutbefleckte Bibel von Pater Andre Jarlan, jenes Priesters, der 1984 bei den Protesttagen während der Bibellektüre von der Polizei erschossen worden war.“ (S. 403).
Sehr bezeichnend, wenn nicht hoch-peinlich bleibt: Entgegen dem vorgesehenen Protokoll zeigte sich der Papst sogar auf dem Balkon des Präsidentenpalastes gemeinsam und fröhlich mit dem Diktator Pinochet, neben ihm, freundlich und bürgerlich gekleidet. Dieses Foto ist sozusagen als Skandal-Foto weltbekannt, es hat die kritische Haltung gegenüber Papst Johannes Paul II. nur weiter gefördert. Manche meinen zurecht: Der Papst, der selbst wie ein absoluter Monrach nicht demokratisch regiert, fühlt sich unter anderen Nicht-Demokraten recht wohl. Darauf hat u.a. der spanische Journalist Juan Arias (von der Tageszeitung „El Pais“) hingewiesen, er hat die meisten Reisen mit Papst Wojtyla unmittelbar erlebt: „Der Papst hat sich immer bequemer und entspannter gefühlt in Ländern mit diktatorischen Regimen als in Ländern mit demokratischen Regierungen, besonders wenn sie sozialistisch waren.“    LINK

9.
Zu einigen Aussagen von Papst Wojtyla in Chile anläßlich seiner so genannten „Pastoralreise“.
Am 1.4.1987 sagte der Papst nach seiner Ankunft auf dem Flughafen Aeropuerto «Comodoro Arturo Moreno Benítez» de Santiago de Chile u.a.:
„Ich habe mit Vergnügen die liebenswürdige und wiederholte Einladung angenommen, euch zu besuchen. Die Einladung machten mir ebenso der Herr Präsident wie eure Bischöfe. Empfangen Sie, Herr Präsident, meinen ehrerbietigen Gruß, sowieso auch den Ausdruck meiner Dankbarkeit für ihre herzlichen Worte des Willkommens. Ein Gruß auch und ein Dank, den ich ausführlich mache den übrigen hier anwesenden Persönlichkeiten: Den Mitgliedern der Junta der Regierung, den Staatsministern, den Richtern (magistrados) des obersten Gerichtshofes der Justiz und den übrigen zivilen und militärischen Autoritäten“.
Danach grüßte der Papst die Bischöfe und zum Schluß, dem üblichen katholischen hierarchischen Denken entsprechend, die Bewohner des Landes und die katholischen Laien.
Dabei verbreitete der polnische Papst seine äußerst schlichte und fragwürdige Theologie, ausgerechnet in dieser Situation der Verfolgung und Unterdrückung auch das Pinochet-Regime: Papst Johannes Paul II sagte in einem sehr verschachtelten Formulierungen: „Zum Schluß ein Gruß allen Bewohnern des Landes welcher Klasse und Lebensbedingung auch immer. Aber auf spezielle Weise richtet sich mein Gruß, mein Gefühl, den Armen, den Kranken, den Menschen am Rande und allen, die am Körper und am Geist leiden! Sie wissen, dass die Kirche ihnen sehr nahe ist, dass die Kirche sie liebt, dass die Kirche sie begleitet in ihren Leiden und Schwierigkeiten, und dass sie wissen, dass die Kirche es wünscht, ihnen zu helfen, damit sie die Prüfungen (sic!) überwinden und dass die Kirche sie ermuntert, auf die göttliche Vorsehung (sic) zu vertrauen und auf die versprochene Belohnung für das Opfer (sacrificio auf Spanisch) (sic).“ Das Überleben in der Diktatur wird vom Papst als Prüfung gedeutet, die irgendwie mit der göttlichen Vorsehung zu tun haben soll; diese Prüfung, also die Folter und die Unterdrückung, werden dann päpstlich als ein Opfer gedeutet, das jeder (der Arme) halt bringen muss. Eine Theologie des 19. Jahrhunderts spricht sich da aus am Ende des 20. Jahrhunderts…

10.
Am 3. April 1987 hielt Papst Wojtyla einen Vortrag für eine Gruppe von politischen Führern aus Chile: Er sprach dabei mit keinem Wort direkt von der weltweit bekannten Folter durch das Pinochet Regime, der Tötung der Oppositionellen oder demTerrorregime. Er sprach in letztlich harmlos klingenden Worten, die er auch in Kongo oder auf den Philippinen hätte sagen können: „Die Kirche verwechselt sich nicht in irgendeiner Weise mit der politischen Gemeinschaft und die Kirche ist auch nicht verbunden mit irgendeinem politischen System…Aber die politische Gemeinschaft (“der Staat” wird nicht gesagt, CM) besteht in der Abhängigkeit mit der menschlichen Person und im Dienste dieser Person… Im Namen des Evangeliums bitte ich euch alle entschieden, die Versuchung (!) einer Anwendung von Gewalt zurückzuweisen… Der Friede, meine Damen und Herren, ist eine Frucht der Gerechtigkeit.“ (Copyright © Dicastero per la Comunicazione – Libreria Editrice Vaticana, Übersetzung aus dem Spanischen von Christian Modehn)

11.
Die milden, nur sanft kritisch-mahnenden, immer aber frommen Worte von Papst Wojtyla haben sicher nicht das Ende der Pinochet – Diktatur befördert. Aber unter den Katholiken fühlten sich jene bestärkt, die mit aller Widerstandskraft ihre Hilfen den Verfolgten, den Armgemachten und Erniedrigten anboten. Die Herren des Regimes und die ihnen folgenden Katholiken und Evangelikalen fühlten sich zwar nicht bestätigt, aber auch nicht vom Heiligen Vater aufs Schärfste verurteilt. Das wollte und konnte der polnische Papst auch nicht: Er empfand die rechtsextreme Diktatur wohl als Notwendigkeit, um dem Kommunismus à la Cuba auch in Chile zu wehren..

12.
Es gab tatsächlich eine katholische und durchaus von einzelnen Bischöfen unterstützte Opposition gegen Allende. Vor allem die offiziell in der Kirche verankerte „Vicaria de la Solidaridad“ muss genannt werden. „Bis zum Ende der Diktatur wurden jährlich rund 90.000 Menschen betreut, ca. 11.000 der Hilfesuchenden benötigten juristischen Beistand. Die Vicaria dokumentierte die Menschen­rechts­ver­letz­ungen akribisch und brachte diese zur Anzeige… In den Medien wurden systematische Hetzkampagnen gegen die Kirche und einzelne Bischöfe geführt, was den Episkopat dazu veranlasste, erstmals in einem offiziellen Dokument von Kirchenverfolgung zu sprechen.“ (Quelle: Veit Straßner, in dem genannten Buch, S. 400).

13.
Aber der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie wurde von den allermeisten chilenischen Bischöfen dann wieder sehr eingeschränkt, als Chile durch Wahlen 1990 von der Diktatur sich lossagen konnte. Anfang der 1980 Jahre sprachen die chilenischen Bischöfe noch von der „Rückkehr zur vollen Demokratie“ (Straßner S. 400), aber sie äußerten sich seit 1990 sehr zurückhaltend zum Aufbau und Ausbau der demokratischen Grundrechte. D.h.: das bischöfliche Eintreten für die Demokratie war begrenzt auf die Zeit der heftigsten Not, in normalen Zeiten sollte wieder die alte moralische, von der Kirchenführung bestimmte Ordnung gelten! Der Erzbischof von Santiago de Chile Francisco Errázuriz erlaubte sich 2001 noch die Äußerung, „das exzessive Gerechtigkeit im Sinne von Strafverfolgung zur Ungerechtigkeit werden könne und den gesellschaftlichen Frieden gefährde“ (Straßner, S. 405). Gemeint war wohl, dass die Chilenen bitte den Diktator Pinochet in Ruhe lassen mögen… Veit Straßner dokumentiert (auf Seite 406 f.) weitere Skandale, die sich die Bischöfe erlaubten, nachdem Pinochet abgewählt wurde. Die Bischöfe arbeiteten tatsächlich mit den Rechtsparteien zusammen, die den Militärputsch 1973 und die Diktatur unterstützten, und so sorgten mit diese Leute mit der Kirche vereint dafür, dass z.B. der Sexualkunde-Unterricht über Jahre in den Schulen nicht stattfinden durfte. Es waren die Bischöfe im engen Bund mit den Konservativen, die sich auch gegen eine Gesetzgebung zu Gunsten der Ehescheidung einsetzten; erst Mitte 2004 konnte eine Novelle des zivilen Ehegesetzes verabschiedet werden.. Es waren wieder die Bischöfe im Bund mit den Nachfolgern des Pinochet Regimes, die sich gegen die Gebrauch von Kondomen aussprachen in Zeiten der AIDS-Krise, denn Kondome würden, so sagten sie, zur sexuellen Libertinage führen. (Straßner, ebd.). Persönliche Freiheit ist eben das größte Übel für den hohen katholischen Klerus. Veit Straßner ist nur zuzustimmen, wenn er das Verhalten dieser nach dem Abgang von Pinochet reaktionär gewordenen chilenischen Bischöfe „rückwärts gewandt und anachronistisch“ nennt“ (S. 407).

14.
Es ist mindestens eine heftige Ironie: Die chilenischen Bischöfe zeigten sich als strenge Moral-Apostel zugunsten einer Moral von vorgestern, sie taten das öffentlich und politisch als Lobbyisten. Viele von ihnen aber unterstützten und deckten sozusagen privat und in klerikaler Solidarität jene Priester, die sexuellen Missbrauch betrieben, wie etwa der landesweit bekannte Priester Fernando Karadima: „Der als charismatisch beschriebene Karadima stand im Mittelpunkt eines Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Chile. Er wurde 2011 vom Vatikan wegen Vergehen an Minderjährigen verurteilt. Aus seinem Umfeld gingen mehrere Bischöfe hervor, darunter auch der zurückgetretene Bischof Juan Barros (65) von Osorno, den Opfer Karadimas der Mitwisserschaft beschuldigten. Unter anderem war der Widerstand der Gläubigen in der Diözese Osorno maßgeblich dafür, dass der Papst und die Kirche in Chile schließlich einer umfassenden Aufklärung der Vorwürfe zustimmten. Papst Franziskus traf 2018 in mehreren Begegnungen Opfer Karadimas und entließ ihn Monate später aus dem Klerikerstand. Medienberichten zufolge ermittelte Chiles Justiz zeitweise in mehr als 150 Verdachtsfällen wegen Missbrauchs gegen mehr als 200 Kirchenmitarbeiter. Bei den mutmaßlichen Betroffenen gehe es um mehr als 240 Personen, von denen 123 zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen seien. Auf dem Höhepunkt der Krise hatten im Jahr 2018 neunundzwanzig chilenische Bischöfe dem Papst ihren Rücktritt angeboten, um einen Neuanfang zu ermöglichen und Verantwortung zu übernehmen. LINK
Über den Kampf der von sexueller Gewalt durch Karadima betroffenen Jugendlichen, siehe: LINK

Zum Angebot aller chilenischen Bischöfen an den Papst angesichts der Skandale sexueller Gewalt durch Priester, zurückzutreten, siehe: TAZ 18.5.2018: LINK .  Mit dem Angebot eines gemeinsamen Rücktritts aller Bischöfe wird freilich die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen Bischofs negiert…

Über den sexuellen Missbrauch durch Priester des Ordens der Legionäre auch in Chile siehe: LINK.

15.
Es ist also nicht erstaunlich, dass das öffentlich Ansehen und die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche als hierarchischer Institution in Chile jetzt, 2023, sehr bescheiden ist. Immer weniger Chilenen fühlen sich mit der Institution katholische Kirche als Mitglieder verbunden, wie überall in Lateinamerika, dem einst “katholisch“ genannten Kontinent. Es sind die Evangelikalen, die immer mehr Mitglieder gewinnen, viele zumal jüngere ChilenInnen nenne sich atheistisch. Ein Forschungszentrum nennt für 2020: Nur noch 50% der ChilenInnen nennen sich katholisch. LINK 

16.
Heute sind weite Kreise der chilenischen Katholiken mit den konservativen Parteien verbunden, das wurde in den Auseinandersetzungen um das Präsidentenamt 2022(?) deutlich, als sich ein Mitglied der konservativen marianischen Schönstatt- Bewegung, José Antonio Kart, mit guten Aussichten um das Präsidentenamt bewarb. Der strenge Katholik Kast wurde dabei von den ebenfalls sehr konservativ eingestallten Evangelikalen unterstützt. LINK.

17.
Noch einmal zurück zu Pinochet: Es ist keine Frage, dass eine Verbundenheit führender vatikanischer Kreise mit Pinochet erhalten blieb, etwa, als er 500 Tage unter Hausarrest in London zubringen musste. (Quelle: Welt 20.2.1999.) Die britische Regierung lehnte eine Auslieferung an die europäischen Gerichte ab und folgte damit auch den diplomatischen Vorstellungen des Vatikans. Man darf nicht vergessen, dass im Vatikan inzwischen der frühere Nuntius in Chile zu Pinochets Zeiten und Pinochet-Intimus Kardinal Angelo Sodano (1927-2022) in der sehr hohen Funktion als Kardinalstaatssekretär arbeitete. In einer Ansprache sagte der damalige Nuntius Sodano zur Militärdiktatur Pinochet: „Auch Meisterwerke können kleine Fehler haben; ich möchte Ihnen raten, sich nicht bei den Fehlern des Gemäldes aufzuhalten, sondern sich auf den wunderbaren Gesamteindruck zu konzentrieren.“ (Zitiert nach François Houtart: Johannes Paul II. als Restaurator der Weltkirche. In: Le Monde diplomatique, 14. Juni 2002.)

18.
Pinochet, der Hauptverantwortliche für die Menschenrechtsverbrechen in Chile, ist ohne ein rechtskräftiges Urteil verstorben. In Verhören gab er immer wieder an, sich nicht an Einzelheiten zu erinnern, er verweigerte bis zu seinem Tod eine Entschuldigung und das Geständnis eigener Schuld. Die NZZ schreibt am 10.12.2006: „Als 2004 nach einer Untersuchung im amerikanischen Kongress aufflog, dass Pinochet Dutzende von Konten im Ausland besass, wirkte die Behauptung seiner Anwälte, der General könne wegen angeschlagener Gesundheit nicht vor dem Richter erscheinen, umso unglaubwürdiger, als er bei der Verwaltung seines Vermögens offenbar rational handelte….Dass Pinochet Millionen von Dollar im Ausland in Sicherheit brachte, die kaum die Ersparnis eines Lebens als Berufsoffizier und Patriot – wie er sich sah – sein können, rückt Pinochet in die Nähe vieler anderer Putschisten Südamerikas, die von Rettung und Neugründung der Nation redeten und allesamt korrupt waren.“     LINK (Quelle: https://www.nzz.ch/newzzEVJSOOEK-12-ld.38839)

19.
Die katholische Kirche konnte auch in Chile zu Zeiten von Pinochet keine klare Position beziehen, sie war zerrissen zwischen ihrem Anspruch, den bedrängten und verfolgten Menschen zu helfen und gleichzeitig doch ihre Position als Teil des weltlichen Imperiums zu wahren, selbst wenn dieses Imperium eine Diktatur ist. Die Bindungen an das US-Imperium und die dortige totale Ideologie des Antikommunismus waren gerade für Papst Wojtyla entscheidend, zumal in seinem auch materiellen Einsatz gegen die Kommunisten in Polen.
Da nun aber in der Kirche der hohe Klerus, die Herren im Vatikan, das Sagen haben, fällt die Entscheidung nicht schwer, zwischen tatsächlicher Bevorzugung der Armen und den Privilegien ihres eigenen Herrschaftssystems zu treffen. Trotz zahlreicher verbaler solidarischer Bekundungen entscheidet sich die Klerus-Kirchenführung dann doch immer für den Erhalt der Macht, auch der eigenen Macht, von Minderheiten abgesehen. Die Menschen und ihr alltägliches Elend – nicht nur in Chile – sind dann den meisten hohen Klerikern eher „zweitrangig“, öffentlich würde das nie mehr so gesagt werden.

20. Was bleibt als theologische Einsicht nach der Zeit der Pinochet-Diktatur?

Eine religiöse Organisation, auch die katholische Kirche, kann in allen staatlichen Formen von Regierung und Herrschaft, selbst in einer Diktatur, nur dann grundlegend und langfristig positiv verändernd wirken, wenn sie selbst, die religiöse Organisation, die Kirche, demokratisch verfasst ist und demokratisch lebt.

Die universal geltenden Menschenrechte müssen in der Kirche als Maßstab gelten und höher eingeschätzt werden als die Mythen, die zur Gründung der religiösen Gemeinschaft führten.

Die Bitt-Gebete zur Jungfrau Maria, wie sie Papst Wojtyla auch im Chile des Diktators Pinochet praktizierte, haben den Diktator NICHT zur Menschlichkeit bekehrt, die öffentliche Lesung der Menschenrechte durch Papst und Bischöfe hätte es vielleicht erreicht. Aber dazu hätte vom Klerus Mut gehört, politischer Mut, und die Erkenntnis: Wie zweitrangig religiöse Mythen und Dogmen sind gegenüber dem expliziten Kampf für die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Menschenpflichten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Weil Freiheit nicht nur profan ist, darum gibt es auch in der Moderne Metaphysik.

Ein Hinweis auf den Philosophen Dieter Henrich.

Von Christian Modehn.

1.
Dieter Henrich ist einer der maßgeblichen Philosophen, zumal, wenn nach den Strukturen und Gründen des Selbstbewusstseins im Sinne Kants, Fichtes, Hegels gefragt wird. Diese Frage ist alles andere als „veraltet“. Sie ist vielleicht eine Provokation, angesichts der heutigen Herausforderungen der empirischen Psychologie, der Gehirnforschung, der künstlichen Intelligenz usw. Aber Formen und Inhalte der “klassischen” philosophischen Erkenntnisse zum geistigen Selbstbewusstsein des Menschen können als Voraussetzung gelten für die genannten aktuellen mehr empirischen Studien und Experimente zum Selbstbewusstsein.
In hohem Alter hat Henrich eine Autobiographie in der Form eines Interviews veröffentlicht. „Ins Denken ziehen“ ist der Titel. Das Buch wurde 2021 im C.H.Beck Verlag veröffentlicht.
Am 17.12. 2022 ist Dieter Henrich im Alter von 95 Jahren gestorben.

2.
Der Schwerpunkt der Philosophie Henrichs: Das Selbstbewusstsein des Geistes bzw. der Vernunft im Individuum, Subjekt, und die damit gegebene Kommunikation mit anderen. Die Analyse des Selbstbewusstseins führt notwendigerweise zur Frage nach einem alles Gründenden (Absoluten) und einem „letzten Halt“ im Leben.
Die LeserInnen können sich tatsächlich „ins philosophische Denken ziehen“ lassen, und zwar, wie bei Dieter Henrich üblich, auf sehr anspruchsvolle, hier aber gut nachvollziehbare Weise.

3.
Uns interessieren zwei Themen, die Henrich im Gespräch etwas ausführlicher darlegt:
Das erste Kapitel unserer Hinweise bezieht sich auf die Frage: Was ist eigentlich Philosophie, also eine „Philosophie der Philosophie“.
Das zweite Kapitel bezieht sich auf das Fragen nach dem Absoluten.

1. Kapitel: Hinweise zu einer Philosophie der Philosophie

4.
Was führte Dieter Henrich in die Philosophie? Dies ist eine Frage, deren Antwort wahrscheinlich für alle bedeutsam ist: Henrich schreibt: „Es kommt (in der Philosophie) darauf an, dass man, einmal aufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt.“ (S. 272). Und weiter: Ohne einen „Bruch“ innerhalb bisheriger Lebensentwürfe, also ohne einen Abschied von bisherigen Denkgewohnheiten, gelangt man nicht ins Philosophieren. (vgl. S. 70).
5.
Unnötig zu sagen: Philosophie ist für Henrich durchaus eine Wissenschaft, er war viele Jahre Professor für Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch in den USA.
Aber es ist überhaupt keine Frage: Philosophie ist für ihn eine besondere, von allen Wissenschaften verschiedene Wissenschaft: Sie befasst sich reflektierend – kritisch mit den bedrängenden Lebensfragen und Zweifeln, selbst wenn sie zu ausführlichen historischen Studien, etwa zu Kant und Fichte führt. Aber als Wissenschaft, die sich auch mit dem Wesen der Freiheit und den Grenzen der Erkenntnis des endlichen Menschen befasst, kann Philosophie nicht demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze“ bieten (S. 24). „Man wird also der Wahrheit (nur) über das Abwägen von Alternativen und Ambivalenzen auf die angemessenste Weise nahe kommen“ (S. 213)
Es geht immer um „das Sich-Verstehen (des Menschen) gerade an Grenzen, wo es nur tastende Antworten geben kann, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen“ (S. 44).
Der Philosoph, Dieter Henrich, äußert sich also nicht über etwas am Schreibtisch „Ausgedachtes“ (S. 18), sondern über etwas mit den eigenen reflektierten Lebenserfahrungen Verbundenes, sich im Dasein Aufdrängendes.
6
Henrich betont mehrfach, dass jeder Mensch philosophiert, weil er Geist, Vernunft, Selbstbewusstsein hat. Man muss das eigene gründliche und kritische Nachdenken aber nicht explizit Philosophieren nennen, um tatsächlich zu philosophieren. (Vgl. S. 265 und 268).
Schon in seinem Buch „Die Philosophie im Prozess der Kultur“ (2006) hat Henrich mehrfach gesagt: „Zu philosophieren ist Sache aller Menschen“ (S. 78). Erstaunlich auf S. 91: „Die Philosophie wird auch dem einfachen Menschen den Titel Philosoph nicht streitig machen, der Lebensweisheit verkörpert und auf seine Art auch mitzuteilen versteht“ (S. 93). „Man muss dem Faden nachdenken, der das eigene Leben zusammenhält. Insofern ist jeder Mensch genötigt und dazu nobilitiert, selbst zu philosophieren“ (S. 268 im Buch „Ins Denken ziehen“).
Philosophieren und Lebensgestaltung sind für Henrich zwar verbunden, aber er sieht sich als Philosoph nicht als Therapeut, sondern „eher als Hilfe, vielleicht als Beistand auf der Suche nach dem eigenen ganzen Verstehen“ (S. 272). Jedenfalls ist Philosophie für Henrich „keine Auskunftsagentur für schwierige Fragen“…
7.
Was leistet also Philosophie, die im tätigen Philosophieren ihren Grund und ihr Leben hat? Sie bringt Klarheit, mehrfach spricht Henrich von „Licht“. Ein wunderbares Wort, um die Leistung von Philosophie zu benennen…
Philosophieren leitet dazu an, Distanz zu gewinnen zur Übermacht der Objekt-Welt… und zu sich selbst. Sie klärt die oft ungenannten Hintergründe der kulturellen Produktionen auf…Philosophie als lebendiges Philosophieren ist also Ausdruck der Humanität. D.h.: „Es geht um die Empathie für die Möglichkeiten ebenso wie für die Schwächen der anderen – bei gleichzeitigem Wissen von der eigenen Schwäche und dem mühsam oder glückhaft gefundenen eigenen Weg“ (S. 75 „Ins Denken ziehen“).

2.Kapitel: Die Frage nach dem Gründenden, dem Absoluten, der Religion.

8.
Die Erkenntnis der „Subjektivität als Wissen von sich selbst“ führt immer auch auf die „Unverzichtbarkeit letzter Gedanken“, also zu „Gedanken, die ehedem unter dem Namen Metaphysik standen“ (S. 213). Dies ist die Grundevidenz Henrichs: „Es herrscht im menschlichen Wesen das Bedürfnis, sich im bewussten Leben auf ein Unbedingtes zu beziehen…“ (S. 269). „Wir müssen unsere Erkenntnis als endlich betrachten und zugleich den Gedanken hegen, dass etwas als wirklich zu denken sein muss, was nicht auf endliche Weise erkannt werden kann. Damit wird es legitim, Grenzgedanken zu entfalten. So macht es Sinn, das Unendliche auch überpersönlich zu verstehen…“
9.
Freiheit ist also immer ermöglichte Freiheit, Freiheit ist nicht aus einer „Selbstmacht des freien Subjekts“ initiiert“ (S. 17).
Das aber heißt: Wer sich mit dem bewussten Leben als Selbstbewusstsein befasst, „ kommt nicht umhin, die kulturelle Tatsache der Religionen verstehen zu wollen“ (S. 43). Wenn die philosophische Analyse der Freiheit zentral ist: Dann zeigt sich in der Entfaltung der Freiheit:„Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension“ (S. 23).
10..
Wenn Henrich von Religion spricht, dann meint er die von Kant beschriebene Religion, und die hat sich von Magie, Dogmenbindung, Kirchenhierarchie und Zauber befreit (vgl. S. 22, auch 24 und 32).
So ist die Bibel als ein literarisches Buch für den Philosophen durchaus inspirierend, aber die Bibel kann nicht als heiliges Buch gelten. Sie ist „kein kanonisches Buch“ (S. 30).
11.
Der Philosoph kann nicht die bestehende Kirchenfrömmigkeit stützen, er kann nur die Bedeutung des Transzendenten und Alles Gründenden aufzeigen. Für das Gebet als Form der Poesie hat Henrich durchaus Verständnis (S. 32), in der Vermutung, dass der über-persönliche erfahrene Lebensgrund, das Absolute durchaus „einer endlichen, menschlichen Zuwendung entsprechen“ kann (S. 32), wobei dieses Entsprechen als mögliches „Spreche“ (?) des Absoluten zwar angedeutet, aber nicht weiter erklärt wird.
12.
Das führt zu der Frage nach dem letzten (entscheidenden) Halt im Dasein. „Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind“ (S. 18). Das heißt, entscheidend für einen letzten Halt im Leben ist das Erleben und Erkennen eines absoluten Grundes als der Ermöglichung von subjektiver Freiheit. Diese Verwiesenheit auf einen absoluten Grund kann durchaus zu einer persönlichen Religiosität führen, betont Henrich. Aber für ihn bleibt unzweifelhaft: „Philosophie kann als solche nicht in einen religiösen Kultus eintreten und sich in ihm erhalten. Sie wird immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitige Abgewogenheit der Begründungen und vor allem auf verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heiligung des Individuums hinausgehen“ (S. 43).

3. Kapitel: Biographisches

13.
Ist Henrichs Philosophie, so wie sie sich im Interview-Buch „Ins Denken ziehen“ zeigt, politisch? Sie enthält keine unmittelbare parteipolitische Aufforderung. Aber Henrich weiß, dass seine Reflexionen zur Freiheit des Menschen, vor allem die Erfahrung der „ermöglichten Freiheit (S. 17) „als eine Energie erfahren werden, die in eine große Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden kann“ (vgl. S. 17). Über den politischen Zustand der Bundesrepublik hat sich Dieter Henrich, nach eigenem Bekenntnis eher der SPD verbunden, mehrfach geäußert…(vgl. auch S. 202). Interessant sind auch die Hinweise Henrichs zu seiner Hochschätzung Berlins, wo er zu Beginn der 1960er Jahre an der FU lehrte und Diskussionen mit Philosophen der DDR führte. Interessant auch Hinweise zu Aufenthalten in Moskau. Als Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung setzte er sich im Zentrum des Kommunismus für ein offnes Verständnis Hegels ein.
14.
Diese Hinweise folgen den beiden eingangs genannten Fragen, klar ist, dass das Buch darüberhinaus viele Erkenntnisse vermittelt zu Henrichs Kindheit und Jugend, zu seiner liebevollen Verbundenheit mit seinen Eltern, zu seiner philosophischen „Laufbahn“ an den Universitäten, zur Einschätzung etwa seines wichtigen Lehrers Gadamers. Oder auch die Hinweise zu Heidegger sind interessant, etwa: „Mit dem Mann wirst du dich nie einlassen“ (S. 95).

4. Kapitel: Eine Summe:

15.
Dieter Henrich ist ein klassischer europäischer Philosoph, auch wenn er viel Interesse an analytischer Philosophie zumal in den USA hatte. Zu Themen der interkulturelle Philosophie veröffentlichte er meines Wissens nicht. Auch Fragen der Ethik entwickelte Henrich in dem Zusammenhang leider nicht.
Sein begründetes Eintreten für eine vernünftige Form metaphysischen Denkens verlangt viel Beachtung heute, wobei er als Protestant, wie er im Buch immer wieder betont (zumal im Zusammenhang seiner Tätigkeit in München an der LMU), eine große Nüchternheit gegenüber kirchlichem Überschwang und Dogmatismus hat: Die von Henrich entwickelt Metaphysik ist eine bescheidene Metaphysik, immer gebunden an die Erfahrungen des endlichen Menschen in dessen endlicher Freiheit. Henrichs metaphysische Überlegungen haben jedenfalls nichts religiöses, sie sind keine philosophische Religion. Aber sie können vielleicht gerade deswegen den modernen Menschen bewahren zu schnell zu behaupten, die Moderne sei nach-metaphysisch, also ohne Metaphysik zu verstehen. Diese Behauptung vieler hat Henrich begründet zurückgewiesen. „Ich werde im philosophischen Denken nicht glücklich, aber ich bin doch eher gesammelt als zerrissen.“ (S. 269).

5. Kapitel: Zum Titel dieses Hinweises:

Der Titel ist eine Kurzfassung eines Zitates von Henrich:
„Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden“ (Seite 23 in „Ins Denken ziehen“). Damit setzt sich Dieter Henrich entschieden von Jürgen Habermas und Ernst Tugendhaft ab (vgl. S. 213).

6. Kapitel: Grenzen und Kritik der Reflexionen Henrichs:

Auf die Grenzen der Philosophie des Selbstbewusstseins von Dieter Henrich soll kurz hingewiesen werden: Das Subjekt, der einzelne Mensch, das “Ich”, steht am Beginn und im Mittelpunkt der Reflexionen Henrichs. Das liegt nahe, wenn man sich auf Kant, Fichte und Hegel konzentriert.

Aber es muss über Henrichs Studien zum Selbstbewusstsein hinaus gefragt werden: Ist langfristig, als Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte, diese Konzentration auf das Ich zu einer Ideologie geworden? Einer Ideologie, die als Liberalismus (Schutz des einzelnen, des Ich, des Ego) ihr gutes Recht einst hatte als Kampf gegen Formen des Despotismus im Staat. Die aber dann in den letzten Jahrzehnten zum Neoliberalismus entartete, als der rücksichtslosen Herrschaftsform der Superreichen Egos. Sie setzen sich mit aller Gewalt im Kapitalismus heute durch und pflegen äußerst “selbstbewusst”, gegen die humanen Grundsätze der (auch ökologischen) Gerechtigkeit, ihren Profit. Die Gier der neoliberalen Super-Egos könnte elementar gebremst und begrenzt werden, wenn sich diese Herren auf die Endlichkeit ihres eigenen Lebens und Denkens besinnen könnten. Und durch die Erkenntnis, dass sie ihren Luxus nur durch die Arbeitsleistung anderer, oftmals Ausgebeuteter, haben… Aber das zu erwarten ist wohl nicht mehr als eine ferne Hoffnung auf die Wirkkraft philosophischer Reflexionen. Man sollte also eher von einer faktischen, einer politischen Niederlage der Vernunft sprechen. Aber Vernunft als Vernunft, als Geist, als philosophische Reflexion kann niemals und von niemandem ausgelöscht werden. Insofern bleibt uns die elementare Form der Philosophie des Selbstbewusstsein (durch Dieter Henrich gezeigt) doch erhalten…

Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C.H.Beck Verlag, 2021.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Caspar David Friedrich: Seine Spiritualität und … warum er Kirchen als Ruinen malte.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.7.2023.

Siehe unten, Nr. 14, eine aktuelle Ergänzung, publiziert am 8.3.2024

Siehe auch unsere aktuelle Buchempfehlung vom 5.8.2024: LINK

Caspar David Friedrich: Klosterfriedhof im Schnee
Caspar David Friedrich: Klosterfriedhof im Schnee

Das Thema ist alles andere als abwegig in Zeiten des konfessionellen und religiösen Umbruchs nicht nur in Deutschland. In West – und Süd- Europa verlassen Millionen Christen, vor allem Katholiken, Mitglieder ihre Kirchen. Zurückbleiben nicht mehr genutzte Kirchen-Gebäude, vielleicht Ruinen.
Der Maler Caspar David Friedrich (1774-1840) hat in seinem umfangreichen Werk auch einige bedeutende Gemälde geschaffen, die Kirchen und Klöster als Ruinen zeigen. Diesem Thema gilt es, mit einigen Hinweisen nachzugehen. Bei Caspar David Friedrich gibt es eine gewisse Trauer über den ruinösen Zustand der Kirchen. Heute hingegen werden verlassene Kirchen und verfallene „Gotteshäuser“ kaum noch „betrauert“, sondern als (finanzielle) Last empfunden. Und selbst wenn man sich , wie in Brandenburg, um verfallene Dorfkirchen kümmert und etliche restauriert, weiß die Kirchenleitung nach der umfassenden Sanierung oft nicht, wozu man diese hübsch gewordenen Kirchlein denn nun eigentlich nutzen soll. Denn Kirchen-Gläubige gibt es in (den Dörfern) Brandenburg(s) fast nicht mehr. Und für eine ausschließlich „kulturelle Nutzung“, also „Säkularisierung“, fehlt oft der Mut. Zum Beispiel: Brandenburg: LINK.   Ein hochinteressanter Bild-Band über verfallene Kirchen in Europa: LINK

1.
Caspar David Friedrich wird bald im Mittelpunkt kultureller Aufmerksamkeit stehen. Sein „Gedenktag“ bzw. „Feiertag“ naht: Der 250. Geburtstag. Am 5.9. 1774 wurde Friedrich in Greifswald geboren, angesichts der hohen Beliebtheit des Malers werden wir zweifellos mit einer Fülle von Ausstellungen und Publikationen „bedient“ werden.
Manche Motive seiner Gemälde haben sich so tief bei vielen eingeprägt, dass sie etwa im Erleben verdorrter, erstorbener Eichen im Winter diese nur noch mit der „Brille“ Caspar David Friedrichs sehen und deuten können… Ein tolle Rezeptionsgeschichte…
Schon jetzt, im Vorfeld der „kulturellen Erregung zugunsten von „C.D.F.“, ein Hinweis auf ein Thema, das wesentlich ist in Friedrichs Denken und Schaffen: Die verfallenen Kirchen und Klöster, die Ruinen also, die er oft auch in eine eisigen Winterlandschaft stellt. Die Ruine ist bei Friedrich mehr als ein Zitat der Vergangenheit, mehr als ein Thema der Architekturgeschichte.

2.
Man möchte – religionsphilosophisch – empfehlen, die Ruinen – Gemälde Friedrichs in Ruhe zu betrachten, sie zu studieren. Sie geben zu denken – über den ruinierten Zustand der Kirchen damals wie heute. Wo sind die Auswege? In der Natur-Erfahrung?
Für diese Bildbetrachtungen – zumal für jene, die noch nicht mit Friedrichs Arbeiten vertraut sind – , ist der Band „“Friedrich“ von Norbert Wolf aus dem Taschen-Verlag (96 Seiten) empfehlenswert.

3.
Der Philosoph Prof. em. Manfred Frank (Tübingen) hat sich in einem Aufsatz mit den Bildern Caspar David Friedrichs auseinandergesetzt, die Kirchen und Klöster als Ruinen zeigen. Der Titel: „ Religionslose Kathedralen im `ewigen Winter` der Moderne.“ Manfred Frank ist ein Spezialist der philosophischen Entwicklung der Frühromantik als „Denkraum“ (1789 – 1796). Auch deswegen hat er seinem Aufsatz (bzw. Vortrag in Hamburg 2008) den zusätzlichen Untertitel gegeben „Caspar David Friedrich im frühromantischen Kontext“. Es lohnt sich, etwas ausführlicher den Erkenntnissen Manfred Franks zu folgen.

4.
Caspar David Friedrich hat die Gemälde und den Geist der damals beliebten „Nazarener“ (und Lukas-Brüder) heftig kritisiert „und mit beißendem Spott überzogen“ (S. 113). Friedrich empfindet es unpassend, wie die Nazarener „frömmeln“ mit „ihrer nicht mehr zumutbaren infantilen Scheinheiligkeit“ (S. 117). Mehr noch: Diese Nazarener instrumentalisieren die Religion „zum Einschläfern des gesunden Menschenverstandes“ (S. 118). In seinen „Bekenntnissen“ schreibt Friedrich: „Man lästert die gesunde Vernunft und belügt sich und andere, als glaube man das Unglaublichste, und das nennt man echte Religiosität“ (zit. S.119).

5.
Etliche Gemälde Friedrichs zeigen das, was viele damals schon (wie heute auch) nicht wahrhaben woll(t)en, den ruinierten Zustand des kirchlichen Glaubens. Nebenbei: Es sind ja bei religiösen Themen nicht immer explizit christliche Motive, die Friedrich malt, man denke an die „Hünengräber“ oder an den „Junotempel von Agrigent“. Sind sie nur Zufallsprodukte künstlerischer Vielfalt oder Hinweise auf eine Spiritualität außerhalb des Christentums?
Aber es gilt wohl die Erkenntnis: „An der Religiosität und christlichen Überzeugung Caspar David Friedrichs ist sowenig ein Zweifel angebracht wie an seinem sogenannten Patriotismus“ (S. 114). Und dieser Patriotismus galt den Idealen der Freiheitskriege, in Verehrung für Stein, Görres, Arndt … Friedrich also ein progressiver politischer Denker…

6.
Darauf kommt es an: Friedrich stellt „den Glaubwürdigkeitsverlust der übersinnlichen Welt, eine Entzauberung des Himmels“ dar (S. 122).„Einige von Friedrichs Bildern zeigen Endphasen einer solchen Desillusionierung: Im Packeis gescheiterte Expeditionsschiffe, im Frost ziellos sich verlierende Wege, ruinierte Kirchen in Schnee und Eis inmitten entlaubter Wälder, Mönche beim Begraben ihrer Toten in kaltstarrenden Böden“ (S. 122).

7.

Manfred Frank meint in einer rhetorischen Frage: „Kommt hier nicht eher Trauerarbeit zum Ausdruck“. Trauerarbeit also, die „an dem wunderbar strahlenden, aber grenzenlos leeren Himmel (sky, nicht heaven) fühlbar macht, was sie (diese Kirchen etc.) einer Menschheit einst bedeuteten, die darauf ihre Hoffnung setzte“ (S. 122). Es ist also ein Verlust der Erfahrung des Heiligen festzustellen und künstlerisch auszudrücken.

8.

Kunst und Dichtung können den Verlust des Heiligen wachhalten, betont der Philosoph Manfred Frank. Es diese Überzeugung, die auch Caspar David Friedrich teilt. In der Frühromantik gilt, dass menschliches Selbstsein „einem transzendenten Grunde sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewusstsein auflösen lasse“ (S. 131). „Hölderlin spricht von einem Sein, das wir nicht erkennen, das wir aber als Fundament unseres Selbstwissens in Anspruch nehmen müssen, sofern wir Selbstwissen für eine Tatsache des Bewusstseins halten“ (S 128 f.).
Das heißt: Die Nichterkennbarkeit des Absoluten, die Nicht – Durchschaubarkeit des Absoluten, das Nicht – Umgreifen des Absoluten durch den Menschen… ist also die zentrale Überzeugung der Frühromantik.

9.

Und diese Überzeugung gilt auch für Friedrich: „Der Sache nach ist er ein Künstler, ja auch ein Denker, der Absolutes als ein ebenso Unaufgebbares wie Unerreichbares anzielt“ (S. 132).
Manfred Frank weist darauf hin, dass Friedrich mit Schleiermacher am 12. September 1810 ein Gespräch zu den Thema führte, „vermutlich gerade über diesen Gegenstand: die Darstellung des Undarstellbaren und die absolute Abhängigkeit des Menschen von Gott – wobei zu bemerken ist, dass Schleiermacher auf den in unserem Sprachgebiet zur Bezeichnung des Woher unseres Abhängigkeitsgefühls eingebürgerten Ausdruck (Gott) NICHT besteht…Das Gespräch mit Schleiermacher fand im Umfeld der Arbeiten Friedrich am „Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ statt, die er Schleiermacher fast vollendet vorstellen konnte“ (S. 133 f.)

10.

Caspar David Friedrich hielt an der Religion fest, auch am Christentum, aber inhaltlich gedacht als eine Utopie, weil „die alte Kirche ruiniert, funktionsuntüchtig, in lebensfeindlichem Eis angesiedelt“ ist (S. 143). Wo wird diese Utopie sichtbar? Sie kann nur geahnt werden in der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen. Im Gemälde „Abtei im Eichwald“ überrascht die „wunderbar erlöschende Glut eines grenzenlos weit und leer gewordenen Himmels daran, dass es einmal eine Menschheit gab, die auf ihn ihre Hoffnung gesetzt hatten nun, im Zeitalter der allgemein gewordenen Entfremdung des Menschen vom Menschen keinen Ersatz mehr dafür weiß“ (S. 147).
Und Manfred Frank schlägt vor, einige Gedichtzeilen Friedrichs auf das Gemälde „Abtei im Eichwald“ zu beziehen. Es zeigt auch einige Mönche, wie sie zu der Ruine laufen, die tot wirkenden Bäume im Winter vor Augen. Caspar David Friedrich schreibt:

„Ja, ich sehe durch der Bäume Schimmer
Schwache Hoffnung, matten Schimmer
Weh mir, weh: es sind die Trümmer
Längst vergangener Herrlichkeit“
(S.149 in Frank, zit. in Friedrich, „Bekenntnisse“, S. 58, Leipzig 1924)

11.

Auswege für eine Spiritualität der Zukunft sieht Friedrich – das wird in vielen seiner Arbeiten deutlich – in der stillen Betrachtung der Natur in der Landschaft. Sie wird förmlich als „eine noch unverbrauchte Bildgattung für christliche Gedanken tragfähig gemacht“, wie Werner Hoffmann in seinem Ausstellungskatalog zu Caspar David Friedrich in der Kunsthalle Hamburg 1983 schreibt.
Die Hochachtung Friedrichs für die Natur der Landschaft ist unübersehbar. Nur im achtsamen Erleben der Landschaft, der Natur, des Mondes, kann ein neues persönliches lebendiges religiöses Gefühl entstehen. Man betrachte die Gemälde „Gebirgige Flusslandschaft“, „Meer mit aufgehender Sonne“, “Mondaufgang am Meer“, Elbschiff im Frühnebel“, „Ziehende Wolken“, „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ usw… Die überlieferten christlichen und kirchlichen Symbole sind verschwunden, haben sich überlebt. Wirksam ist für Friedrich nun das subjektive religiöse Erleben des Künstlers in der und mit der Landschaft, der Natur…Er stellt seine eigenen Einsichten in seinen Werken dar – ganz anders als die Nazarener, nämlich unabhängig von jeglicher kirchlicher Verwendung oder Propaganda.

12.

Friedrichs Arbeiten können auch heute ein Impuls für den einzelnen sein, die eigene Spiritualität zu entdecken – in der Natur, im Stillwerden, in der Betrachten, im Rückzug… Und heute ist entscheidend die Trauer über die von Menschen zerstörte, mißhandelte, kommerzialisierte nur noch so genannte Natur.

13.

Wird eine von der Kunst bewegteTrauer zu einer politischen-ökologischen Neuorientierung förmlich in letzter Minute führen? Man kann nur auf einen Übergang von ästhetischer Erfahrung zur politischen Aktion hoffen. Selbstverständlich oder üblich ist dieser Übergang allerdings nicht. Auch die Kirchen haben mit ihrer „absoluten – göttlichen Botschaft“ diesen Übergang zum politischen und ökologischen Handeln wirkungsvoll nicht geleistet. Oder hat sich etwa in der sogenannten christlichen und kirchlichen Welt die Naturmystik und der Natur“schutz“ à la Franz von Assisi politisch – ökologisch durchgesetzt?

14.

Weitere aktuelle Hinweise zur Spiritualität Caspar David Friedrichs und seinen “Kirchen als Ruinen” (veröffentlicht am 8.3.2024).

Die „Biografie über Caspar David Friedrich“, die Boris von Brauchitsch im Insel Verlag 2024 veröffentlicht, ergänzt und korrigiert unsere Hinweise zu einer gewissen Vorliebe Friedrichs für Kirchengebäude als Ruinen.

Von Brauchitsch zeigt: Caspar David Friedrich hat sich auch als Innenarchitekt bemüht, im Jahr 1818 bei der Gestaltung der Marienkirche in Stralsund konstruktive Vorschläge zu machen. Friedrich wollte unbedingt „formlosen Hausputz“ und „Überladungen“ im Innern der Kirche vermeiden (S. 184). Mit einem einzigen Blick sollten die in die Kirche Eintretenden sogleich das Ganze überschauen. Nur auf die Weise dieses Erlebens seien alle Kirchenbesucher wirklich als gleichwertige Menschen und gleichwertige Christen respektiert. „Alle sollen ebenbürtig sein, die sich in der Kirche versammeln“ (vgl. S. 184). Darin äußert sich der politische, den Freiheitsideen verpflichtete Caspar David Friedrich: „Der Reiche muss wenigstens an diesem Ort fühlen, dass er nicht mehr als der Arme ist. Und er Arme müßte den sichtbaren Trost haben, dass wir vor Gott alle gleich sind“ (S. 184). Nun ja, sehr revolutionär konnte diese Idee dann doch nicht sein, denn der Arme sollte ja nur den sichtbaren „Trost“ (sic) der Gleichheit aller Glaubenden und aller Menschen erleben.
Diese insgesamt konstruktiven Vorschläge Friedrichs wurden natürlich im Rahmen der Abhängigkeit der Kirche vom Staat damals abgelehnt.

Auch dies ist interessant:
Friedrich hatte weiterhin Interesse an der Gestaltung eines „idealen Ortes für die religiöse Andacht“ (S. 186), also für den Kirchenbau. Er dachte etwa an einen ovalen, überschaubaren Kirchenraum, „dem ebenfalls ein ovaler Platz vorgelagert ist“ (ebd.). „Dem Innenraum sollte somit ein gleichwertiger ovaler Außenraum zugeordnet sein, also dem Kulturraum ein Naturraum.“ (ebd.) „Umstehende Baumreihen verwandeln ihnen eine Art künstlicher Lichtung“ (ebd.).
Caspar David Friedrich als Architekt und Innenarchitekt muss also noch entdeckt werden? Wahrscheinlich.

In der wichtigen und empfehlenswerten Studie des ungarischen Literaturwissenschaftlers und philosophischen Autors László Földényi “Caspar David Friedrich” (Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2024) äußert sich Földényi zu unserem Thema “Kirchen als Ruinen im Werk Friedrichs”. Földényi erinnert etwa an die Darstellung der Greifswalder Jacobikirche als Ruine, er schreibt: „Über die Kritik an der herrschenden Religion bzw. über die Vision einer kommenden Religion hinaus wird in diesen Bildern die Bemühung spürbar, glauben zu wollen. Dieses unbestimmte Begehren erträgt feste Bindungen jedoch nur schwer, keinerlei Kirche vermag es restlos aufzunehmen. Das unendliche Begehren, von dem Friedrichs Malerei grundlegend determiniert ist, stellt aber die Existenz gottes nicht so sehr in Frage wie gerade diese Gotteshäuser: Sie sind ästhetische Krypten, die nicht Glauben, sondern Tod ausstrahlen.“ (S. 123)

Ein kurzer Hinweis auf eine Interpretation des Werkes C.D.Friedrichs durch Johann Hinrich Claussen. Ergänzt am 24.8.2024:

Johann Hinrich Claussen hat als Theologe und Pastor den Titel “Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.” Er ist auch Autor zahlreicher Bücher. Jetzt erschien von ihm “Eine Geschichte der chrstlichen Kunst.” Mit dem Ober – Titel “Gottesbilder”. Ch.H.Beck Verlag, 2024.

In dem Buch erwähnt Claussen auch Caspar David Friedrich (S. 229 – 233). Er zeichnet knapp dessen religiöses, theologisches Profil : “Friedrich verstand sich als frommen wie avancierten Protestanten, der eine Umformung des christlichen Glaubens ins Bild setzen wollte. In ihr verbanden sich Kritik und Konstruktion…Er löste sich von alten Glaubensbildern, um dem für ihn Wesentlichen eine neue Gestalt zu geben. In der Landschaftsmalerei konnte er auf zeitgemäße Weise religiöse Empfindungen darstellen und hervorrufen… Das Alte muss untergehen, damit Neues werden kann” (S. 232 und 233).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Kardinal Rainer Maria Woelki: Sein theologisches Profil.

“WIR sind Zeugen“: Das Motto von Kardinal Woelki!

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst publiziert am 6.2.2021. Erneut am 29.6.2023.
Aus aktuellem Anlass, Ende Juni 2023.

Es ist jetzt wichtig, an das theologische Selbstverständnis des Priesters und Erz-Bischofs Kardinal Rainer Maria Woelki zu erinnern: Denn sein Agieren in der Verschleierung von sexuellem Missbrauch durch Priester im Erzbistum Köln hat viele tausend Kölner Katholiken zum Austritt aus der Kirche bewogen. Dass Bischöfe durch ihr Verhalten die Gläubigen aus der Kirche vertreiben, ist historisch vielfach belegt, etwa in Frankreich im 18.Jahrhundert, in den Jahrzehnten vor der Revolution.

Der “Fall Woelki” weist also über die aktuellen Debatten hinaus zu der Frage: Wie stark vertreibt die Macht des Klerus in der katholischen Kirche die Gläubigen?

In seiner Doktorarbeit „Die Pfarrei“ an der Santa Croce Universität des Opus Dei in Rom nennt Woelki ein entscheidendes Kapitel: “Das Amt als Repräsentation Christi” bzw. im Unterkapitel “Die sakramentale Vergegenwärtigung Christi durch den Kleriker”.
Woelki glaubt, und das ist auch offizielle Lehre: Im zölibatären Kleriker, auch in ihm, Herrn Woelki, ist Jesus Christus sakramental (zeichenhaft) gegenwärtig.
Welche Konsequenzen hat diese Theologie für den eigenen Lebensstil?

Ein möglicher Meineid passt jedenfalls nicht so gut zur „Sakramenten Vergegenwärtigung Christi durch den Kleriker“. Unter 3.2.3. schreibt Woelki in seiner Doktorarbeit an der Opus-Dei-Universität: „So repräsentiert der Bischof Christus in seiner und für seine Teilkirche“. Die theologische Frage ist: Wie stark leidet dieser Christus unter den gegenwärtigen „Kölner-Kardinals- Verhältnissen“? LINK

1.
Kardinal Rainer Maria Woelki hat sich, wie üblich bei Kardinälen und Bischöfen, den Wahlspruch gewählt: „Nos sumus testes – „Wir sind Zeugen“ (ein Zitat aus der „Apostelgeschichte“, 5. Kapitel, 32. Vers). Wobei das lateinische „nos“, also das Wir, eigentlich überflüssig ist bei dem „sumus“, das ja schon „wir sind“ aussagt. Das Wir, gemeint ist freilich das Ich, wird also noch einmal überbetont in dem Sinne: „Wir und nur wir, sind Zeugen (der Jesu Auferstehung). Ein egozentrischer Wahlspruch, könnte man meinen….
2.
Diesen Wahlspruch, so könnte man jetzt etwas ironisch meinen, hat sich Woelki sehr weise ausgesucht, offenbar voller Vor – Ahnungen für seine bevorstehenden juristischen Auseinandersetzungen. Da geht es bekanntlich darum, was denn Woelki als „Zeuge“ des sexuellen Missbrauchs seiner Priester so alles gesehen, erlebt, bzw. vertuscht hat.
3.
Übrigens wurde Woelki von Papst Benedikt XVI. ins Kardinalskollegium berufen. Dafür hat wohl Woelkis enger Freund Kardinal Meisner (Köln) bei seinem Freund Ratzinger sorgen können….
4.
Hinweis auf einige Publikationen von Christian Modehn:

Kurz nach der Ernennung Woelkis zum Erzbischof in Berlin:
„Mit Erzbischof Woelki ins Getto“ heißt der Beitrag vom 9. September 2011, LINK 
(Woelki war Erzbischof bzw. Kardinal in Berlin von September 2011 bis zum 7.9.2014. Danach in Köln als Nachfolger seines Gönners Kardinal Meisner.

Am 9.7.2012 veröffentlichte Christian Modehn einen ausführlicheren und besonders wichtigen Hinweis, der sich vor allem mit der theologischen Doktorarbeit Woelkis an der Opus-Dei-Universität Santa Croce in Rom befassen. LINK. Es ist interessant, dass die offizielle Pressemitteilung des Presseamtes des Erzbistum Berlin Woelkis Doktorarbeit an der Opus Die Universität in Rom nicht erwähnt. Diese Doktorarbeit war wohl schon peinlich geworden und wurde besser verschwiegen. LINK

Über „Woelki und das Ende der Ökumene“, LINK, vom 7.10.2017

„Wie reaktionär ist Woelkis Theologie?“ LINK, vom 16.9.2019

-Im „Fall“ des katholischen Theologen Prof. Ansgar Wucherpfennig SJ hatte sich Woelki eingeschaltet, dieser Eingriff zeigte, was der Kardinal unter freier theologischer Forschung versteht. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die „Trinität“ (Dreifaltigkeit Gottes) als Dogma abschaffen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.6.2023

1.
Für die Frage nach Gott oder dem Göttlichen oder dem Ewigen oder dem „alles tragenden Lebenssinn“ interessieren sich noch viele Menschen.
Als zusätzliches Problem erscheint für die meisten die Frage nach der göttlichen Dreifaltigkeit, der Trinität. Dabei gilt dieses Dogma innerhalb der Kirchenleitungen als etwas „unterscheidend Christliches“, also in den herrschenden, sich „orthodox, rechtgläubig“ nennenden Kirchen, wie bei den Römischen Katholiken, den Orthodoxen, den Lutheranern, den Reformierten (Calvinisten etc.). Der folgende Beitrag zeigt, dass spirituelles Leben im Sinne Jesu von Nazareth selbstverständlich ohne das Trinitäts – Dogma sehr gut möglich ist.

2.
Der internationale geschätzte (Konzils-) Theologe Karl Rahner SJ schrieb 1973 in seinem Lexikonbeitrag „Trinitätstheologie (Herders Theologisches Taschenlexikon, Band 7, S. 353): „ Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Lehre von der Trinität im konkreten Leben der Christen und in der Predigt, wenn überhaupt, dann nur eine sehr bescheidene Rolle spielt“.
Einen Grund für diese diese treffend beschriebene Tatsache nennt Rahner leider nicht. Die Wahrheit ist: Die Trinitätslehre, das Dogma, ist so „äußerst hochkomplex“, so sehr und so heftig eingebunden in eine metaphysische Sprachwelt des 4. Jahrhunderts n.Chr., dass sie, von wenigen Spezialisten abgesehen, heute niemand mehr versteht. In dem genannten Taschenlexikon – für weite Kreise bestimmt – braucht Rahner immerhin 13 Seiten, um das schwierigste aller theologischen Themen zu erklären. Wer diesen Rahner – Text verstanden hat, also in heute nachvollziehbaren Worten wiedergeben kann, möge sich bei mir melden.

3.
Wie unter Theologen üblich, wird von Rahner nicht erwähnt, wie stark die imperiale kaiserliche Macht damals interessiert war, Jesus von Nazareth als göttlichen Pantokrator auszugeben, und zwar aus dem einfachen Grund: Die Kaiser wollten sich als Nachfolger dieses göttlichen Christus – Pantokrator absolut aufwerten. Solches Ausblenden politisch – ideologischer Zusammenhänge beim Entstehen von Dogmen ist typisch für eine breite Tradition katholischer Theologie in Europa. Deswegen ist sie auch so irrelevant.

4.
Rahner selbst gibt zu, dass die Trinität, so wörtlich, „ein absolutes Geheimnis“ ist, das auch „nach seiner Offenbarung nicht rational durchschaubar ist“ (ebd. S. 342). Die Trinität ist also nicht nur nicht rational durchschaubar, das wäre schon viel verlangt, sie ist als solche nicht einmal als Faktum rational erreichbar. Also ein „absolutes Geheimnis“.
Wer also dem Trinitätsdogma glaubend folgt, verzichtet bewusst auf jegliche Relevanz seines eigenen Geistes, seiner eigenen Vernunft. Diese Haltung, die zu dummem Schweigen führt, kann kein vernünftiger Mensch noch menschlich nennen. Menschen auf rational total bzw. absolut (!) Geheimnisvolles festzulegen, ist einzig Sache der so genannten Sekten, nicht aber der Menschen, die irgendwie den Lebensweg Jesu von Nazareth noch inspirierend finden und die Gottesfrage gerade mit ihrer Vernunft „klären“ wollen.

5.
Nur eine „Kostprobe“ zu trinitarischen Formeln, sehr dicht an dem offiziellen, bis heute in Messen etc. gesprochenen Glaubensbekenntnis:
Es handelt sich demnach bei der Trinität um eine transzendente, himmlische real existierende Idee: Es ist der eine Gott mit einem Wesen und drei Hypotasen („Personen“) im „Himmel“. Gott selbst ist als erste „Person“ der Vater; die zweite Hypotase („Person“) trägt den Namen Christus. Er wurde „vor aller Zeit gezeugt“ (ohne Anwesenheit von Frauen, dann aber irgendwie auch himmlisch „geboren“). Dieser Christus hat zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche. Aber immerhin ist diese Hypotase so wirkungsvoll, dass aus ihm wie auch aus dem Vater der heilige Geist „ausgeht“ (im Sinne eines „Hervorgangs“, sagt die offizielle Deutung, was immer das bedeuten mag, CM). Die orthodoxen Kirchen des Osten behaupten nun, dass der heilige Geist nur aus dem Vater ausgeht! Wegen dieser „verknallten Spekulation“ kam es letztlich auch zum Bruch zwischen West – Kirche und Ost – Kirche … bis heute. Dieser heilige Geist wird in der christlichen Ikonographie als Taube dargestellt, (nebenbei: ob als „Ringeltaube“ ist umstritten, hübsch wäre auch die „Rotschwanz-Fruchttaube“, CM). Wer noch eine Nuance Rahners mag, etwa zur Zahl „drei“ innerhalb der Trinität: „Vater, Sohn und Geist können in Gott `drei` gezählt werden, wobei man sich allerdings dessen bewusst sein muss, dass man das zusammenzählt, was als reiner Unterschied im numerischen Einen der Wesenheit nicht unter einen Begriff einer Menge von Gleichartigem gebracht werden kann und darf“ ( ebd. S 351).

6.
Nun hat die zweite Person der himmlischen Trinität, der Sohn bzw. der Logos, einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt die intern göttliche Welt verlassen und hat „Fleisch angenommen“, wie es offiziell heißt, in der Person Jesus von Nazareth, der von ca 1 nach unserer Zeitrechnung bis ca. 35 lebte. Zu dieser Zeit muss als in der himmlischen Trinität die zweite Person (der „Sohn“) gefehlt haben. Es gab also einmal – in diesem Denken – einmal einige nicht – trinitarische „Momente“ innerhalb der himmlischen Trinität: Dies nur als kleine Kostprobe zu den Fragen, die sich spekulativ ergeben… Und die ganze klassische Dreifaltigkeitstheologie fragwürdig erscheinen lassen.

7.
Die Trinitätslehre aus dem 4.Jh. (man hat darüber gerätselt und debattiert und publiziert mindestens bis zum Konzil von Florenz 1439) ist, vornehm ausgedrückt, heute eine überflüssige Alt-Last, weniger vornehm: ein störender Klumpen, ein Ballast, den es nun endlich beiseite zu legen gilt … als Akt der Befreiung.

8.
Die „Trinität“ ist für uns also nicht mehr als ein uraltes, jetzt nur noch für Historiker interessantes Bild, so, wie die religiöse Rede von Engeln im Christentum nichts als ein hübsches, aber letztlich überflüssiges Bild ist. Die außer – christliche Esoterik interessiert sich leidenschaftlich für die Engel, Pater Anselm Grün, der viel – schreibende Benediktiner, auch… Auch der Mythos von der Erbsünde ist nichts als ein Bild, aber kein Dogma mehr, sagen vernünftige Theologinnen heute. Dasselbe gilt für die Rede von der „unbefleckten Jungfrau Maria“.

9.
Dass damit ein Diskussionsfeld eröffnet wird, in dem die Konservativen, die Reaktionären und Traditionalisten alle ihre angeblich scharfen Argumente noch einmal gegen angeblich „böse Irrlehrer“ vorführen, ist klar. Die sich „rechtgläubig“ nennenden Kirchen (also römische Katholiken, Orthodoxe aller Couleur, Lutheraner, Calvinisten …) haben im Laufe ihrer Herrschaftsgeschichte bewiesen, wie sie mit dogmatischen Erneuern und Reformatoren gerade hinsichtlich der „Trinität“ umgehen: Der Theologe Michel Servet (bekannt und geschätzt durch sein Werk „De trinitatis erroribus“, 1531) wurde vom Reformator Calvin am 26. Oktober 1553 öffentlich in Genf (!) verbrannt. Die Theologen Sozzini (etwa Fausto Sozzini 1539-1604) als argumentierende und hoch gebildete Anti-Trinitarier und ihre kleine mutige Gemeinschaft der „Polnischen Brüder“ wurden verfolgt usw. An die Vorbehalte des großen Theologen Erasmus gegen die Trinitäts – Lehre müsste erinnert werden oder auch an die heute noch bestehende freisinnige christliche Kirche der Remonstranten. Ihr offenes Glaubensbekenntnis von 2006 versucht die göttliche Wirklichkeit jenseits trinitarischer Formeln auszusagen, ein einmaliger Vorgang in einer christlichen Kirche heute. LINK.

10.
Seit einigen Jahren haben sogar wenige katholische Theologen den Mut, ihre Zweifel an der offiziellen „Trinitätslehre“ öffentlich zu äußern. Ich denke da vor allem an Professor Edward Schillebeeckx, der lange Jahre als Theologe an der Universität Nijmegen lehrte. In dem Interview-Buch „Edward Schillebeeckx im Gespräch“ (Luzern 1994, Edition Exodus) sagt Schillebeeckx klar und deutlich: „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitätstheologie fast ein Agnostiker“ (S. 107). Zuvor hat er in wenigen Sätzen erklärt, was ihn zu dieser Erkenntnis geführt hat: „Im Glaubensbekenntnis geht es nicht um die drei göttlichen Personen…Ich glaube an den heiligen Geist, der für mich allerdings ein großes Problem darstellt. In der Bibel ist der heilige Geist ein Geschenk, nicht eine dritte Person: Er ist die Seinsweise Gottes selbst, der sich den Menschen als Geschenk gibt“ (S. 106).

11.
Damit bietet Schlillebeeckx entscheidende Hinweise: Gott selbst ist, wenn man schon sprachlich sich auf ihn bezieht, nur als Geist denkbar, auch nicht als „Person“ im landläufigen Sinne, schon gar nicht als Materie, als Klotz, als Stein oder was… Sondern als ewiger Geist, und weil Geist, eben auch lebendig- tätig- schöpferisch. Auch Geist kann im populären Verständnis von „Geistern“ etc. falsche Assoziationen wecken… Auch „Geist“ als Beschreibung des Ewigen, Göttlichen, ist also sehr differenziert zu verstehen.

12.
Zunächst folgen wir der Spur, die zu einem neuem Verständnis des „heiligen Geistes“ führt, der nicht als göttliche „Person“ verstanden werden sollte.
Unser Ausgangspunkt ist die menschliche Selbsterfahrung des Geistes: Im menschlichen Geist als Vernunft, als Emotion, zusammengefasst als „Seele“, gestalten wir unser menschliches humanes Leben, mit allen seinen vielfältigen Produktionen des Geistes und der Vernunft, mit seinen ständigen Reflexionen und Entscheidungen, auch zwischen Böse und Gut, um es klassisch moral-philosophisch zu sagen.
Es unser Geist, der seine Lebendigkeit zeigt. Aber was soll dann noch ein heiliger Geist, offenbar ein zusätzlicher Geist in uns? Wann und wo und wie wirkt denn dieser zweite Geist in uns? Etwa nur, wenn es sich um explizit religiöse und spirituelle Fragen handelt?
Aber kann der allgemeine, der menschliche Geist nicht von sich aus auch in der Auseinandersetzung mit Lebensfragen, in der Begegnung mit Kunst usw. Spuren der Transzendenz und des Göttlichen entdecken? Lehrt nicht sogar die katholische Kirche im Ersten Vatikanischen Konzil schon, dass der „natürliche“, also der allgemeine menschliche Geist Gott erkennen kann? Wozu dann noch diese behauptete doppelte Geist – Struktur in der einen geistigen Selbsterfahrung des Menschen? Kann der menschliche Geist nicht von sich auch Erstaunliches, wunderbar Genanntes, erleben?

13.
Die Rede von einem zusätzlichen, zweiten Geist, einem heiligen Geist, im Menschen ist also überflüssig.
Aber was bedeutet dann die literarische Erzählung im Neuen Testament von der Begeisterung der ersten kleinen Gemeinde, die behauptet, zu „Pfingsten“ mit dem heiligen Geist beschenkt worden zu sein? Unsere Antwort: Diese ersten Christen fühlten sich durch ihren eigenen Geist ermutigt, als kleine Gemeinschaft weiter zu leben und ihren Glauben weiter zu gestalten: Diese allgemein menschliche Einsicht, Reflexion und Entscheidung, deuteten sie bei dem damals religiös-kulturell üblichen Enthusiasmus als besondere Gabe Gottes, als besonderen, gegenüber dem eigenen Geist noch zusätzlich gegeben göttlichen, heiligen Geist. Diese Deutung von „Pfingsten“ durch die ersten Christen ist also kulturell bedingte Deutung anzusehen.
Diese ersten Christen hatten wie alle anderen Menschen ihren Geist, ihre Vernunft, ihre Emotionen usw. Und dieser Geist der Menschen ist – theologisch gesehen – der Geist, den der unendliche „Schöpfer“ der Evolution der Welt und der Menschen den Menschen erschaffen hat. Es ist also der von Gott geschaffene Geist (Vernunft) im Menschen, der auch zu religiösen Erkenntnissen führt. Einen zweiten, im Menschen irgendwie und irgendwann wunderbar wirkenden zusätzlichen göttlichen Geist braucht die Menschheit nicht. Denn der menschliche Geist (Vernunft) als Gottes Schöpfung ist heilig.

14.
Mit dieser Skizze wird deutlich: Der so genannte heilige Geist ist eine vom Überschwang bestimmte Konstruktion. Der heilige Geist ist also keine Person einer göttlichen Trinität: Denn Gott selbst ist schöpferischer Geist, der seinen Geist der evolutiven Welt (und den Menschen) mit – teilt…Es gilt also „Gott als den Ewigen als absolute Einheit zu denken“ (vgl. Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung“, Frankfurt/Mn., 2020, S 354)

15.
Es bleibt die Frage, wie denn Jesus von Nazareth als Logos in die „Trinität“ als die „zweite Person“ hineingesetzt werden konnte. Dazu hat der katholische Theologe Prof. em. Hermann Häring (Tübingen) in PUBLIK-FORUM( Heft 10/2023, S. 36 f.) einige Hinweise gegeben unter dem Titel „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“. Häring schreibt: „Jesus hat sich nie als Teil einer Trinität verstanden, der ihm zugeschriebene Titel Sohn Gottes ist meilenweit entfernt von der zweiten innergöttlichen Person… Unser Bruder Jesus ist zum Träger von Gott gegebener Weisheit geworden. Dazu braucht es keine Dreifaltigkeit“ (S. 36). Im leider ziemlich knappen Beitrag betont Häring treffend: „Man habe in der Kirche diesen Trinitätsglauben aus kindlichem Glaubensgehorsam bewahrt“ (S. 37). Und er schlägt wie auch der Autor dieses Hinweises „eine Generalrevision unserer Glaubenskonstrukte“ vor (ebd.)

16.
Man muss den genannten Spuren folgen und „Jesus von Nazareth“ endlich wieder als Menschen sehen, als „unseren Bruder“, bezeichnen und als solchen auch religiös respektieren. Jesus von Nazareth ist einer von uns Menschen. Er zeigt in seinem Leben, dass er wie die Menschen überhaupt mit kreativem menschlichen Geist, als der Gabe des schöpferischen Gottes, ausgestattet, „beschenkt“, ist. Mit anderen Worten: Jesus von Nazareth zeigt, dass alle Menschen als Geschöpfe Gottes gemeinsam gleichberechtigte Brüder und Schwestern sind, im Bild gesprochen des einen „schöpferischen Vaters“…Es ist also die eine geistvolle Menschheit gemeint, die sich auch in Kirchen sammeln kann, um diese Erinnerung an den einen „Vater“ aller aktuell, auch politisch, aber auch meditativ lebendig zu gestalten.

17.
Aus der „Trinität“ ist also nicht nur der „heilige Geist“ als Person bzw. als Taube befreit. Aus der Trinität ist auch Jesus von Nazareth befreit. Was bleibt? Der eine ewige Gott, den viele als den geistvollen Schöpfer der evolutiven Welt und der Menschen ansehen und verehren, mit religiösen Menschen anderer Religionen…

18.
Aber auch bei diesem Bild, das sinnvoller und geistvoller,„vernünftiger“ und biblischer ist als das Bild „Trinität“, bleiben Fragen: In der Mystik und bei wenigen zeitgenössischen Theologen wird das Bild Trinität oder das Bild des einen schöpferischen Gottes noch einmal weiterentwickelt bzw. überwunden. Denn das Bild des einen schöpferischen Gottes lässt viele Probleme offen: Der schöpferische Gott hat den Menschen als Freiheit geschaffen, aber: Diese von Gott geschaffene Freiheit kann der Mensch auch zum Bösen, Krieg etc. gestalten. Das heißt doch wohl: Dass damit auch Gott als der Schöpfer dieser menschlichen Freiheit ins Böse mit hineingezogen wird.

19.
Gibt es also noch einen größeren Gott als das Bild des schöpferischen Gottes (vielleicht auch klassisch noch als Trinität)?
Meister Eckart (1260-1328) dachte an die „Gottheit“, sozusagen an den „Gott über Gott“. In seiner „deutschen Predigt“ mit dem Titel „Selig die Armen“, bezogen auf Matthäus 5,3 heißt es: “Darum bitte ich Gott, dass er mich Gott-los (wörtlich Gottes quitt) mache. Denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von `Gott`, sofern wir Gott als Ursprung der Welt fassen“(vgl. „Meister Eckart. Einheit mit Gott“, hg. von Dietmar Mieth, Düsseldorf 2002, S. 154). Es geht also bei diesem Gott über „Gott“ um eine Idee über allem Sein und über aller Unterschiedenheit…
Auch Paul Tillich dachte Gott jenseits eines Theismus, der sich auf drei göttliche Personen bezieht. Eine authentische religiöse Lebensform ist für Tillich „Der Mut zum Sein“, der seinen Halt findet in dem „Gott über Gott“ (GW XI. S. 138 f). Siehe auch: “Paul Tillich” von Werner Schüssler und Erdmann Sturm, Darmstadt, 2007, S. 163ff): “Die Idee von dem Gott über Gott, dem letzten Grund allen Seins,  der erschient, wenn der Gott , dem wir Namen geben, versunken ist – , mag mir in der unbewussten Erinnerung an Dionysios (Areeopagita) gekommen sein” (S. 166). “Gott über Gott” ist also ursprünglich ein neuplatonischer Gedanke….

20.
Was also ist erreicht in dem hier nur angedeuteten Versuch, das Dogma der Trinität beiseite zu legen und für eine „einfache“ Spiritualität zu plädieren?
Es wurde beispielhaft gezeigt, dass eine moderne Theologie und ihr folgend Kirchen, die den Begriff modern für angemessen und richtig finden, (denk-)möglich sind. Dieser Hinweis will von Begriffen und Lehren befreien, die nur noch wie altes, verstaubtes Mobiliar in den Kirchen herumstehen und nur Historiker noch interessieren dürfen.
Spirituelle Christen können sich also vom Ballast der Traditionen lossagen, befreien, wenn sie denn nicht von Angst vor dem Klerus bestimmt bleiben wollen.
Und wichtig ist, dass Theologie wieder sich eine sehr lebhafte, erneuerungsbereite kritische Forschung zeigt…

21.
Wie sich diese von der alten „Trinität“ befreite Theologie zu den vielfältigen Formen der Unitarier bzw. unitarischen Kirchen verhält, ist eine andere Frage. Sie kann hier nicht beantwortet werden, weil die unitarischen Glaubensformen selbst noch sehr bezogen sind auf die alte, „klassische“ Trinitätstheologie.
Unser Vorschlag geht ja dahin, den Gedanken Gott über „Gott“ im Sinne Meister Eckarts neu zu denken, von diesem „anderen“ Denken wären dann auch die unitarischen Glaubensformen betroffen.

22. Zusammenfassung:

Gott als der Ewige, der letzte Grund unseres Seins, ist Geist.

Jesus von Nazareth ist Vorbild und Inspiration für ein “menschliches Leben”, das diesen Namen verdient.

Der Geist ist heilig, weil er als Gottes Schöpfung im Menschen anwesend ist, als das Belebende, lebendig Machende.

Die Konsequenzen dieser Theologie sind deutlich:

Wir brauchen keine Ideologie der Erbsünde mehr, wir brauchen keine Klerus-Macht, sondern die Gemeinschaft der spirituell Suchenden, einander Ermunternden…

Selbstverständlich wird dann auch die so genannte Erlösungs-Lehre der Kirchen neu gesehen: Der “Logos”, der vom Himmel herabsteigt und “Fleisch annimmt”, (Weihnachten!!), wird durch das Bild ersetzt: Jesus von Nazareth ist ein Vorbild der Menschlichkeit. Ihm in seiner Menschenfreundlichkeit zu folgen, kann erlösend sein. Aber nicht die metaphysische Kraft eines vom Himmel herabgestiegenen Logos (also die 2. Person der Trinität).

Eine gewisse, ganz andere “Trinität”, also dann doch. Aber eine  nachvollziehbare, nicht als total “geheimnisvoll” behauptete…

Eine andere “Trinität”, die zu denken … und zu leben gibt – auch im Gespräch mit anderen Religionen und Konfessionen, mit den Kulturen und anderen “Darstellungen” des Geistes…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Andrzej Stasiuk: Der Liebhaber des Ostens Europas und der Orte „wo nichts los ist“.

Ein Hinweis auf den polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk
Von Christian Modehn

1.
Etwa sechzehn Bücher von Andrzej Stasiuk, eines der bekanntesten polnischen Autoren der Gegenwart, liegen auf Deutsch vor. Eine umfassende Würdigung des international beachteten und mit etlichen Ehrungen, Preisen ausgezeichneten Schriftstellers und Verlegers liegt meines Wissens in deutscher Sprache nicht vor. Sie kann hier nicht geleistet werden. Dieser Hinweis will nur eine mögliche Linie der Interpretation aufzeigen, sie bezieht sich vor allem auf die Bücher „Unterwegs nach Babadag“ (2004, auf Deutsch 2005) und „Beskiden-Chronik, Nachrichten aus Polen und der Welt“ (2018, auf Deutsch 2020). Beide Bücher sind bei Suhrkamp erschienen und wurden von Renate Schmidgall aus dem Polnischen übertragen. Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit vielen Jahren der Einsamkeit der Beskiden, nahe der slowakischen Grenze.

2.
Wer einige Bücher Stasiuks gelesen hat, fühlt sich manchmal irritiert von der inhaltlichen Kontinuität seiner ausführlichen Reise – Impressionen. Sie sind keine journalistischen Recherchen, sie führen in sehr subjektiver Sicht zumeist in entlegene bzw. – zumal für Westeuropäer – entlegenste und dem Namen nach unbekannte Regionen mit ihren Städtchen und Dörfern Polens, Ungarns, der Slowakei, Rumäniens, der Türkei, der Ukraine, Kasachthans, Albaniens, Moldawiens usw. Tausende von Ortsnamen begegnen dem Leser, Orte, die Stasiuk, auch mit Freunden und Verwandten, besucht hat. In manchen ist er sozusagen als „Vielfahrer“ mit seinem Auto nur kurz durchgefahren, in etlichen hat er sich länger aufgehalten: Vor allem um die Natur dort zu erleben, um Menschen zu beobachten und gelegentlich auch mit ihnen zu sprechen oder um kurze Beschreibungen „prominenter“ Orte zu bieten, wie etwa am Beispiel des rumänischen Dorfe Rasinari, wo der Philosoph Emil Cioran geboren wurde. Dabei erlebt er dort auch das Fortleben der politischen Nostalgie, in der „Sehnsucht nach dem Diktator Ceausescu“ (S. 23), wobei Stasiuk die Differenz erlebt zwischen seiner Freiheit und seinem Wohlstand als Autor und der Armut der in den Dörfern verbliebenen Alten: “Ich spürte, dass meine Freiheit, hierher zu kommen und wieder wegzufahren, hier nichts bedeutete und einen Scheißdreck wert war“ (ebd). An gelegentliche drastische Formulierungen werden sich Stasiuk – LeserInnen gewöhnen wie auch an seine manchmal nicht so deutlich erkennbare politische Meinung (siehe dazu Nr. 6)

3.
Leider wird auch in beiden genannten Büchern kein Datum der jeweiligen Aufenthalte in der ständigen Reiselust genannt. Aber das entspricht vielleicht auch dem literarischen Anspruch Stasiuks, sozusagen die trennenden Grenzen und damit die Daten der osteuropäischen Länder aufzubrechen zugunsten einer ihnen gemeinsamen Naturerfahrung, die sich dort „im Osten“ überall für ihn ereignet. Es geht ihm – als spirituellen Menschen, sicher auch vom Katholizismus geprägt, wie er bekennt – um die Wahrnehmung von „Gottes Schöpfung“ , um das Erstaunen darüber, dass die Welt überhaupt existiert…

4.
„Den Osten“ Europas zu sehen, zu spüren, zu atmen, sich einzuprägen: Dies ist sozusagen die absolute Leidenschaft Stasiuks, so sehr er durchaus auch den Westen Europas etwas schätzt, wobei ihn die großen Städte nicht nur in West-Europa eher stören und belästigen in seiner Suche nach der „Berührung mit dem namenlosen Raum“ (Babadag, S. 11), also der „materiellen Welt der Natur und des Kosmos“, was Stasiuk gerade in der Einsamkeit der genannten östlichen Regionen intensiv erleben möchte und wohl auch erlebt. Sonst würde er nicht Jahre lang die entlegensten Ecken dort, oft mit Mühe und großer Anstrengung, reisend, fahrend, suchend erkunden, manchmal auch mit der Bahn oder mit Bussen oder als Tramper…“Es könnte sein, dass es mir einfach um die menschenleere Landschaft geht, um meine eigene Einsamkeit“ (S. 273).

5.
Dies ist die Provokation für westliche Leser: „Das Herz meines Europa schlägt in Sokolów Podlaski und in Husi. Und kein bißchen in Wien und auch nicht in Budapest… Sokolów und Susi ahmen nichts nach, sie erschöpfen sich in ihrer eigenen Bestimmung“ (S. 265). Beide Namen verweise auf kleine Städtchen. In der Einsamkeit und Öde, in dieser Landschaft sammelt er seine Erinnerungen, um sie später, zu Hause, in der Einsamkeit der polnischen Beskiden, zu vergegenwärtigen, im Geist präsent zu haben. „Ich kann mich an tausend Fragmente der Welt erinnern“(S. 272).

6.
Stasiuk gibt offen zu: Er liebt diese Gegenden und Dörfer im Osten Europas und schon in Asien, „wo nichts los ist“ (S. 276), also die langweiligen Orte, wo die Zeit dröge dahinfließt bzw. stille steht, die Bewohner oft nur rumsitzen, ohne noch auf etwas zu warten. „An diesen Orten (gemeint ist rund um Constanta, Rumänien) gibt es nichts. Es sind einfach Dörfer, in der Steppe entlang der A3 oder abseits verstreut“ (S. 257). Und weil dort nichts los, die Zeit (und damit die Entwicklung, der „Fortschritt“) erstarrt ist, findet Stasiuk diese Reisen dorthin für sich selbst sinnvoll. Er will förmlich das Leiden an der Sinnlosigkeit des Lebens im Aufenthalt an Orten des erstarrten Lebens erträglich finden.

7.

Viel beachtet wurde Stasiuks “Roman” “Die Welt hinter Dukla“, in Polen 1997 erschienen, auf Deutsch seit 2002 in mehreren Auflagen. Dukla ist eine kleine Stadt im Karpatenvorland, dicht an der slowakischen Grenze und … in der Nähe von Stasiuks Haus. Und dieses Städchen besucht Stasiuk immer wieder, er will das unterschiedliche Licht erleben bei unterschiedlichen Tageszeiten und eigentlich auch den Stillstand des Lebens in der Stadt, das Gewöhnliche sozusagen. “Ein merkwürdiges Städtchen, von dem aus es nirgendwo mehr hingeht. Danach kommt nur noch die Slokwakei… aber unterwegs wiederholt der Teufel wie eine Litanei sein Gute-Nacht und nichts Wichtiges passiert, nur hinfällige Häuser kauern am Straßenrand…” (S. 67).  “Dukla, die Ouvertüre zum leeren Raum” (S. 68). Es ist diese Leidenschaft Stasiks fürs Unbedeutende, Verlassene, Aufgegebene, Einsame, die sich auch in dem “Roman” ausdrückt, eigentlich kein Roman, sondern eher eine Sammlung von Beschreibungen “Duklas” und Umgebung. Literarisch wertvoll erscheint mir die Passage, die mit “Also Dukla als Memento, als mentales Loch in der Seele” beginnt (S. 100 f.) “Ich könnte bis zum Dösigwerden auf der Westseite des Marktes sitzen…” (S. 101).

8.
Das Buch „Beskiden – Chronik“ versammelt kurze Essays, die Stasiuk offenbar vor allem für die liberal-katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (Krakau) geschrieben hat, weil jegliches Datum fehlt offenbar seit 2007 bis 2017 verfasst. Darin äußert sich Stasiuk deutlich im Sinne des ungarischen Populisten Viktor Orban und er sieht wie der ungarische Populist – angesichts der vielen Flüchtlinge nach Europa „eine große Völkerwanderung“ .Und Stasiuk schreibt sogar: „Viktor Orban hat recht: Das ist keine Emigration, das ist eine neue Völkerwanderung“ (S. 128, Beskiden). Verstörend auch die Worte: „Wir haben ihnen (den Flüchtlingen) den Weg bereitet, indem wir die Welt zu einem gemeinsamen Raum machten“ (S. 129). Und noch einmal S. 130: “Viktor Orban hat recht“ … Das lässt Stasiuk unkommentiert 2020 in Deutschland veröffentlichen.
Er spricht direkt seine polnischen Landsleute an in dem Essay „Auf der Halbinsel“ (gemeint ist Europa), ein Beitrag, verfasst nach der Aufnahme Polens in den „Schengen-Raum“: „Ich denke wir (Polen) sind müde…Wir sind müde, weil die Zukunft uns nicht betrifft. Wir werden in diesem Wettlauf immer zurückbleiben, dazu verurteilt, ewig fremden Spuren zu folgen. Die einzige Chance für uns ist der Zerfall Europas, denn dann hört der Wettlauf auf“ (S. 165, Beskiden). Die PIS-Partei verfolgt jetzt dieses Ziel, den „Zerfall Europas“ als der E.U.

9.
Stasiuk ist für mich ein zwiespältiger Autor, zumal viele seiner Texte von einer gewissen Langatmigkeit und inneren „Ungegliedertheit“ bestimmt sind, offenbar viel zu schnell dahin geschrieben. Die LeserInnen werden erkennen, mit welcher Wahrhaftigkeit er in seinen Reiseberichten hin und her „im Osten“ auch von seinem Alkoholkonsum und der Zigarettensucht spricht. Vielleicht will er die allgemein menschliche existentielle Langeweile geradezu – sozusagen dialektisch – in langweiligen Gegenden und Dörfern heilen.
„Dass ich auf dem Land lebe, hat auch pragmatische Gründe: Man findet hier ideale Arbeitsbedingungen, es gibt diese dörfliche Langeweile, die man mit etwas ausfüllen muss, und das tue ich eben mit dem Schreiben. Der intellektuelle Austausch findet in meinem Kopf statt, beim Lesen“, so in einem Interview mit der Zeitschrift “Literaturen”, Oktober 2000.

10.

Stasiuk hat sich auch in den wenigen in deutscher Sprache publizierten Interview zu Religion und Mystik geäußert:

Die Zeitschrift LITERATUREN:  Was verstehen Sie unter Mystik? (2010):

„Es ist eine postreligiöse Mystik: Im 20. oder 21. Jahrhundert kann man nicht mehr selbstverständlich von der Existenz einer metaphysischen Wirklichkeit ausgehen. Doch gleichzeitig besteht im Menschen zweifellos ein großes Bedürfnis nach Religion. Wenn man keinen verkehrten Weg einschlagen und sich irgendeiner Utopie verschreiben möchte, muss man, um mit diesem Gegensatz umgehen zu können, die Wahrnehmung der materiellen Wirklichkeit, der mit den Sinnen erfahrbaren Welt, deren Existenz man nicht beweisen muss, auf religiöse Weise vertiefen“.

In der Wiener Zeitung:29.7.2016:

„Ich habe diesen Glauben daran, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst, aus meinem Elternhaus mitgenommen. Da bin ich katholisch geprägt. Zugleich bin ich wirklich sehr, sehr weit entfernt von der katholischen Orthodoxie.Aber ich gebe zu: Ich sehe die Welt in religiösen Kategorien. Das ist ja auch viel interessanter, es macht unsere doch oft enge materielle Existenz spannender. Und dass hinter der Welt, wie sie ist, ein Gott steckt, jetzt nicht unbedingt ein Gott mit einem langen weißen Bart, dieser Gedanke ist mir nahe. Wobei die Intensität dieses Gefühls sehr variiert. Manchmal bin ich fast zur Gänze davon überzeugt, dass es Ihn gibt, und manchmal bin ich zerrissen. Aber das ist jetzt kein Thema, das man so einfach in einem InInterview abhandeln kann“.

Interessante politische Perspektiven, auch zu Russland, spricht Stasiuk in dem Interview von 2009 mit Ireneusz Danko an.    LINK  

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Diktaturen – sozialistisch/kommunistisch und katholisch/vatikanisch: Hinweis auf einen Systemvergleich.

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Dies könnte der Beginn eines Forschungs-Projektes, Juni 2023, sein. Damit ist gesagt: Es bedarf einer gewissen kritischen Begeisterung zu fragen, zu forschen, um den hier vorgestellten Systemvergleich mitzuvollziehen und weiter zu gestalten.

Mit diesem Systemvergleich steht der “Religionsphilosophische Salon Berlin” natürlich nicht allein da. Im DRITTEN KAPITEL (Nr. 19) wird gezeigt, dass Philosophen mit katholischem und/oder auch mit marxistisch-kommunistischem Hintergrund diesen Systemvergleich ebenfalls darstellen…Also: Leszek Kolakowski (Polen/England), Reymond Geuss (USA/England)….

ERSTES KAPITEL: Die sanften Modernisierungen und scheinbaren Demokratisierungen in beiden Systemen.

1.
Der System-Vergleich real-sozialistischer (kommunistischer) Herrschaftsformen, d.h. Diktaturen, mit der uneingeschränkten Klerusherrschaft in der Theokratie Vatikan, mit einem unfehlbaren Papst an der Spitze, war etliche Jahre üblich, und dieser Systemvergleich ist als Analyse immer noch treffend: Daran wird im folgenden noch einmal – weiter unten – erinnert.

Beide Herrschaftssysteme stehen einem Struktur – Vergleich zur Verfügung, weil beide aufgrund ihrer Ideologie überzeugt sind, “die”  Wahrheit für die ganze Menschheit zu besitzen. Und weil beide Herrschaftsysteme immer von Führern geleitet werden, die nicht aus demokratischen Wahlen der betroffenen Bevölkerung oder der Masse der Glaubenden zur Herrschaft gelangt sind. Sondern aus Kreisen gewählt wurden und werden, die diese Herrscher selbst im eigenen Interesse berufen haben (Zentralkomitee der Partei bzw. Kardinalskollegium, berufen durch den Papst). Mit diesem Vergleich der Strukturen wird nicht eine Vergleichbarkeit oder gar seelische “Identität” der realen Personen (Parteichef oder Papst etc.) unterstellt. Es geht um Strukturen, nicht um das je verschiedene persönliche Profil der Herrscher.

Dieser Vergleich der Strukturen hat einen aktuellen Bezug: Er kann etwa die Möglichkeiten und Grenzen von Reformen in beiden Systemen aufzeigen und Hoffnungen auf “Demokratiesierung” beider Systeme in den sehr begrenzten Rahmen setzen. Für manche LeserInnen aus katholischen Kreisen kann also dieser Beitrag hier zur Ernüchterung führen und die Frage drängend machen: Wie setze ich meine Lebenszeit am besten ein für das Überleben der Menschheit, für die Abwehr der weiteren Klimakatastrophen, für die Überwindung der Ungerechtigkeit der Reichen gegenüber den meisten Menschen im “globalen Süden” und so weiter. Wahrscheinlich entdeckt “man” dann im Engagement mit anderen seine eigene Spiritualität oder sucht sich in aller Freiheit seine eigene, seine “einfache”, jesuanische, in jedem Fall nicht-hierarchische  Spiritualität. Also außerhalb des römischen Systems.

2.
Aber schon an dieser Stelle wird auf eine weitere Aktualität des Thema hingewiesen: Denn dieser Systemvergleich (Kommunismus – katholische Kirche) hat seit etlichen Jahren eine neue Dimension erreicht: Bekanntlich gibt es kein kommunistisches Sowjet-Imperium mehr, das üblicherweise mit der vatikanischen Theokratie verglichen werden könnte.

3.
Sondern jetzt steht das Kommunistische China – Imperium mit seiner kapitalistischen (modernen) Ökonomie als Beispiel des Systemvergleichs im Mittelpunkt. Auch wenn der chinesische kommunistische Alleinherrscher Xi immer wieder betont: „Unsere Modernisierung bedeutet nicht Verwestlichung“, so gibt sich China im ganzen de facto (nur) nach außen hin (!) sehr westlich, denn es kann gar nicht auf die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der europäischen-amerikanischen Moderne verzichten. Die Spionage Chinas u.a. in der Forschung des Westens ist bekannt…

4.
Und auch der Vatikan als Theokratie gibt sich unter Papst Franziskus nach außen hin seit einigen Jahren etwas moderner, d.h. demokratischer, man möchte sagen etwas sympathischer, dem Anschein nach: Denn nun heißt das vatikanische Leitwort „Synode”, also gemeinsames Beraten von Klerikern aber auch mit einigen vom Klerus ausgewählten Laien und Nonnen. Die Verlogenheit im Umgang mit dem „Synoden“ Begriff wird schnell deutlich: Diese Synodalen können zwar Mehrheits – Beschlüsse fassen, aber diese haben keine bedeutende Wirkung: Denn allein der Papst entscheidet, ob diese Beschlüsse auch „realisiert“ werden. Wer es noch nicht weißt: Auch Papst Franziskus ist der absolute Herrscher über die Kirche. (Siehe das “Kanonische Rexcht” von 1984, Kanon 331.

Die Allmacht des Papstes im Umgang mit Synoden: Ein Beispiel: Die „Amazonas-Synode“ (2019) von Bischöfen und wenigen Laien in Rom forderte die Aufhebung des Zölibatsgesetzes für die dortigen Priester: Aber der Papst realisierte danach nicht diesen Mehrheitsbeschluss. Dazu hat der Bischof em. vom Amazonas, Erwin Kräutler, seine treffende Meinung im Juni 2023 veröffentlicht. LINK.

Zur Weltsynode in Rom (Oktober 2023) hat Papst Franziskus nun wie üblich eigenmächig bestimmte Kleriker als Mitglieder berufen,, etwa Kardinal Gerhard Ludwig Müller, einen der reaktionärsten Kirchen-Fürsten heute. Er ist in dieser Synode als Kleriker selbstverständlich stimmberechtigt… Er kann also reaktionäre Positionen unterstützen und mit seinen Freunden durchsetzen…

Auch in Deutschland hgab es eine gewisse Synoden-Begeisterung unter Katholiken: Aber die Engagierten wissen – oft uneingestanden – genau: Alle ihre demokratischen Mehrheits-Entscheidungen müssen vom Papst abgesegnet werden. Globale Reformen, wie in Deutschland gewünscht („Priestertum der Frauen“), sind nur eine Utopie, über die man Jahrzehnte lang reden kann. Offiziell heißt es vom „Synodalen Prozess“ in Deutschland im Jahr 2022: „Über die Umsetzung von Beschlüssen, die eine weltkirchliche Relevanz entfalten, entscheidet der Apostolische Stuhl, also der Papst…Entsprechende Beschlüsse der Synodalversammlung müssen als Votum der Kirche in Deutschland an Rom gerichtet werden.“

5.
Mit anderen Worten: Es gibt eine überraschende begrenzte Parallele zu Xi und seinem Modernisierungsprogramm: Nur nach außen hin gibt man sich in Peking westlich. So, wie die Theokratie Vatikan etwas moderner, etwas demokratisch nach außen hin tut. „Synode hurra“ möchte man sagen, ohne dass nun die Prinzipien der Moderne und der Demokratie von der Theokratie Vatikan respektiert werden. Ein frommer Schein wird von den Theokraten geweckt … und den Engagierten ihre Lebens-Zeit gestohlen…Wie sinnlos und ergebnislos war damals letztendlich die Würzburger Synode (1971-1975)? Wie sinnlos und frustrierend das „Niederländische Pastoralkonzil“ (1966-1970): Alle richtigen Reformvorschläge der Mehrheit dort wurden von den Herren der Theokratie im Vatikan zurückgewiesen… Und die katholische Kirche der Niederlande in den Niedergang geführt.

6.
Es könnte manche fromme Seele erstaunt sein, wenn der Vatikan hier eine Theokratie genannt wird: Aber diese Bezeichnung ist unter Politologen üblich, denn der Vatikan als Herrschaftsform ist allein religiös legitimiert, und zwar durch den einen Satz im Neuen Testament, in dem Jesus von Nazareth dem Fischer Petrus eine Sonderrolle als „Chef“ seiner imaginierten Kirche zuweist (siehe Matthäus-Evangelium 16,18). Unter Historikern und kritischen Bibelwissenschaftlern ist heute eindeutige Überzeugung: Jesus von Nazareth dachte nicht im entferntesten daran, eine Kirche zu gründen, dazu war seine Erwartung eines baldigen Endes des Welt viel zu dominant. Und einen Fischer Petrus (übrigens verheiratet! und sicher Analphabet) als Papst konnte sich der Wanderprediger Jesus nun auch nicht vorstellen.
Aber die Kleriker im Vatikan haben zur Rechtfertigung ihrer Macht die Interpretation dieser Bibelstelle absolut „gepachtet“. Sie sind die einzig gültigen Interpreten.
„Theokratie“ bezogen auf den Vatikan heißt ja nicht, dass Gott selbst unmittelbar vom Himmel aus rein regiert in die Welt. Theokratie bedeutet, dass es eine Gruppe von Klerikern gibt, die den heiligen Text der Bibel so deutet, dass nur sie die einzig gültigen Interpreten ist. Diese Herren Kleriker (es sind immer Männer) stehen also gleichsam auf Gottes Seite und sind, wie der Papst in entscheidenden Glaubens – und Moralfragen sogar unfehlbar. Das heißt nichts anderes: In ihnen und durch sie spricht dann Gott selbst… behaupten diese Leute, die noch von Laien und einfachen Pfarren und Ordensleuten als „Hochwürden“ oder „Heiliger Vater“ verehrt werden…

7.
Aber das vatikanische Imperium als Theokratie wird dann auch im weltweit verbreiteten „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) urbi et orbi gelehrt: „Christus selbst ist der Urheber des Amtes (also des Papst-Amtes) in der Kirche. Christus hat es eingesetzt, ihm Vollmacht und Sendung, Ausrichtung und Zielsetzung gegeben“ (§ 874 im „Katechismus der katholischen Kirche“, S. 259). Es wäre also eine Gotteslästerung, wenn der Papst dieser „Einsetzung des Amtes“ durch Christus persönlich widersprechen würde oder wenn er das Amt in der bestehenden Form grundlegend reformieren oder gar aufgeben würde. Die klerikale Theokratie ist also wie Gott selbst „ewig“, soll man denken.

8.
Um noch einen Moment beim Vergleich China von Xi und dem nun etwas demokratisch erscheinenden Vatikan zu bleiben:
Xi will eine weltpolitische Rolle spielen, als Vermittler auftreten, als Friedensstifter im Krieg Russlands gegen die Ukraine

Der Papst will auch weltpolitisch eine große Rolle spielen, deswegen die diplomatischen Bemühungen von Papst Franziskus etwa um Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Deswegen das starke Drängen des Papstes seit Monaten, mit Patriarch Kyrill von Moskau in gutem Einvernehmen zu sein.

Dabei spielt der Papst seine übliche Doppel-Rolle aus: Einerseits ist er Staatschef des Staates Vatikan-Stadt, andererseits auch spiritueller Führer der katholischen Kirche und ihrer Gläubigen. Der Papst ist spirituell der Inhaber des “Heiligen Stuhls”, ein Titel, bezogen auf einen imaginären Stuhl des heiligen Petrus, den angeblich Jesus von nazareth zum ersten Papst auserwählt hat… und diese Rolle als Inhaber des “Heiligen Stuhls” ist am wichtigsten. In der Herrschaft über den “Heiligen Stuhl” bündeln sich die Leitungsaufgaben der katholischen Kirche UND des Staates Vatikanstadt”, wie der italienische Kassationsgerichtshof 1979 die Sachlage klärte.(Siehe dazu: Corrado Augias, “Die Geheimnisses des Vatikan”, München 2011, S. 439). Die Botschafter des Papstes (Nuntien) in fast allen Ländern repräsentieren also den “Heiligen Stuhl”, also die umfassende religiöse wie politische Macht des Papstes….  so wie auch die ausländischen Botschafter  beim “Heiligen Stuhl” in Rom akkrediert sind … und nicht beim Staat Vatikanstadt. Noch einmal: Der “Heilige Stuhl” ist Völkerrechtssubjekt! Ein Völkerrechtssubjekt, das eine Theokratie oder anders gesagt eine Wahl-Monarchie ist, diese päpstliche Herrschaftsform kennt keine übliche Gewaltenteilung, keine durch eine Verfassung begrenzte Macht des Monarchen (des Papstes).

Welch ein intellektueller Tiefpunkt, welche Ideologie, wenn ein Theologieprofessor und Kardinal, Gerhard Ludwig Müller, lange Jahre Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan,  in seinem Buch “Der Papst” (Herder Verlag, 2017)  514 lapidar behauptet:” Der päpstliche Primat hat grundsätzloich nichts mit einer monarchischen und sonstigen Form von Machtausübung zu tun”.

Der Papst ist also absoluter geistlicher Führer für 1,3 Milliarden KatholiKinnen und  Staatschef des Minimal Staates Vatikanstadt (Größe 0,44 Quadratkilometer, 618 Staatsbürger).

ZWEITES Kapitel: Ein Systemvergleich: Real-Sozialistische /Kommunistische Diktaturen und die päpstliche Theokratie.

9. Zur Vertiefung:
Auf die Notwendigkeit einer Untersuchung einer Strukturanalogie von Religion (in unserem Fall Katholizismus) und sozialistischer Diktatur wird man immer wieder von verschiedener Seite aufmerksam gemacht. „Es gibt eine Strukturanalogie zwischen Religion und einer sozialistischen Diktatur… Wie der Papst beanspruchten auch die sozialistischen Parteiführer eine Generalkompetenz über alle Werte-Entscheidungen“, schreibt der Philosoph Harry Lehmann (Berlin) in der Kultur-Zeitschrift „Lettre International“, Winter 2021, Seite 26.
Auf eine „Strukturanalogie“ von Katholizismus und sozialistischen bzw. kommunistischen Diktaturen wurde schon mehrfach auch von großen katholischen Theologen hingewiesen, wie etwa von Hans Küng: „Die Kirche ist von einer Gemeinschaft der Gläubigen zu einer geistlichen Diktatur geworden“, schrieb Küng 2011 in seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“. Und: „Der biblische Jesus Christus hat die Päpste beim Ausbau ihrer Macht gestört und er ist durch ein selbstfabriziertes Kirchenrecht verdrängt worden“. Unter vielen Quellenverweisen nur diese: LINK  . Und noch einmal Küng: „Ohne ein Ende des römischen Hofstaats wird auch einem neuen Papst kein Durchbruch und Aufbruch gelingen“, sagte Küng. Quelle:LINK
Man erinnere sich auch an die heftige Kritik an der Bürokratie im „vatikanischen Hofstaat“ durch den international hoch geschätzten katholischen Theologen Karl Rahner SJ: Es gibt viele Stellungnahmen, Interviews, Zeitungsbeiträge Rahners, die seine Ablehnung des römischen Herrschaftssystems belegen: So nannte er vatikanische Theologen tatsächlich „Bonzen“, im Sinne von ideologisch verblendeten Partei-Bonzen oder Partei-Genossen in sozialistischen Diktaturen. (Quelle: Herbert Vorgrimler, „Karl Rahner verstehen“, Topos Taschenbücher 2002, S. 117.)

10.
Eine kurze Darstellung der Analogie der beiden Systeme:

Die sozialistischen (kommunistischen) Diktaturen (in Zukunft SD abgekürzt) beziehen sich auf eine Gründergestalt (bzw. mit Friedrich Engels auf eine zweite): Karl Marx. Beide dachten nicht im entferntesten an den Stalinismus.
Die katholische Theokratie (KT abgekürzt) bezieht sich auf die Gründergestalt Jesus von Nazareth bzw. „Jesus Christus“ oder nur „Christus“. Aber von der Bibelwissenschaft her ist eindeutig: Jesu hat gar kein Kirche begründen wollen und können…

Das grundlegende Buch in den SD ist „Das Kapital“.
Das grundlegende Buch in der KT ist die Bibel bzw. vor allem das „Neue Testament“. Das „Kapital“ ist keine Anleitung für den Stalinismus, das „Neue Testament ist keine Anleitung für die Hexenverfolgungen oder die Verbrennung von angeblichen Irrlehrern.

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches beansprucht die KP-Parteiführung bzw. die Führung der Sozialistischen Partei (etwa SED). Ihr Selbstverständnis drückt sich etwa in dem bekannten Kampf-Lied aus „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“ (Es ist raffinierterweise die anonyme „Partei“, nicht ein konkreter Parteiführer, der recht hat…

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches „Neues Testament“ beansprucht in der KT der Papst bzw. die von ihm eingesetzten Bischöfe und dann in der Hierarchie die von Bischöfen geweihten Kleriker. Ihr Selbstverständnis drückt sich in dem Lied „Fest soll mein Taufbund immer stehen“ aus, besonders in dem Vers „Ich will die Kirche hören, sie soll mich allzeit folgsam sehen und gehorsam ihren Lehren“… „Die Kirche“ hören, nicht einen konkreten Bischof…

Die Partei (d.i. das Zentralkomitee, ZK) beansprucht, „die” Wahrheit, die einzige wahre Wahrheit , zu „haben“, für alle Bereiche des Lebens. Sie will diese Wahrheit international ausbreiten (Beispiel: im Ostblock durch die KPDSU etc.).

Die Entwicklung des Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitschin “Die Zeit”, 29.Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel wie in einer Welt aus Beton…

Die Kirche (d.i. der Papst und die von ihm ernannten Bischöfe) beansprucht „die” Wahrheit, die einzige, für alle Bereiche des Lebens, auch der Politik und der Sexualität, zu „haben“ und allen Menschen mitzuteilen (darum weltweite Mission). Man denke an das Reinreden der Kirchenführer in die Sexualmoral der Katholiken…

Wer „die“ Wahrheit nicht annimmt und nach außen bekennt, möglichst wortwörtlich, wird vom ZK wie auch von der Glaubensbehörde (Heiliges Offizium) kritisiert, ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet. Die Ketzerverfolgung in der katholischen Kirche hat natürlich eine viel umfassendere längere Tradition aufgrund des längeren Bestandes dieser Institution Kirche…

„Die Lehre“ wird vom ZK der SD bestimmt und bei Parteitagen manchmal geändert. Die kommunistischen Basis-Dogmen bleiben aber unberührt, etwa die führende Rolle der KP oder SED usw. Damit schützt sich die Parteiführung, wohlwissend, dass ihr totalitärer Anspruch der absoluten Führung von Marx gar nicht gefordert wird.

Die Kirchen-Lehre wird vom Papst und seinen Gremien, auch vom Konzil, das dem Papst untersteht, gelegentlich moderat verändert, etwa: „Landessprache in der Messe“ seit 1965, „Religionsfreiheit ist kein Verbrechen“ oder Möglichkeit der Feuerbestattung für Katholiken.
Die Basis-Dogmen hingegen bleiben aber unberührt, damit sichert sich der Klerus seine alleinige Interpretationsgewalt. Es gilt die totale – auch sprachlich fixierte – Unwandelbarkeit der vielen seit dem 3. Jahrhundert einmal formulierten Dogmen. Das in den katholischen Messen heute immer noch gesprochene „nizänokonstinopolitischen Glaubensbekenntnisse“ ist für heutige Menschen unverständliches Blabla. Wer versteht schon, dass „der Heilige Gest vom Vater ausgeht“…Wenn interessiert, das „der Logos gezeugt, aber nicht geschaffen ist“…Philosophen vielleicht.

Geschlossenheit und Einheitlichkeit wird von der Führung für die Funktionäre vorgeschrieben: Man denke an die Sitzordnung bei den Parteitagen. Parallel dazu: die absolut gleich gestalteten Gewänder und Mitren bei den Bischöfen bei größeren Zusammenkünften auch in Rom. Die Individuen „Bischöfe“ verschwinden unter der totalen Identität der Kostümierung. Das ist wohl so gewollt. Einstimmigkeit ist die Mitte der Diktaturen, Vielfalt die Mitte der Demokratien.

Die Zensur verbotener Bücher: Zensur im Verlagswesen in der SD, der Index verbotener Bücher im Katholizismus. Das „Imprimatur“ wird heute noch gewünscht.

Die Sonderstellung hoher und höchster Funktionäre in der SD, sie wohnen in separaten Siedlungen, haben Zugang zu westlichen (kapitalistischen) Konsumgütern, Leben im Luxus.
Und in der katholischen Kirche: Hohe Gehälter für Bischöfe, etwa in Deutschland, Luxuswohnungen für Kardinäle im Vatikan, Dienstautos usw.

Akzeptanz privater „Seitensprünge“ hoher Funktionäre (nur einzelne Funktionäre werden als Symbole des Kampfes gegen Korruption in Chinas KP verfolgt),
Akzeptanz der privat gehaltenen, verschwiegenen „Seitensprünge“ des Klerus (Heteros im Klerus haben ihre Freundinnen, Homos im Klerus ihre Liebhaber) , aber alles bitte nicht öffentlich machen. Man lese die instruktive Studie „Sodom“ von Frédéric Martel.

Zusammenfassung:

Die Entwicklung der Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitsch in “Die Zeit”, 29. Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel “wie in einer Welt aus Beton”…

11.
Die Brutalität der Verfolgung von Abweichlern findet in den sozialistischen/kommunistischen Diktaturen (China, Vietnam, Kuba, Nord-Korea) bis heute statt.
Die Brutalität der Verfolgung von Ketzern und Abweichlern im Katholizismus findet jetzt keinen unmittelbaren materiellen, leibhaftigen Ausdruck mehr, diese Brutalität war aber bis ins 19. Jahrhundert üblich. Wie viele Tausend Ketzer wurden verbrannt, wie viele Tausend Irrlehrer verfolgt, wie viel Tausend Hexen verbrannt uns so weiter…
Aber die psychische Brutalität im Umgang mit Abweichlern und „Unbequemen“ im Katholizismus verursacht auch heute seelisches Leiden, Ausgrenzung, privates finanzielles Desaster usw.

12.
Viele sozialistische Regime im Osten Europas sind seit 1989 weithin überwunden worden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war sicher auch ökonomisch bedingt, Stichwort „Hochrüstung“. Aber der Zusammenbruch des Sowjetimperiums war dann doch möglich, weil es eine kleine Gruppe von Abweichlern innerhalb der KPDSU gab, vor alem einen Michael Gorbatschow. Einen solchen Zusammenbruch des Imperiums Papstkirche/Katholizismus ist trotz aller Reformgrüppchen und aller so genannter Synodaler Wege nicht möglich…Solange eben der Papst die Allmacht des Papsttums (Heiliger Stuhl, Unfehlbarkeit, Monarchie etc.) behält und beansprucht. Ein Machtverzicht des Papstes ist nicht in Sicht, trotz allen Schwadronierens von Synodalen Wegen und Synoden. Erst wenn ein Papst gewählt wird, der das papsttum beendet, ist eine Ende dieser Klerus – Diktatur in Sicht.

13.
Warum ist die Theokratische Diktatur des Vatikans, also die klerikale Führung der Katholischen Kirche, nicht zusammengebrochen? Weil so viele religiöse Menschen wider alle Vernunft auch heute noch an Wunder und Wunderbares glauben, weil sie meinen, Gott höchst persönlich will diese Katholische Kirche, inclusive Papsttum, so wie sie ist.

Solange es also ein “göttliches Erschauern und Bewundern der “Hochwürden und Eminenzen und Heiligen Väter gibt, wird sich im Katholizismus nichts grundlegendes, also Vernünftiges, Humanes, ändern. Erst wenn viele Millionen Menschen erkennen: Jede Kirche ist Menschenwerk und damit reformierbar, und die Bibel ist nur ein geistiges, poetisches Produkt frommer Menschen und nicht unmittelbar “Gottes Wort”, wird sich etwas grundlegend zum Guten, Humane, verändern.

In Westeuropa ist der Abschied, der Austritt aus der katholischen Kirche, zahlenmäßig faktisch erwiesen, jetzt immens. In Afrika und manchen Gegenden Asiens sind viele Millionen Menschen (noch) katholisch, bevor sie wahrscheinlich wie in Lateinamerika zu den Evangelikalen und Pfingstgemeinden „konvertieren“…
Vielleicht hängen sie noch am Katholizismus, weil der Vatikan für sie weit weg ist? Und ihre Gemeinden dort oft der einzige soziale und caritative (!) Zusammenhalt sind? Und junge Männer in Indien und auf den Philippinen machen als Kleriker eine schöne und sichere Karriere… Vielleicht später mit einer „Mission“ im reichen Europa? Um die Lücken in den europäischen priesterlosen Gemeinden zu stopfen?

14.
Warum hat der Katholizismus sein „1989“ bisher nicht erlebt? Dies liegt sicher auch an der Lehre, der Spiritualität, den Gottesdiensten, den Wallfahrten usw., so dass viele Katholiken eben trotz und gegen den Vatikan katholisch bleiben, um der Wunder (Lourdes, Fatima!) und der Mystik willen, was auch immer man unter Mystik versteht.
Katholische Religion ist eben immer auch Opium und Folklore (Spanien, Semana Santa) … Außerdem sind gotische Kathedralen schön anzusehen oder barocke Kirchengebäude auch. Es ist sozusagen diese wundervolle, ästhetisch als erhebend erlebte Welt der uralten Frömmigkeit, die letztlich dafür sorgt, dass diese theokratische Diktatur bis heute noch fortbesteht. Natürlich weiß niemand, wie die Taube neben dem Gott Vater mit Bart ins barocke Bild kommt,…“Aber warum soll die Tierwelt, etwa die Taube, nicht auch im Himmel eine Rolle spielen, sagte mir ein junger Mann einmal in einer bayerischen Barockkirche… Vom Symbol der Taube als Heiliger Geist hatte er wie die meisten Besucher dieser kirchlichen Museen genannt Barockkirchen keine Ahnung…

Die Kommunisten hatten ihre Kulte kurzfristig erfunden, wie die Feiern zum 1.Mai, aber sie haben keine innere Resonanz bei den Menschen gefunden. Der russische Historiker Michail Ryklin hat in seinem wertvollen Buch „Kommunismus als Religion“, Frankfurt am Main 2008, darauf sehr anschaulich hingewiesen.

15.
Papst Franziskus denkt gar nicht daran, eine explizit synodale, und das meint immer (!) eine demokratische Kirche zu gestalten. Er verändert mit vielen Worten sozusagen etwas die Farbtöne in der katholischen Bilderwelt, aber ein neues modernes Bild will er nicht entwerfen oder gestatten. Denn dann gäbe es bei einer solchen Reformation, die mehr ist als eine Reform, auch keinen Papst und kein Papsttum mehr. Dann gäbe es aber die Gemeinschaften der gleichberechtigt Glaubenden, dann gäbe es auch keine „Laien“ und auch „Kleriker“ mehr, sondern nur noch spirituell suchende „Brüder und Schwestern“.

16.
Aber diese neue Kirche ist genauso eine ferne, sicher nie erlebbare Utopie wie die klassenlose Gesellschaft im Kommunismus.

17.
Warum also dieser Systemvergleich von zwei Diktaturen?
Weil die eine, die real-sozialistische und kommunistische Diktatur, keine innere, seelische Verheißung bieten konnte, keine transzendierende Illusion. Sie musste ohne Gott auskommen, und das war ein Teil ihrer Katastrophe.
Die katholische Diktatur wurde und wird, wie erwähnt, für viele erträglich durch die von den Dogmen gelieferte Verzauberung der Welt und der Existenz. Aber diese Verzauberung hat auch vielerorts keine Macht mehr, und so ist die Frage offen: Was kommt nach dem Ende auch dieser katholischen antidemokratischen Welt (also der Theokratie)? Wird es eine humane, eine vernünftige, eine elementare christliche Religion der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit geben? Oder wird der Konsumismus und der Neoliberalismus den endgültigen Sieg haben, falls denn die Welt nach all den Öko – und Umweltkatastrophen, den sinnlosen Kriegen und dem Gemetzel mit dem lukrativen Waffenexport etc. noch existiert.

18.
Mit einem Bedauern endet der Blick zurück, mit einem Bedauern darüber, dass sich so viele Menschen gern in der – dialektisch gesehen – behütend-zerstörerischen Macht von Diktaturen irgendwie dann doch einrichteten und gar wohlfühlten und immer noch wohlfühlen. Es ist die unreflektierte Bindung an angeblich allmächtige Autoritäten und der innere Zwang, gehorsam und angepasst zu leben, der diese Diktaturen und die Theokratie am Leben erhält und – wie im Falle des Vatikans – immer wieder mit Geld versorgt, obwohl diese Theokratie allein durch ihren Immobilienbesitz in Rom ein Milliardenvermögen hat. Aber die aufgeklärte, gebildete Jugend Westeuropas denkt anders. Welchem Gott wird sie folgen?

DRITTES KAPITEL als Ergänzung: I.: Der Beitrag des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski.

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat 1977 einen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel „Marxistische Wurzeln des Stalinismus“, dieser Text wurde in dem Buch „Leben trotz Geschichte“ (hg. Leonhard Reinisch), München 1977, S. 257-281, publiziert.

19.

Kolakowski, einer der bedeutenden europäischen Philosophen, war zunächst in Polen Marxist und Kommunist. Als Dissident wurde er 1966 aus der Partei ausgeschlossen und dann lehrte er seit 1969 als Philosoph an verschiedenen Universitäten in Kanada, den USA und vor allem in Oxford. Dort ist er (1927 im polnischen Radom geboren) im Jahr 2009 gestorben. …

Zu unserem Thema sind diese Hinweise Kolakowskis von Bedeutung: Die Bindung der Gläubigen an die katholische Kirchenführung, den Klerus, den Papst usw., ist in Westeuropa und Amerika mindestens bis 1968, strukturell verwandt mit der Bindung der Menschen an das totalitäre System des Kommunismus in Osteuropa bzw. der damaligen Sowjetunion.

20.

Kolakowski nennt ein politisches System totalitär, in dem „alle Gruppen und Individuen nur für Ziele handeln, die zugleich Ziele des Staates sind und als solche vom Staat festgelegt werden“ (S. 260).
Übertragen auf die Bindung der „engagierten Katholiken“ an die Kirchenführung heißt das: Auch diese Katholiken haben nur „für Ziele gehandelt, die zugleich Ziele der Kirchenführung sind und als solche von der Kirchenführung festgelegt werden“.
Also konkret gesagt: Die Kirchenführung bestimmt das Familienleben, die Gestaltung der Sexualität, sie schreibt vor, welche Bücher der Katholik ohne Strafe lesen darf, welche Partei er wählen darf, wie der Katholik mit Andersdenkenden umgeht usw..

21.

Weiter führt Leszek Kolakowski zum kommunistischen Totalitarismus aus: „Der Staat und seine organisatorischen Instrumente bilden die einzigen Formen des sozialen Lebens. Jede Art menschlicher Tätigkeit ist erlaubt, nur sofern sie im Dienst der staatlichen Ziele steht.“
Auf die Bindung der katholischen Gläubigen an die Kirchenführung bezogen heißt dies: Die einzige wertvolle und Gott – bzw. der Kirchenführung wohlgefällige Form des Lebens spielt sich für einen Katholiken nur in der Kirche ab, in der Pfarrgemeinde, in den Gemeindegruppen, den katholischen Verein und katholischen Schulen bis hin zu katholischen Friedhöfen… LINK.

22.

Leszek Kolakowski nennt weitere Elemente totaler Herrschaft in der Sowjetunion und in kommunistisch gelenkten Staaten:
Formen der repräsentativen Demokratie gibt es nicht….
Auf die katholische Kirche bezogen: Sie ist stolz darauf, nicht-demokratisch zu sein. Der Vatikan bzw. der “Heilige Stuhl” ist eine absolute “Wahl-Monarchie”.

Es gibt im Kommunismus keine wirklichen Wahlen. Es gibt keine freie Presse… und die gab es als katholische Kirchenpresse bis vor 20 Jahren gar nicht. Dann gab es Wahlen für den Pfarrgemeinderat, der nur beratende Funktion hat, die letzte Entscheidung trifft der Priester.
Ähnliches gilt für Synoden und synodale Prozesse… Alle Druckwerke hatten ein amtliches „Imprimatur“ …und in den katholischen Presserzeugnissen wachten strenge Priester über die Orthodoxie der Texte und der Autoren. Texte theologischer Dissidenten wurden nicht gedruckt. Man denke an das bischöflich verordnete Ende der kritischen katholischen Wochenzeitung PUBLIK.
Es gab keine Pluralität mit tatsächlicher Vielfalt. Alle Gruppen, ob kommunistisch oder katholisch, wurden von der Führung kontrolliert und in ihrer Entfaltung bestimmt.

23.

Kolakowski weist darauf hin, dass fast niemand die offizielle kommunistische Staatsideologie wirklich aus Überzeugung glaubte. Aber die kommunistische Staatsideologie musste nach außen aufrechterhalten bleiben, damit das ganze System des Staates nicht zusammenbricht. Dissidenten wurden bestraft.

Auf die katholische Kirche übertragen: Nur wenige glaubten das ganze fdogmatische System, das sich in dickleibigen Katechismen darstellte. Nur wenige glaubten etwa, dass sich Jesus von Nazareth den armen Fischer Petrus tatsächlich als den ersten Papst wünschte. Wobei doch fast jeder schon wusste, dass Jesus von Nazareth überhaupt nicht an eine Kirchengründung dachte, war er doch vom nahen Ende dieser Welt überzeugt. Aber bis heute glauben die klerikalen Beamten im Vatikan, dass die Form ihres Papsttums genau dem Willen Gottes und den Weisungen Jesu von Nazareth entspricht. Und sie hämmern diese Ideologie ihrer eigenen Herrschaft den Glaubenden ein. Vergeblich, auf lange Sicht…

24.

Im Katholizismus, seit etwa 1968, konnten sich die Gläubigen in nicht-kirchliche Organisationen flüchten, in feministische Gruppen, in Parteien, die nicht das „C“ als Aushängeschild hatten, in NGOs usw. Dieses Verbundensein mit säkularen Gruppen und Lebensformen schwächte entschieden die totalitäre Herrschaft der Kirchenführung. Bis heute versucht sie, ihre Allmacht zu festigen, im Bereich der Sexualmoral, der Abweisung der Gleichberechtigung von Frauen in den kirchlichen, priesterlichen Ämtern, die Abweisung der Homoehe usw.
Mit anderen Worten:
Die Katholiken konnten ihre menschliche Existenz auf eigene Art ohne kirchliche Vorschriften leben, weil sie sich in der freien, säkularen Gesellschaft entwickeln konnten. Die säkulare Welt, die Aufklärung, die Menschenrechte, haben die Gläubigen in ihrem Menschsein gerettet.

II: Die Hinweise des us-amerikanischen Philosophen Reymond Geuss. Er war Schüler eines katholischen Internats in den USA.

25.

Das neueste Buch von Reymond Geuss “Nicht wie ein Liberaler denken” (Suhrkamp 2023) ist auch eine Art philosophische Autiobiographie. Auf Seite 16 schreibt Geuss: “Lenin und Lukács haben beide von der Notwendigkeit einer Ideologie für das Proletariat gesprochen. Es war keine ausreichende Voraussetzung, unterdrückt zu sein oder gar zu wissen, dass man unterdrückt war; man musste auch Möglichkeiten haben, das empfundene Elend zu artikulieren, theoretisch zu verarbeiten…Man brauchte so etwas, wie das, was der Katholizismus zur Verfügung stellte”. Entscheidend die Erkenntnis: “Die Schwierigkeit ist natürlich, dass wir gegenüber allen totalisierenden ideologischen Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus zu Recht misstrauisch geworden sind” (S. 17).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Siehe auch die Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, WDR, „Die Pyramide des lieben Gottes. Über die Macht und das System in der römischen Kirche“ (Erstsendung am 1.11.2009)   U.a mit O Tönen von Otto-Hermann Pesch, Josef Imbach, Hermann Häring, Friedrich Wilhelm Graf, aber auch Kardinal Joachim Meisner und Kardinal Joseph Ratzinger: Vor allem dessen Empfehlung beachten, dass Theologiestudenten bitte wie Spitzel ihre Professoren beobachten sollten, vgl. O TON 16.     LINK