Kafka und Kant: Was sie verbindet, was sie trennt!

Trennendes und Gemeinsames von Dichtung und Philosophie: Nur ein Hinweis.

Von Christian Modehn am 11.2.2024

Ein Vorwort als Ergänzung am 3.3.2024:
Ein Freund hat uns gefragt: Warum wir denn auf die Idee kamen, „Kant und Kafka“ als ein Thema eines unserer philosophischen Hinweise zu wählen. Und er fragte, offenbar ein übliches Klischee bedienend, „ist diese Kombination Kant – Kafka nicht selbst ein bißchen kafkaesk“?

Mag sein, aber gerade in dieser Form einer außergewöhnlichen Zusammenstellung zweier sehr unterschiedlicher Denker wird vielleicht das besondere Profil des Philosophierens und damit der Philosophien im Unterschied zur Literatur und der Poesie deutlich. Damit befassen sich etliche Philosophen, wie etwa Michael Hampe…

Es ist eine Tatsache, dass Kafka – durchaus philosophisch – in seinen Aphorismen zum Beispiel „die Formen der Skepsis , der Ironie und des Zweifels nutzt“. Aber, und das ist der Unterschied zu Kant, Kafka nutzt sie „NICHT als Werkzeuge zur Beförderung der Wahrheit, sondern im Hinblick auf die Brüchigkeit jeglicher Erkenntnis.“ (Quelle Peter – André Alt, Franz Kafka als Aphoristiker“, in Fran Kafka Betrachtungen …“ C.H.Beck Verlag 2007, S. 81). Die Aphorismen Kafkas seien Zeugnis eines „scheinbar nicht regelgeleiteten Denkens“ (ebd. S. 83).

ABER:
Es gibt ein Leitmotiv, das Kafka und Kant verbindet.
Zu Kafkas Leitmotiv in der Sicht des Kafka – Forscher Peter – André Alt:
„Bei aller thematischen Verschiedenheit der Aphorismen bleibt ein Leitmotiv für sie bestimmend: die Vorstellung einer Welt – Ordnung, deren Bedeutungen nur noch als Requisiten und Zeichen früherer Ganzheit existieren, ohne dass sie uns zu orientierenden Handlungsanleitungen verhelfen.“(Quelle ebd. S. 85).
Zu Kants Leitmotiv: Seine kritische Philosophie leistet einen „revolutionären Neubeginn“ angesichts der Widersprüche bisheriger Metaphysik, diese bietet keine „orientierenden Handlungsanleitungen mehr“. In dieser Ablehnung der alten überlieferten Werte (Unwerte) treffen sich Kant und Kafka. Nur: Kant war überzeugt, vernünftige, auch universell geltende Antworten zu den grundlegenden menschlichen Fragen geben zu können.

Vielleicht gibt es aber einen Aphorismus Kafkas, der entfernt an Kants Lehre von der absoluten Zurückweisung der Lüge erinnert:
Kafka schreibt in seinen „Oktavheften am 8. Dezember 1917: „ Man darf niemanden betrügen. Auch nicht die Welt um ihren Sieg“. (Quelle, ebd. S 54).

…………………….

1.
Kafka und Kant: Beide werden in diesem Jahr 2024 wegen ihrer „runden Gedenktage“ vielfach bedacht, besprochen, gefeiert, kritisiert, vor allem: mit einer Bücherflut hoffentlich geehrt:
Franz Kafka ist vor 100 Jahren gestorben (am 3. Juni 1924), Immanuel Kant wurde vor 300 Jahren (am 22.4.1724) geboren.

2.
Natürlich ist das Zusammentreffen der beiden runden Gedenktage von zwei doch sehr bedeutenden Autoren eher Zufall. Dennoch verführt diese Tatsache zu einigen Überlegungen, die hier angedeutet werden. Sie führen zu weiteren Reflexionen über „wesentliche Merkmale“ von Literatur und „wesentliche Merkmale“ von Philosophie. Dabei ist von vornherein klar, dass es viele AutorInnen und damit unterschiedliche „wesentliche Merkmale“ gibt. Bei den beiden, Kafka und Kant, scheint jedoch unser Thema besonders „zugespitzt“ zu sein.

3.
Kafkas literarisches Werk ist alles andere als eindeutig. Es gibt bekanntlich nicht die eine Deutung etwa seiner großen Romane, Deutungen, die man als die „wahre“ Interpretation bezeichnen könnte. Kafkas Werk hinterlässt beim Leser nicht zuletzt wegen der Komplexität seiner Erzählweise immer Erstaunen, Fragen, Verwirrung. Bei der zweiten und dritten Lektüre eines Kafka Textes wird die Klarheit vielleicht etwas deutlicher, aber Offenheit und Vieldeutigkeit bleiben bestehen.
Damit darf man wohl sagen: Kafkas Werk ist, wiederum zugespitzt gesagt, typisch für das, was Kunst im allgemeinen bedeutet: Die Bedeutung oder gar Wertigkeit literarischer Texte, Gemälde, Symphonien, also „der Kunst“, ist nie eindeutig festzulegen. Kunst ist immer Offenheit und Vieldeutigkeit … zumal im Laufe der langen Geschichte der immer subjektiven Interpretationen. Es gibt vielleicht literarische Werke, die in ihrer Aussage sehr klar und fast eindeutig sind: Gilt das etwa für die Theaterstücke von Bert Brecht? Dies ist eine Frage. Aber zeigen nicht die unterschiedlichen Inszenierungen seiner Stücke auch wiederum die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten?
Und gibt es nicht auch literarische Texte, die sich explizit und deutlich dem eindeutigen Verstehen entziehen wollen, wie die Haikus oder die Koan – Sprüche aus der Zen – buddhistischen Tradition. Und die Poesie, auch im europäischen Raum, wie ist es da? Sind etwa die Gedichte von Paul Celan eindeutig auszulegen?
Dabei muss beachtet werden: Franz Kafka hat als Jurist bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (dort war er von 1908 – 1922 angestellt) selbstverständlich „Schriftsätze, Begründungen etc. von großer juristischer Qualität geschrieben… und zwar gedanklich klar, sprachlich präzise“, wie Bernhard Schlink in der SZ vom 10.2.2024 klarstellt. Mit anderen Worten: Die Arbeit als Jurist war eine Dimension, in seiner Literatur wählte Kafka offene, widersprüchliche, ja „mysteriös“ erscheinende Formulierungen. Kunst, so darf man sagen, war für Kafka, das Offene, Vieldeutige, Verstörende. Ob Kafka Immanuel Kants Werke gelesen hat, ist unwahrscheinlich, nach den Recherchen zu „Kafkas Lektüren“. (https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-476-05276-6_2)
Und Kant, welche Romane seiner Zeit hat er gelesen? Welche Kunstwerke liebte er? Das ist eine – für mich bis jetzt noch – offene Frage.

4.
Und wie ist bei den Philosophen mit der Deutlichkeit, wenn nicht der Eindeutigkeit der Formulierungen bestellt? Wer sich durch Kants doch eher sehr anstrengende Sprache – etwa in seinen Hauptwerken – förmlich „hindurchgearbeitet“ hat und manche Sätze vielleicht mehrfach zum Verstehen lesen musste: Der hat doch eine ziemlich eindeutige Klarheit gefunden, selbst wenn Kant etwa den „Kategorischen Imperativ“ in mehreren Formulierungen ausspricht. Und wer einmal verstanden hat, dass Kant traditionsreiche Begriffe mit neuen Bedeutungen verwendet, wie etwa das Wort „transzendental“, der hat dann wirklich den Durchblick. Mit anderen Worten: Kant lag daran, größtmögliche eindeutige Klarheit in seinen Werken zu liefern, wobei man natürlich die Entwicklung des Denkens von Kant in all den Jahren berücksichtigen muss.

5.
Dieses bei Kant offenkundige Bemühen um ein eindeutiges, klares Verstehen (etwa seine Differenz von Erkennen, Wissen und Denken), ist wenige Jahre später etwa bei Hegel nicht mehr so deutlich gegeben. Hegel hat sogar eine Freude daran, einen gewissen Tiefsinn alltäglicher deutscher Begriffe zu pflegen, etwa bei dem Verb „aufheben“, und dieses im Sinne von neu – „bewahren“ („gut aufgehoben“…) zu verstehen.

Ist aber auch das Bemühen um eindeutiges Verstehen immer bei allen sichtbar? Bei Nietzsche bestimmt nicht, er wird von vielen Kennern eher auch als literarischer Philosoph angesehen mit einer Freude an glänzend erscheinenden Sätzen und Aphorismen. Und beim späten Heidegger wird man wahrlich nicht das Bemühen wahrnehmen, in der vollen Klarheit eindeutig verstehbarer Begriffe zu gebrauchen. Das macht ja bekanntlich auch das Leiden aller Heidegger Übersetzer aus. Bei Wittgenstein ist dann wieder das schon fast exzentrische Bemühen um Eindeutigkeit der eigenen philosophischen Sätze zu sehen.

6.
Die Frage ist: Dem Schriftsteller, dem Romanautor, dem Poeten, geht es meist nicht um das Sich-Einhegen in eine absolut andere „Phantasiewelt“, selbst wenn diese dann noch in einer logischen Struktur folgenden Sprache verfasst ist.
Wichtig aber ist: Schriftsteller, Romanautoren, Poeten, sie alle wollen Leben deuten, den Weltzusammenhang oder das Welten – Chaos auf ihre Art beschreiben. Also, es geht ihnen darum, Impulse zur Reflexion über das Dasein im Ganzen zu bieten. Und das Dasein selbst ist vieldeutig, schon erlebt in der Selbstwahrnehmung der Widersprüchlichkeit im einzelnen Menschen.
Und genau das trifft auch für die Philosophien zu: Philosophen sind meistens NICHT Leute, die sich in abstrakten Begriffswelten, fern jeder Lebenserfahrung, bewegen. PhilosophInnen plädieren vielmehr – wie Kant – fürs Selberdenken und zeigen in ihren Werken, wie dies bei einzelnen Themen und Fragen geschehen kann.
Dabei ist auch klar, dass diese ihre Themen und Fragen so umfassend, so in die Tiefe führend sind, dass PhilosophInnen dem gedanklichen Prozess kaum den adäquaten eindeutigen sprachlichen Ausdruck geben können. Eindeutigkeit gibt es wahrscheinlich nur in der Mathematik.
Und philosophische Begriffe wie Transzendenz, das Unbedingte, das Sein, das Sollen, der Wert usw. haben bei jedem Leser eine andere inhaltliche „Füllung“, die erst in der Lektüre des Textes etwas erweitert oder korrigiert wird.

7.
So scheint es, Schriftsteller und Dichter einerseits und Philosophen andererseits haben vieles gemeinsam im Ringen um einen adäquaten Ausdruck der Lebensdeutung und der Erkenntnis des so widersprüchlichen Lebens. Aber bei Philosophinnen ist das Bemühen um Eindeutigkeit der Sprache sehr viel stärker als „Arbeitsvoraussetzung“ vorhanden als bei Poeten. Und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass philosophische Texte meist nicht den Anspruch haben, von den Formulierungen her oder dem Aufbau des Textes „schön“ sein zu müssen. Die offene, die mehrdeutige Sprache der Literaten und Poeten, gerade indem sie offen und mehrdeutig ist, ist gerade dabei auch dem Anspruch von „Schönheit“ verpflichtet.

8.
Entscheidend ist auch ein weiterer Unterschied: Dichter und Schriftsteller erzählen Geschichten von einzelnen oder von Gruppen, sie wollen den einzelnen Menschen aussagen in seinem Lebensentwurf treffen. Aber sie können dies auch wieder nur in der Sprache des Allgemeinen, und zwar zurecht, weil der einzelne immer Teil der allgemeinen Menschheit ist. Philosophen erzählen meist nicht Geschichten von einzelnen Menschen, sondern sind Reflexionen über allgemein geltende Zusammenhänge und allgemeine „Prinzipien“. Dass ein Philosoph „Ich“ sagt in seinen Werken, ist eher die Ausnahme. Man prüfe, wie oft Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ „ich“ sagt, also von sich selbst als Immanuel Kant spricht.

9.
Literatur, Romane, Gedichte… geben immer zu denken, denn sie führen ins Offene, machen vieles frag-würdig. Dadurch sind Romane und Gedichte oft auch philosophische Inspirationen für die Lebensgestaltung. Die  LeserInnen glauben, etwa „das Böse“ in einzelnen Protagonisten  (etwa in Dostojewskis Romanen) sehen und verstehen zu können. Ob die philosophischen Reflexionen – etwa über das Böse – immer eindeutiger und klarer und durchsichtiger sind als die Literaturen, ist oft eine Frage.

10.

Vielleicht sind literarische, poetische Texte und philosophische Texte gar nicht so weit voneinander entfernt!

Über den Zusammenhang von Literatur und Philosophie hat der Philosoph Michael Hampe ein sehr lesenswertes Buch veröffentlicht, auf das wir schon 2015 hingewiesen haben. LINK:

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon. Berlin.

Mit Kant denken: Das neue Buch von Marcus Willaschek

„Die Revolution des Denkens“. Der treffende Untertitel des großartigen Buches
Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.1.2024

1.
Wer das Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ von Marcus Willaschek gelesen, also dem Text folgend mit-gedacht hat, versteht sicher das Wichtigste, was der Philosoph Immanuel Kant in seinem umfangreichen Werk an Erkenntnissen vermittelt. Und dann kann man sich auch getrost heranwagen an die Lektüre von Kants Werken.
2.
Die Lust nachzudenken und vorauszudenken sowie die eigene Gegenwart im Mit- Denken mit Kant zu erleben: Das ist ja kein Hobby von einigen Philosophen und Historikern. Es geht in den Philosophien um vernünftige Vorschläge zur Lebensgestaltung. Diese Bindung des philosophischen Denkens an die Praxis des Lebens, unterstreicht Willaschek deutlich. In der Praxis des Lebens entsteht Philosophie, auch für Kant!
Es geht in dem Buch „Kant.Die Revolution des Denkens“ nicht um die Verehrung einer großen vergangenen Gestalt der Geschichte der Philosophie, sondern um ein eigenständiges Philosophieren heute, nur in der Übung entsteht dann Philosophie. „Philosophie lässt sich nur durch selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen“, betont Kant (S 381).
3.
Marcus Willascheks Kant – Buch (C.H.Beck Verlag) ist eine Inspiration, vernünftig zu leben in dieser verrückten Welt heute.
Das Buch ist hoffentlich auch eine Einladung, bis zu Kants 300. Geburtstag am 22. April 2024 jeden Tag den nicht sehr umfangreichen Text des Buches zu lesen, zu meditieren, mit anderen zu debattieren, in Frage zu stellen … um dabei entdecken: Das Buch umfasst 30 in sich geschlossene Essays. Sie sind alle leicht zugänglich auch für philosophisch „nicht so Geübte“. Und je nach Interesse kann man beliebig bei einem der 30 Essays „einsteigen“.
4.
Wie oft hat Kant recht bei entscheidenden Themen der Lebensorientierung, auch heute:
Etwa: Hinsichtlich der Begründung menschlicher Erkenntnis von „Objekten“: Da bringt der Mensch, jeder Mensch, in seinem Geist die entscheidenden Kategorien von Raum und Zeit „immer schon“ schon mit. Nur durch diese „Subjektivität“ wird Objektivität und Wahrheit möglich.
Oder: Kants Verteidigung des Weltbürgers anstelle des kleinkarierten, ängstlich – fanatischen Nationalisten: „So ist es Kant zufolge notwendig und sinnvoll, sich aktiv um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu bemühen, egal wie unwahrscheinlich es ist, dass wir damit in absehbarer Zeit Erfolg haben“ (S. 25).
Angesichts des furchtbaren religiösen Fundamentalismus in allen Religionen ist Kants Verteidigung einer Vernunft – Religion und einer „unsichtbaren Kirche“ der vernünftigen, d.h. der nicht – dogmatisch gebundenen Frommen von höchster Aktualität.
Oder: Kants Erkenntnis, dass der einzelne Mensch immer auch als Mitglied der allgemeinen, universellen Menschheit zu verstehen ist. Oder, dass in der Ethik immer auch universale Kriterien von gut und böse gelten. Kant formuliert diese Erkenntnis in den Gestalten des „Kategorischen Imperativs“. Aber Willaschek betont: „Kant ist kein moralisches Orakel, das auf jede moralische Frage die richtige Antwort weiß, sondern Kant ist ein fehlbarer Mensch, wenn auch ein besonders kluger, klarsichtiger und reflektierter Mensch“ (S. 109).
5.
Marcus Willaschek ist ein international anerkannter Kant-Spezialist, er arbeitet als Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Sein neues Buch ist keine Biographie Kants, auch wenn im Text immer wieder überraschende biographische Hinweise geboten werden, zu seinem Freundeskreis, zu seinen Wohnverhältnissen, auch zu seinem Reichtum aufgrund von Sparsamkeit.
Der Autor bietet natürlich keine Verklärung Kants. Kritische Fragen und Relativierungen und Zurückweisungen einiger Kant – Positionen sind für ihn selbstverständlich, etwa zu seiner Geringschätzung afrikanischer Menschen, zu seiner Geringschätzung von Frauen im allgemeinen. Willaschek meint zu diesen Fehlern Kants: „Sie sind mit dem kosmopolitischen Geist und dem humanen Universalismus der kantischen Philosophie nicht zu vereinbaren“ (S. 379).
6.
Die Grundeinsicht zu Kants Werk bleibt trotzdem gültig: Kant hat eine „Revolution des Denkens“, wie es im Untertitel heißt, eingeleitet.. Wo denn, wenn nicht im Denken sollen denn auch Revolutionen überhaupt beginnen?
Dabei ist die Hochschätzung des Begriffs Revolution durch Kant eigentlich erstaunlich. Er hat zwar immer die Französische Revolution einerseits hoch geschätzt, andererseits die Terrorherrschaft 1792 verurteilt.
7.
Aber von einer Revolutionen wollte Kant nicht viel wissen, öffentlich dafür einzutreten, wäre bei der politischen Herrschaft Friedrich Wilhelm II. höchst gefährlich gewesen. So blieb Kant ein Mann der Mitte, er plädierte für Reformen. Kant war diese Reformer-Haltung etwas Realistisches, er wusste, dass der Mensch aus „krummem Holz“ gefertigt ist, also auch eine Schlagseite zum Bösen hat. Dennoch ließ er sich nicht zur Resignation odergar zum Zynismus hinreißen: Zweifelsfrei stand für ihn fest: Die Menschen müssen sich für eine universelle Rechtsordnung in einem Rechtsstaat entscheiden, sonst geben sie ihr Menschsein selbst auf.
Auch die Bedingungen für einen „ewigen Frieden“ hat Kant gedacht, der ewige Friede als politische Realität muss ein Ziel der Menschheit bleiben, ein Ziel, utopisch jetzt noch, das niemals aufgegeben werden darf, selbst wenn die politischen Umstände im Augenblick noch dagegen sprechen. Internationale Friedensgremien, wie die UN, sind durchaus von Kants Friedens-Philosophie inspiriert. Kant, der manchmal an einer guten , erfolgreichen Wirkungsgeschichte seines Denkens und seiner Publikationen zweifelte, wirkt heute, inspiriert heute, stellt heute richtige Fragen!
8.
Nur zwei Vorschläge hat der Rezensent: Bitte noch vor Kants 300. Geburtstag dieses Buch preisgünstig als Taschenbuch veröffentlichen, Kant würde sich über dieses Geburtstagsgeschenk freuen. Und viele nicht so wohlhabende LeserInnen mit ihm. Und: Bitte ein Stichwort – Register auch zu SACH – Themen anbieten.
Und …. Ein Hinweis auf einen Druckfehler: Hegels Vorname ist korrekt Georg Wilhelm Friedrich… (Vgl. S. 385).

9. Kant als Lehrer der Weisheit: Siehe einen Beitrag von Christian Modehn   LINK

Marcus Willaschek, „Kant. Die Revolution des Denkens“. C.H.Beck Verlag München, 2023, 430 Seiten, 28 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophioscher Salon Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

Kant – ein Lehrer der Weisheit: Ein Beitrag zu Kants 300. Geburtstag am 22.4.2024

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.10.2023.

– Siehe auch den Hinweis auf einen Beitrag von Christian Modehn: “Der christliche Glaube sollte – so Kant – vernünftig sein”. LINK

– Der Kant Forscher, Prof. Marcus Willaschek, weist in seinem neuen, großartigen Kant- Buch (C.H.Beck Verlag, 2023) ausdrücklich darauf hin (und er unterstützt damit die hier vorgestellte Erkenntnis vor allem von Pierre Hadot): Für Kant war Philosophie eine Weisheitslehre (S. 376): Sie kann “aus der philosophierenden Person im Erfolgsfall einen besseren Menschen machen” (zit. ebd.).

1.
Die schwierigen Werke Immanuel Kants, können wir sie auch in einem anderen Licht lesen? Sozusagen unter einer neuen Einstellung, die dann die Kant Lektüre erleichtert und sie aus der abstrakten Begriffswelt herausführt?
Es ist das Licht der antiken Weisheit, das uns zeigen könnte: Kant war ein bislang eher wenig bekannter Freund von Sokrates.
Darauf macht Pierre Hadot aufmerksam, der französische Philosoph (1922 – 2010), der große Kenner der antiken Philosophie und der Entdecker der „Philosophie als Lebensform“.

2.
Diese neue Perspektive auf Kant könnte ein Thema sein auch anläßlich des Kant – Jubiläums im Jahr 2024: Kants 300. Geburtstag (geb. in Königsberg) am 22. April 2024 steht bevor, gestorben ist er in Königsberg am 12. Februar 1804.

3.
Der 300. Geburtstag könnte also eine gute Gelegenheit sein, Kant nicht länger (nur) als hoch komplizierten System-Philosophen der berühmten „Kritiken“ vorzustellen, sondern auch als Lehrer von Weisheit, der das Philosophieren als Lebensform wichtiger findet als den Bau von Philosophie als Lehre an der Universität.

4.
Der französische Philosoph Pierre Hadot also hat in seinem Buch „Qu`est-ce que la philosophie antique“ (Paris 1995, Seite 399 ff.), einen „anderen” Kant vorgestellt. Und zwar eher als Skizze, auf nur 10 Seiten, die dem Überdauern und Weiterleben der antiken Konzeption der Philosophie als Lebensweise gewidmet sind.
Hadot betont die Verbundenheit von Kants Denken mit antiken Philosophien als Weisheitslehren: „Die Philosophie ist (im Sinne Kant) für den Menschen eine Anstrengung zur Weisheit zu gelangen, die aber immer unvollendet bleibt. Das ganze Gebäude der kritischen Philosophie Kants hat nur Sinn unter der Perspektive der Weisheit oder eher des Weisen. Denn Kant hat stets die Tendenz, sich die Weisheit unter der Gestalt des Weisen vorzustellen. Die Weisheit ist für Kant die ideale Norm, die sich allerdings niemals in einem Menschen inkarniert, also ganz Wirklichkeit wird. Aber der Philosoph versucht der Weisheit gemäß zu leben“ (S. 399). So ist Philosophieren nur der immer neue, aber nie vollendete Versuch, der Weisheit zu entsprechen.
Hadot schreibt: „Für Kant ist die antike Definition der Philosophie als „philo-sophia“ (griechisch geschrieben), als Begehren, als Liebe, als Übung der Weisheit immer gültig“ ebd.)

5.
Pierre Hadot meint, Kant stelle sich in die Tradition des Sokrates als eines Suchenden, Fragenden nach der wahren Lebensform: Das Streben nach Weisheit bleibt, so Hadot, im Sinne Kants immer unerfüllt. „Die Philosophie im eigentlichen Sinne des Begriffs existiert also (für Kant) noch gar nicht und wird vielleicht niemals existieren, möglich ist einzig das Philosophieren, das heißt eine Übung der Vernunft“, so interpretiert Hadot die Position Kants (S. 401).

6.
Kant unterscheidet zwei Arten von Philosophie: die eine arbeitet rein begrifflich, sie nennt er Schulphilosophie oder scholastische Philosophie, (S. 402). Sie zielt auf die logische Perfektion des Wissens. Der Philosoph ist dann eine Art Künstler der Vernunft, wie Hadot im Anschluß an die Griechen schreibt. Der Philosoph ist also ein Theoretiker eigener Art, der sich z.B. für die Vielfalt der schönen Dinge interessiert, ohne sich dabei für die Schönheit an sich zu interessieren.
Von dieser nur theoretischen philosophischen Haltung unterscheidet Kant eine „Welt-Philosophie“, eine „kosmische Philosophie“, wie Kant sagt (S. 403) Und diese ist eine ganz andere Art des Philosophierens, sie ist eng mit der Lebenswelt verbunden und den Lebens-Fragen des einzelnen.

7.
Darum ist die Basis der Philosophie Kants die praktische Vernunft, unterstreicht Hadot (S. 405). Kant schreibt in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“: “Alles Interesse ist letztendlich praktisch. Und selbst das Interesse der spekulativen Vernunft ist entscheidend beeinflusst und vollständig nur im praktischen Gebrauch“ (zit. in Hadot, S. 405). Und in dieser Priorität der praktischen Vernunft, der Moral und Ethik, wendet sich Kant an die Menschen, die sich für das moralisch Gute interessieren , die für ein oberstes Ziel optieren, für ein souveränes Gutes.

8.
Hadot skizziert also die innere Verbundenheit Kants mit den Grundanliegen der antiken Philosophie, die Liebe zur Weisheit, das praktische Streben nach einem guten Leben, das Philosophieren als Lebensform. „Am Ende seiner `Metaphysik der Sitten`, schreibt Hadot, schlage Kant sogar eine asketische Ethik vor, in Form eines Exposées  von Regeln zur Übung der Tugend“ (S. 406).

9.
Pierre Hadot beendet seine Skizzen zu Kant als „Philosoph der Lebensform“ : „Ich möchte sagen, dass es einen Primat der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft gibt: Die philosophische Reflexion ist also motiviert und geleitet durch das `was die Vernunft interessiert“, wie Kant sagt, “das heißt durch die Wahl einer Lebensweise“ (S. 410).

10.
Kant als Philosoph, der eine Lebensform vorschlägt und lehrt: Vielleicht ein neuer Gedanke für die Kant-Diskussionen. Manfred Kühn erwähnt Hadot in seiner umfangreichen Studie „Kant. Eine Biographie“ (München 2004) immerhin in einer (!) Fußnote auf Seite 542 (Fn. 18). Bei einer marginalen Notiz zu „Hadot und Kant“ sollte es nicht bleiben. Schon gar nicht, wenn es sich um die Entdeckung von “Kant als Lehrer der Weisheit und Lebensweise” geht…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Vernunft vernünftig verstehen. Eine philosophische Meditation aus aktuellem Anlass!

Kant

Ein Plädoyer für die Vernunftkritik der Philosophie
Eine philosophische Meditation von Christian Modehn

1.
Das Wort Vernunft wird oft gesprochen, selten verstanden, aus ideologischen Interessen wird es ständig mißbraucht.

2.
Zur kritischen Reflexion auf die Vernunft des Menschen (oder besser Vernunft „in“ jedem Menschen) werden wir auch durch politische Entwicklungen aufgefordert.

3.
Jetzt schmückt sich mit „Vernunft“ eine neue politische Gruppierung: das BHW (Wagenknecht), und es formuliert als Programm: „Für Vernunft und Gerechtigkeit“. Sind also die anderen demokratischen Parteien nicht „für Vernunft und Gerechtigkeit“? Welche Inhalte verbirgt das BHW hinter der Floskel „Für Vernunft und Gerechtigkeit“? Das ist eine politische Frage. Eine Antwort bietet die philosophische Reflexion über „Vernunft“ und danach auch zur „Gerechtigkeit“.

4.
Vernunft ist ein universaler Begriff, der die auszeichende Qualität jedes Menschen beschreibt.

5.
Vernunft muss von Verstand unterschieden werden: Verstand bezieht sich auf den technischen, praktischen Umgang mit Welt. Vernunft ist die Selbstreflexion des Geistes, zum Beispiel auf die vorgegebenen Strukturen der Vernunft. Philosophen nennen diese das Apriori, die geistige Dimension, die kein Menschen in eigener Tat beseitigen kann, etwa die Bindung an Wahrheit: Alle Lügner behaupten noch, die Wahrheit zu sagen. Vernunft benennt das Allgemeine, das alle Menschen als Menschen miteinander verbindet: Das Denken und Reflektieren, der Geist, der sich sprachlich äußert.

6.
Vernunft entdeckt im Denken, in der Reflexion durch sich selbst und auf sich selbst, den sachlichen Inhalt dessen, was Vernunft ist. Das heißt:
Vernunft kann ihre inhaltlichen Bestimmungen nur aus sich selbst entwickeln. Inhaltliche Vernunft-Bestimmungen werden also im philosophischen, kritischen Reflektieren auf die Wirklichkeit der Vernunft „entdeckt“.
Dabei zeigt sich: In der Vernunft gibt es absolut geltende Grundsätze: Etwa Kants Prinzip des kategorischen Imperativs, ein formales Kriterium, das anzeigt, unter welchen Bedingungen Handeln der Menschen ethisch wahr oder ethisch falsch ist. Die sich reflektierende Vernunft erkennt also kategorisch geltende Wahrheiten: Der Kategorischen Imperativ ist der absolute, niemals von Menschen abzuschaffende Imperativ: Ethisch handelt nur, also der Würde des Menschseins entsprechend, wer respektiert: Meine persönlichen Maximen für mein Leben sind nur ethisch zu respektieren, wenn sie auch Gesetz für alle anderen Menschen sein können.

In der vernünftigen Reflexion auf die Vernunft als die jedem Menschen gegebene Möglichkeit der Orientierung zeigen sich also die absolut geltenden, universalen Menschenrechte.

Diese evidente Erkenntnis gilt universal, selbst wenn “Menschenrechte” meist nur als politisch-ideologische Floskeln von Politikern missbraucht werden. Menschenrechte gelten selbstverständlich universal, selbst wenn sie in der westlichen Welt enstanden sind und durch die Philosophie der Aufklärung formuliert wurden. Zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte, mit einem Hinweis auf HAITI, siehe Nr. 14.

7.
Vernunft und Menschenrechte sind insofern eins. Auch wenn die vernünftige Reflexion auf die Vernunft immer wieder neue Menschenrechte wahrnimmt, etwa das Menschenrecht, dass kein Mensch Hunger, Analphabetismus, Sklaverei, erleiden darf.

Und es ist ebenso evident, wie sehr die absolut gültige Idee der Menschenrechte missbraucht wurde von Europäern, Politikern, Ökonomen, Kirchenführern, die als Kolonialherren Menschen in Afrika versklavten und die Länder der Afrikaner ausplünderten.

Diese Greueltaten aber sind kein Hindernis, an der Idee der Menschenrechte heute unbedingt festzuhalten und für deren Geltung weltweit zu kämpfen: Was tun denn sonst die NGOs, etwa die Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International usw., als für diese – leider so oft ignorierten – Menschenrechte praktisch und politisch zu kämpfen? 

Sehr schlimm ist nur, dass zentrale Kirchengebäude der Evangelischen Kirche, etwa in Berlin, immer noch, trotz einiger Proteste, ganz ungeniert und offenbar naiv, nach Preußischen Kolonialherren und Kirchen-Chefs, Kaiser Wilhelm I und II, benannt werden, wie etwa die “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” in Berlin. LINK:

Die Kirchenleitung weiß selbst, was für einen Skandal mit diesem Titel für ein Gotteshaus sie heute erzeugt, und nennt diese Kirche nur noch schamhaft KWG (analog zum benachbarten KaDeWe ?? ) oder prosaisch “Gedächtniskirche”, um irgendwie ein heiliges Gedächtnis (Demenz?) zu beschwören… Wer wird das noch erleben, dass diese KWG und Gedächtniskirche der Kolonialkaiser einen würdigen, einen humanen, meinetwegen christlichen Titel erhält? Vielleicht im Jahr 2050? Aber dann gibt es ohnehin nur noch sehr sehr wenige Kirchenmitglieder in Berlin…

8.
Der Kategorische Imperativ gilt auch als Maßstab für das Unternehmen BSW, zumal sich das BSW für Vernunft einsetzen will.

Kant
Immanuel Kant

Das Problem ist: Das Programm des BSW will explizit den nationalen Interessen Deutschlands Vorrang geben, das BSW will national sein. Und das Ganze kippt wohl ins Nationalistische um, wenn der Schutz und die Förderung des Nationalen der Abwehr von Zuwanderung von Flüchtlingen und „Fremden“ gegenübergestellt wird. Und dann das Nationale Vorrang haben soll. Die Nation kann niemals oberster Wert sein, auch die Nation und deren Interessen unterstehen dem kategorischen Imperativ. Was wäre eine Nation, etwa in Afrika, die Interessen ihrer Bürger über den Schutz der dort lebenden Deutschen stellen würde? Wer dieses Problem einfacher formuliert haben will, orientiere sich an der universal gelten und universal (theoretisch) anerkannten „Goldenen Regel“.

9.
Der Sozialstaat, der von dem BSW angestrebt wird, ist ein Sozialstaat für Deutsche und für dringend benötige, gut ausgebildete, privilegierte Einwanderer bzw. die wenigen (hochbegabten) anerkannten Flüchtlinge. Das Prinzip Gerechtigkeit, und dies kann nur eine Gerechtigkeit für alle sein, wird also in den Dienst des ökonomischen Vorteils des Nationalen gestellt. Von umfassender Gerechtigkeit kann also keine Rede sein.

10.
Alles Reden von großen, universalen philosophischen Leitbegriffen wie etwa von Vernunft und Gerechtigkeit, muss sich unter die Kriterien der Vernunft stellen, die die Vernunft selbst als absolut gültig erkennt, siehe die Hinweise zum Kategorischen Imperativ. So werden Unklarheiten, Widersprüche, ideologische Bindungen etwa auch im Reden von Freiheit und Gerechtigkeit frei gelegt.

11.
Welche Erkenntnis bleibt nach einer philosophischen Mediation über „Vernunft und Gerechtigkeit“? Nach dem Ende der Post-Moderne und der von den postmodernen Denkern geforderten Relativität von allem, erkennen wir heute mit philosophischer Evidenz: Es gibt für das Leben und Überleben der verschiedenen Zivilisation bzw. Kulturen bzw. Nationen universale Gebote des Handelns (von universalen Werten zu sprechen wäre wohl noch zu beliebig). Auch die Prinzipien des BSW müssen unter diese Kriterien gestellt werden. Unter den ersten Mitstreitern des BSW sind explizit Putin-Freunde dabei, also Leute, die mit diesem Aggressor noch verhandeln wollen und meinen, er möchte über den Frieden (als Anerkennung der Realität des umfassenden Ukrainischen Staates) verhandeln.
Diese naive Haltung der „Putin – Versteher“ im BSW zeigt, wie eingegrenzt das Vernunft-Verständnis dieses Bündnisses ist.

12.
Zur Erinnerung: Putin ist mit seiner zerstörerischen Kriegspolitik gegen universale Menschenrechte gerichtet, siehe dazu die jüngsten Erläuterungen zu Putins Rede am 5. Oktober 2023 im Club „Valdai“, Putin sagte klipp und klar: “Das internationale moderne Recht, konstruiert auf das Basis der Vereinten Nationen, (also die Menschenrechte, CM) ist überholt und muss zerstört werden, und man muss irgend eine neue Sache schaffen“. Auch die Verbundenheit Putins mit Hamas wurde in dieser Rede wieder deutlich.
Siehe dazu:   LINK

13.
Abgesehen von der Nähe des BSW zu Putin: Das BSW ist ein unvernünftiges Projekt. Es kann vor der evidenten philosophischen Reflexion nicht bestehen.

14.

Ergänzung zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte: Der Schrei der Gequälten und Sterbenden in den Lagern Chinas, Russlands, Irans, Saudi-Arabien usw. ist der Schrei nach der Geltung von Menschenrechten, selbstverständlich der nun einmal in der westlichen Welt formulierten UNIVERSALEN Menschenrechte. Diesen Zusammenhang festzustellen, hat absolut gar nichts mit “Kolonialismus” zu tun. Ein weiteres aktuelles Beispiele: Wer setzt sich für die Menschen in HAITI ein, wie viele Reportagen und Sondersendungen werden zum grauenhaften Sterben dort im europäischen Fernsehen gezeigt? Ist diese Ignoranz Ausdruck von Rassismus? Haiti ist ein untergehender, eigentlich schon ein untergegangener  Staat in der Hand der Drogenbanden… Die Bevölkerung (ver)hungert….Im 3. Quartal 2023 wurden dort 1.239 Menschen ermordet, 700 HaitianerInnen wurden entführt, darunter 221 Frauen und 26 Kinder. (Quelle: Vatican news, am 24. Oktober 2023, oder auch Tagesschau ARD 23.10.2023: LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Gegen den Wahn, sich in „Identitäten“ abzukapseln. Für einen radikalen Universalismus.

Über ein wichtiges neues Buch des Philosophen Omri Boehm. In manchen Aussagen geradezu sensationell. Haben das die Theologen endlich bemerkt?
Ein Hinweis von Christian Modehn. Am 30.9.2022 veröffentlicht.

1.
Nun haben sich schon wieder Nationalisten als stärkste Parteien durchsetzen können: die Rechtsextremen und die Post-Faschisten in Italien bei den Wahlen am 25.9.2022. Ihnen gemeinsam ist die Fixierung auf die „Identität“, die sich immer über das entscheidende Wort „zuerst“ definiert: Also nun auch „Italien zuerst“, wie die postfaschistische Girorgia Meloni betont, wie früher schon Madame Le Pen mit ihrem „Frankreich zuerst“ (Le Pen) oder auch „America first“ von Mister Trump.

2.
In dieser Situation einer zunehmenden nationalen und ins Faschistische abgleitenden Identitäts-Politik ist das neue Buch des Philosophen Omri Böhm von besonderer aktueller Bedeutung. Der Titel „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“ (Propyläen-Verlag, 2022) beschreibt sein philosophisches Programm, das Boehm mit aller Schärfe und Klarheit der Argumentation vorträgt. Boehm, Jahrgang 1979, ist israelischer und deutscher Staatsbürger, er lehrt als Associate Professor für Philosophie an der „New School of Social Research“ in New York.

3.
Die heutige Betonung einer angeblich absoluten Geltung der Identitäten betrifft nicht nur die nationalistischen und faschistischen politischen Strömungen. Identitäts-Fixierungen werden sichtbar, so Boehm, in zahlreichen aktuellen Theorien und Ideologien. Etwa, wenn behauptet wird, dass vorrangig die Identitäten von Geschlechtern oder sozialen und politischen Minderheiten respektiert werden müssen, dass also „meine Bindung“ an „meine besondere Gruppe“ (bzw. Nation) wichtiger sei als mein Respekt der universalistischen Werte der Menschheit.
Jedoch gilt: An dieser „allgemeinen“ Menschheit mit ihren universalen Rechten und Pflichten hat jeder einzelne Mensch als Mensch zweifelsfrei Anteil. Und diese allen gemeinsame Bindung an die Menschheit mit ihren Rechten und Pflichten muss bestimmender und vorrangiger sein als die begrenzten Werte, die aus meiner/unserer immer begrenzten Identität (etwa als Homosexueller, als Indigener, als Katholik usw.) folgen.

Boehm tritt also in aller Schärfe für einen „universellen Humanismus“ ein, das betont er schon in seinem „Prolog“ auf S. 12. Er zeigt, dass der moralische Universalismus die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen bedeutet, für die universale Gerechtigkeit und für alle geltende Gleichheit einzutreten und diese zu leben und auch politisch zu gestalten.

4.
Die Kämpfer für die „identischen“ Rechte von bestimmten, abgegrenzten Gruppen (etwa „LGBTQ-Menschen, S. 13) will Boehm keineswegs diffamieren. Er will nur beweisen, dass sie in ihrem Einsatz für ihre Identitäten durchaus die Verbindung mit den universalen Grundrechten benötigen, soll denn das Engagement zum Ziel führen, also für sie selbst auch erfolgreich sein. Der universelle Humanismus soll also für Boehm „ein Kompass, sogar eine Waffe“ sein (S. 14). Und Boehm weiß, dass es viele „falsche Universalisten“ gibt, die mit ihren Sprüchen und Taten nur die westliche Vorherrschaft meinen, etwa: Von Menschenrechten groß schwadronieren, aber sich selbst nicht an sie binden. Das trifft etwa für die katholische Kirchenführung zu, dieses Beispiel nenne ich, nicht Boehm.

5.
Immanuel Kant ist für Omi Boehm „der unverzichtbare Denker“ (16). Kant hat, sage ich nun mit einem klassischen Begriff, „Wesentliches“ vom Menschen gedacht. Boehm meint dasselbe, wenn er betont: Kant habe den Menschen „frei von jeder Beimischung biologischer, zoologischer, historischer und soziologischer Tatsachen“ (16) erkannt. Diese Konzentration Kants auf das Allgemeine, „Wesentliche“ des Menschen bzw. der Menschheit, nennt Boehm durchgehend in seinem Buch „abstrakt“. Der entscheidende Begriff „des“ Menschen, muss also Kant folgend, „abstrakt bleiben“ (16), das betont Boehm immer wieder.
Ich möchte fragen, ob es geschickt ist, diesen universalen „Wesensbegriff“ des Menschen „abstrakt“ zu nennen. „Abstrakt“ hat oft eine negative Konnotation.
Aber abgesehen davon: Durch Kant wird die Menschlichkeit des Menschen nicht durch natürliche Bestimmungen festgelegt, sondern durch die geistigen Leistungen der Freiheit, zu der auch die Pflicht gehört, das moralische Gesetz in mir als unbedingt auch für mich geltend wahrzunehmen und ihm zu folgen. Denn der Mensch kann in seiner Freiheit dem moralischen Gesetz in seiner Lebenspraxis folgen, betont Kant, warum sonst würde sich dieses moralische Gesetz denn sonst im Menschen überhaupt unbedingt zeigen?
Wenn der Mensch sich von sich distanzieren kann, gleichsam auf sich und sein Tun “von iben rauf schaiut”, wenn er also fragen kann, was er tun soll, dann zeigt er sich darin als freie Person. Er kann dem kategorischen Imperativ prinzipiell folgen!
Dieser „kategorische Imperativ“ ist eine geistige Wirklichkeit, diese ist „nicht von Menschen gemacht“ (17), sie kann also auch nicht von Menschen ausgelöscht werden. D.h.: Der kategorische Imperativ ist also nicht an bestimmte Konventionen gebunden oder an historische Umstände, er gilt universell. Nur im Respekt vor einem „höheren Gesetz“ (20), also dem Kategorischen Imperativ, kann der einzelne darauf hoffen, dass seine persönlichen Wünsche (etwa hinsichtlich der Bindung an eine Identität) von anderen respektiert werden. Jeder, der ernsthaft seine eigenen Identitäten verteidigt, braucht als argumentative Unterstützung notwendigerweise die universalen Menschheitswerte der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit. „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit  löscht die Identitäten ja nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können“. (155).

6.
Boehm ist mit der jüdischen Spiritualität bestens vertraut. Seine besondere Leistung ist, dass er auch in seinem neuen Buch alt vertraute biblische Erzählungen korrigiert, etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel, des Alten Testaments, die sich auf die Gestalt Abrahams beziehen. Abraham ist für Boehm die entscheidende und prägende Figur der Bibel: Abraham hat als gläubiger Mensch den Mut, Gott zu widersprechen und sogar noch weiter zu gehen… Boehm betont: Dass es für Gott eine noch über ihm stehende Gerechtigkeit gibt, der auch Gott unterworfen ist. Gerechtigkeit, durch die Vernunft der Menschen erkannt, steht nicht über den göttlichen Geboten, mehr noch: Auch Gott selbst steht in der Erfahrung Abrahams unter dem universalen Gebot der Gerechtigkeit! Was für eine Aussage, deren Konsequenzen leider Boehm nicht weiter entwickelt! Diese Erkenntnis führt zu einer radikalen Kritik des überlieferten und konfessionell immer nicht prägenden Begriff Gottes!

7.
In seiner Auseinandersetzung mit Gott angesichts der Bestrafung von Sodom und Gomorrah betont Abraham: „Sollte der Richter aller Welt, Gott, nicht gerecht richten“? (Genesis, 18., Vers 25). Die universelle Gerechtigkeit, die eben auch die Rettung der wenigen Unschuldigen in Sodom und Gomorrha betrifft, ist also wichtiger und größer als Gott selbst! Gort muss sich an das Prinzip der Gerechtigkeit binden!
Diese Erkenntnis bezieht Boehm auch auf die bekannte Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaac. Boehm zeigt: Abraham widerspricht Gott, und er opfert seinen Sohn gerade NICHT, wie es Gott anfänglich verlangte. Boehm hat zu dieser biblischen Erzählung ausführliche Studien betrieben. In der „Jüdischen Allgemeinen“ hat er schon am 24.2. 2015 darüber kurz berichtet: „Ich versuche nun, zu zeigen, dass zwei Verse dieser biblischen Geschichte in Wirklichkeit nachträgliche Hinzufügungen zum Originaltext sind. Es handelt sich um die Verse 11 und 12 in Genesis, Kapitel 22, in denen der Engel des Herrn Abraham im letzten Moment davon abhält, seinen Sohn zu töten. Wenn man diese Verse – eine spätere Einfügung – wieder herausnimmt, bekommt man eine in sich geschlossene, aber völlig andere Geschichte. Das heißt: Abraham entscheidet selbst und auf eigene Verantwortung – ohne das Eingreifen des Engels –, Gottes Weisung nicht zu befolgen“. Deshalb meint Boegm: Ungehorsam ist ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und gerade nicht blinder Gehorsam.
Noch einmal: In seinem neuen Buch betont Boehm: „Da die Gerechtigkeit universell ist, steht sie auch über der Autorität der einen wahren Gottheit“ (53). Diese über allem und allen stehende Gerechtigkeit ist entscheidender noch als Gott! Das in dieser Deutlichkeit zu sagen, ist sensationell, weil dann Gott nicht mehr der „Aller-Oberste“ ist. Es gibt noch eine Art „Gott über Gott“, dies ist die universale Gerechtigkeit. Aber die zeigt sich in der Erfahrung der Menschen als eine nicht von Menschen gemachte und von Menschen verfügbare Wirklichkeit.

8.
Ist diese oberste Gerechtigkeit also selbst „wahrhaftig“ göttlich zu nennen, sozusagen der „oberste Gott“? Sollte sie, diese universale Gerechtigkeit, dann nicht auch – in welcher Form – verehrt werden?
Diese Frage wird leider von Boehm nicht erörtert. Nebenbei: Es gab ja bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich schon den Gedanken, dass es einen „Gott über Gott“ gibt. Und auch Meister Eckart hat unterschieden zwischen Gott und der Gottheit, die er allerdings für unerkennbar bzw. undefinierbar hielt. Eine weitere Frage: Ist nicht diese oberste Gerechtigkeit („über Gott“ noch stehend) auch notwendigerweise dann doch (allzu) menschlich gedacht? Wenn ja, was sicher ist: Wie kann man dann aber noch an einem „eigentlich“ unerkennbaren, bildlosen Gott des Alten Testaments festhalten?

9.
Boehm zeigt weiter in seinem Buch, wie der Bürgerrechtler Pastor Martin Luther King ebenfalls die universalen Menschenrechte in seinem Kampf zugunsten der Rechte der Schwarzen an die erste Stelle setzte.
Eher auf die US-amerikanische Situation bezogen sind Böhms Auseinandersetzungen mit dem dort überaus populären Philosophen Richard Rorty: Er entwickelt eine eher „liberal“ genannte Philosophie, die sich auch nicht scheut, die Bedeutungslosigkeit der Philosophie für die Politik öffentlich zuzugeben. Auch der us-amerikanische Philosoph Dewey wird von Boehm heftig kritisiert, weil er eine kategorisch geltende Wahrheit ablehnt.

10.
Omi Boehm, geboren in Haifa, setzt sich seit einigen Jahren auch mit der Politik des Staates Israel auseinander, vor allem was den Aufbau gerechter Verhältnisse mit den Palästinensern angeht. Er kritisiert auch in seinem neuen Buch, so wörtlich, „die Apartheitstruktur“ (S. 150), die die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland „seit vielen Jahren betreibt“. Wie alle westlichen liberalen Demokratien ist in Böhms Sicht auch der Staat Israel „auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (S. 152). Diese Identitätspolitik der Palästinenser wie der Juden kann nur, so Boehm, „jeweils zur Auslöschung der anderen führen“. Boehm plädiert für die „Einstaatenlösung“.

11.
So wird Omi Boehm durch seine erneute Auseinandersetzung mit Israel zu der Erkenntnis geführt: „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch auslöschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigen Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen“ (154).

12.
Das Buch „Radikaler Universalismus“ verlangt eine konzentrierte Lektüre, es ist aber nicht für die wenige Fachphilosophen“ geschrieben. Ausnahmsweise muss man als Rezensent einmal sagen: Ich hätte mir sogar noch ausführlichere Darstellungen und Begründungen und Ausweis von Konsequenzen gewünscht.

13.
Kants Studie „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sollte in dem Zusammenhang viel mehr gewürdigt werden. Vielleicht gelingt das zum Kant Jubiläum 2024 (300. Geburtstag). Kants Vorschläge könnten den Christen (auch den Juden und Muslime) Möglichkeiten zeigen, ohne dogmatische Bindungen und ohne religiöse fixierte Institutionen ein vernünftiges religiöses Leben zu gestalten. Eben in der Überordnung des Ethischen (des moralisch guten Lebens) über die religiösen Gebote und Gesetze, über die kirchlichen Lehren sowieso, wie Kant dringend fordert! Ausführliche Hinweise, siehe: LINK.

Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022, Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian. 175 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.