Pinochet und die Kirche in Chile: Erinnerungen anläßlich des 11.9.1973.

Über einen Krieg von reaktionären Katholiken gegen demokratische Katholiken in Chile.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
An eine der brutalsten Diktaturen in einem katholischen Staat Lateinamerikas sollten wir uns jetzt erinnern: Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, wurde der demokratisch gewählte Präsident Chiles, Salvador Allende, von den Militärs mit Unterstützung der USA abgesetzt. General Augusto Pinochet übernahm die Macht in Form einer Militärdiktatur, sie dauerte bis zum 11.3.1990. Der demokratische gewählte sozialistische Präsident Allende nahm sich am 11.9.1973 das Leben, offenbar, als Luftstreitkräfte den Präsidenten – Palast La Moneda bombardierten.

2.
Nur einige Hinweise zur Erinnerung können hier mitgeteilt werden, also keine umfassende Geschichte der Ereignisse.
Den Interessen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin entsprechend, also auch der Studien von Religionskritik und Kirchenkritik, wollen wir Hinweise geben zu der Frage: Wie hat sich die katholische Kirche in Chile und der Vatikan (Papst) zur Militärdiktatur Pinochet’s verhalten. Welche Bedeutung hat die so genannte „Pastoralreise von Papst Johannes Paul II. in Chile im Jahr 1987? Und welche Kirche gestalteten die Bischöfe nach dem Ende der Pinochet Herrschaft. Gestalteten sie nun eine geschwisterliche Kirche in einem Staat auf dem Weg zur Demokratie? Siehe Nr. 13 dieses Hinweises.

3.
Zur Erinnerung an die Gräueltaten des Pinochet-Regimes: Wikipedia veröffentlicht in dem Artikel „Putsch in Chile 1973“ (gelesen am 26.8.2023): Es gab unmittelbar nach dem Putsch massenweise Verhaftungen von Oppositionellen, also Linken, die wie üblich oft als Kommunisten bezeichnet wurden. „Öffentliche Gebäude wie Stadien, Konferenzhallen und Schulen wurden zu Lagern umgerüstet. Der berühmteste Fall ist das Estadio Nacional, in dem alleine mehr als 40.000 Gefangene zusammengetrieben worden sind. Im Nationalstadion von Santiago wurden die Opfer interniert, viele von ihnen gefoltert und getötet. Insgesamt wurden vermutlich etwa 3197 (gesicherte Anzahl der Opfer) bis 4000 Menschen während der Diktatur ermordet, der Großteil davon in den Wochen nach dem Putsch“. Die us-amerikanische „School of the Americas“ hatte auch Militärs aus Chile in perfekter Folter und Unterdrückung ausgebildet, wie für viele andere lateinamerikanische Länder, etwa in Zentralamerika. Die berühmte Demokratie der westlichen Welt wurde zur Ausbilderin der Folterer und zur Förderin im Niedergang der Demokratie in Lateinamerika. Über die widerwärtigen Methoden der Verfolgung und Folter unter Pinochet wurde ein offizieller Bericht von 700 Seiten veröffentlicht, dessen Lektüre starke Nerven erfordert:
 LINK

4.
Die Ermordung von Priestern durch ein katholisches Militärregime ist nicht stärker bedauerlich als die Ermordung und Folter von Laien. Aber eine Diktatur eines katholischen Diktators und katholischer Generäle zeigt ihr wahres Gesicht, wenn sie sogar vor der Folter, Ermordung und Vertreibung von Priestern nicht zurückschreckt, die diese konservativ katholischen Herren gern als Hochwürden, als Geistliche, als Mittler zwischen Gott und den Menschen bezeichneten. Schon im ersten Jahr der Diktatur wurden 45 Priester ausgewiesen, mehrere getötet. Die Anzahl der ausreisenden (meist ausländischen) Priester stieg dann ständig weiter an.

5.
General Pinochet hat sich immer offen als Katholik bezeichnet. Er hat seine Ausbildung an katholischen Privatschulen erhalten, geleitet von katholischen Ordensleuten aus dem Maristen-Schulbrüder-Orden und dem Orden der Priester von den Heiligen Herzen (SSCC ist die Abkürzung): BBC hat über die pädagogische Bildung Pinochets in katholischen Privatschulen am 25.11.2015 berichtet: LINK 
Zuerst studierte Pinochet im Jahr 1926 im Kolleg der Maristenbrüder in Quillota; von 1928 bis 1932 im Kolleg der „Priester von den heiligen Herzen“ in Valparaiso. „Wir beteten auf Latein, wir kannten auch einige Sätze“, berichtet Pinochet und wikipedia erwähnt unter den „berühmten“ Schülern dieses Kollegs auch Pinochet, ´mit dem Zusatz, „Diktator“. Nach den katholischen Kollegien besuchte Pinochet die „Escuela Militar“, die Militärschule. Quelle: LINK

6.
Als General und später als Diktator von 1973 – 1990 hat sich Pinochet stets in einer christlichen Mission gesehen: Er verstand sich selbst als Erlöser, er bediente sich dabei biblischer Begriffe, deutete sich nicht nur als Schützer Chiles, sondern auch als möglicher Märtyrer für Chile, sein Regime rechtfertigte er als „heiligen Krieg“, er fühlte sich intensiv verbunden und beschützt mit der Nationalheiligen Maria, Virgen del Carmen. Papst Johannes Paul II. erlaubte es sich 1987, den ganzen Staat Chile dieser Jungfrau Maria del Carmen zu weihen: LINK . Pinochet war sehr glücklich darüber. Schließlich glaubte er auch, dass er das Attentat vom 7.9.1986 nur überlebt habe durch den Schutz der Maria del Carmen. LINK  
Zur Selbst-Stilisierung Pinochets als Erlöser Chiles siehe die Studie von Elizabeth Abigail Sampson, Uni Costa Rica: LINK  dort vor allem Seite 77.
Auch der Chef der großen Hilfsaktion deutscher Katholiken für Lateinamerika, ADVENIAT, Bischof Franz Hengsbach, folgte in gewisser Weise der Verehrung für Pinochet, indem er die linkskatholische chilenische Bewegung von Priestern und Laien, „Christianos por el socialismo“, „Christen für den Sozialisten“, heftig verurteilte, zum Beispiel mit seinem Studienkreis „Kirche und Befreiung“ und auch in dem Buch „Kirche in Chile – Abwehr und Klärung“, Aschaffenburg 1976). „Adveniat“ mit seinen viele Millionen umfassenden jährlichen Kollekten war damals streng konservativ, anti-befreiungstheologisch…

7.
Der us-amerikanische Theologieprofessor William Cavanaugh hat in seiner Studie „Torture and the Eucharist: Theology, Politics, and the Body of Christ. Oxford, 1998“ nach Aufenthalten in Chile gezeigt: Die Militärdiktatur Pinochet war eine Verfolgung mit Folter und Mord von Katholiken (Pinochet und seine Militärs sowie die Berater) gegen andere Katholiken – im Namen der Verfolgung von Kommunisten. Die Diktatur Pinochet war in gewisser Weise auch ein Religionskrieg innerhalb einer Kirche, der katholischen. Das Buch gibt es auch in französischer Sprache leider nicht auf deutsch. William Cavanaugh lehrt an der berühmten DePaul University in Chicago.

8.
Papst Johannes Paul II., der Reisepapst, hat auch Chile besucht, allerdings erst im April 1987, als die Diktatur sich fest etabliert hatte, viele Oppositionelle flüchten mussten und einige tausend ermordet wurden.
Der Besuch des Papstes hinterlässt im Rückblick einen gespaltenen Eindruck: Einerseits spricht der Papst die überall möglichen und üblichen pastoralen Worte und Ermahnungen: Doch bitte an die Armen zu denken, die Gerechtigkeit nicht zu vergessen, eine bessere Welt aufzubauen und so weiter. Meines Wissens nannte Papst Wojtyla die Verhältnisse in Chile niemals präzise eine Diktatur, die es zugunsten einer Demokratie zu überwinden gilt. Er sprach nicht explizit von Folter, Verfolgung, Zensur. Sein gesamter Auftritt war also eher milde und fromm gestimmt und deswegen ungefährlich für die Clique der Diktatur. Nur „zwischen den Zeilen“ konnten Kenner Kritisches in den vielen Ansprachen lesen. Dennoch haben viele tausend Chilenen dem Papst zugejubelt. Der Chile-Spezialist Veit Straßner spricht sogar von einer „Massenmobilisierung, wie das Land sie seit den Zeiten der Unidad Popular (also in der Regierungszeit des demokratisch gewählten Präsidenten Allende) nicht mehr erlebt hatte“ (Quelle: „Chile“ in dem Band „Kirche und Katholizismus seit 1945“, Band 6, 2009, Paderborn), S. 403. Straßner erwähnt hinsichtlich der expliziten Kritik am Regime durch Papst Wojtyla nur symbolische Handlungen, die als Kritik offenbar verstanden wurden: „So besuchte der Papst eine Studentin im Krankenhaus, die während einer Demonstration von Polizisten mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Ebenso verwendete er bei einem Gottesdienst die blutbefleckte Bibel von Pater Andre Jarlan, jenes Priesters, der 1984 bei den Protesttagen während der Bibellektüre von der Polizei erschossen worden war.“ (S. 403).
Sehr bezeichnend, wenn nicht hoch-peinlich bleibt: Entgegen dem vorgesehenen Protokoll zeigte sich der Papst sogar auf dem Balkon des Präsidentenpalastes gemeinsam und fröhlich mit dem Diktator Pinochet, neben ihm, freundlich und bürgerlich gekleidet. Dieses Foto ist sozusagen als Skandal-Foto weltbekannt, es hat die kritische Haltung gegenüber Papst Johannes Paul II. nur weiter gefördert. Manche meinen zurecht: Der Papst, der selbst wie ein absoluter Monrach nicht demokratisch regiert, fühlt sich unter anderen Nicht-Demokraten recht wohl. Darauf hat u.a. der spanische Journalist Juan Arias (von der Tageszeitung „El Pais“) hingewiesen, er hat die meisten Reisen mit Papst Wojtyla unmittelbar erlebt: „Der Papst hat sich immer bequemer und entspannter gefühlt in Ländern mit diktatorischen Regimen als in Ländern mit demokratischen Regierungen, besonders wenn sie sozialistisch waren.“    LINK

9.
Zu einigen Aussagen von Papst Wojtyla in Chile anläßlich seiner so genannten „Pastoralreise“.
Am 1.4.1987 sagte der Papst nach seiner Ankunft auf dem Flughafen Aeropuerto «Comodoro Arturo Moreno Benítez» de Santiago de Chile u.a.:
„Ich habe mit Vergnügen die liebenswürdige und wiederholte Einladung angenommen, euch zu besuchen. Die Einladung machten mir ebenso der Herr Präsident wie eure Bischöfe. Empfangen Sie, Herr Präsident, meinen ehrerbietigen Gruß, sowieso auch den Ausdruck meiner Dankbarkeit für ihre herzlichen Worte des Willkommens. Ein Gruß auch und ein Dank, den ich ausführlich mache den übrigen hier anwesenden Persönlichkeiten: Den Mitgliedern der Junta der Regierung, den Staatsministern, den Richtern (magistrados) des obersten Gerichtshofes der Justiz und den übrigen zivilen und militärischen Autoritäten“.
Danach grüßte der Papst die Bischöfe und zum Schluß, dem üblichen katholischen hierarchischen Denken entsprechend, die Bewohner des Landes und die katholischen Laien.
Dabei verbreitete der polnische Papst seine äußerst schlichte und fragwürdige Theologie, ausgerechnet in dieser Situation der Verfolgung und Unterdrückung auch das Pinochet-Regime: Papst Johannes Paul II sagte in einem sehr verschachtelten Formulierungen: „Zum Schluß ein Gruß allen Bewohnern des Landes welcher Klasse und Lebensbedingung auch immer. Aber auf spezielle Weise richtet sich mein Gruß, mein Gefühl, den Armen, den Kranken, den Menschen am Rande und allen, die am Körper und am Geist leiden! Sie wissen, dass die Kirche ihnen sehr nahe ist, dass die Kirche sie liebt, dass die Kirche sie begleitet in ihren Leiden und Schwierigkeiten, und dass sie wissen, dass die Kirche es wünscht, ihnen zu helfen, damit sie die Prüfungen (sic!) überwinden und dass die Kirche sie ermuntert, auf die göttliche Vorsehung (sic) zu vertrauen und auf die versprochene Belohnung für das Opfer (sacrificio auf Spanisch) (sic).“ Das Überleben in der Diktatur wird vom Papst als Prüfung gedeutet, die irgendwie mit der göttlichen Vorsehung zu tun haben soll; diese Prüfung, also die Folter und die Unterdrückung, werden dann päpstlich als ein Opfer gedeutet, das jeder (der Arme) halt bringen muss. Eine Theologie des 19. Jahrhunderts spricht sich da aus am Ende des 20. Jahrhunderts…

10.
Am 3. April 1987 hielt Papst Wojtyla einen Vortrag für eine Gruppe von politischen Führern aus Chile: Er sprach dabei mit keinem Wort direkt von der weltweit bekannten Folter durch das Pinochet Regime, der Tötung der Oppositionellen oder demTerrorregime. Er sprach in letztlich harmlos klingenden Worten, die er auch in Kongo oder auf den Philippinen hätte sagen können: „Die Kirche verwechselt sich nicht in irgendeiner Weise mit der politischen Gemeinschaft und die Kirche ist auch nicht verbunden mit irgendeinem politischen System…Aber die politische Gemeinschaft (“der Staat” wird nicht gesagt, CM) besteht in der Abhängigkeit mit der menschlichen Person und im Dienste dieser Person… Im Namen des Evangeliums bitte ich euch alle entschieden, die Versuchung (!) einer Anwendung von Gewalt zurückzuweisen… Der Friede, meine Damen und Herren, ist eine Frucht der Gerechtigkeit.“ (Copyright © Dicastero per la Comunicazione – Libreria Editrice Vaticana, Übersetzung aus dem Spanischen von Christian Modehn)

11.
Die milden, nur sanft kritisch-mahnenden, immer aber frommen Worte von Papst Wojtyla haben sicher nicht das Ende der Pinochet – Diktatur befördert. Aber unter den Katholiken fühlten sich jene bestärkt, die mit aller Widerstandskraft ihre Hilfen den Verfolgten, den Armgemachten und Erniedrigten anboten. Die Herren des Regimes und die ihnen folgenden Katholiken und Evangelikalen fühlten sich zwar nicht bestätigt, aber auch nicht vom Heiligen Vater aufs Schärfste verurteilt. Das wollte und konnte der polnische Papst auch nicht: Er empfand die rechtsextreme Diktatur wohl als Notwendigkeit, um dem Kommunismus à la Cuba auch in Chile zu wehren..

12.
Es gab tatsächlich eine katholische und durchaus von einzelnen Bischöfen unterstützte Opposition gegen Allende. Vor allem die offiziell in der Kirche verankerte „Vicaria de la Solidaridad“ muss genannt werden. „Bis zum Ende der Diktatur wurden jährlich rund 90.000 Menschen betreut, ca. 11.000 der Hilfesuchenden benötigten juristischen Beistand. Die Vicaria dokumentierte die Menschen­rechts­ver­letz­ungen akribisch und brachte diese zur Anzeige… In den Medien wurden systematische Hetzkampagnen gegen die Kirche und einzelne Bischöfe geführt, was den Episkopat dazu veranlasste, erstmals in einem offiziellen Dokument von Kirchenverfolgung zu sprechen.“ (Quelle: Veit Straßner, in dem genannten Buch, S. 400).

13.
Aber der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie wurde von den allermeisten chilenischen Bischöfen dann wieder sehr eingeschränkt, als Chile durch Wahlen 1990 von der Diktatur sich lossagen konnte. Anfang der 1980 Jahre sprachen die chilenischen Bischöfe noch von der „Rückkehr zur vollen Demokratie“ (Straßner S. 400), aber sie äußerten sich seit 1990 sehr zurückhaltend zum Aufbau und Ausbau der demokratischen Grundrechte. D.h.: das bischöfliche Eintreten für die Demokratie war begrenzt auf die Zeit der heftigsten Not, in normalen Zeiten sollte wieder die alte moralische, von der Kirchenführung bestimmte Ordnung gelten! Der Erzbischof von Santiago de Chile Francisco Errázuriz erlaubte sich 2001 noch die Äußerung, „das exzessive Gerechtigkeit im Sinne von Strafverfolgung zur Ungerechtigkeit werden könne und den gesellschaftlichen Frieden gefährde“ (Straßner, S. 405). Gemeint war wohl, dass die Chilenen bitte den Diktator Pinochet in Ruhe lassen mögen… Veit Straßner dokumentiert (auf Seite 406 f.) weitere Skandale, die sich die Bischöfe erlaubten, nachdem Pinochet abgewählt wurde. Die Bischöfe arbeiteten tatsächlich mit den Rechtsparteien zusammen, die den Militärputsch 1973 und die Diktatur unterstützten, und so sorgten mit diese Leute mit der Kirche vereint dafür, dass z.B. der Sexualkunde-Unterricht über Jahre in den Schulen nicht stattfinden durfte. Es waren die Bischöfe im engen Bund mit den Konservativen, die sich auch gegen eine Gesetzgebung zu Gunsten der Ehescheidung einsetzten; erst Mitte 2004 konnte eine Novelle des zivilen Ehegesetzes verabschiedet werden.. Es waren wieder die Bischöfe im Bund mit den Nachfolgern des Pinochet Regimes, die sich gegen die Gebrauch von Kondomen aussprachen in Zeiten der AIDS-Krise, denn Kondome würden, so sagten sie, zur sexuellen Libertinage führen. (Straßner, ebd.). Persönliche Freiheit ist eben das größte Übel für den hohen katholischen Klerus. Veit Straßner ist nur zuzustimmen, wenn er das Verhalten dieser nach dem Abgang von Pinochet reaktionär gewordenen chilenischen Bischöfe „rückwärts gewandt und anachronistisch“ nennt“ (S. 407).

14.
Es ist mindestens eine heftige Ironie: Die chilenischen Bischöfe zeigten sich als strenge Moral-Apostel zugunsten einer Moral von vorgestern, sie taten das öffentlich und politisch als Lobbyisten. Viele von ihnen aber unterstützten und deckten sozusagen privat und in klerikaler Solidarität jene Priester, die sexuellen Missbrauch betrieben, wie etwa der landesweit bekannte Priester Fernando Karadima: „Der als charismatisch beschriebene Karadima stand im Mittelpunkt eines Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Chile. Er wurde 2011 vom Vatikan wegen Vergehen an Minderjährigen verurteilt. Aus seinem Umfeld gingen mehrere Bischöfe hervor, darunter auch der zurückgetretene Bischof Juan Barros (65) von Osorno, den Opfer Karadimas der Mitwisserschaft beschuldigten. Unter anderem war der Widerstand der Gläubigen in der Diözese Osorno maßgeblich dafür, dass der Papst und die Kirche in Chile schließlich einer umfassenden Aufklärung der Vorwürfe zustimmten. Papst Franziskus traf 2018 in mehreren Begegnungen Opfer Karadimas und entließ ihn Monate später aus dem Klerikerstand. Medienberichten zufolge ermittelte Chiles Justiz zeitweise in mehr als 150 Verdachtsfällen wegen Missbrauchs gegen mehr als 200 Kirchenmitarbeiter. Bei den mutmaßlichen Betroffenen gehe es um mehr als 240 Personen, von denen 123 zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen seien. Auf dem Höhepunkt der Krise hatten im Jahr 2018 neunundzwanzig chilenische Bischöfe dem Papst ihren Rücktritt angeboten, um einen Neuanfang zu ermöglichen und Verantwortung zu übernehmen. LINK
Über den Kampf der von sexueller Gewalt durch Karadima betroffenen Jugendlichen, siehe: LINK

Zum Angebot aller chilenischen Bischöfen an den Papst angesichts der Skandale sexueller Gewalt durch Priester, zurückzutreten, siehe: TAZ 18.5.2018: LINK .  Mit dem Angebot eines gemeinsamen Rücktritts aller Bischöfe wird freilich die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen Bischofs negiert…

Über den sexuellen Missbrauch durch Priester des Ordens der Legionäre auch in Chile siehe: LINK.

15.
Es ist also nicht erstaunlich, dass das öffentlich Ansehen und die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche als hierarchischer Institution in Chile jetzt, 2023, sehr bescheiden ist. Immer weniger Chilenen fühlen sich mit der Institution katholische Kirche als Mitglieder verbunden, wie überall in Lateinamerika, dem einst “katholisch“ genannten Kontinent. Es sind die Evangelikalen, die immer mehr Mitglieder gewinnen, viele zumal jüngere ChilenInnen nenne sich atheistisch. Ein Forschungszentrum nennt für 2020: Nur noch 50% der ChilenInnen nennen sich katholisch. LINK 

16.
Heute sind weite Kreise der chilenischen Katholiken mit den konservativen Parteien verbunden, das wurde in den Auseinandersetzungen um das Präsidentenamt 2022(?) deutlich, als sich ein Mitglied der konservativen marianischen Schönstatt- Bewegung, José Antonio Kart, mit guten Aussichten um das Präsidentenamt bewarb. Der strenge Katholik Kast wurde dabei von den ebenfalls sehr konservativ eingestallten Evangelikalen unterstützt. LINK.

17.
Noch einmal zurück zu Pinochet: Es ist keine Frage, dass eine Verbundenheit führender vatikanischer Kreise mit Pinochet erhalten blieb, etwa, als er 500 Tage unter Hausarrest in London zubringen musste. (Quelle: Welt 20.2.1999.) Die britische Regierung lehnte eine Auslieferung an die europäischen Gerichte ab und folgte damit auch den diplomatischen Vorstellungen des Vatikans. Man darf nicht vergessen, dass im Vatikan inzwischen der frühere Nuntius in Chile zu Pinochets Zeiten und Pinochet-Intimus Kardinal Angelo Sodano (1927-2022) in der sehr hohen Funktion als Kardinalstaatssekretär arbeitete. In einer Ansprache sagte der damalige Nuntius Sodano zur Militärdiktatur Pinochet: „Auch Meisterwerke können kleine Fehler haben; ich möchte Ihnen raten, sich nicht bei den Fehlern des Gemäldes aufzuhalten, sondern sich auf den wunderbaren Gesamteindruck zu konzentrieren.“ (Zitiert nach François Houtart: Johannes Paul II. als Restaurator der Weltkirche. In: Le Monde diplomatique, 14. Juni 2002.)

18.
Pinochet, der Hauptverantwortliche für die Menschenrechtsverbrechen in Chile, ist ohne ein rechtskräftiges Urteil verstorben. In Verhören gab er immer wieder an, sich nicht an Einzelheiten zu erinnern, er verweigerte bis zu seinem Tod eine Entschuldigung und das Geständnis eigener Schuld. Die NZZ schreibt am 10.12.2006: „Als 2004 nach einer Untersuchung im amerikanischen Kongress aufflog, dass Pinochet Dutzende von Konten im Ausland besass, wirkte die Behauptung seiner Anwälte, der General könne wegen angeschlagener Gesundheit nicht vor dem Richter erscheinen, umso unglaubwürdiger, als er bei der Verwaltung seines Vermögens offenbar rational handelte….Dass Pinochet Millionen von Dollar im Ausland in Sicherheit brachte, die kaum die Ersparnis eines Lebens als Berufsoffizier und Patriot – wie er sich sah – sein können, rückt Pinochet in die Nähe vieler anderer Putschisten Südamerikas, die von Rettung und Neugründung der Nation redeten und allesamt korrupt waren.“     LINK (Quelle: https://www.nzz.ch/newzzEVJSOOEK-12-ld.38839)

19.
Die katholische Kirche konnte auch in Chile zu Zeiten von Pinochet keine klare Position beziehen, sie war zerrissen zwischen ihrem Anspruch, den bedrängten und verfolgten Menschen zu helfen und gleichzeitig doch ihre Position als Teil des weltlichen Imperiums zu wahren, selbst wenn dieses Imperium eine Diktatur ist. Die Bindungen an das US-Imperium und die dortige totale Ideologie des Antikommunismus waren gerade für Papst Wojtyla entscheidend, zumal in seinem auch materiellen Einsatz gegen die Kommunisten in Polen.
Da nun aber in der Kirche der hohe Klerus, die Herren im Vatikan, das Sagen haben, fällt die Entscheidung nicht schwer, zwischen tatsächlicher Bevorzugung der Armen und den Privilegien ihres eigenen Herrschaftssystems zu treffen. Trotz zahlreicher verbaler solidarischer Bekundungen entscheidet sich die Klerus-Kirchenführung dann doch immer für den Erhalt der Macht, auch der eigenen Macht, von Minderheiten abgesehen. Die Menschen und ihr alltägliches Elend – nicht nur in Chile – sind dann den meisten hohen Klerikern eher „zweitrangig“, öffentlich würde das nie mehr so gesagt werden.

20. Was bleibt als theologische Einsicht nach der Zeit der Pinochet-Diktatur?

Eine religiöse Organisation, auch die katholische Kirche, kann in allen staatlichen Formen von Regierung und Herrschaft, selbst in einer Diktatur, nur dann grundlegend und langfristig positiv verändernd wirken, wenn sie selbst, die religiöse Organisation, die Kirche, demokratisch verfasst ist und demokratisch lebt.

Die universal geltenden Menschenrechte müssen in der Kirche als Maßstab gelten und höher eingeschätzt werden als die Mythen, die zur Gründung der religiösen Gemeinschaft führten.

Die Bitt-Gebete zur Jungfrau Maria, wie sie Papst Wojtyla auch im Chile des Diktators Pinochet praktizierte, haben den Diktator NICHT zur Menschlichkeit bekehrt, die öffentliche Lesung der Menschenrechte durch Papst und Bischöfe hätte es vielleicht erreicht. Aber dazu hätte vom Klerus Mut gehört, politischer Mut, und die Erkenntnis: Wie zweitrangig religiöse Mythen und Dogmen sind gegenüber dem expliziten Kampf für die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Menschenpflichten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Sexueller Missbrauch durch Kleriker – Hinweise zur Geschichte einer verdrängten und verleugneten katholischen Tradition.

Von Christian Modehn am 22.7.2023

1.
Die sexuelle Missbrauch durch katholische Kleriker ist kein neues Ereignis des 21. Jahrhunderts. Es wird Zeit, einige historische Tatsachen öffentlich zu machen. Und zu zeigen, dass der Schutz der angeklagten Kleriker schon damals vorrangiges Ziel der Hierarchie war. Und das ist mehr als ein „nur-historisches Thema“.

2.

Die Kirchenführung und die Theologen hatten – spätestens seit Einführung des Zölibatsgesetzes im 12. Jahrhundert – das abstrakte Ideal eines keuschen, und deswegen (!) heiligen Klerus vor Augen.
Von pädosexuellen Klerikern sind bis ins 20. Jahrhundert nur wenige Dokumente überliefert. In seiner Studie über die Geschichte der Sexualität des Klerus spricht der Spezialist, der Historiker Georg Denzler, nur undifferenziert von “Homosexualität im Klerus”. Das Thema der so genannten „Pädophilie“ bzw. „Pädosexualität“ unter Priestern und Ordensleuten wird nicht eigens erwähnt. Dabei ist klar, dass das Wort „Pädophilie“ erst Ende des 19. Jahrhunderts verwendet wird. Aber es liegt nahe, dass „Pädophilie“ auch „mit-gemeint“ ist, wenn etwa Konzilien von „Sodomie“ im Klerus sprechen, wie etwa das III. Laterankonzil schon im Jahr 1179. Dort wurde in Kanon 11 bestimmt: Wenn ein Kleriker der „Unzucht wider die Natur verfallen ist, dann soll er aus dem Klerus ausgestoßen und in ein Kloster verbannt werden, um dort Buße zu tun“. (Quelle: Das Buch „Kreuzfeuer“. München 1991, darin der Beitrag von Prof. Denzler, S.106.).
Man erinnere sich: Eine andere milde Strafe fiel auch Papst Benedikt XVI.nicht ein, als er den bekannten pädosexuellen Verbrecher, den Ordensgründer der „Legionäre Christi“, Pater Marcial Mariel, aller seiner hohen Funktionen enthob, aber ihn NICHT den Gerichten übergab, sondern… in ein Kloster zur Buße schickte, aus dem sich der Verbrecher nach Florida (USA) flüchtete…LINK

Da war selbst Papst Pius V. (1572) schon weiter, als er verlangte, dass „sodomitische Priester von der weltlichen Obrigkeit verurteilt werden sollen…“

Frühes Mittelalter: Der heilige Petrus Damiani.

3.

Zunächst muss der heilige Petrus Damiani (geboren 1006 in Ravenna – gestorben 1072 in Faenza, Italien) vor allem wegen seines Buches „Liber Gomorrhianus“ („Das Gomorrah Buch“) aus dem Jahr 1050 erwähnt werden.
Petrus Damiani war Mitglied eines Eremitenordens innerhalb der benediktinischen Tradition, er war Theologe, später auch Bischof von Ostia und dann auch führender Kardinal. In dieser Funktion setzte er sich leidenschaftlich für eine strenge Kirchenreform vor allem für eine „moralische Reinigung“ des Klerus ein. Er zog sich aber im Jahr 1061 aus der Kirchenpolitik in ein Kloster zurück, frustriert angesichts der fortbestehenden „amoralischen Zustände“ im Klerus. „Vielleicht war damals das `Laster` (gemeint ist Homosexualität im allgemeinen) unter dem Klerus so weit verbreitet, dass ein energisches Durchgreifen, wie Petrus Damiani es für notwendig hielt, zu einer spürbaren Dezimierung des Klerus geführt hätte“, so Prof. Denzler, S . 105.

4.

Im Titel seines Buches nimmt Petrus Damiani Bezug auf den alttestamentlichen Mythos von Sodom und Gomorra, in diesem Buch verurteilt Petrus Damiani offenbar auch pädosexuelle Praktiken durch Priester, selbst wenn er diesen Begriff nicht verwendet. Petrus Damiani spricht im 8. Kapitel seines Buches vom Umgang des Beichtvaters mit seinen „spirituellen Söhnen“, die vom Priester selbst missbraucht wurden. So Pierre J. Prayer, in seinem Buch, erschienen in Waterloo, Ontario, 182, S. 14. LINK
Im katholischen „Dom-Radio“ (Köln) schreibt Anselm Verbeek am 23.2.2022: „Gegenüber Papst Leo IX. prangerte Petrus Damini,`das höchst unflätige Leben im Klerus` an. Er empörte sich über `Unzucht und Missbrauch von Minderjährigen unter dem Deckmantel der Religion`.”

5.

Die Hinweise des Petrus Damiani zu sexuellem Missbrauch an „Spirituellen Söhnen“ dienten nicht der Aufklärung in der damaligen klerikal bestimmten Gesellschaft. Sie sind dem Autor Petrus Damiani wichtig, weil er jegliche praktizierte Sexualität, mehr noch: jegliche Akzeptanz von Leiblichkeit im Klerus aufs schärfste verurteilt. Wäre Petrus Damiani ein objektiver (und damit kirchenkritischer) „Aufklärer“ gewesen über die Vertuschungen der Pädokriminaliät im Klerus, dann wäre er gewiss nicht 1828 zum katholischen Kirchenlehrer feierlich ernannt worden und zu einem Heiligen, den übrigens Kardinal Ratzinger sehr lobte. Petrus Damiani gilt heute als der radikale Feind jeglicher Sexualität außerhalb der Ehe.

6.

Aber der Heilige empfiehlt dann die in Klerikerkreisen übliche Geheimhaltung des Missbrauchs: In einem Schreiben an Papst Nikolaus II. behauptet Petrus Damiani: „Würde die Unzucht bei den Priestern geheim betrieben, so sei es zu ertragen, aber die öffentlichen Konkubinen, ihre schwangeren Leiber, die schreienden Kinder, das sei das Ärgernis der Kirche“, berichtet wikipedia.

7.

Es ist ein Beleg für die Oberflächlichkeit katholischer Theologie und katholischer Geschichtsforschung, wenn in dem durchaus repräsentativen umfangreichen Band „Reformer der Kirche“ (Mainz 1970) ein Beitrag des katholischen Theologen und Historikers Jean Leclercq über Petrus Damiani erscheint. Und darin mit keinem Wort dessen Buch „Liber Gomorrhianus“ erwähnt wird (S. 540 f.). Hingegen wird berichtet: Er sei „ein Fürsprecher der freiwilligen Geißelung“ gewesen (S. 541) und habe diese Form des frommen Masochismus auch selbst praktiziert.
Nebenbei: Wen wundert es dann noch, dass dieser strenge Masochist heute in der katholischen Kirche offiziell als „Patron und Helfer gegen Kopfschmerzen” verehrt werden darf, so der Wikipedia Beitrag (Deutsch) über Petrus Damiani.

Missbrauch im Orden der Schulpriester, auch „Piaristen“ genannt, im 17. Jahrhundert.

8.

Der sexuelle Missbrauch durch Priester hat eine lange Tradition auch im 17. Jahrhundert. Sie wird deutlich greifbar in der umfassenden historischen Forschung von Karen Liebreich, sie studierte die Frühgeschichte des Ordens der “Piaristen”, der „Schulpriester“, gegründet vom heiligen Joseph Calasanz, 1617 von Papst Paul V. offiziell in Rom als Orden bestätigt. Calasanz lebte von 1557 – 1648.

Die Historikerin Karen Liebreich hat im Jahr 2004 ihre Studie „Fallen Order“ in New York, publiziert. Sie hatte Zugang zu entsprechenden Archiven in Rom, Florenz usw… Der Orden der Schulpriester hatte sich zu Beginn vor allem für den Unterricht armer Kinder (Jungen) in eigenen Ordensschulen engagiert. Und unter den Lehrern, den Ordenspriestern, sammelten sich bald – bei dieser „Spezialisierung“ auf den Unterricht von Knaben – tatsächlich Pädophile. „Bekannte pädophile Priester wurden von einer Ordens – Schule der Piaristen in die andere versetzt und so wurde Ihnen Zugang zu Kindern ermöglicht. „Der Ordensgründer Calasanz wusste doch, was geschieht, wenn Männer und Jungen miteinander allein gelassen werden, seine Schriften und seine Regeln für die Schule zeigen das“, schreibt Karen Liebreich auf S. 269. Aber die pädophilen Priester im Orden vernetzten sich, versuchten erfolgreich, Einfluss und Macht im ganzen Orden zu gewinnen: „Der Ordensgründer Joseph Calasanz wusste, was da an Missbrauch geschah, ebenso wie die Kardinäle, die Bischöfe und letztlich auch der Papst“ (ebd.). „Aber der Skandal der pädophilen Schulpriester wurde ignoriert, um den Ruf eines wichtigen Klerikers mit einflußreichen familiären Beziehungen zu schützen“. Und der Ordenspriester Stefano degli Angeli Cherubini (geb. 1600) wurde sogar noch mit vollem Wissen des Papstes sogar im Jahr 1643 oberster Chef des Ordens.

9.

Der Ordensgründer Calasanz deckte den pädophilen Verbrecher nun auch als seinen Vorgesetzten im Orden. „Kindesmissbrauch durch Ordenspriester wurde von Calasanz ignoriert und „zugedeckt“, und in jedem Fall „war immer seine erste Priorität der gute Rufe des Ordens und die Reputation der betroffenen Mitbürger“ (S. 257). „Erst als die Tatsachen auch in der Öffentlichkeit bekannt wurden, wurde der Orden der Schulpriester als Orden verboten, eine noch nie dagewesene Aktion der Kirche“ (ebd.). Das geschah 1646, immerhin hatte Papst Innozenz X. den Mut, einen von pädophilen Klerikern durchsetzten Orden zu verbieten. Aber 10 Jahre später konnte der Orden natürlich mit päpstlicher Erlaubnis (durch Alexander VII.) seine Aktivstem wieder aufnehmen… er hat seitdem eine nach außen hin erfolgreiche Geschichte mit vielen prominenten Schülern…
Roland Machatschke (Wien), Journalist und Mitarbeiter der Wiener Piaristen, hat einen ausführlichen Vortrag über die frühe Geschichte des Piaristen-Ordens veröffentlicht: LINK

10.

In dem umfassenden Lexikon  „Reformer der Kirche“ (hg. von Peter Manns, Mainz 1970), wird in dem Beitrag über den heiligen Joseph Calasanz, Seite 904-907) mit keinem Wort der sexuelle Missbrauch etwa durch Pater Cherubini erwähnt. Er wird nur als ein „Ehrgeiziger“ beschrieben, der „reiche Gönner hatte“ (S. 906). Als Ordensgeneral (1643) wurde Cherubini entlassen, aber die Autorin Hilde Firtel nennt als Grund nur „Unterschlagungen“, nicht sexuellen Missbrauch. Der Herausgeber Peter Manns, Mainz, war Professor für Kirchengeschichte in Mainz… er galt als „katholischer Luther-Spezialist“…

11.

Zu einer Auflösung eines korrupten Ordens waren die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus nicht bereit oder nicht in der Lage, als es darum ging, wegen der pädosexuellen Verbrechen Pater Marcial Maciels von den „Legionären Christi“ diesen Orden zu verbieten und aufzulösen, ein Vorschlag, der vielfach von Opfern Pater Maciels vorgebracht wurde… Aber der Einfluß des Ordensgründers unter den Kardinälen, seine öffentlich bekannte Freundschaft mit Papst Johannes Paul II., sein bekannter finanzieller Reichtum, seine vielen einsatzbereiten jungen Priester usw. verhinderten wohl die Auflösung dieses von vielen für korrupt gehaltenen Ordens…Verschiedene Studien zu den “Legionären Christi”:
LINK

Missbrauch im „Merzedarier-Orden“ im Spanien des 17. Jahrhunderts

12.
Über einen pädosexuellen Ordenspriester im Spanien des 17. Jahrhunderts liegt eine kleine historische Studie vor, sie hat Prof. Raphael Carrasco verfasst unter dem Titel „Sodomiten und Inquisitoren im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts“. Die Studie ist erschienen in dem Sammelband „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“, hg. von dem Historiker Alain Corbin, Wagenbach Verlag, 1992, dort S. 45-58. Die französische Ausgabe erschien 1989. Das Buch ist auf Deutsch nur noch antiquarisch verfügbar…Raphael Carrasco (Montpellier) geht der Frage nach: Wie konnte sich ein hoher Kleriker, des sexuellen Missbrauchs angeklagt, im Spanien des 17.Jahrhunderts aus der Affäre ziehen, nur weil er ein Kleriker war und „der gute Rufe der Kirche bewahrt werden musste“.

13.

Prof. Raphael Carrasco stellt in seinem Aufsatz den sexuellen Missbrauch eines Mönchs zunächst in den größeren Zusammenhang der Homosexualität (damals Sodomie genannt) im „Inquisitionsbezirk Valencia“ im 16. und 17. Jahrhundert. Schon 1497 hatten die „Katholischen Könige“ dort für Sodomiten die Strafe des Feuertodes festgelegt. In einem grundlegenden Text der katholischen Könige heißt es: „Es handelt sich um die Bestrafung des abscheulichen Delikts, das schon der namentlichen Erwähnung unwürdig ist, das Delikt zerstört die natürliche Ordnung, es wird durch Gottes Urteil gestraft, etwa durch Pestilenzen und andere Plagen“ (S. 46).
Im Gericht von Valencia war mit „19 Prozent der wegen Sodomie Angeklagten die Gruppe der Kleriker (die nicht weniger als 1 % der Bevölkerung repräsentierte), mit Abstand der höchste Anteil…Von 1575 bis 1590 wurden in Valencia vier Kleriker verbrannt, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden schwere Strafen gegen Kleriker, Galeere und Zwangsarbeit, verhängt“ (S. 54).

14.

Auch damals setzte sich der Schutz der Kleriker als oberstes Prinzip im Umgang mit sexueller Gewalt durch Priester durch: „Das Tribunal handelte allerdings mit äußerster Vorsicht, denn die verschiedenen Orden zeigten sich in der Verteidigung ihres guten Rufes ganz besonders aktiv“ (S. 54). Damals wie heute: Die Orden behaupten, sie müssen zuerst und vor allem ihre Mitglieder schützen … und nicht die Opfer…

15.

Raphael Carrasco konzentriert sich dann in seinem Aufsatz auf den Fall des Paters Joan Nolasco Risón aus dem Orden der „Merzedarier“ (dieser Orden besteht noch heute mit der Ordensabkürzung O.de.M.).
Pater Joan Nolasco Risón war Novizenmeister, also offiziell zuständig für die die Förderung der Spiritualität der jungen Männer, die damals im Alter von 16 Jahren in die Orden als Kandidaten und mögliche Mtglieder eintraten. „Der Novizenmeister hatte in seinem Konvent unaufhörlich und erfolgreich sexuellen Druck auf die jungen Leute ausgeübt, die ihm anvertraut waren“.
Pater Nolasco Risón hatte in seinem Kloster durch seine offensichtlichen „Aktivitäten“ eine Spaltung bewirkt: Es gab seine Komplizen, „die er anderswo auf günstigen Posten unterbrachte und die bis dahin seltsame Vorrechte genossen, und auf der anderen Seite die Reinen, die Schamhaften, Empörten sowie alle, die verfolgt und tyrannisiert wurden, weil sie dem Werben des Meisters widerstanden hatten“ (S. 55).
Es gab etwa einen kritischen Ordensbruder, Pater Jeronimo Ramirez, der dem sexuellen Missbrauch des Paters Nolasco Rison Einhalt gebieten wollte. Und was passierte? Der ganze Orden wollte den „guten Ruf“ bewahren, man beeinflusste den kritischen Pater Jeronimo Ramirez und versuchte, ihn zu überzeugen, doch bitte den prominenten Mitbruder im Orden nicht zu denunzieren. Aber die sexuell missbrauchten Novizen rebellierten. Und was tat der Beschuldigte? Pater Risón „versuchte die Novizen mit einer heftigen Rede voller unterschwelliger Drohungen einzuschüchtern“. (S. 55). Aber die Einschüchterungen nützen nichts. Die Inquisition hatte die Novizen zu Zeugenaussagen vorgeladen. „Diese Zeugenaussagen sind heute eine ganz außergewöhnliche Quelle für das Leben in den Novizinnen der Klöster am Ende des 17. Jahrhunderts.“ (S. 55).

16.

Die kirchliche Inquisitionsbehörde gab aber 1687 dem staatlichen Gericht die Zustimmung, Pater Risón (damals 54 Jahre alt) zu verhaften, allerdings „unter größter Geheimhaltung“, betont der Autor des Aufsatzes Raphael Carrasco (S.55). Wie zu erwarten: „Der Prozess gegen Pater Nolasco Rison versandte im Ermittlungsverfahren. Der Oberste Rat (der Inquisition) dachte, die zwangsläufig skandalöse Arznei, also die Bestrafung des Paters – sei schlimmer als die Krankheit (der sexuelle Missbrauch von Kindern“, S. 55. Der Verbrecher wurde also frei gesprochen, er u.a. war danach ein beliebter Prediger, im Jahr 1700 ist er verstorben.
In einem Lexikon Beitrag der „Königlichen Akademie der Geschichte“ in Madrid (verfasst von Manuel Alvar Lopez) ist von den Verfehlungen des Priesters Rison keine Rede.

Missbrauch durch einen Jesuiten im Frankreich des 18. Jahrhunderts

17.
Es geht um den Missbrauch durch den Jesuitenpater Jean-Baptiste Girard (1680-1733). Er wurde 1731 angeklagt, das Mädchen Marie-Cathérine Cadière im Beichtstuhl zum Sex verführt zu haben mit späterer Anstiftung zur Abtreibung. Der Skandal war damals in Frankreich sehr oft besprochen worden. “Die Aussagen anderer Beichtkinder Girards stützten die Anklage, doch wurde der Angeklagte am 10. Oktober 1731 in Toulon freigesprochen. Er musste allerdings in seine Geburtsstadt Dole zurückkehren, wo er bereits zwei Jahre später starb“ (Quelle: Wikipedia Beitrag, deutsch, über Jean-Baptiste Girard).

18.

Der philosophisch gebildete Schriftsteller Jean-Baptiste d` Argens ( 1703-1771) hatte über dieses Ereignis einen dicht am Ereignis orientierten Roman geschrieben, er wurde 1748 veröffentlicht unter dem Titel „ Thérèse Philosophe. Memoiren zu Ehren der Geschichte von Pater Dirrag und Mademoiselle Eradice“. Noch wird darüber debattiert, ob d` Argens tatsächlich der Autor des Romans ist. Der Marquis de Sade war von d` Argens als Autor überzeugt. Der Romanautor hatte den Jesuitenpater dann Dirrag genannt, die Leser wussten, wer gemeint ist.

19.

Der Historiker und Spezialist für die Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts Robert Darnton hat diesen Roman als pornographischen Text gewürdigt. (Quelle: „Denkende Wollust“, Frankfurt am Main 1996, S. 7 – 44). Interessant ist der Hinweis Darntons: Die großen (staatlichen) Bibliotheken damals verwahrten diesen und andere “Porno”-Romane unter der Rubrik „l` Enfer“, „Die Hölle“, unter Schloss und Riegel.
Die “Porno”-Romane (hinsichtlich der Darstellungen sicher weit entfernt von entsprechenden Texten des 20. und 21. Jahrhunderts) waren im 18.Jahrhundert in Frankreich weit verbreitet und es gab viele entsprechende Publikationen, sie zeigten die sexuelle Freiheit einer bestimmten (hohen) Gesellschaftsschicht. Und sie waren in der Darstellung der Freiheiten, die sich einzelne Männer nahmen, auch ein versteckter Impuls an die Leser, sich auch die Freiheiten, vielleicht auch politische Freiheiten zu nehmen.

20.

Im Roman „Thérèse Philosophe“ verführt und missbraucht der Jesuitenpater und geistliche Betreuer Dirrag (Pater Girard) das fromme Mädchen durch seine spirituellen Geschichten, die auf Wahn beruhen: Etwa, dass die sexuelle Hingabe des Mädchen zu einer Erhebung der Seele führe oder dass Wunderwerkzeuge des heiligen Franziskus bei der Penetration zur Anwendung kommen. Interessant ist, dass damals schon der sexuelle Missbrauch durch Priester mit der Erfindung „heilsamer” religiöser Zusammenhänge begründet wurde, auch Pater Marcial Maciel argumentierte so, als er Jungen und Jugendliche missbrauchte…

21.

Es gab zu Zeiten des ancien régimes (aber auch schon vorher) die “prisons ecclésiastiques“, also die kirchlichen und kircheneigenen Gefängnisse, die in Klöstern untergebracht waren oder auch in Priesterseminaren. Es ist meines Wissens bisher nicht untersucht worden, ob in diesen “Klostergefängnissen” auch Priester eingesperrt wurden, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig machten. Vieles deutet darauf hin, dass auch Kleriker von ihren Oberen eingesperrt wurden, die sich der “libertinage” schuldig gemacht hatten…

Diese “Kirchlichen Gefängnisse” in Klöstern sind ein Thema, das bisher in Deutschland wenig Beachtung fand. In Frankreich hat etwa der Historiker Bernard Plongeron in seiner Studie”La vie quotidienne du clergé francais au 18. Siecle” (Hachette, Paris 1974, S. 65 f.) auf dieses Thema hingewiesen; eine größere Studie ist “À propos de la prison ecclésiastique sous l’Ancien Régime” von Jean-Pierre Gutton, erschienen in “Presses universitaires François-Rabelais” (1995).

Kurze Zusammenfassung

22.

Diese Beispiele sind nur Fragmente aus einer langen Geschichte des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Kleriker. Es sind eben nur Fragmente, weil die Hierarchie entsprechende Dokumente meist umfassend vernichtete und Spuren verwischte, „um den guten Ruf der Kirche zu schützen“, wie es im Laufe der langen Missbrauchsgeschichte immer heißt. Und der Zölibat des Klerus bot Pädophilen einen Schutzraum, in dem sie sich, zur Ehelosigkeit verpflichtet, als sexuelle Einzelgänger förmlich ausleben und austoben konnten … und können.

Leider ist eine wichtige Studie vergriffen: Hertha Busemann: „Der Jesuit (Girard) und seine Beichttochter. Die Faszination eines Sittenskandals in drei Jahrhunderten“. BIS, Bibliotheks- u. Informationssystem d. Univ. Oldenburg. Mit e. Vorw. von Ernst Hinrichs. Oldenburg 1987.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Kardinal Gerhard Müller – ein reaktionärer Theologe.

Müller wurde von Papst Franziskus in die Synode, “Synodaler Prozess”, (Oktober 2023) berufen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.7.2023.
1.
„Es ist eine Anmaßung, wenn europäische Staaten unter dem Druck der Gender-Ideologie oder der Homo-Lobbys anstelle der menschlichen Vernunft oder der göttlichen Offenbarung definieren wollen, was Ehe ist.“
Wer hat wohl diesen Satz geschrieben? Die polnischen Politiker der reaktionären PIS Partei? Oder der ungarische Präsident Orban? Oder gar Putin vereint mit seinem Patriarchen Kyrill von Moskau? Sie dürfen dreimal raten.
2.
Vielleicht fällt Ihnen die Entscheidung leichter, wenn Sie die anschließende Zeile aus demselben Buchbeitrag lesen: „Den unmündigen Kindern einzureden, sie könnten ihr Geschlecht wählen und damit könnte man Manipulationen an ihren inneren und äußeren Geschlechtsorganen legitimieren, ist ein verabscheuenswertes Verbrechen an ihrer Würde“.
Was vermuten Sie nun? Haben diesen Blödsinn Politiker der AFD geschrieben? Oder rechtsextreme Politiker und Scharfmacher in Frankreich, wie Monsieur Eric Zemmour und Co? Oder gar Herr Erdogan (Türkei) oder einer der führenden „Theologen“ der islamischen Welt etwa Irans? Eine nette internationale Gesellschaft von reaktionär – fundamentalistisch Gleichgesinnten.
3.
Also: Diese Worte, oben Zitate, hat einer der höchsten und wichtigsten katholischen Theologen und Lehrmeister geschrieben. Kardinal Gerhard Ludwig Müller veröffentlichte diese Polemik schon im Jahr 2017 (!), damals war er oberster Chef der katholischen Glaubenslehre in Rom: Sein Freund Joseph Ratzinger hatte Müller als Bischof von Regensburg im Jahr 2012 nach Rom geholt und ihn zum obersten Chef der wichtigen Glaubenskongregation ernannt. Zugleich war Müller (vormals auch Theologieprofessor für Dogmatik an der staatlichen Universität in München) in Rom dann führend in der päpstlichen Bibelkommission tätig und der Internationalen Theologenkommission. Ein in jeder Hinsicht also der strammen römischen Theologie folgender Funktionär. Und der zeigt sein reaktionär theologisch-ideologisches Profil auch manchmal eher versteckt in seinem umfangreichen Buch mit dem Titel „Der Papst“, erschienen im Herder Verlag, dort stehen die Zitate auf Seite 403.
4.
Es kommt noch schlimmer: Wie der polnische Papst Johannes Paul II. hat auch Kardinal Gerhard Ludwig Müller (geb. 1947) sehr grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der westlichen pluralistischen Demokratie: „Eine pluralistische Gesellschaft ist ein Experiment und es bedarf noch des Erfahrungsbeweises, dass sie glücken kann“ (S. 403). Besser (erfolgreicher, für wen?) als ein weltanschaulicher und religiöser Pluralismus ist im Denken des führenden katholischen Theologen Müller offenbar eher die alte, mittelalterliche Staatsreligion, die bekanntlich nur unter Diktatoren, wie Franco in Spanien oder Trujillo in der Dominikanischen Republik herrschte, blutig herrschte, gegen allen Respekt für die Menschenrechte. Also, was sagt der oberste katholische Lehrer Müller: „Eine verordnete Weltanschauung als Klammer, etwa im Laizismus oder Staatsatheismus, die (als Klammer) nichts anderes ist die Aufhebung der Religionsfreiheit, birgt schlimmere Risiken in sich als eine von oben verordnete Staatsreligion“ (S. 404). Wir brauchen also in Europa anstelle des demokratischen Pluralismus wieder eine Staatsreligion!
Von Müllers Deutung des Laizismus, meint er die laicité à la francaise, das ist etwas anderes, die nun ausgerechnet die Religionsfreiheit aufheben soll, wollen wir schweigen. Laicité ermöglicht doch gerade die Vielfalt und Gleichberechtigung der verschiedenen Konfessionen in einem Land…. In arabischen, muslimischen Ländern, aber auch in so genannten orthodoxen Staaten wie Russland, Georgien, Serbien etc. besteht die Staatsreligion faktisch schon wieder. Man kann dort beobachten, wie da die Menschenrechte verachtet werden. Solchen Wahn also propagiert ungeniert und kaum wahrgenommen einer der höchsten Lehrer der katholischen Theologie, Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Nicht nur seine Freundin, Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in Regensburg, auch das große reaktionäre katholische Umfeld (bis in die USA) weltweit werden applaudieren.
5.
Warum dieser Hinweis auf einen der maßgeblichen katholisch-reaktionären Theologen und Kardinal Müller, der (geboren am 31.12.1947) immerhin noch am nächsten Konklave teilnehmen wird? Er hat einen internationalen Kreis von Freunden und finanzstarken Unterstützern auf seiner Seite. Wer den Katholizismus heute verstehen will, muss die Macht der Reaktionären und Konservativen kennen.
6.
Papst Franziskus ist der öffentliche Gegner (Feind?) von Kardinal Müller. Die Arbeit von Papst Franziskus hat er aufs schärfste öffentlich kritisiert, während der Corona-Pandemie hat er Verschwörungstheorien verbreitet usw. Aber es ist schon komisch: Papst Franziskus hat diesen öffentlichen Papst-Kritiker zwar als Chef der Glaubensbehörde 2017 abgesetzt, ihn aber dann 2021 zum Mitglied des höchsten kirchlichen Gerichts (der „Apostolischen Signatur) ernannt.
7.
Und nun hat Papst Franziskus persönlich Kardinal Müller auch noch als Mitglied in die große römische Synode (vom 4. bis 29. Oktober 2023) berufen. Es wird das Geheimnis des hin und her jonglieren Papstes Franziskus bleiben, warum er ausgerechnet diesen theologisch sozusagen rechtsaußen angesiedelten Theologen Kardinal Müller in dieses wichtige Gremium berufen hat. Will der Papst demonstrieren, wie liberal und großzügig er ist, dass er selbst einen seiner ärgsten Feinde in eine Synode ruft? Hofft der Papst, dass Müller in der Synode so richtig aufläuft und seine umstrittenen Thesen zur Demokratie, zu Kirchenreform usw. vorträgt und möglicherweise vieles blockiert? Hat der Papst Angst vor den reaktionären Klerikern im Vatikan, die wie Müller gegen ihn agieren, will er sie auf diese Weise besänftigen? Alles das ist bis jetzt Spekulation.
8.
Warum befasst sich der Religionsphilosophische Salon Berlin mit diesem Thema, mit dieser merkwürdigen reaktionären Gestalt Müller? Weil solche Leute nun einmal die katholische Kirche geprägt haben als Chefs oberster päpstlicher Behörden und bis heute prägen mit ihrem großen reaktionären Netzwerk. Nur wenn es wirklich einige Leute gibt, die diesen Katholizismus von außen ohne Vorbehalte und dogmatische “Bremsen” studieren, wird das wahre Gesicht der Papstkirche deutlich.

Diese Kirche wird immer Papstkirche bleiben, weil alle Führer dieser Kirche – zumindest nach außen bekennen: Gott selbst, höchstpersönlich, hat diese römische Kirche, so wie ist, gegründet und gewollt, also als Kleruskirche mit einem allmächtigen, unfehlbaren Papst und Wahlmonarchen des „Heiligen Stuhls“ an der Spitze. Daran rüttelt niemand in der Hierarchie, auch keine Synode im Oktober 2023 kann das verändern. Darum ist dieser Aufwand interessant, aber im letzten kann er nur ergebnislos bleiben.

Aber gerade die Überwindung der Papstkirche wäre heilsam und hilfreich – auch angesichts der „Austrittszahlen“ in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Hollands, Frankreichs, Spanien usw… Diese Katholiken verlassen doch wegen eines veralteten starren Glaubenssystem diese Kirche!
9.
Parallel zur Berufung des reaktionären Kardinals Müller wurde berichtet, dass der Papst auch einen italienischen Laien, einen „Linksextremen“ wie die katholische Presse schreibt, in die Synode berufen hat: Er ist ein Aktivist der Menschenrechte und „Seenotretter“: Der einst für die linksradikale Partei „Sinistra Italiana” kandidierte: Der 56jährige Luca Casarini (einst Hausbesetzer) gehört zur Gruppe der vom Papst bestimmten „Sonderdelegierten“ („delegati speciali“) an. Er hat das Recht auf der Synode zu sprechen. Abstimmen und mitentscheiden darf er nicht, das darf hingegen seine Eminenz Gerhard Kardinal Müller. Er ist ja Kleriker, sozusagen deswegen a priori ein wertvollerer Katholik….
10.
Über Kardinal Müller und seine Lobeshymne auf das Papsttum hat der Religionsphilosophische Salon schon einmal berichtet, auch über dessen „Freundschaft“ mit dem peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez: Und der musste sich vor der Allmacht des damaligen reaktionären Kardinals von Lima, Juan Luis Cipriani (nach eigener Aussage Mitglied des Opus Dei) in den Dominikanerorden retten…LINK

11.

Kardinal Müllers Position (zu Gender-ideologie, Homoehe etc.) wird selbstverständlich auch vom Nuntius des heiligen Stuhls in Deutschland, Erzbischof Nicola Etcovic, geteilt: In Aachen sagte der Nuntius  im Juni 2023: “Es gibt aber auch eine Ökologie des Menschen, wie Papst Franziskus im Anschluss an Papst Benedikt XVI. sagt, „denn auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. … Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen. Auf diese Weise ist es möglich, freudig die besondere Gabe des anderen oder der anderen als Werk Gottes des Schöpfers anzunehmen und sich gegenseitig zu bereichern. Eben deswegen ist die Einstellung dessen nicht gesund, der den Anspruch erhebt, den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil er sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht“ (LS 155).

Siehe auch:

Das katholische LSB+ Komitee kritisiert die Predigt des Kurienbischofs sowie Nuntius Nikola Etrovic bei der Heiligtumsfahrt in Aachen.  Juni 2023.

Autor: Luca Bruni

Das LSB+ Komitee ist ein christlich geprägtes Arbeitsbündnis, bestehend aus verschiedenen LSB+ Gruppen, welches sich geschlossen für die Gleichberechtigung sowie Gleichbehandlung von LSB+ Personen in der römisch-katholischen Kirche einsetzt. Es ist zusätzlich Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen Deutschlands (AGKOD). Nun äußerte es scharfe Kritik an der Predigt des Nuntius und Kurienbischofs Nikola Etrovic auf der Aachener Heiligtumsfahrt. Etrovic reprudizierte homo- sowie transfeindliche lehramtliche Aussagen, beharrte auf Heteronormativität, diskreditierte geschlechtliche Vielfallt sowie mögliche Strukturreformen in der katholischen Kirche. Der Co-Sprecher des Komitees, Markus Gutfleisch äußerte diesbezüglich: „Die Predigt des Bischofs enthält für queere Menschen keine Worte des Glaubens, der Hoff­nung und der Liebe. Das Katholische LSBT+ Komitee ist entsetzt, dass die katholische Kirche er­neut in gefährliche Nähe zu rechtspopulistischen Kräften gerät, die geschlechtliche Vielfalt als An­griff auf die Familie konstruieren anstatt unterschiedliche Lebens- und Beziehungsformen an­zuerkennen. Lehre und Predigten der Kirche missachten trans*, inter* und nichtbinäre Menschen gewaltig.“. Auch Veronika Gräwe, ebenfalls Co-Sprecherin erklärt zudem: „Es ist nicht neu, dass Eterovic die im Synodalen Weg der katholischen Kirche Deutschlands be­schlossenen Reformen kritisiert. Wir hingegen ermutigen die deutschen Bischöfe und das Zentral­komitee der deutschen Katholiken, die Handlungstexte zu „Segensfeiern für Paare, die sich lieben“ und zum „Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt“ zügig umzusetzen, damit die Kirche wenigstens ein bisschen Hoffnungsort für queere Menschen werden kann.“.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Caspar David Friedrich: Seine Spiritualität und … warum er Kirchen als Ruinen malte.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.7.2023.

Siehe unten, Nr. 14, eine aktuelle Ergänzung, publiziert am 8.3.2024

Siehe auch unsere aktuelle Buchempfehlung vom 5.8.2024: LINK

Caspar David Friedrich: Klosterfriedhof im Schnee
Caspar David Friedrich: Klosterfriedhof im Schnee

Das Thema ist alles andere als abwegig in Zeiten des konfessionellen und religiösen Umbruchs nicht nur in Deutschland. In West – und Süd- Europa verlassen Millionen Christen, vor allem Katholiken, Mitglieder ihre Kirchen. Zurückbleiben nicht mehr genutzte Kirchen-Gebäude, vielleicht Ruinen.
Der Maler Caspar David Friedrich (1774-1840) hat in seinem umfangreichen Werk auch einige bedeutende Gemälde geschaffen, die Kirchen und Klöster als Ruinen zeigen. Diesem Thema gilt es, mit einigen Hinweisen nachzugehen. Bei Caspar David Friedrich gibt es eine gewisse Trauer über den ruinösen Zustand der Kirchen. Heute hingegen werden verlassene Kirchen und verfallene „Gotteshäuser“ kaum noch „betrauert“, sondern als (finanzielle) Last empfunden. Und selbst wenn man sich , wie in Brandenburg, um verfallene Dorfkirchen kümmert und etliche restauriert, weiß die Kirchenleitung nach der umfassenden Sanierung oft nicht, wozu man diese hübsch gewordenen Kirchlein denn nun eigentlich nutzen soll. Denn Kirchen-Gläubige gibt es in (den Dörfern) Brandenburg(s) fast nicht mehr. Und für eine ausschließlich „kulturelle Nutzung“, also „Säkularisierung“, fehlt oft der Mut. Zum Beispiel: Brandenburg: LINK.   Ein hochinteressanter Bild-Band über verfallene Kirchen in Europa: LINK

1.
Caspar David Friedrich wird bald im Mittelpunkt kultureller Aufmerksamkeit stehen. Sein „Gedenktag“ bzw. „Feiertag“ naht: Der 250. Geburtstag. Am 5.9. 1774 wurde Friedrich in Greifswald geboren, angesichts der hohen Beliebtheit des Malers werden wir zweifellos mit einer Fülle von Ausstellungen und Publikationen „bedient“ werden.
Manche Motive seiner Gemälde haben sich so tief bei vielen eingeprägt, dass sie etwa im Erleben verdorrter, erstorbener Eichen im Winter diese nur noch mit der „Brille“ Caspar David Friedrichs sehen und deuten können… Ein tolle Rezeptionsgeschichte…
Schon jetzt, im Vorfeld der „kulturellen Erregung zugunsten von „C.D.F.“, ein Hinweis auf ein Thema, das wesentlich ist in Friedrichs Denken und Schaffen: Die verfallenen Kirchen und Klöster, die Ruinen also, die er oft auch in eine eisigen Winterlandschaft stellt. Die Ruine ist bei Friedrich mehr als ein Zitat der Vergangenheit, mehr als ein Thema der Architekturgeschichte.

2.
Man möchte – religionsphilosophisch – empfehlen, die Ruinen – Gemälde Friedrichs in Ruhe zu betrachten, sie zu studieren. Sie geben zu denken – über den ruinierten Zustand der Kirchen damals wie heute. Wo sind die Auswege? In der Natur-Erfahrung?
Für diese Bildbetrachtungen – zumal für jene, die noch nicht mit Friedrichs Arbeiten vertraut sind – , ist der Band „“Friedrich“ von Norbert Wolf aus dem Taschen-Verlag (96 Seiten) empfehlenswert.

3.
Der Philosoph Prof. em. Manfred Frank (Tübingen) hat sich in einem Aufsatz mit den Bildern Caspar David Friedrichs auseinandergesetzt, die Kirchen und Klöster als Ruinen zeigen. Der Titel: „ Religionslose Kathedralen im `ewigen Winter` der Moderne.“ Manfred Frank ist ein Spezialist der philosophischen Entwicklung der Frühromantik als „Denkraum“ (1789 – 1796). Auch deswegen hat er seinem Aufsatz (bzw. Vortrag in Hamburg 2008) den zusätzlichen Untertitel gegeben „Caspar David Friedrich im frühromantischen Kontext“. Es lohnt sich, etwas ausführlicher den Erkenntnissen Manfred Franks zu folgen.

4.
Caspar David Friedrich hat die Gemälde und den Geist der damals beliebten „Nazarener“ (und Lukas-Brüder) heftig kritisiert „und mit beißendem Spott überzogen“ (S. 113). Friedrich empfindet es unpassend, wie die Nazarener „frömmeln“ mit „ihrer nicht mehr zumutbaren infantilen Scheinheiligkeit“ (S. 117). Mehr noch: Diese Nazarener instrumentalisieren die Religion „zum Einschläfern des gesunden Menschenverstandes“ (S. 118). In seinen „Bekenntnissen“ schreibt Friedrich: „Man lästert die gesunde Vernunft und belügt sich und andere, als glaube man das Unglaublichste, und das nennt man echte Religiosität“ (zit. S.119).

5.
Etliche Gemälde Friedrichs zeigen das, was viele damals schon (wie heute auch) nicht wahrhaben woll(t)en, den ruinierten Zustand des kirchlichen Glaubens. Nebenbei: Es sind ja bei religiösen Themen nicht immer explizit christliche Motive, die Friedrich malt, man denke an die „Hünengräber“ oder an den „Junotempel von Agrigent“. Sind sie nur Zufallsprodukte künstlerischer Vielfalt oder Hinweise auf eine Spiritualität außerhalb des Christentums?
Aber es gilt wohl die Erkenntnis: „An der Religiosität und christlichen Überzeugung Caspar David Friedrichs ist sowenig ein Zweifel angebracht wie an seinem sogenannten Patriotismus“ (S. 114). Und dieser Patriotismus galt den Idealen der Freiheitskriege, in Verehrung für Stein, Görres, Arndt … Friedrich also ein progressiver politischer Denker…

6.
Darauf kommt es an: Friedrich stellt „den Glaubwürdigkeitsverlust der übersinnlichen Welt, eine Entzauberung des Himmels“ dar (S. 122).„Einige von Friedrichs Bildern zeigen Endphasen einer solchen Desillusionierung: Im Packeis gescheiterte Expeditionsschiffe, im Frost ziellos sich verlierende Wege, ruinierte Kirchen in Schnee und Eis inmitten entlaubter Wälder, Mönche beim Begraben ihrer Toten in kaltstarrenden Böden“ (S. 122).

7.

Manfred Frank meint in einer rhetorischen Frage: „Kommt hier nicht eher Trauerarbeit zum Ausdruck“. Trauerarbeit also, die „an dem wunderbar strahlenden, aber grenzenlos leeren Himmel (sky, nicht heaven) fühlbar macht, was sie (diese Kirchen etc.) einer Menschheit einst bedeuteten, die darauf ihre Hoffnung setzte“ (S. 122). Es ist also ein Verlust der Erfahrung des Heiligen festzustellen und künstlerisch auszudrücken.

8.

Kunst und Dichtung können den Verlust des Heiligen wachhalten, betont der Philosoph Manfred Frank. Es diese Überzeugung, die auch Caspar David Friedrich teilt. In der Frühromantik gilt, dass menschliches Selbstsein „einem transzendenten Grunde sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewusstsein auflösen lasse“ (S. 131). „Hölderlin spricht von einem Sein, das wir nicht erkennen, das wir aber als Fundament unseres Selbstwissens in Anspruch nehmen müssen, sofern wir Selbstwissen für eine Tatsache des Bewusstseins halten“ (S 128 f.).
Das heißt: Die Nichterkennbarkeit des Absoluten, die Nicht – Durchschaubarkeit des Absoluten, das Nicht – Umgreifen des Absoluten durch den Menschen… ist also die zentrale Überzeugung der Frühromantik.

9.

Und diese Überzeugung gilt auch für Friedrich: „Der Sache nach ist er ein Künstler, ja auch ein Denker, der Absolutes als ein ebenso Unaufgebbares wie Unerreichbares anzielt“ (S. 132).
Manfred Frank weist darauf hin, dass Friedrich mit Schleiermacher am 12. September 1810 ein Gespräch zu den Thema führte, „vermutlich gerade über diesen Gegenstand: die Darstellung des Undarstellbaren und die absolute Abhängigkeit des Menschen von Gott – wobei zu bemerken ist, dass Schleiermacher auf den in unserem Sprachgebiet zur Bezeichnung des Woher unseres Abhängigkeitsgefühls eingebürgerten Ausdruck (Gott) NICHT besteht…Das Gespräch mit Schleiermacher fand im Umfeld der Arbeiten Friedrich am „Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ statt, die er Schleiermacher fast vollendet vorstellen konnte“ (S. 133 f.)

10.

Caspar David Friedrich hielt an der Religion fest, auch am Christentum, aber inhaltlich gedacht als eine Utopie, weil „die alte Kirche ruiniert, funktionsuntüchtig, in lebensfeindlichem Eis angesiedelt“ ist (S. 143). Wo wird diese Utopie sichtbar? Sie kann nur geahnt werden in der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen. Im Gemälde „Abtei im Eichwald“ überrascht die „wunderbar erlöschende Glut eines grenzenlos weit und leer gewordenen Himmels daran, dass es einmal eine Menschheit gab, die auf ihn ihre Hoffnung gesetzt hatten nun, im Zeitalter der allgemein gewordenen Entfremdung des Menschen vom Menschen keinen Ersatz mehr dafür weiß“ (S. 147).
Und Manfred Frank schlägt vor, einige Gedichtzeilen Friedrichs auf das Gemälde „Abtei im Eichwald“ zu beziehen. Es zeigt auch einige Mönche, wie sie zu der Ruine laufen, die tot wirkenden Bäume im Winter vor Augen. Caspar David Friedrich schreibt:

„Ja, ich sehe durch der Bäume Schimmer
Schwache Hoffnung, matten Schimmer
Weh mir, weh: es sind die Trümmer
Längst vergangener Herrlichkeit“
(S.149 in Frank, zit. in Friedrich, „Bekenntnisse“, S. 58, Leipzig 1924)

11.

Auswege für eine Spiritualität der Zukunft sieht Friedrich – das wird in vielen seiner Arbeiten deutlich – in der stillen Betrachtung der Natur in der Landschaft. Sie wird förmlich als „eine noch unverbrauchte Bildgattung für christliche Gedanken tragfähig gemacht“, wie Werner Hoffmann in seinem Ausstellungskatalog zu Caspar David Friedrich in der Kunsthalle Hamburg 1983 schreibt.
Die Hochachtung Friedrichs für die Natur der Landschaft ist unübersehbar. Nur im achtsamen Erleben der Landschaft, der Natur, des Mondes, kann ein neues persönliches lebendiges religiöses Gefühl entstehen. Man betrachte die Gemälde „Gebirgige Flusslandschaft“, „Meer mit aufgehender Sonne“, “Mondaufgang am Meer“, Elbschiff im Frühnebel“, „Ziehende Wolken“, „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ usw… Die überlieferten christlichen und kirchlichen Symbole sind verschwunden, haben sich überlebt. Wirksam ist für Friedrich nun das subjektive religiöse Erleben des Künstlers in der und mit der Landschaft, der Natur…Er stellt seine eigenen Einsichten in seinen Werken dar – ganz anders als die Nazarener, nämlich unabhängig von jeglicher kirchlicher Verwendung oder Propaganda.

12.

Friedrichs Arbeiten können auch heute ein Impuls für den einzelnen sein, die eigene Spiritualität zu entdecken – in der Natur, im Stillwerden, in der Betrachten, im Rückzug… Und heute ist entscheidend die Trauer über die von Menschen zerstörte, mißhandelte, kommerzialisierte nur noch so genannte Natur.

13.

Wird eine von der Kunst bewegteTrauer zu einer politischen-ökologischen Neuorientierung förmlich in letzter Minute führen? Man kann nur auf einen Übergang von ästhetischer Erfahrung zur politischen Aktion hoffen. Selbstverständlich oder üblich ist dieser Übergang allerdings nicht. Auch die Kirchen haben mit ihrer „absoluten – göttlichen Botschaft“ diesen Übergang zum politischen und ökologischen Handeln wirkungsvoll nicht geleistet. Oder hat sich etwa in der sogenannten christlichen und kirchlichen Welt die Naturmystik und der Natur“schutz“ à la Franz von Assisi politisch – ökologisch durchgesetzt?

14.

Weitere aktuelle Hinweise zur Spiritualität Caspar David Friedrichs und seinen “Kirchen als Ruinen” (veröffentlicht am 8.3.2024).

Die „Biografie über Caspar David Friedrich“, die Boris von Brauchitsch im Insel Verlag 2024 veröffentlicht, ergänzt und korrigiert unsere Hinweise zu einer gewissen Vorliebe Friedrichs für Kirchengebäude als Ruinen.

Von Brauchitsch zeigt: Caspar David Friedrich hat sich auch als Innenarchitekt bemüht, im Jahr 1818 bei der Gestaltung der Marienkirche in Stralsund konstruktive Vorschläge zu machen. Friedrich wollte unbedingt „formlosen Hausputz“ und „Überladungen“ im Innern der Kirche vermeiden (S. 184). Mit einem einzigen Blick sollten die in die Kirche Eintretenden sogleich das Ganze überschauen. Nur auf die Weise dieses Erlebens seien alle Kirchenbesucher wirklich als gleichwertige Menschen und gleichwertige Christen respektiert. „Alle sollen ebenbürtig sein, die sich in der Kirche versammeln“ (vgl. S. 184). Darin äußert sich der politische, den Freiheitsideen verpflichtete Caspar David Friedrich: „Der Reiche muss wenigstens an diesem Ort fühlen, dass er nicht mehr als der Arme ist. Und er Arme müßte den sichtbaren Trost haben, dass wir vor Gott alle gleich sind“ (S. 184). Nun ja, sehr revolutionär konnte diese Idee dann doch nicht sein, denn der Arme sollte ja nur den sichtbaren „Trost“ (sic) der Gleichheit aller Glaubenden und aller Menschen erleben.
Diese insgesamt konstruktiven Vorschläge Friedrichs wurden natürlich im Rahmen der Abhängigkeit der Kirche vom Staat damals abgelehnt.

Auch dies ist interessant:
Friedrich hatte weiterhin Interesse an der Gestaltung eines „idealen Ortes für die religiöse Andacht“ (S. 186), also für den Kirchenbau. Er dachte etwa an einen ovalen, überschaubaren Kirchenraum, „dem ebenfalls ein ovaler Platz vorgelagert ist“ (ebd.). „Dem Innenraum sollte somit ein gleichwertiger ovaler Außenraum zugeordnet sein, also dem Kulturraum ein Naturraum.“ (ebd.) „Umstehende Baumreihen verwandeln ihnen eine Art künstlicher Lichtung“ (ebd.).
Caspar David Friedrich als Architekt und Innenarchitekt muss also noch entdeckt werden? Wahrscheinlich.

In der wichtigen und empfehlenswerten Studie des ungarischen Literaturwissenschaftlers und philosophischen Autors László Földényi “Caspar David Friedrich” (Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2024) äußert sich Földényi zu unserem Thema “Kirchen als Ruinen im Werk Friedrichs”. Földényi erinnert etwa an die Darstellung der Greifswalder Jacobikirche als Ruine, er schreibt: „Über die Kritik an der herrschenden Religion bzw. über die Vision einer kommenden Religion hinaus wird in diesen Bildern die Bemühung spürbar, glauben zu wollen. Dieses unbestimmte Begehren erträgt feste Bindungen jedoch nur schwer, keinerlei Kirche vermag es restlos aufzunehmen. Das unendliche Begehren, von dem Friedrichs Malerei grundlegend determiniert ist, stellt aber die Existenz gottes nicht so sehr in Frage wie gerade diese Gotteshäuser: Sie sind ästhetische Krypten, die nicht Glauben, sondern Tod ausstrahlen.“ (S. 123)

Ein kurzer Hinweis auf eine Interpretation des Werkes C.D.Friedrichs durch Johann Hinrich Claussen. Ergänzt am 24.8.2024:

Johann Hinrich Claussen hat als Theologe und Pastor den Titel “Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.” Er ist auch Autor zahlreicher Bücher. Jetzt erschien von ihm “Eine Geschichte der chrstlichen Kunst.” Mit dem Ober – Titel “Gottesbilder”. Ch.H.Beck Verlag, 2024.

In dem Buch erwähnt Claussen auch Caspar David Friedrich (S. 229 – 233). Er zeichnet knapp dessen religiöses, theologisches Profil : “Friedrich verstand sich als frommen wie avancierten Protestanten, der eine Umformung des christlichen Glaubens ins Bild setzen wollte. In ihr verbanden sich Kritik und Konstruktion…Er löste sich von alten Glaubensbildern, um dem für ihn Wesentlichen eine neue Gestalt zu geben. In der Landschaftsmalerei konnte er auf zeitgemäße Weise religiöse Empfindungen darstellen und hervorrufen… Das Alte muss untergehen, damit Neues werden kann” (S. 232 und 233).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Die „Trinität“ (Dreifaltigkeit Gottes) als Dogma abschaffen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.6.2023

1.
Für die Frage nach Gott oder dem Göttlichen oder dem Ewigen oder dem „alles tragenden Lebenssinn“ interessieren sich noch viele Menschen.
Als zusätzliches Problem erscheint für die meisten die Frage nach der göttlichen Dreifaltigkeit, der Trinität. Dabei gilt dieses Dogma innerhalb der Kirchenleitungen als etwas „unterscheidend Christliches“, also in den herrschenden, sich „orthodox, rechtgläubig“ nennenden Kirchen, wie bei den Römischen Katholiken, den Orthodoxen, den Lutheranern, den Reformierten (Calvinisten etc.). Der folgende Beitrag zeigt, dass spirituelles Leben im Sinne Jesu von Nazareth selbstverständlich ohne das Trinitäts – Dogma sehr gut möglich ist.

2.
Der internationale geschätzte (Konzils-) Theologe Karl Rahner SJ schrieb 1973 in seinem Lexikonbeitrag „Trinitätstheologie (Herders Theologisches Taschenlexikon, Band 7, S. 353): „ Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Lehre von der Trinität im konkreten Leben der Christen und in der Predigt, wenn überhaupt, dann nur eine sehr bescheidene Rolle spielt“.
Einen Grund für diese diese treffend beschriebene Tatsache nennt Rahner leider nicht. Die Wahrheit ist: Die Trinitätslehre, das Dogma, ist so „äußerst hochkomplex“, so sehr und so heftig eingebunden in eine metaphysische Sprachwelt des 4. Jahrhunderts n.Chr., dass sie, von wenigen Spezialisten abgesehen, heute niemand mehr versteht. In dem genannten Taschenlexikon – für weite Kreise bestimmt – braucht Rahner immerhin 13 Seiten, um das schwierigste aller theologischen Themen zu erklären. Wer diesen Rahner – Text verstanden hat, also in heute nachvollziehbaren Worten wiedergeben kann, möge sich bei mir melden.

3.
Wie unter Theologen üblich, wird von Rahner nicht erwähnt, wie stark die imperiale kaiserliche Macht damals interessiert war, Jesus von Nazareth als göttlichen Pantokrator auszugeben, und zwar aus dem einfachen Grund: Die Kaiser wollten sich als Nachfolger dieses göttlichen Christus – Pantokrator absolut aufwerten. Solches Ausblenden politisch – ideologischer Zusammenhänge beim Entstehen von Dogmen ist typisch für eine breite Tradition katholischer Theologie in Europa. Deswegen ist sie auch so irrelevant.

4.
Rahner selbst gibt zu, dass die Trinität, so wörtlich, „ein absolutes Geheimnis“ ist, das auch „nach seiner Offenbarung nicht rational durchschaubar ist“ (ebd. S. 342). Die Trinität ist also nicht nur nicht rational durchschaubar, das wäre schon viel verlangt, sie ist als solche nicht einmal als Faktum rational erreichbar. Also ein „absolutes Geheimnis“.
Wer also dem Trinitätsdogma glaubend folgt, verzichtet bewusst auf jegliche Relevanz seines eigenen Geistes, seiner eigenen Vernunft. Diese Haltung, die zu dummem Schweigen führt, kann kein vernünftiger Mensch noch menschlich nennen. Menschen auf rational total bzw. absolut (!) Geheimnisvolles festzulegen, ist einzig Sache der so genannten Sekten, nicht aber der Menschen, die irgendwie den Lebensweg Jesu von Nazareth noch inspirierend finden und die Gottesfrage gerade mit ihrer Vernunft „klären“ wollen.

5.
Nur eine „Kostprobe“ zu trinitarischen Formeln, sehr dicht an dem offiziellen, bis heute in Messen etc. gesprochenen Glaubensbekenntnis:
Es handelt sich demnach bei der Trinität um eine transzendente, himmlische real existierende Idee: Es ist der eine Gott mit einem Wesen und drei Hypotasen („Personen“) im „Himmel“. Gott selbst ist als erste „Person“ der Vater; die zweite Hypotase („Person“) trägt den Namen Christus. Er wurde „vor aller Zeit gezeugt“ (ohne Anwesenheit von Frauen, dann aber irgendwie auch himmlisch „geboren“). Dieser Christus hat zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche. Aber immerhin ist diese Hypotase so wirkungsvoll, dass aus ihm wie auch aus dem Vater der heilige Geist „ausgeht“ (im Sinne eines „Hervorgangs“, sagt die offizielle Deutung, was immer das bedeuten mag, CM). Die orthodoxen Kirchen des Osten behaupten nun, dass der heilige Geist nur aus dem Vater ausgeht! Wegen dieser „verknallten Spekulation“ kam es letztlich auch zum Bruch zwischen West – Kirche und Ost – Kirche … bis heute. Dieser heilige Geist wird in der christlichen Ikonographie als Taube dargestellt, (nebenbei: ob als „Ringeltaube“ ist umstritten, hübsch wäre auch die „Rotschwanz-Fruchttaube“, CM). Wer noch eine Nuance Rahners mag, etwa zur Zahl „drei“ innerhalb der Trinität: „Vater, Sohn und Geist können in Gott `drei` gezählt werden, wobei man sich allerdings dessen bewusst sein muss, dass man das zusammenzählt, was als reiner Unterschied im numerischen Einen der Wesenheit nicht unter einen Begriff einer Menge von Gleichartigem gebracht werden kann und darf“ ( ebd. S 351).

6.
Nun hat die zweite Person der himmlischen Trinität, der Sohn bzw. der Logos, einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt die intern göttliche Welt verlassen und hat „Fleisch angenommen“, wie es offiziell heißt, in der Person Jesus von Nazareth, der von ca 1 nach unserer Zeitrechnung bis ca. 35 lebte. Zu dieser Zeit muss als in der himmlischen Trinität die zweite Person (der „Sohn“) gefehlt haben. Es gab also einmal – in diesem Denken – einmal einige nicht – trinitarische „Momente“ innerhalb der himmlischen Trinität: Dies nur als kleine Kostprobe zu den Fragen, die sich spekulativ ergeben… Und die ganze klassische Dreifaltigkeitstheologie fragwürdig erscheinen lassen.

7.
Die Trinitätslehre aus dem 4.Jh. (man hat darüber gerätselt und debattiert und publiziert mindestens bis zum Konzil von Florenz 1439) ist, vornehm ausgedrückt, heute eine überflüssige Alt-Last, weniger vornehm: ein störender Klumpen, ein Ballast, den es nun endlich beiseite zu legen gilt … als Akt der Befreiung.

8.
Die „Trinität“ ist für uns also nicht mehr als ein uraltes, jetzt nur noch für Historiker interessantes Bild, so, wie die religiöse Rede von Engeln im Christentum nichts als ein hübsches, aber letztlich überflüssiges Bild ist. Die außer – christliche Esoterik interessiert sich leidenschaftlich für die Engel, Pater Anselm Grün, der viel – schreibende Benediktiner, auch… Auch der Mythos von der Erbsünde ist nichts als ein Bild, aber kein Dogma mehr, sagen vernünftige Theologinnen heute. Dasselbe gilt für die Rede von der „unbefleckten Jungfrau Maria“.

9.
Dass damit ein Diskussionsfeld eröffnet wird, in dem die Konservativen, die Reaktionären und Traditionalisten alle ihre angeblich scharfen Argumente noch einmal gegen angeblich „böse Irrlehrer“ vorführen, ist klar. Die sich „rechtgläubig“ nennenden Kirchen (also römische Katholiken, Orthodoxe aller Couleur, Lutheraner, Calvinisten …) haben im Laufe ihrer Herrschaftsgeschichte bewiesen, wie sie mit dogmatischen Erneuern und Reformatoren gerade hinsichtlich der „Trinität“ umgehen: Der Theologe Michel Servet (bekannt und geschätzt durch sein Werk „De trinitatis erroribus“, 1531) wurde vom Reformator Calvin am 26. Oktober 1553 öffentlich in Genf (!) verbrannt. Die Theologen Sozzini (etwa Fausto Sozzini 1539-1604) als argumentierende und hoch gebildete Anti-Trinitarier und ihre kleine mutige Gemeinschaft der „Polnischen Brüder“ wurden verfolgt usw. An die Vorbehalte des großen Theologen Erasmus gegen die Trinitäts – Lehre müsste erinnert werden oder auch an die heute noch bestehende freisinnige christliche Kirche der Remonstranten. Ihr offenes Glaubensbekenntnis von 2006 versucht die göttliche Wirklichkeit jenseits trinitarischer Formeln auszusagen, ein einmaliger Vorgang in einer christlichen Kirche heute. LINK.

10.
Seit einigen Jahren haben sogar wenige katholische Theologen den Mut, ihre Zweifel an der offiziellen „Trinitätslehre“ öffentlich zu äußern. Ich denke da vor allem an Professor Edward Schillebeeckx, der lange Jahre als Theologe an der Universität Nijmegen lehrte. In dem Interview-Buch „Edward Schillebeeckx im Gespräch“ (Luzern 1994, Edition Exodus) sagt Schillebeeckx klar und deutlich: „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitätstheologie fast ein Agnostiker“ (S. 107). Zuvor hat er in wenigen Sätzen erklärt, was ihn zu dieser Erkenntnis geführt hat: „Im Glaubensbekenntnis geht es nicht um die drei göttlichen Personen…Ich glaube an den heiligen Geist, der für mich allerdings ein großes Problem darstellt. In der Bibel ist der heilige Geist ein Geschenk, nicht eine dritte Person: Er ist die Seinsweise Gottes selbst, der sich den Menschen als Geschenk gibt“ (S. 106).

11.
Damit bietet Schlillebeeckx entscheidende Hinweise: Gott selbst ist, wenn man schon sprachlich sich auf ihn bezieht, nur als Geist denkbar, auch nicht als „Person“ im landläufigen Sinne, schon gar nicht als Materie, als Klotz, als Stein oder was… Sondern als ewiger Geist, und weil Geist, eben auch lebendig- tätig- schöpferisch. Auch Geist kann im populären Verständnis von „Geistern“ etc. falsche Assoziationen wecken… Auch „Geist“ als Beschreibung des Ewigen, Göttlichen, ist also sehr differenziert zu verstehen.

12.
Zunächst folgen wir der Spur, die zu einem neuem Verständnis des „heiligen Geistes“ führt, der nicht als göttliche „Person“ verstanden werden sollte.
Unser Ausgangspunkt ist die menschliche Selbsterfahrung des Geistes: Im menschlichen Geist als Vernunft, als Emotion, zusammengefasst als „Seele“, gestalten wir unser menschliches humanes Leben, mit allen seinen vielfältigen Produktionen des Geistes und der Vernunft, mit seinen ständigen Reflexionen und Entscheidungen, auch zwischen Böse und Gut, um es klassisch moral-philosophisch zu sagen.
Es unser Geist, der seine Lebendigkeit zeigt. Aber was soll dann noch ein heiliger Geist, offenbar ein zusätzlicher Geist in uns? Wann und wo und wie wirkt denn dieser zweite Geist in uns? Etwa nur, wenn es sich um explizit religiöse und spirituelle Fragen handelt?
Aber kann der allgemeine, der menschliche Geist nicht von sich aus auch in der Auseinandersetzung mit Lebensfragen, in der Begegnung mit Kunst usw. Spuren der Transzendenz und des Göttlichen entdecken? Lehrt nicht sogar die katholische Kirche im Ersten Vatikanischen Konzil schon, dass der „natürliche“, also der allgemeine menschliche Geist Gott erkennen kann? Wozu dann noch diese behauptete doppelte Geist – Struktur in der einen geistigen Selbsterfahrung des Menschen? Kann der menschliche Geist nicht von sich auch Erstaunliches, wunderbar Genanntes, erleben?

13.
Die Rede von einem zusätzlichen, zweiten Geist, einem heiligen Geist, im Menschen ist also überflüssig.
Aber was bedeutet dann die literarische Erzählung im Neuen Testament von der Begeisterung der ersten kleinen Gemeinde, die behauptet, zu „Pfingsten“ mit dem heiligen Geist beschenkt worden zu sein? Unsere Antwort: Diese ersten Christen fühlten sich durch ihren eigenen Geist ermutigt, als kleine Gemeinschaft weiter zu leben und ihren Glauben weiter zu gestalten: Diese allgemein menschliche Einsicht, Reflexion und Entscheidung, deuteten sie bei dem damals religiös-kulturell üblichen Enthusiasmus als besondere Gabe Gottes, als besonderen, gegenüber dem eigenen Geist noch zusätzlich gegeben göttlichen, heiligen Geist. Diese Deutung von „Pfingsten“ durch die ersten Christen ist also kulturell bedingte Deutung anzusehen.
Diese ersten Christen hatten wie alle anderen Menschen ihren Geist, ihre Vernunft, ihre Emotionen usw. Und dieser Geist der Menschen ist – theologisch gesehen – der Geist, den der unendliche „Schöpfer“ der Evolution der Welt und der Menschen den Menschen erschaffen hat. Es ist also der von Gott geschaffene Geist (Vernunft) im Menschen, der auch zu religiösen Erkenntnissen führt. Einen zweiten, im Menschen irgendwie und irgendwann wunderbar wirkenden zusätzlichen göttlichen Geist braucht die Menschheit nicht. Denn der menschliche Geist (Vernunft) als Gottes Schöpfung ist heilig.

14.
Mit dieser Skizze wird deutlich: Der so genannte heilige Geist ist eine vom Überschwang bestimmte Konstruktion. Der heilige Geist ist also keine Person einer göttlichen Trinität: Denn Gott selbst ist schöpferischer Geist, der seinen Geist der evolutiven Welt (und den Menschen) mit – teilt…Es gilt also „Gott als den Ewigen als absolute Einheit zu denken“ (vgl. Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung“, Frankfurt/Mn., 2020, S 354)

15.
Es bleibt die Frage, wie denn Jesus von Nazareth als Logos in die „Trinität“ als die „zweite Person“ hineingesetzt werden konnte. Dazu hat der katholische Theologe Prof. em. Hermann Häring (Tübingen) in PUBLIK-FORUM( Heft 10/2023, S. 36 f.) einige Hinweise gegeben unter dem Titel „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“. Häring schreibt: „Jesus hat sich nie als Teil einer Trinität verstanden, der ihm zugeschriebene Titel Sohn Gottes ist meilenweit entfernt von der zweiten innergöttlichen Person… Unser Bruder Jesus ist zum Träger von Gott gegebener Weisheit geworden. Dazu braucht es keine Dreifaltigkeit“ (S. 36). Im leider ziemlich knappen Beitrag betont Häring treffend: „Man habe in der Kirche diesen Trinitätsglauben aus kindlichem Glaubensgehorsam bewahrt“ (S. 37). Und er schlägt wie auch der Autor dieses Hinweises „eine Generalrevision unserer Glaubenskonstrukte“ vor (ebd.)

16.
Man muss den genannten Spuren folgen und „Jesus von Nazareth“ endlich wieder als Menschen sehen, als „unseren Bruder“, bezeichnen und als solchen auch religiös respektieren. Jesus von Nazareth ist einer von uns Menschen. Er zeigt in seinem Leben, dass er wie die Menschen überhaupt mit kreativem menschlichen Geist, als der Gabe des schöpferischen Gottes, ausgestattet, „beschenkt“, ist. Mit anderen Worten: Jesus von Nazareth zeigt, dass alle Menschen als Geschöpfe Gottes gemeinsam gleichberechtigte Brüder und Schwestern sind, im Bild gesprochen des einen „schöpferischen Vaters“…Es ist also die eine geistvolle Menschheit gemeint, die sich auch in Kirchen sammeln kann, um diese Erinnerung an den einen „Vater“ aller aktuell, auch politisch, aber auch meditativ lebendig zu gestalten.

17.
Aus der „Trinität“ ist also nicht nur der „heilige Geist“ als Person bzw. als Taube befreit. Aus der Trinität ist auch Jesus von Nazareth befreit. Was bleibt? Der eine ewige Gott, den viele als den geistvollen Schöpfer der evolutiven Welt und der Menschen ansehen und verehren, mit religiösen Menschen anderer Religionen…

18.
Aber auch bei diesem Bild, das sinnvoller und geistvoller,„vernünftiger“ und biblischer ist als das Bild „Trinität“, bleiben Fragen: In der Mystik und bei wenigen zeitgenössischen Theologen wird das Bild Trinität oder das Bild des einen schöpferischen Gottes noch einmal weiterentwickelt bzw. überwunden. Denn das Bild des einen schöpferischen Gottes lässt viele Probleme offen: Der schöpferische Gott hat den Menschen als Freiheit geschaffen, aber: Diese von Gott geschaffene Freiheit kann der Mensch auch zum Bösen, Krieg etc. gestalten. Das heißt doch wohl: Dass damit auch Gott als der Schöpfer dieser menschlichen Freiheit ins Böse mit hineingezogen wird.

19.
Gibt es also noch einen größeren Gott als das Bild des schöpferischen Gottes (vielleicht auch klassisch noch als Trinität)?
Meister Eckart (1260-1328) dachte an die „Gottheit“, sozusagen an den „Gott über Gott“. In seiner „deutschen Predigt“ mit dem Titel „Selig die Armen“, bezogen auf Matthäus 5,3 heißt es: “Darum bitte ich Gott, dass er mich Gott-los (wörtlich Gottes quitt) mache. Denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von `Gott`, sofern wir Gott als Ursprung der Welt fassen“(vgl. „Meister Eckart. Einheit mit Gott“, hg. von Dietmar Mieth, Düsseldorf 2002, S. 154). Es geht also bei diesem Gott über „Gott“ um eine Idee über allem Sein und über aller Unterschiedenheit…
Auch Paul Tillich dachte Gott jenseits eines Theismus, der sich auf drei göttliche Personen bezieht. Eine authentische religiöse Lebensform ist für Tillich „Der Mut zum Sein“, der seinen Halt findet in dem „Gott über Gott“ (GW XI. S. 138 f). Siehe auch: “Paul Tillich” von Werner Schüssler und Erdmann Sturm, Darmstadt, 2007, S. 163ff): “Die Idee von dem Gott über Gott, dem letzten Grund allen Seins,  der erschient, wenn der Gott , dem wir Namen geben, versunken ist – , mag mir in der unbewussten Erinnerung an Dionysios (Areeopagita) gekommen sein” (S. 166). “Gott über Gott” ist also ursprünglich ein neuplatonischer Gedanke….

20.
Was also ist erreicht in dem hier nur angedeuteten Versuch, das Dogma der Trinität beiseite zu legen und für eine „einfache“ Spiritualität zu plädieren?
Es wurde beispielhaft gezeigt, dass eine moderne Theologie und ihr folgend Kirchen, die den Begriff modern für angemessen und richtig finden, (denk-)möglich sind. Dieser Hinweis will von Begriffen und Lehren befreien, die nur noch wie altes, verstaubtes Mobiliar in den Kirchen herumstehen und nur Historiker noch interessieren dürfen.
Spirituelle Christen können sich also vom Ballast der Traditionen lossagen, befreien, wenn sie denn nicht von Angst vor dem Klerus bestimmt bleiben wollen.
Und wichtig ist, dass Theologie wieder sich eine sehr lebhafte, erneuerungsbereite kritische Forschung zeigt…

21.
Wie sich diese von der alten „Trinität“ befreite Theologie zu den vielfältigen Formen der Unitarier bzw. unitarischen Kirchen verhält, ist eine andere Frage. Sie kann hier nicht beantwortet werden, weil die unitarischen Glaubensformen selbst noch sehr bezogen sind auf die alte, „klassische“ Trinitätstheologie.
Unser Vorschlag geht ja dahin, den Gedanken Gott über „Gott“ im Sinne Meister Eckarts neu zu denken, von diesem „anderen“ Denken wären dann auch die unitarischen Glaubensformen betroffen.

22. Zusammenfassung:

Gott als der Ewige, der letzte Grund unseres Seins, ist Geist.

Jesus von Nazareth ist Vorbild und Inspiration für ein “menschliches Leben”, das diesen Namen verdient.

Der Geist ist heilig, weil er als Gottes Schöpfung im Menschen anwesend ist, als das Belebende, lebendig Machende.

Die Konsequenzen dieser Theologie sind deutlich:

Wir brauchen keine Ideologie der Erbsünde mehr, wir brauchen keine Klerus-Macht, sondern die Gemeinschaft der spirituell Suchenden, einander Ermunternden…

Selbstverständlich wird dann auch die so genannte Erlösungs-Lehre der Kirchen neu gesehen: Der “Logos”, der vom Himmel herabsteigt und “Fleisch annimmt”, (Weihnachten!!), wird durch das Bild ersetzt: Jesus von Nazareth ist ein Vorbild der Menschlichkeit. Ihm in seiner Menschenfreundlichkeit zu folgen, kann erlösend sein. Aber nicht die metaphysische Kraft eines vom Himmel herabgestiegenen Logos (also die 2. Person der Trinität).

Eine gewisse, ganz andere “Trinität”, also dann doch. Aber eine  nachvollziehbare, nicht als total “geheimnisvoll” behauptete…

Eine andere “Trinität”, die zu denken … und zu leben gibt – auch im Gespräch mit anderen Religionen und Konfessionen, mit den Kulturen und anderen “Darstellungen” des Geistes…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Diktaturen – sozialistisch/kommunistisch und katholisch/vatikanisch: Hinweis auf einen Systemvergleich.

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Dies könnte der Beginn eines Forschungs-Projektes, Juni 2023, sein. Damit ist gesagt: Es bedarf einer gewissen kritischen Begeisterung zu fragen, zu forschen, um den hier vorgestellten Systemvergleich mitzuvollziehen und weiter zu gestalten.

Mit diesem Systemvergleich steht der “Religionsphilosophische Salon Berlin” natürlich nicht allein da. Im DRITTEN KAPITEL (Nr. 19) wird gezeigt, dass Philosophen mit katholischem und/oder auch mit marxistisch-kommunistischem Hintergrund diesen Systemvergleich ebenfalls darstellen…Also: Leszek Kolakowski (Polen/England), Reymond Geuss (USA/England)….

ERSTES KAPITEL: Die sanften Modernisierungen und scheinbaren Demokratisierungen in beiden Systemen.

1.
Der System-Vergleich real-sozialistischer (kommunistischer) Herrschaftsformen, d.h. Diktaturen, mit der uneingeschränkten Klerusherrschaft in der Theokratie Vatikan, mit einem unfehlbaren Papst an der Spitze, war etliche Jahre üblich, und dieser Systemvergleich ist als Analyse immer noch treffend: Daran wird im folgenden noch einmal – weiter unten – erinnert.

Beide Herrschaftssysteme stehen einem Struktur – Vergleich zur Verfügung, weil beide aufgrund ihrer Ideologie überzeugt sind, “die”  Wahrheit für die ganze Menschheit zu besitzen. Und weil beide Herrschaftsysteme immer von Führern geleitet werden, die nicht aus demokratischen Wahlen der betroffenen Bevölkerung oder der Masse der Glaubenden zur Herrschaft gelangt sind. Sondern aus Kreisen gewählt wurden und werden, die diese Herrscher selbst im eigenen Interesse berufen haben (Zentralkomitee der Partei bzw. Kardinalskollegium, berufen durch den Papst). Mit diesem Vergleich der Strukturen wird nicht eine Vergleichbarkeit oder gar seelische “Identität” der realen Personen (Parteichef oder Papst etc.) unterstellt. Es geht um Strukturen, nicht um das je verschiedene persönliche Profil der Herrscher.

Dieser Vergleich der Strukturen hat einen aktuellen Bezug: Er kann etwa die Möglichkeiten und Grenzen von Reformen in beiden Systemen aufzeigen und Hoffnungen auf “Demokratiesierung” beider Systeme in den sehr begrenzten Rahmen setzen. Für manche LeserInnen aus katholischen Kreisen kann also dieser Beitrag hier zur Ernüchterung führen und die Frage drängend machen: Wie setze ich meine Lebenszeit am besten ein für das Überleben der Menschheit, für die Abwehr der weiteren Klimakatastrophen, für die Überwindung der Ungerechtigkeit der Reichen gegenüber den meisten Menschen im “globalen Süden” und so weiter. Wahrscheinlich entdeckt “man” dann im Engagement mit anderen seine eigene Spiritualität oder sucht sich in aller Freiheit seine eigene, seine “einfache”, jesuanische, in jedem Fall nicht-hierarchische  Spiritualität. Also außerhalb des römischen Systems.

2.
Aber schon an dieser Stelle wird auf eine weitere Aktualität des Thema hingewiesen: Denn dieser Systemvergleich (Kommunismus – katholische Kirche) hat seit etlichen Jahren eine neue Dimension erreicht: Bekanntlich gibt es kein kommunistisches Sowjet-Imperium mehr, das üblicherweise mit der vatikanischen Theokratie verglichen werden könnte.

3.
Sondern jetzt steht das Kommunistische China – Imperium mit seiner kapitalistischen (modernen) Ökonomie als Beispiel des Systemvergleichs im Mittelpunkt. Auch wenn der chinesische kommunistische Alleinherrscher Xi immer wieder betont: „Unsere Modernisierung bedeutet nicht Verwestlichung“, so gibt sich China im ganzen de facto (nur) nach außen hin (!) sehr westlich, denn es kann gar nicht auf die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der europäischen-amerikanischen Moderne verzichten. Die Spionage Chinas u.a. in der Forschung des Westens ist bekannt…

4.
Und auch der Vatikan als Theokratie gibt sich unter Papst Franziskus nach außen hin seit einigen Jahren etwas moderner, d.h. demokratischer, man möchte sagen etwas sympathischer, dem Anschein nach: Denn nun heißt das vatikanische Leitwort „Synode”, also gemeinsames Beraten von Klerikern aber auch mit einigen vom Klerus ausgewählten Laien und Nonnen. Die Verlogenheit im Umgang mit dem „Synoden“ Begriff wird schnell deutlich: Diese Synodalen können zwar Mehrheits – Beschlüsse fassen, aber diese haben keine bedeutende Wirkung: Denn allein der Papst entscheidet, ob diese Beschlüsse auch „realisiert“ werden. Wer es noch nicht weißt: Auch Papst Franziskus ist der absolute Herrscher über die Kirche. (Siehe das “Kanonische Rexcht” von 1984, Kanon 331.

Die Allmacht des Papstes im Umgang mit Synoden: Ein Beispiel: Die „Amazonas-Synode“ (2019) von Bischöfen und wenigen Laien in Rom forderte die Aufhebung des Zölibatsgesetzes für die dortigen Priester: Aber der Papst realisierte danach nicht diesen Mehrheitsbeschluss. Dazu hat der Bischof em. vom Amazonas, Erwin Kräutler, seine treffende Meinung im Juni 2023 veröffentlicht. LINK.

Zur Weltsynode in Rom (Oktober 2023) hat Papst Franziskus nun wie üblich eigenmächig bestimmte Kleriker als Mitglieder berufen,, etwa Kardinal Gerhard Ludwig Müller, einen der reaktionärsten Kirchen-Fürsten heute. Er ist in dieser Synode als Kleriker selbstverständlich stimmberechtigt… Er kann also reaktionäre Positionen unterstützen und mit seinen Freunden durchsetzen…

Auch in Deutschland hgab es eine gewisse Synoden-Begeisterung unter Katholiken: Aber die Engagierten wissen – oft uneingestanden – genau: Alle ihre demokratischen Mehrheits-Entscheidungen müssen vom Papst abgesegnet werden. Globale Reformen, wie in Deutschland gewünscht („Priestertum der Frauen“), sind nur eine Utopie, über die man Jahrzehnte lang reden kann. Offiziell heißt es vom „Synodalen Prozess“ in Deutschland im Jahr 2022: „Über die Umsetzung von Beschlüssen, die eine weltkirchliche Relevanz entfalten, entscheidet der Apostolische Stuhl, also der Papst…Entsprechende Beschlüsse der Synodalversammlung müssen als Votum der Kirche in Deutschland an Rom gerichtet werden.“

5.
Mit anderen Worten: Es gibt eine überraschende begrenzte Parallele zu Xi und seinem Modernisierungsprogramm: Nur nach außen hin gibt man sich in Peking westlich. So, wie die Theokratie Vatikan etwas moderner, etwas demokratisch nach außen hin tut. „Synode hurra“ möchte man sagen, ohne dass nun die Prinzipien der Moderne und der Demokratie von der Theokratie Vatikan respektiert werden. Ein frommer Schein wird von den Theokraten geweckt … und den Engagierten ihre Lebens-Zeit gestohlen…Wie sinnlos und ergebnislos war damals letztendlich die Würzburger Synode (1971-1975)? Wie sinnlos und frustrierend das „Niederländische Pastoralkonzil“ (1966-1970): Alle richtigen Reformvorschläge der Mehrheit dort wurden von den Herren der Theokratie im Vatikan zurückgewiesen… Und die katholische Kirche der Niederlande in den Niedergang geführt.

6.
Es könnte manche fromme Seele erstaunt sein, wenn der Vatikan hier eine Theokratie genannt wird: Aber diese Bezeichnung ist unter Politologen üblich, denn der Vatikan als Herrschaftsform ist allein religiös legitimiert, und zwar durch den einen Satz im Neuen Testament, in dem Jesus von Nazareth dem Fischer Petrus eine Sonderrolle als „Chef“ seiner imaginierten Kirche zuweist (siehe Matthäus-Evangelium 16,18). Unter Historikern und kritischen Bibelwissenschaftlern ist heute eindeutige Überzeugung: Jesus von Nazareth dachte nicht im entferntesten daran, eine Kirche zu gründen, dazu war seine Erwartung eines baldigen Endes des Welt viel zu dominant. Und einen Fischer Petrus (übrigens verheiratet! und sicher Analphabet) als Papst konnte sich der Wanderprediger Jesus nun auch nicht vorstellen.
Aber die Kleriker im Vatikan haben zur Rechtfertigung ihrer Macht die Interpretation dieser Bibelstelle absolut „gepachtet“. Sie sind die einzig gültigen Interpreten.
„Theokratie“ bezogen auf den Vatikan heißt ja nicht, dass Gott selbst unmittelbar vom Himmel aus rein regiert in die Welt. Theokratie bedeutet, dass es eine Gruppe von Klerikern gibt, die den heiligen Text der Bibel so deutet, dass nur sie die einzig gültigen Interpreten ist. Diese Herren Kleriker (es sind immer Männer) stehen also gleichsam auf Gottes Seite und sind, wie der Papst in entscheidenden Glaubens – und Moralfragen sogar unfehlbar. Das heißt nichts anderes: In ihnen und durch sie spricht dann Gott selbst… behaupten diese Leute, die noch von Laien und einfachen Pfarren und Ordensleuten als „Hochwürden“ oder „Heiliger Vater“ verehrt werden…

7.
Aber das vatikanische Imperium als Theokratie wird dann auch im weltweit verbreiteten „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) urbi et orbi gelehrt: „Christus selbst ist der Urheber des Amtes (also des Papst-Amtes) in der Kirche. Christus hat es eingesetzt, ihm Vollmacht und Sendung, Ausrichtung und Zielsetzung gegeben“ (§ 874 im „Katechismus der katholischen Kirche“, S. 259). Es wäre also eine Gotteslästerung, wenn der Papst dieser „Einsetzung des Amtes“ durch Christus persönlich widersprechen würde oder wenn er das Amt in der bestehenden Form grundlegend reformieren oder gar aufgeben würde. Die klerikale Theokratie ist also wie Gott selbst „ewig“, soll man denken.

8.
Um noch einen Moment beim Vergleich China von Xi und dem nun etwas demokratisch erscheinenden Vatikan zu bleiben:
Xi will eine weltpolitische Rolle spielen, als Vermittler auftreten, als Friedensstifter im Krieg Russlands gegen die Ukraine

Der Papst will auch weltpolitisch eine große Rolle spielen, deswegen die diplomatischen Bemühungen von Papst Franziskus etwa um Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Deswegen das starke Drängen des Papstes seit Monaten, mit Patriarch Kyrill von Moskau in gutem Einvernehmen zu sein.

Dabei spielt der Papst seine übliche Doppel-Rolle aus: Einerseits ist er Staatschef des Staates Vatikan-Stadt, andererseits auch spiritueller Führer der katholischen Kirche und ihrer Gläubigen. Der Papst ist spirituell der Inhaber des “Heiligen Stuhls”, ein Titel, bezogen auf einen imaginären Stuhl des heiligen Petrus, den angeblich Jesus von nazareth zum ersten Papst auserwählt hat… und diese Rolle als Inhaber des “Heiligen Stuhls” ist am wichtigsten. In der Herrschaft über den “Heiligen Stuhl” bündeln sich die Leitungsaufgaben der katholischen Kirche UND des Staates Vatikanstadt”, wie der italienische Kassationsgerichtshof 1979 die Sachlage klärte.(Siehe dazu: Corrado Augias, “Die Geheimnisses des Vatikan”, München 2011, S. 439). Die Botschafter des Papstes (Nuntien) in fast allen Ländern repräsentieren also den “Heiligen Stuhl”, also die umfassende religiöse wie politische Macht des Papstes….  so wie auch die ausländischen Botschafter  beim “Heiligen Stuhl” in Rom akkrediert sind … und nicht beim Staat Vatikanstadt. Noch einmal: Der “Heilige Stuhl” ist Völkerrechtssubjekt! Ein Völkerrechtssubjekt, das eine Theokratie oder anders gesagt eine Wahl-Monarchie ist, diese päpstliche Herrschaftsform kennt keine übliche Gewaltenteilung, keine durch eine Verfassung begrenzte Macht des Monarchen (des Papstes).

Welch ein intellektueller Tiefpunkt, welche Ideologie, wenn ein Theologieprofessor und Kardinal, Gerhard Ludwig Müller, lange Jahre Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan,  in seinem Buch “Der Papst” (Herder Verlag, 2017)  514 lapidar behauptet:” Der päpstliche Primat hat grundsätzloich nichts mit einer monarchischen und sonstigen Form von Machtausübung zu tun”.

Der Papst ist also absoluter geistlicher Führer für 1,3 Milliarden KatholiKinnen und  Staatschef des Minimal Staates Vatikanstadt (Größe 0,44 Quadratkilometer, 618 Staatsbürger).

ZWEITES Kapitel: Ein Systemvergleich: Real-Sozialistische /Kommunistische Diktaturen und die päpstliche Theokratie.

9. Zur Vertiefung:
Auf die Notwendigkeit einer Untersuchung einer Strukturanalogie von Religion (in unserem Fall Katholizismus) und sozialistischer Diktatur wird man immer wieder von verschiedener Seite aufmerksam gemacht. „Es gibt eine Strukturanalogie zwischen Religion und einer sozialistischen Diktatur… Wie der Papst beanspruchten auch die sozialistischen Parteiführer eine Generalkompetenz über alle Werte-Entscheidungen“, schreibt der Philosoph Harry Lehmann (Berlin) in der Kultur-Zeitschrift „Lettre International“, Winter 2021, Seite 26.
Auf eine „Strukturanalogie“ von Katholizismus und sozialistischen bzw. kommunistischen Diktaturen wurde schon mehrfach auch von großen katholischen Theologen hingewiesen, wie etwa von Hans Küng: „Die Kirche ist von einer Gemeinschaft der Gläubigen zu einer geistlichen Diktatur geworden“, schrieb Küng 2011 in seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“. Und: „Der biblische Jesus Christus hat die Päpste beim Ausbau ihrer Macht gestört und er ist durch ein selbstfabriziertes Kirchenrecht verdrängt worden“. Unter vielen Quellenverweisen nur diese: LINK  . Und noch einmal Küng: „Ohne ein Ende des römischen Hofstaats wird auch einem neuen Papst kein Durchbruch und Aufbruch gelingen“, sagte Küng. Quelle:LINK
Man erinnere sich auch an die heftige Kritik an der Bürokratie im „vatikanischen Hofstaat“ durch den international hoch geschätzten katholischen Theologen Karl Rahner SJ: Es gibt viele Stellungnahmen, Interviews, Zeitungsbeiträge Rahners, die seine Ablehnung des römischen Herrschaftssystems belegen: So nannte er vatikanische Theologen tatsächlich „Bonzen“, im Sinne von ideologisch verblendeten Partei-Bonzen oder Partei-Genossen in sozialistischen Diktaturen. (Quelle: Herbert Vorgrimler, „Karl Rahner verstehen“, Topos Taschenbücher 2002, S. 117.)

10.
Eine kurze Darstellung der Analogie der beiden Systeme:

Die sozialistischen (kommunistischen) Diktaturen (in Zukunft SD abgekürzt) beziehen sich auf eine Gründergestalt (bzw. mit Friedrich Engels auf eine zweite): Karl Marx. Beide dachten nicht im entferntesten an den Stalinismus.
Die katholische Theokratie (KT abgekürzt) bezieht sich auf die Gründergestalt Jesus von Nazareth bzw. „Jesus Christus“ oder nur „Christus“. Aber von der Bibelwissenschaft her ist eindeutig: Jesu hat gar kein Kirche begründen wollen und können…

Das grundlegende Buch in den SD ist „Das Kapital“.
Das grundlegende Buch in der KT ist die Bibel bzw. vor allem das „Neue Testament“. Das „Kapital“ ist keine Anleitung für den Stalinismus, das „Neue Testament ist keine Anleitung für die Hexenverfolgungen oder die Verbrennung von angeblichen Irrlehrern.

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches beansprucht die KP-Parteiführung bzw. die Führung der Sozialistischen Partei (etwa SED). Ihr Selbstverständnis drückt sich etwa in dem bekannten Kampf-Lied aus „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“ (Es ist raffinierterweise die anonyme „Partei“, nicht ein konkreter Parteiführer, der recht hat…

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches „Neues Testament“ beansprucht in der KT der Papst bzw. die von ihm eingesetzten Bischöfe und dann in der Hierarchie die von Bischöfen geweihten Kleriker. Ihr Selbstverständnis drückt sich in dem Lied „Fest soll mein Taufbund immer stehen“ aus, besonders in dem Vers „Ich will die Kirche hören, sie soll mich allzeit folgsam sehen und gehorsam ihren Lehren“… „Die Kirche“ hören, nicht einen konkreten Bischof…

Die Partei (d.i. das Zentralkomitee, ZK) beansprucht, „die” Wahrheit, die einzige wahre Wahrheit , zu „haben“, für alle Bereiche des Lebens. Sie will diese Wahrheit international ausbreiten (Beispiel: im Ostblock durch die KPDSU etc.).

Die Entwicklung des Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitschin “Die Zeit”, 29.Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel wie in einer Welt aus Beton…

Die Kirche (d.i. der Papst und die von ihm ernannten Bischöfe) beansprucht „die” Wahrheit, die einzige, für alle Bereiche des Lebens, auch der Politik und der Sexualität, zu „haben“ und allen Menschen mitzuteilen (darum weltweite Mission). Man denke an das Reinreden der Kirchenführer in die Sexualmoral der Katholiken…

Wer „die“ Wahrheit nicht annimmt und nach außen bekennt, möglichst wortwörtlich, wird vom ZK wie auch von der Glaubensbehörde (Heiliges Offizium) kritisiert, ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet. Die Ketzerverfolgung in der katholischen Kirche hat natürlich eine viel umfassendere längere Tradition aufgrund des längeren Bestandes dieser Institution Kirche…

„Die Lehre“ wird vom ZK der SD bestimmt und bei Parteitagen manchmal geändert. Die kommunistischen Basis-Dogmen bleiben aber unberührt, etwa die führende Rolle der KP oder SED usw. Damit schützt sich die Parteiführung, wohlwissend, dass ihr totalitärer Anspruch der absoluten Führung von Marx gar nicht gefordert wird.

Die Kirchen-Lehre wird vom Papst und seinen Gremien, auch vom Konzil, das dem Papst untersteht, gelegentlich moderat verändert, etwa: „Landessprache in der Messe“ seit 1965, „Religionsfreiheit ist kein Verbrechen“ oder Möglichkeit der Feuerbestattung für Katholiken.
Die Basis-Dogmen hingegen bleiben aber unberührt, damit sichert sich der Klerus seine alleinige Interpretationsgewalt. Es gilt die totale – auch sprachlich fixierte – Unwandelbarkeit der vielen seit dem 3. Jahrhundert einmal formulierten Dogmen. Das in den katholischen Messen heute immer noch gesprochene „nizänokonstinopolitischen Glaubensbekenntnisse“ ist für heutige Menschen unverständliches Blabla. Wer versteht schon, dass „der Heilige Gest vom Vater ausgeht“…Wenn interessiert, das „der Logos gezeugt, aber nicht geschaffen ist“…Philosophen vielleicht.

Geschlossenheit und Einheitlichkeit wird von der Führung für die Funktionäre vorgeschrieben: Man denke an die Sitzordnung bei den Parteitagen. Parallel dazu: die absolut gleich gestalteten Gewänder und Mitren bei den Bischöfen bei größeren Zusammenkünften auch in Rom. Die Individuen „Bischöfe“ verschwinden unter der totalen Identität der Kostümierung. Das ist wohl so gewollt. Einstimmigkeit ist die Mitte der Diktaturen, Vielfalt die Mitte der Demokratien.

Die Zensur verbotener Bücher: Zensur im Verlagswesen in der SD, der Index verbotener Bücher im Katholizismus. Das „Imprimatur“ wird heute noch gewünscht.

Die Sonderstellung hoher und höchster Funktionäre in der SD, sie wohnen in separaten Siedlungen, haben Zugang zu westlichen (kapitalistischen) Konsumgütern, Leben im Luxus.
Und in der katholischen Kirche: Hohe Gehälter für Bischöfe, etwa in Deutschland, Luxuswohnungen für Kardinäle im Vatikan, Dienstautos usw.

Akzeptanz privater „Seitensprünge“ hoher Funktionäre (nur einzelne Funktionäre werden als Symbole des Kampfes gegen Korruption in Chinas KP verfolgt),
Akzeptanz der privat gehaltenen, verschwiegenen „Seitensprünge“ des Klerus (Heteros im Klerus haben ihre Freundinnen, Homos im Klerus ihre Liebhaber) , aber alles bitte nicht öffentlich machen. Man lese die instruktive Studie „Sodom“ von Frédéric Martel.

Zusammenfassung:

Die Entwicklung der Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitsch in “Die Zeit”, 29. Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel “wie in einer Welt aus Beton”…

11.
Die Brutalität der Verfolgung von Abweichlern findet in den sozialistischen/kommunistischen Diktaturen (China, Vietnam, Kuba, Nord-Korea) bis heute statt.
Die Brutalität der Verfolgung von Ketzern und Abweichlern im Katholizismus findet jetzt keinen unmittelbaren materiellen, leibhaftigen Ausdruck mehr, diese Brutalität war aber bis ins 19. Jahrhundert üblich. Wie viele Tausend Ketzer wurden verbrannt, wie viele Tausend Irrlehrer verfolgt, wie viel Tausend Hexen verbrannt uns so weiter…
Aber die psychische Brutalität im Umgang mit Abweichlern und „Unbequemen“ im Katholizismus verursacht auch heute seelisches Leiden, Ausgrenzung, privates finanzielles Desaster usw.

12.
Viele sozialistische Regime im Osten Europas sind seit 1989 weithin überwunden worden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war sicher auch ökonomisch bedingt, Stichwort „Hochrüstung“. Aber der Zusammenbruch des Sowjetimperiums war dann doch möglich, weil es eine kleine Gruppe von Abweichlern innerhalb der KPDSU gab, vor alem einen Michael Gorbatschow. Einen solchen Zusammenbruch des Imperiums Papstkirche/Katholizismus ist trotz aller Reformgrüppchen und aller so genannter Synodaler Wege nicht möglich…Solange eben der Papst die Allmacht des Papsttums (Heiliger Stuhl, Unfehlbarkeit, Monarchie etc.) behält und beansprucht. Ein Machtverzicht des Papstes ist nicht in Sicht, trotz allen Schwadronierens von Synodalen Wegen und Synoden. Erst wenn ein Papst gewählt wird, der das papsttum beendet, ist eine Ende dieser Klerus – Diktatur in Sicht.

13.
Warum ist die Theokratische Diktatur des Vatikans, also die klerikale Führung der Katholischen Kirche, nicht zusammengebrochen? Weil so viele religiöse Menschen wider alle Vernunft auch heute noch an Wunder und Wunderbares glauben, weil sie meinen, Gott höchst persönlich will diese Katholische Kirche, inclusive Papsttum, so wie sie ist.

Solange es also ein “göttliches Erschauern und Bewundern der “Hochwürden und Eminenzen und Heiligen Väter gibt, wird sich im Katholizismus nichts grundlegendes, also Vernünftiges, Humanes, ändern. Erst wenn viele Millionen Menschen erkennen: Jede Kirche ist Menschenwerk und damit reformierbar, und die Bibel ist nur ein geistiges, poetisches Produkt frommer Menschen und nicht unmittelbar “Gottes Wort”, wird sich etwas grundlegend zum Guten, Humane, verändern.

In Westeuropa ist der Abschied, der Austritt aus der katholischen Kirche, zahlenmäßig faktisch erwiesen, jetzt immens. In Afrika und manchen Gegenden Asiens sind viele Millionen Menschen (noch) katholisch, bevor sie wahrscheinlich wie in Lateinamerika zu den Evangelikalen und Pfingstgemeinden „konvertieren“…
Vielleicht hängen sie noch am Katholizismus, weil der Vatikan für sie weit weg ist? Und ihre Gemeinden dort oft der einzige soziale und caritative (!) Zusammenhalt sind? Und junge Männer in Indien und auf den Philippinen machen als Kleriker eine schöne und sichere Karriere… Vielleicht später mit einer „Mission“ im reichen Europa? Um die Lücken in den europäischen priesterlosen Gemeinden zu stopfen?

14.
Warum hat der Katholizismus sein „1989“ bisher nicht erlebt? Dies liegt sicher auch an der Lehre, der Spiritualität, den Gottesdiensten, den Wallfahrten usw., so dass viele Katholiken eben trotz und gegen den Vatikan katholisch bleiben, um der Wunder (Lourdes, Fatima!) und der Mystik willen, was auch immer man unter Mystik versteht.
Katholische Religion ist eben immer auch Opium und Folklore (Spanien, Semana Santa) … Außerdem sind gotische Kathedralen schön anzusehen oder barocke Kirchengebäude auch. Es ist sozusagen diese wundervolle, ästhetisch als erhebend erlebte Welt der uralten Frömmigkeit, die letztlich dafür sorgt, dass diese theokratische Diktatur bis heute noch fortbesteht. Natürlich weiß niemand, wie die Taube neben dem Gott Vater mit Bart ins barocke Bild kommt,…“Aber warum soll die Tierwelt, etwa die Taube, nicht auch im Himmel eine Rolle spielen, sagte mir ein junger Mann einmal in einer bayerischen Barockkirche… Vom Symbol der Taube als Heiliger Geist hatte er wie die meisten Besucher dieser kirchlichen Museen genannt Barockkirchen keine Ahnung…

Die Kommunisten hatten ihre Kulte kurzfristig erfunden, wie die Feiern zum 1.Mai, aber sie haben keine innere Resonanz bei den Menschen gefunden. Der russische Historiker Michail Ryklin hat in seinem wertvollen Buch „Kommunismus als Religion“, Frankfurt am Main 2008, darauf sehr anschaulich hingewiesen.

15.
Papst Franziskus denkt gar nicht daran, eine explizit synodale, und das meint immer (!) eine demokratische Kirche zu gestalten. Er verändert mit vielen Worten sozusagen etwas die Farbtöne in der katholischen Bilderwelt, aber ein neues modernes Bild will er nicht entwerfen oder gestatten. Denn dann gäbe es bei einer solchen Reformation, die mehr ist als eine Reform, auch keinen Papst und kein Papsttum mehr. Dann gäbe es aber die Gemeinschaften der gleichberechtigt Glaubenden, dann gäbe es auch keine „Laien“ und auch „Kleriker“ mehr, sondern nur noch spirituell suchende „Brüder und Schwestern“.

16.
Aber diese neue Kirche ist genauso eine ferne, sicher nie erlebbare Utopie wie die klassenlose Gesellschaft im Kommunismus.

17.
Warum also dieser Systemvergleich von zwei Diktaturen?
Weil die eine, die real-sozialistische und kommunistische Diktatur, keine innere, seelische Verheißung bieten konnte, keine transzendierende Illusion. Sie musste ohne Gott auskommen, und das war ein Teil ihrer Katastrophe.
Die katholische Diktatur wurde und wird, wie erwähnt, für viele erträglich durch die von den Dogmen gelieferte Verzauberung der Welt und der Existenz. Aber diese Verzauberung hat auch vielerorts keine Macht mehr, und so ist die Frage offen: Was kommt nach dem Ende auch dieser katholischen antidemokratischen Welt (also der Theokratie)? Wird es eine humane, eine vernünftige, eine elementare christliche Religion der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit geben? Oder wird der Konsumismus und der Neoliberalismus den endgültigen Sieg haben, falls denn die Welt nach all den Öko – und Umweltkatastrophen, den sinnlosen Kriegen und dem Gemetzel mit dem lukrativen Waffenexport etc. noch existiert.

18.
Mit einem Bedauern endet der Blick zurück, mit einem Bedauern darüber, dass sich so viele Menschen gern in der – dialektisch gesehen – behütend-zerstörerischen Macht von Diktaturen irgendwie dann doch einrichteten und gar wohlfühlten und immer noch wohlfühlen. Es ist die unreflektierte Bindung an angeblich allmächtige Autoritäten und der innere Zwang, gehorsam und angepasst zu leben, der diese Diktaturen und die Theokratie am Leben erhält und – wie im Falle des Vatikans – immer wieder mit Geld versorgt, obwohl diese Theokratie allein durch ihren Immobilienbesitz in Rom ein Milliardenvermögen hat. Aber die aufgeklärte, gebildete Jugend Westeuropas denkt anders. Welchem Gott wird sie folgen?

DRITTES KAPITEL als Ergänzung: I.: Der Beitrag des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski.

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat 1977 einen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel „Marxistische Wurzeln des Stalinismus“, dieser Text wurde in dem Buch „Leben trotz Geschichte“ (hg. Leonhard Reinisch), München 1977, S. 257-281, publiziert.

19.

Kolakowski, einer der bedeutenden europäischen Philosophen, war zunächst in Polen Marxist und Kommunist. Als Dissident wurde er 1966 aus der Partei ausgeschlossen und dann lehrte er seit 1969 als Philosoph an verschiedenen Universitäten in Kanada, den USA und vor allem in Oxford. Dort ist er (1927 im polnischen Radom geboren) im Jahr 2009 gestorben. …

Zu unserem Thema sind diese Hinweise Kolakowskis von Bedeutung: Die Bindung der Gläubigen an die katholische Kirchenführung, den Klerus, den Papst usw., ist in Westeuropa und Amerika mindestens bis 1968, strukturell verwandt mit der Bindung der Menschen an das totalitäre System des Kommunismus in Osteuropa bzw. der damaligen Sowjetunion.

20.

Kolakowski nennt ein politisches System totalitär, in dem „alle Gruppen und Individuen nur für Ziele handeln, die zugleich Ziele des Staates sind und als solche vom Staat festgelegt werden“ (S. 260).
Übertragen auf die Bindung der „engagierten Katholiken“ an die Kirchenführung heißt das: Auch diese Katholiken haben nur „für Ziele gehandelt, die zugleich Ziele der Kirchenführung sind und als solche von der Kirchenführung festgelegt werden“.
Also konkret gesagt: Die Kirchenführung bestimmt das Familienleben, die Gestaltung der Sexualität, sie schreibt vor, welche Bücher der Katholik ohne Strafe lesen darf, welche Partei er wählen darf, wie der Katholik mit Andersdenkenden umgeht usw..

21.

Weiter führt Leszek Kolakowski zum kommunistischen Totalitarismus aus: „Der Staat und seine organisatorischen Instrumente bilden die einzigen Formen des sozialen Lebens. Jede Art menschlicher Tätigkeit ist erlaubt, nur sofern sie im Dienst der staatlichen Ziele steht.“
Auf die Bindung der katholischen Gläubigen an die Kirchenführung bezogen heißt dies: Die einzige wertvolle und Gott – bzw. der Kirchenführung wohlgefällige Form des Lebens spielt sich für einen Katholiken nur in der Kirche ab, in der Pfarrgemeinde, in den Gemeindegruppen, den katholischen Verein und katholischen Schulen bis hin zu katholischen Friedhöfen… LINK.

22.

Leszek Kolakowski nennt weitere Elemente totaler Herrschaft in der Sowjetunion und in kommunistisch gelenkten Staaten:
Formen der repräsentativen Demokratie gibt es nicht….
Auf die katholische Kirche bezogen: Sie ist stolz darauf, nicht-demokratisch zu sein. Der Vatikan bzw. der “Heilige Stuhl” ist eine absolute “Wahl-Monarchie”.

Es gibt im Kommunismus keine wirklichen Wahlen. Es gibt keine freie Presse… und die gab es als katholische Kirchenpresse bis vor 20 Jahren gar nicht. Dann gab es Wahlen für den Pfarrgemeinderat, der nur beratende Funktion hat, die letzte Entscheidung trifft der Priester.
Ähnliches gilt für Synoden und synodale Prozesse… Alle Druckwerke hatten ein amtliches „Imprimatur“ …und in den katholischen Presserzeugnissen wachten strenge Priester über die Orthodoxie der Texte und der Autoren. Texte theologischer Dissidenten wurden nicht gedruckt. Man denke an das bischöflich verordnete Ende der kritischen katholischen Wochenzeitung PUBLIK.
Es gab keine Pluralität mit tatsächlicher Vielfalt. Alle Gruppen, ob kommunistisch oder katholisch, wurden von der Führung kontrolliert und in ihrer Entfaltung bestimmt.

23.

Kolakowski weist darauf hin, dass fast niemand die offizielle kommunistische Staatsideologie wirklich aus Überzeugung glaubte. Aber die kommunistische Staatsideologie musste nach außen aufrechterhalten bleiben, damit das ganze System des Staates nicht zusammenbricht. Dissidenten wurden bestraft.

Auf die katholische Kirche übertragen: Nur wenige glaubten das ganze fdogmatische System, das sich in dickleibigen Katechismen darstellte. Nur wenige glaubten etwa, dass sich Jesus von Nazareth den armen Fischer Petrus tatsächlich als den ersten Papst wünschte. Wobei doch fast jeder schon wusste, dass Jesus von Nazareth überhaupt nicht an eine Kirchengründung dachte, war er doch vom nahen Ende dieser Welt überzeugt. Aber bis heute glauben die klerikalen Beamten im Vatikan, dass die Form ihres Papsttums genau dem Willen Gottes und den Weisungen Jesu von Nazareth entspricht. Und sie hämmern diese Ideologie ihrer eigenen Herrschaft den Glaubenden ein. Vergeblich, auf lange Sicht…

24.

Im Katholizismus, seit etwa 1968, konnten sich die Gläubigen in nicht-kirchliche Organisationen flüchten, in feministische Gruppen, in Parteien, die nicht das „C“ als Aushängeschild hatten, in NGOs usw. Dieses Verbundensein mit säkularen Gruppen und Lebensformen schwächte entschieden die totalitäre Herrschaft der Kirchenführung. Bis heute versucht sie, ihre Allmacht zu festigen, im Bereich der Sexualmoral, der Abweisung der Gleichberechtigung von Frauen in den kirchlichen, priesterlichen Ämtern, die Abweisung der Homoehe usw.
Mit anderen Worten:
Die Katholiken konnten ihre menschliche Existenz auf eigene Art ohne kirchliche Vorschriften leben, weil sie sich in der freien, säkularen Gesellschaft entwickeln konnten. Die säkulare Welt, die Aufklärung, die Menschenrechte, haben die Gläubigen in ihrem Menschsein gerettet.

II: Die Hinweise des us-amerikanischen Philosophen Reymond Geuss. Er war Schüler eines katholischen Internats in den USA.

25.

Das neueste Buch von Reymond Geuss “Nicht wie ein Liberaler denken” (Suhrkamp 2023) ist auch eine Art philosophische Autiobiographie. Auf Seite 16 schreibt Geuss: “Lenin und Lukács haben beide von der Notwendigkeit einer Ideologie für das Proletariat gesprochen. Es war keine ausreichende Voraussetzung, unterdrückt zu sein oder gar zu wissen, dass man unterdrückt war; man musste auch Möglichkeiten haben, das empfundene Elend zu artikulieren, theoretisch zu verarbeiten…Man brauchte so etwas, wie das, was der Katholizismus zur Verfügung stellte”. Entscheidend die Erkenntnis: “Die Schwierigkeit ist natürlich, dass wir gegenüber allen totalisierenden ideologischen Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus zu Recht misstrauisch geworden sind” (S. 17).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Siehe auch die Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, WDR, „Die Pyramide des lieben Gottes. Über die Macht und das System in der römischen Kirche“ (Erstsendung am 1.11.2009)   U.a mit O Tönen von Otto-Hermann Pesch, Josef Imbach, Hermann Häring, Friedrich Wilhelm Graf, aber auch Kardinal Joachim Meisner und Kardinal Joseph Ratzinger: Vor allem dessen Empfehlung beachten, dass Theologiestudenten bitte wie Spitzel ihre Professoren beobachten sollten, vgl. O TON 16.     LINK

 

 

 

Austritte aus der Katholischen Pfarrei St. Matthias in Berlin – Schöneberg: Ein Beispiel für religiösen Wandel in Deutschland.

Diese begrenzte, kleine Detailstudie ist wichtig zum Thema:
„Das – zahlenmäßige – Verschwinden der katholischen Kirche in Berlin”

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Siehe auch den aktuellen Beitrag zum Thema, publiziert am 15.4.2024 LINK.

1. Das Gemeindeblatt dieser Pfarrei St. Matthias hat manchmal Statistiken veröffentlicht, auch zur Zahl der „Austritte“, wie es in den Heften im Amtsdeutsch heißt. „Austritte“ ist ein Begriff, der für Sachen gilt. Es wurden nicht Menschen befragt, warum sie denn austreten. Es wurde nicht mitgeteilt, wie es mit Altersstruktur der „Austritte“ bestellt ist.

2.  Ich wohne (mit meinem Freund und Partner) als Laien-Theologe der katholischen Theologie und theologisch – philosophischer Journalist seit 1989 im „Pfarrbezirk“. Im Jahr 2010 bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten und Mitglied einer protestantischen Kirche der Niederlande geworden.

3. In dieser seit langer Zeit von sehr konservativen Priestern geprägten Gemeinde sind seit vielen Jahren auch jüngere Priester des Neokatechumenats (aus Polen, Lateinametrika, Italien aber auch aus Deutschland) tätig. Sie haben in der Abgeschiedenheit des eigenen Priesterseminars „Redemptoris Mater“ in Berlin-Biesdorf studiert…Diese Neokatechumenalen gelten im theologischen Verständnis als Sondergruppe, manche sagen als machtvolle Sekte in der katholischen Kirche. Ohne neokatechumenale Priester gäbe es wohl kaum noch jüngere Priester im Erzbistum Berlin, und ohne indische und afrikanische Priester gäbe es sicher keine “klerikale Versorgung” der kleiner werdenden Gemeinden in Berlin wie überall in Westeuropa….LINK.

4. Ich vermute, dass viele Katholiken aus dieser Gemeinde ausgetreten sind, die der schwulen und lesbischen Community angehören. Sie haben in dem Kiez von Berlin-Schöneberg ihre Treffpunkte und wohnen auch oft in dieser Gegend. Eine besondere „pastorale Offenheit“ für Gays habe ich in der Pfarrei St. Matthias überhaupt niemals gesehen. “Sie lebt förmlich auf dem Mond”, sagte mir ein lateinamerikanischer Theologe einmal, was die völlig ignorierte „Inkulturation“ angeht. „Messe lesen“ ist die Hauptsache der drei jetzt verbliebenen Priester, sie müssen vier Schöneberger katholische Kirchen (einst „Pfarreien) mit ihren Messen versorgen. Im Eucharistiefeiern, im Messelesen, wertet sich der Klerus absolut auf … wird unersetzlich, weil ja die Messe als „das Höchste“ im Katholizismus von den Priestern propagiert wird.

5.
Die Statistik:
Die erste Statistik wurde im Gemeindeblatt im März 2013 veröffentlicht, auf S. 24:
Im Jahr 2009: 178 Austritte (bei 10.477 Gemeindemitgliedern)
Im Jahr 2010: 201 Austritte
Im Jahr 2011: 187 Austritte
Im Jahr 2012: 193 Austritte bei 9.704 Gemeindemitgliedern.
In dieser Zeit wurden insgesamt 26 „Wiederaufnahmen“ (einst „Ausgetretener“, die diese Wiederaufnahme oft aus beruflichen Gründen tun) registriert und 10 Konversionen zum Katholizismus.

Die zweite Statistik, mit einer gewissen zeitlichen Lücke, betrifft die Jahre 2017 bis 2022, veröffentlicht in “Pfarrnachrcihten” im Frühjahr 2023, S. 43.
Im Jahr 2017: 150 Austritte
Im Jahr 2018: 207 Austritte
Im Jahr 2019: 312 Austritte
Im Jahr 2020: 297 Austritte
Im Jahr 2021: 475 Austritte
Im Jahr 2022: 411 Austritte.

Ergänzt am 17.4. 2025:

Im Jahr 2024: 398 Austritte (Pfarrnachrichten 1/2025, S. 44).

Das sind, von 2017 bis 2022 zusammen: 1.852 Austritte aus der Pfarrgemeinde St. Matthias, Berlin-Schöneberg.
Die Anzahl der „Wiederaufnahmen“ in diesen Jahren: 28.
Die Anzahl der Konversionen: 17 in diesen Jahren.
Die vier Schöneberger Kirchen sind nun zu einer Gemeinde zusammengefügt worden, und diese hat 16.079 Mitglieder im Jahr 2022.
Von den Gemeindemitgliedern sind 2.090 über 70 Jahre alt.

6.
Es wäre eine wichtige Aufgabe für Religionssoziologen und Mathematiker zu berechnen, wie viele Mitglieder diese Gemeinde in 20 Jahren noch zählt, berücksichtigt man einen Mittelwert der „Austritte“ und die Altersstruktur. Dann käme man – sozusagen von einem Nicht- Mathematiker hochgerechnet – auf eine Zahl der Gemeindemitglieder von ca. 7.000 Gemeindemitgliedern im Jahr 2043. Für diese geringe Anzahl – immer noch (???) mit vier Kirchengebäuden etc. (St. Matthias, St. Konrad, St. Dominikus, St. Elisabeth) – könnte dann gut ein einziger neokatechumenaler Priester – aus Polen, Italien oder Mexiko – die Messen lesen. Das könnte bei guter Gesundheit des Priesters klappen…

7.
Aber: Diese präzisen Hochrechnungen macht niemand, jedenfalls werden sie nicht publiziert. Genauso wenig wie die Anzahl der Priester in 20 Jahren, die immer noch und wohl ad aeternum alles beherrschen als unersetzliche Messeleser, ermittelt wird.
Auch das Durchschnittsalter der jetzt noch tätigen Priester wird nicht bekannt gegeben.
Es ist die Angst vor der Wahrheit, die sich da ausdrückt. Diese Wahrheit könnten die Religionssoziologie und die Mathematik, also Wissenschaften, mitteilen. Das will die Hierarchie aber nicht wissen…. So lebt der Katholizismus weiter im Nebel, aber „selbstverständlich“ in „guter Hoffnung“, hießt es.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin