Jürgen Habermas – Eine Einführung in seine Philosophie!

…und ein Hinweis auf sein Leben

Von Christian Modehn am 4. Juli 2024

Siehe auch die Ergänzung vom 7.7.2024: LINK

1.
Der Berliner “Professor für Kulturgeschichte“ (Humboldt – Universität) Philipp Felsch bekennt, dass er sich (bisher) eigentlich nicht intensiv mit der Philosophie von Jürgen Habermas beschäftigt habe. Felsch hatte aber die Chance, im Frühjahr 2022 und im September 2023 Jürgen Habermas in seinem Bungalow in Starnberg bei einigen Gläsern Tee besuchen zu können und Interviews mit ihm zu führen. Vielleicht waren dabei die Erinnerungen an frühere Verbindungen der beiden Familien in Gummersbach hilfreich. Er hat sich seit einigen Jahren in das Werk von Habermas eingearbeitet. „Der Philosoph. Habermas und wir“ ist der Titel seines Buches, erschienen im Propyläen – Verlag Berlin. 2004 wurde Jürgen Habermas 95 Jahre alt. Seinen „Vorlass“, den „Nachlass“ zu Lebzeiten, hat Habermas „seiner“ Universität Frankfurt am Main überlassen. Auch der „Vorlass“ war Philipp Felsch für seine Studien zugänglich!

2.
Das leicht zugängliche Buch ist das Resultat persönlicher Begegnungen und Habermas – Studien. Wobei über das „wir“ im Untertitel ein eigenes Kapitel geschrieben werden müsste: Sind „WIR Deutsche“ (seit 1989) gemeint oder nur „wir Bundesbürger“ (bis 1989) oder gar „wir“ Weltbürger“. Einige eher sehr persönliche Fragen zu Habermas werden angesprochen, etwa, warum er bevorzugt die schriftliche Form wählt anstelle von Radio – oder Fernseh-Interviews. Habermas selbst hat sich höchst selten über seine Einschränkungen beim Sprechen geäußert. (S. 79, zu einem Vortrag 2004)

3.
Es ist ja nicht nur – im engeren Sinne – der Philosoph Habermas mit seinem umfassenden Werk, der für die Geschichte der Bundesrepublik und Europas von Bedeutung ist. Es ist auch der Habermas als sehr streitbarer Autor in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (FAZ, DIE ZEIT, MERKUR) , zu vielen grundlegenden politischen Themen, der „unser“ Interesse immer wieder weckt(e). Dabei wird in dem Buch deutlich, wie sehr doch Habermas immer lernbereit war und auch Selbstkritik öffentlich äußerte.

4.
Die in Starnberg abschließen geführten Gespräche zur aktuellen Gegenwart, Stichwort Krieg Russland gegen die Ukraine, hinterlassen bei Philipp Felsch den starken Eindruck eines pessimistischen, wenn nicht, so wörtlich „fatalistischen“ Habermas. Der stets politisch analytisch denkende und normativ, an den Menschenrechten orientierte Denker rechnet wohl jetzt damit, dass die Koalition der Ukraine – Unterstützer in Europa und den USA „zerfällt“, was „zur Folge haben würde, dass der Westen die letzten Reste von politischer Glaubwürdigkeit und Autorität“ verliert (S. 187). Philipp Felsch schreibt: „ Und dann sagt Habermas einen Satz, der unseren Gesprächsfluss für einen Moment lang stocken lässt: All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig `Schritt für Schritt` verloren“ (S. 187). Das bei Habermas stets lebendige, aber begründete Vertrauen darauf, dass Kommunikation tatsächlich eine friedliche Welt aufbauen kann, geht nun verloren, darf man wohl ergänzen.

5.
Aber es ist schon ein Wagnis, das sehr umfangreiche Werke, die vielfältigen und vielen öffentlichen Stellungnahmen von Jürgen Habermas auf 180 Seiten darzustellen Das Buch „Der Philosoph. Habermas und wir“ bietet also nicht mehr als einführende Erst – Interpretationen. Dabei werden die vielfältigen Kontakte, Freundschaften (etwa mit Alexander Kluge) aber auch Gegnerschaften (etwa mit Hans Magnus Enzensberger) genannt. Auf weiteren 30 Seiten werden dann Fußnoten und Anmerkungen publiziert, die Literaturliste umfasst fast 30 Seiten. 81 größere und kleinere Arbeiten von Habermas sind da genannt. Dass einige tatsächlich sehr wichtige Werke von Habermas nicht oder nur ultrakurz erwähnt werden, ist sicher der größte Mangel dieses Buches, es sind die Texte über die Bedeutung des Religion. Dazu mehr unter Nr. 8 – 11.

6.
Eine Rezension kann und soll naturgemäß nicht den Inhalt des Buches wiedergeben: Felsch folgt chronologisch dem Lebensweg von Habermas und zeigt, wie sehr der Philosoph immer zeitbezogen dachte und veröffentlichte, ohne dabei die universalen Prinzipien,etwa der Philosophie Kants, zu verraten. Mit den Begründern der Frankfurter Schule war er kritisch verbunden, ohne deswegen den Ehrgeiz zu haben, zu einem Nachfolger von Adorno und Horkheimer zu werden.
Während der verschiedenen Stationen der akademischen Arbeit zeigte sich Habermas immer lernbereit, ohne seine Sympathien für eine linke Position sozialdemokratischen Denkens aufzugeben. Aber Lernbereitschaft schließt bei Habermas nicht die kämpferische Abgrenzung aus. Für viele überraschend vielleicht, spricht Philipp Felsch explizit von philosophisch – bedingten „Feindschaften“ etwa gegen Michael Foucault und Georges Bataille (S. 113), auch ist, wörtlich, von Habermas`„Widersacher“ Peter Sloterdijk die Rede. Überraschend auch, dass Habermas viele seiner Zeitungsbeiträge aus „Zorn“ geschriebene habe ( S. 120), aus Zorn auch auf die sehr konservative geistig – politische Verfasstheit der Bundesrepublik mindestens in den ersten Jahren. Man vergesse nicht, dass Habermas seine Karriere, möchte man sagen, als philosophischer Journalist begann: Mit einem Heidegger – kritischen Beitrag in der FAZ am 12.7.1952

7.
Das Buch von Philipp Felsch ist keineswegs eine Lobeshymne auf den „großen staatstragenden Philosophen“, wie viele Habermas nannten. In dem Buch wird durchgängig das Profil eines „linken Sozialdemokraten“ (S. 173) deutlich.

8.
Ein wirklicher und in unserer Sicht gravierender Mangel des Buches ist das völlige Fehlen der Auseinandersetzungen von Habermas mit „der Religion“, vor allem mit dem Christentum. Philipp Felsch erwähnt zwar beiläufig, im Nebensatz, dass sich Habermas als getaufter Protestant irgendwie auch protestantisch fühle (S.105). Ein bißchen ausführlicher wird die starke Zuneigung von Habermas zu einzelnen jüdischen Intellektuellen und Philosophen deutlich. Das Buch schließt mit dem Habermas Bekenntnis: „ „Als `Glücksfall` seines Lebens betrachtet er es, in den USA, in Israel und auch in Deutschland so vielen bedeutenden jüdischen Gelehrten begegnet zu sein“(S. 188).
Als über die „Einzigartigkeit des Holocaust“ in den 1980er Jahren heftig gestritten wurde, formulierte der mit Habermas befreundete deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat 1986 einige bis heute denkwürdige Erkenntnisse zur „Singularität des Holocaust“: Auschwitz sei ein einzigartiges historische Trauma für Deutsche wie für Juden, sagte Tugendhat, „aber die Lehren, die wir daraus ziehen sollten, Deutsche wie Juden, sollten universalistisch sein. Man muss die aus diesem Schicksal entstandene Sensibilisierung in eine universalistische Sensibilität wenden, sonst bleibt man im Teufelskreis des Partikularismus hängen. … das kann dann nur dazu führen, dass das Geschehene eingezäunt wird und durchaus vergleichbare Ereignisse verharmlost werden, in Israel wie hier“ (S. 130).

9.
Über die Gespräche Habermas` mit katholischen Theologen (Kardinal Joseph Ratzinger, 2004) und katholischen Philosophen (mit Jesuiten in München, 2007 ) ist leider in dem Buch keine Rede. Das ist für mich nicht zu akzeptieren. Nicht einmal die Veröffentlichungen von Jürgen Habermas zu dem Thema werden genannt, abgesehen von einem Interview mit Michael Funken unter dem Titel „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“, aus dem Jahr 2008, notiert auf Seite 240. Die erste der zwei äußerst umfangreichen Studien „Auch eine Geschichte der Philosophie. Über Glauben und Wissen“ (erschienen 2019) wird nur in Felschs Literaturliste erwähnt. Aber auch die Friedenspreisrede von 2001 wird in der Literaturliste nicht genannt, geschweige denn interpretiert.
Dabei hat sich das Bekenntnis von Habermas, er sei „religiös unmusikalisch“ inzwischen weithin als bekannt durchgesetzt. Aber WIE im einzelnen „religiös unmusikalisch“ er denn wirklich ist, muss genau geprüft werden.
Hier nur einige Hinweise:

10.
Erst seit 1988 , und zwar mit den Aufsätzen „Nachmetaphysisches Denken“ sieht Habermas in „der Religion“ inspirierende Inhalte, die „in begründende Diskurse“ übersetzt werden sollten. Das Stichwort ÜBERSETZUNG religiöser Inhalte in eine allgemein zugängliche philosophische Sprache tritt hier also zum ersten Mal auf, soweit ich sehe. ÜBERSETZUNGEN vom Religiösen ins Philosophische sind seit dem eine Art Leitidee, wenn Habermas vom Verhältnis von Religion (er meint die christliche) spricht. In seiner „Friedenspreisrede“ von 2001 betont Habermas: Moderne säkulare Gesellschaften bleiben auch als säkulare Gesellschaft auf die Religion bezogen: Denn diese haben ein eigenes, ernst zunehmendes Vernunft-Potential. So sollten etwa die biblischen Metaphern von der „Geschöpflichkeit des Menschen“ oder auch der „Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen“ ins Allgemeine Denken, ins Philosophische, übersetzt werden. Noch weiter geht Habermas, als er 2004 Kardinal Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München zur Diskussion trifft: Dort spricht Habermas vom wechselseitigen Lernen: Auch säkulare Menschen, etwa Philosophen, sollten sich lernbereit zeigen gegenüber Aussagen religiöser Menschen. Vorausgesetzt allerdings, dass die religiösen Menschen ihre Überzeugungen in allgemeiner, d.h. nicht -esoterischer Sprache aussagen können!
In dem Buch „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ (2008, bezogen auf das Treffen mit Jesuiten in München 2007) wird eine weitere Entwicklung im religionsphilosophischen Denken von Habermas sichtbar: Nun steht für ihn im Mittelpunkt: Die moderne Vernunft UND die Religionen haben einen gemeinsamen Ursprung (!), und zwar in den Denkbewegungen der sogenannten „Achsenzeit“. Philosophie und Religion werden so zu „komplementären Gestalten des Geistes“ (S. 29 in dem genannten Buch, 2008). Jedenfalls ist für Habermas 2007 klar: „ Religiös begründete Stellungnahmen haben einen legitimen Platz in der politischen Öffentlichkeit, dann „wird vonseiten der politischen Gemeinschaft offiziell anerkannt, dass religiöse Äußerungen zur Klärung kontroverser Grundsatzfragen einen sinnvollen Beitrag leisten können“ (S. 34 dort).
Im ganzen darf man wohl sagen, dass Habermas seit 2001 ein religionsphilosophisches Denken entwickelte, bis hin zur großen Studie „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019), das in dem einen Satz zusammengefasst werden könnte: „Die säkulare Philosophie entwickelt ein Bewusstsein von dem, was fehlt“, nämlich das Bewusstsein, dass eine vernünftige Religion in dieser säkularen Welt fehlt.

11.
Über die Wende des älter gewordenen Habermas (seit 2001) zur Religion ist viel geschrieben worden, etwa von den Philosophen Herbert Schnädelbach oder Paolo Flores d Arcais (Rom, in DIE ZEIT vom 22. Nov. 2007). Damit man bloß nicht aus Habermas einen religiösen, oder gar katholischen Philosophen macht, hat er selbst gesagt: „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“ (so 2008 in dem genannten Sammelband, den Michael Funken herausgegeben hat). Tatsächlich äußert sich Habermas in diesem Interview trotz dieses nun wirklich „spannenden“ Titels nur äußerst knapp zur eigenen Religiosität. Diese ist wohl in einer gewissen Verbundenheit mit Kants Religionsbegriff zu suchen: „Bei allem empirisch begründeten Pessimismus über die Aussichten eines kosmopolitischen Rechtszustandes sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich das Engagement für eine neue Weltordnung , zu dem wir uns moralisch verpflichtet fühlen sollen, doch noch lohnen könnte. Aber niemand kann uns dessen vergewissern“ (S. 185, Funken, „Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen“, 2008, S. 185).
Noch einmal:
Auf „weltbürgerliche Verhältnisse“ einer vernünftigen humanen Weltordnung hofft Habermas jetzt nicht mehr, er sei fatalistisch, interpretiert Philipp Felsch diese Hoffnungslosigkeit von Habermas (Seite 187 in Felsch „Der Philosoph“.)

12.
„Habermas und die Religion“ ist alles andere als ein marginales Sonderthema einer speziellen Habermas – Forschung. Es geht bei dem Thema um eine Art exemplarische Debatte über die Bedeutung „der“ Religion in der heutigen Zeit in unterschiedlichen Regionen der Welt.. .Dabei müssen bei weiteren Diskussionen auch speziell „der“ Islam und alle weiteren Religionen hinsichtlich fundamentalistischer Tendenzen untersucht werden. Dass alle christlichen Kirchen jetzt von fundamentalistischen Gruppen immer stärker durchsetzt und beherrscht werden, sollte weiter bedacht werden, so dass die Aussage „Es gibt ein vernünftiges Christentum, einen vernünftigen christlichen Glauben (etwa im Sinne Kants) selbst schon marginal zu werden droht. Es könnte schon bald soweit gekommen, dass – etwa in den USA – fundamentalistischer christlicher Glaube mit dem Christentum insgesamt identifiziert wird und ein Staatspräsident Donald Trump wie ein religiöser Führer verehrt wird – von Christen, die den Verstand verloren haben…Mit diesen religiösen Leuten wird wohl kaum ein Dialog, ein wechselseitiger Lernprozess, möglich sein, in dem Sinne: „Nun übersetzt doch einmal eure charismatische – evangelikalen oder römisch katholischen oder russisch -orthodoxen Überzeugungen in eine säkulare Sprache, die alle Menschen verstehen…“

13.
Ob sich Jürgen Habermas zu diesem Thema noch einmal äußert? Wir würden es so dringend wünschen und uns so darüber freuen!

14.
Und Philipp Felsch möchte man fragen, warum er das Thema „Habermas und das Christentum“ in seinem Buch ausgelassen hat, doch sicher nicht auf Wunsch von Habermas selbst? Unvorstellbar! (Wie) Wird Philipp Felsch auf diese unsere Kritik antworten?

15.

Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin jedenfalls seit eingen Jahren mehrere Salon -Gesprächs – Veranstaltungen zum Denken von Jürgen Habermas veranstaltet, mit dem Ziel: Dessen Denken weiten Kreisen bekannt zu machen. Auch auf NDR Kultur haben wir in einer Sendung der Reihe “Glaubenssachen” versucht, das Denken von Jürgen Habermas weiten Kreisen zugänglich zu machen. Als eines von etlichen Beispielen unserer Arbeiten während dieser Jahre: LINK:

Philipp Felsch, “Der Philosoph. Habermas und wir”. Propyläen Verlag Berlin 2024, 256 Seiten, 24€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Marine Le Pen und ihr katholischer Glaube

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.7.2024

1.
Wenn mehr als 40 Prozent der praktizierenden Katholiken die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen („Rassemblement National“, RN) zur Europawahl am 9. Juni 2024 gewählt haben, muss man fragen:
Ist denn Madame Le Pen eine so überzeugende Katholikin, dass praktizierende Katholiken sie so gern wählen?

2.
Über ihren Glauben, auch über ihre Bindung an den Katholizismus, hat Marine Le Pen mehrfach kurz gesprochen.

Dabei war die Partei „Front National“ (FN) unter ihrem Vater Jean-Marie Le Pen deutlich geprägt von einem sich katholisch nennenden, traditionalistischen Flügel, zu dem etwa der extrem militante Bernard Antony gehörte. Aber im Jahr 2008 wurde Bernard Antony, Führer des katholisch – reaktionären Flügels, aus dem FN ausgeschlossen. Das wird als Vorspiel gedeutet für den Aufstieg von Marine Le Pen: 2011 wurde sie Vorsitzende der Partei. Sie sorgte dafür, dass ihr offen rechtsextremer Vater 2015 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Im Juni 2018 erhielt die Partei unter ihrer Führung den Namen „Rassemblement National“ (RN). Das Nationale und Nationalistische blieb erhalten, aber „Versammlung, Rassemblement, klingt etwas freundlicher als „Front.“ Mit der Ausgrenzung des katholisch – traditionalistischen Einflusses von einst wollte sie zeigen: Die „neue“ Partei will vor allem auch die sehr vielen kirchenfernen Wähler gewinnen. Madame Le Pen nennt diesen nach außen hin etwas freundlicheren Namen der Partei „dédiablisation“, Entdiabolisietung, will sagen: dass die Partei nach außen vor allem nicht mehr antisemitisch ist. Das jüdische Ehepaar Klarsfeld, die „Nazijäger“ von einst, glaubt das so einfach und betont jetzt, Marine Le Pen zu wählen. Darf man das eine Schande nennen oder nur „Alters-Schwäche“… Feinde sind für Marine Le Pen nicht mehr, wie es zur französischen Tradition auch ihres Vaters gehört, „die Juden“, sondern die „Islamisten“ und eigentlich alle Fremden…

3.
Zum Jahr 2017: (Quelle: LINK )

Anläßlich der Präsidentschaftswahlen 2017 sagte Marine Le Pen in Reims bei einem Besuch der berühmten Kathedrale, sie wird als „Geburtsort“ des katholischen Frankreich hoch gepriesen: „Frankreich muss sich an die Versprechen seiner Taufe erinnern. Es gibt Menschen, die glauben an den Himmel, und solche, die daran nicht glauben. Aber ich glaube!“
Die Mitarbeiter Madame Le Pens ergänzten: „Ganz evident, sie ist katholisch“. Von der Erinnerung an das Taufversprechen Frankreichs sprach in ähnlichen Worten („Erinnert euch an die Taufe Frankreichs“!) übrigens Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Reims im Jahr 1996.
Madame Le Pen wurde in Reims von vielen nicht willkommen geheißen, und ausgepfiffen: (Quelle: “Le Monde”. LINK )
Trotzdem sagte sie dort über ihren katholischen Glauben: „Ich habe meine Kinder in der Kirche (der so genannten “Pius-Brüder” des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre, CM) St. Niocolas du Chardonnet (Paris) taufen lassen. Ich habe also nicht traditionalistische Katholiken zu kritisieren. Aber ich wünsche nicht, dass sie wie in einer Art abgeschlossenen `Kapelle`, ihre religiösen Überzeugungen über die politischen Überzeugungen stellen“.
So gibt sich Madame Le Pen nach außen hin als treue Verteidigung der französischen laicité, also der Überordnung staatlicher, aber vernünftiger Gesetze über religiöse Weisungen.
Aus taktischen Gründen ist in dem RN offiziell keine kritische Rede mehr von Kritik an der Homosexuellen – Ehe oder zum Schwangerschaftsabbruch zu vernehmen. Die rechtsextremen Führer haben erkannt: Diese Themen spalten die Gesellschaft, man will die Mehrheit gewinnen…

4.
Im April 2017 bekannte sich Madame Le Pen in einem Interview mit „La Croix“ sogar als „extrem gläubig, aber verärgert mit der Kirche.”
Dieselben Worte sagte sie schon in einem Interview mit der katholischen Zeitschrift „La Vie“ (Paris) im Jahr 2011: Und damals fügte sie hinzu: „Glücklicherweise aber berührt (stört) der Klerus nicht meinen Glauben“ (Quelle. Pierre Jova in „La Vie“, 3.10.2022. Publié et mis à jour le 05/10/2022 à 11h37). Madame Le Pen fühlt sich verletzt, so heißt es in ihren Kreisen, weil die katholischen Bischöfe einst ihren Vater, den reaktionären Chef des Front National, heftigst kritisieren. Gegenüber Marine Le Pen ist die Bischofskonferenz sehr viel moderater, sehr viel schweigsamer geworden. Vor den Wahlen am 30.6.2024 fiel den Bischöfen nichts anderes ein, als aufzufordern zur Wahl zu gehen und… zu beten. LINK.

5.
Madame Le Pen äußert Kritik auch zu Papst Franziskus, weil er sich stark für die Offenheit gegenüber Migranten einsetze. Marine Le Pens dauerndes Statement: „Der Papst sollte sich nicht politisch einmischen.“ Damit zeigt sie sich wiederum als Anhängerin der laicité, der Trennung von Kirche und Staat. Und damit kann sie Mehrheiten finden!

6.
2021 schrieb die Zeitung „Le Parisien“, Marine Le Pen verstehe sich nun eher als „Catholique du Parvis“, als „Katholiken auf dem Vorplatz der Kirche“. (Quelle: Alexandre Sulzer in der Tageszeitung „Le Parisien“, am 18.März 2021.)

7.
2022: Madame Le Pen polemisiert gegen ihren politischen Feind von sehr extrem Rechtsaußen, gegen Eric Zemmour und seine Partei Reconquete: In einen Zusammenhang nannte sie Zemmour – Wähler „katholische Traditionalisten“, „Heiden“ und „Nazis“. „Eine Ungeschicklichkeit“ nennen sogleich Mitarbeiter diese Äußerung der Parteichefin und sie selbst versucht die Wogen zu glätten. „Ich hätte eher „Integristen“ sagen sollen“, meint Madame Le Pen später. „Integristen“ sind eigentlich noch radikaler als Traditionalisten: Sie wollen die Herrschaft der Kirche über den Staat. Traditionalisten fordern hingegen den Stop jeglicher Kirchenreform und die Wiederkehr der alten lateinischen Messe des 16. Jahrhunderts.

8.

Warum also wählen so viele praktizierende Katholiken die nach wie vor rechtsextreme, nach außen sich etwas freundlich gebende Partei Marine Le Pens? Viele Gründe sind zu nennen: Etwa: Die Inhalte der Partei “Rassemblement National”  sind den Katholiken sympathisch, weil sie selbst politisch sehr konservativ, sehr national, manchmal reaktionär denken … und immer nur eine Minderheit der französischen Katholiken politisch links war. Weil sie die Demokratie als schwierige Lebensform (“zu viele Diskussionen” etc.) nicht auf Dauer gestalten und auch ertragen wollen. Weil die Demokratie ohnehin in der katholischen Kirche selbst keine “heilige Institution” ist und sich diese katholische Kirche selbst so oft auch poffiziell und so gern “nicht – demokratisch” nennt. Und: Die geheime Liebe der Katholiken zu einem “Führer”, etwa zu Marschall Pétain in den Jahren der Nazi-Besetzung Frankreichs, ist bekannt. Die Ergebenheit vieler Laien für den Papst und den Klerus war immer auch eine Treue zu “Führern”…

9.

Der neue Trend unter konservativen und reaktionären Katholiken in Frankreich, der auch zur Sympathie für die Partei Marine Le Pens führt: Diese Katholiken nennen sich “tradis”, also eher sanfte Traditionalisten: Sie beteiligen sich an dem jährlichen Pilgermarsch von Paris nach Chartres, 18.000 Teilnehmer 2024; sie sind mit offiziell römisch – katholischen Vereinen und Orden verbunden, die aber de facto auch theologisch reaktionär sind, wie das “Instiutut du Bon Pasteur” in Bordeaux, dort ist Mitglied der populäre, äußerst konservative Priester Matthieu Raffray. Oder auch die viele Mitglieder zählende äußerst konservative Gemeinschaft der Priester von “Christ-Roi Souverain Pretre”.

10.

Der neue Parteichef des Rassemblement National ist Jordan Bardella (geb. 1995 in Drancy), er besuchte als Katholik in der Banlieue, in Saint Denis, die katholische Schule “Jean-Baptist de la Salle”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Post-Katholisch“: Über das langsame Verschwinden der katholischen Kirche in Frankreich.

Hinweise von Christian Modehn am 28.6.2024.

Ergänzt am 30.6.2024, 19 Uhr:

Ein Freund aus Frankreich sagte mir: “Es gibt im Augenblick zwar politisch gesehen wichtigere Themen für uns Franzosen als dein Thema hier. Aber die so starke Verbundenheit der praktizierenden Katholiken mit den Rechtsextremen, dokumentiert nach der Europawahl am 9. Juni, ist schon erschütternd.”

Ich antwortete ihm: “Weil die katholische Kirche nicht im entferntesten demokratisch strukturiert und organisiert ist, also auch von offizieller Seite keine demokratischen Werte als “göttlich”, als “absolut wertvoll” vertreten kann und so auch predigt, ist die starke Nähe der praktizierenden Katholiken zu Rechtsextremen durchaus verständlich... ”

Anläßlich der Wahlen zum Europaparlament und zu den Parlamentswahlen Ende Juni 2024 sollte sich das Interesse auch auf den Zustand der Religionen in Frankreich richten, etwa auf die katholische Kirche. Und dies nicht nur, weil bei den Europawahlen am 9.Juni 42 Prozent der „praktizierenden Katholiken“ für die rechtsextreme Partei „Rassemblement National” und die noch rechts-extremere Partei „Reconquete“ stimmten. Wichtig ist, dass sich im Jahr 2023 nur eine Minderheit von 29 Prozent der Franzosen „katholisch“ nennt, und: die meisten dieser Katholiken gehören der älteren Generation an…

1.
Die katholische Kirche in Frankreich, als die „älteste Tochter der römischen Kirche“ gepriesen, ist tatsächlich uralt. Seit dem 1. Jahrhundert gibt es in Gallien christliche Präsenz, etwa in Lyon. Und bis heute ist der Katholizismus sichtbar durch zahlreiche gotische Kathedralen, romanische Kirchen und große, zum Teil noch bewohnte Abteien oder auch durch die vielen tausend christlich geprägten, auf Heilige bezogenen Straßen – und Ortsnamen.

2.
An der populären Verehrung der gotischen Kathedrale „Notre Dame in Paris“ gibt es keinen Zweifel. Das uralte Gebäude schätzen die meisten, zumal die 12 Millionen touristischen Besucher etwa im Jahr 2017.
Aber, die permanente „Fotografier – Sucht“ der durch die Kirche Eilenden zeigt: Die Kathedrale wird als Museum, als Monument des Mittelalters und der nationalen Identität wahrgenommen. Von plötzlichen Bekehrungen zum Katholizismus durch einen Besuch in „Notre Dame“ – wie es einst dem Schriftsteller Paul Claudel geschah – wird nichts mehr berichtet. Immerhin, die Kirchenfernen, zumal die materiell stark Begüterten, spendeten für den Wiederaufbau der Kathedrale nach dem verheerenden Brand am 15. Juli 2019. Staatspräsident Macron versprach sofort in seiner übereilten Art, der Wiederaufbau werde etwa ein Jahr dauern, jetzt wird Ende 2024 die Kathedrale feierlich eröffnet.

Nebenbei: Hoffentlich wird dann NICHT im Jahr 2027  Marine Le Pen („Rassemblement National“) als neue Präsidentin um den Segen des Erzbischofs in “Notre – Dame” bitten. Vom katholischen Glauben, so sagte Madame Le Pen bisher, halte sie nicht viel, bestenfalls in der traditionalistischen Variante der Pius-Brüder. Mit denen war ihr Vater Jean-Marie Le Pen als Rassist und Antisemit sehr eng verbunden. Zu Marine Le Pens Beziehung zum katholischen Glauben: LINK

3.
Diese äußere Sichtbarkeit der katholischen Kirche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die katholische Kirche in Frankreich – wie in anderen westeuropäischen Ländern – am Verschwinden ist. 1950 nannten sich 90 Prozent aller Franzosen katholisch, 1998 waren es 53 Prozent; 2023 waren es nur noch 29 Prozent der Franzosen, die sich katholisch nannten. (Quelle: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391)

Nebenbei: Immer waren und handelt es sich um repräsentative Umfragen zur Religion der Franzosen, denn die Republik („laique“!) verbietet sich selbst seit dem 19. Jahrhundert, nach der konfessionellen Bindung seiner Bürger zu fragen.

Auch die Zahlen zur Beteiligung der Katholiken an der Sonntagsmesse sind deutlich:
1946: 37 Prozent regelmäßige Teilnehmer an der Sonntagsmesse,
1969: 25 Prozent,
1975: 16 Prozent. (Quelle: Delumeau, „Stirbt das Christentum?“, Seite 21).
2023: 8 Prozent Katholiken, die mindestens einmal im Monat an der Sonntagsmesse teilnehmen. (Quelle: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391

Die Zahl der Priester in Frankreich geht ständig zurück: Ein wichtiges Thema, denn ohne immer nur männliche Priester, so die offizielle Lehre, kann die katholische Kirche nicht bestehen.
1965: 40.000 Priester in Frankreich
1984: waren es 30.000.
(Quelle: „Les Francais sont-ils encore catholiques“, S. 41.)
2000: 25.353
2022: 11.644 (Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/statistiques-de-leglise-catholique-france-monde/statistiques-de-leglise-catholique-france/ministres-ordonnes-religieux/) Der Altersdurchschnitt des französischen Klerus liegt heute bei 70 Jahre. Selbst viele 75 Jährige Pfarrer sind noch „im Einsatz“. Mindestens 1000 Priester aus dem Französisch sprechenden Afrika sind in Frankreich wie „Gastarbeiter“ im Einsatz, sie sind in machen Bistümern, die einzigen, die noch nicht 60 Jahre alt sind. Diese „Gastarbeiter“ ersetzen den aussterbenden französischen Klerus und verlängern so noch einmal um ein paar Jahre die Klerus – Herrschaft.

Die Zahl der neu geweihten Priester ist seit 60 Jahren minimal geworden.
1965: waren es noch 646 Neupriester
1974: nur noch 170. (Quelle Delumeau, Stirbt das Christentum, S. 22):
2010: 96 Neupriester
2022: 114 Neupriester. (Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/). Die Zahl der Sterbefälle im Klerus ist sechsmal höher als die Zahl der „Neupriester“.

Hinweise zum Ende der Klerus – Kirche werden vertieft in FUßNOTE 2:

Die Zahl der Taufen von Babys und Kindern geht ständig zurück.
2000: 400.000 Taufen
2022: 198.000 Taufen
Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/statistiques-de-leglise-catholique-france-monde/statistiques-de-leglise-catholique-france/les-sacrements-en-france/)

(Bekannte französische Historiker der religiösen Mentalitäten wie Prof. Jacques Delumeau haben in ihren Studiendarauf hingewiesen: Die Bindung der sich kathaolisch nennenden Franzosen an die Lehren des Evangeliums, etwa seit dem 17. Jahrhundert, war alles andere als vorbildlich. Siehe dazu am Ende dieses Hinweises die Fußnote 1. )

4.
Diese aktuelle Situation sollte man religionsphilosophisch und religionssoziologisch „auf den Begriff bringen“:
In Frankreich ist in der Philosophie der Begriff „postmodern“ für den Zustand der Gesellschaft und der Mentalitäten des 20.Jahrhunderts entstanden. Anderswo spricht man von „post-kolonial“ oder „post-demokratisch“, um den politischen Umbruch der Gegenwart zu bestimmen. Auch wenn das „Post-Moderne“ allmählich an Akzeptanz wegen „allzu heftiger subjektiver Beliebigkeit“ verloren hat: An dem Wort „Post- “, „Nach-“ , steckt ja auch die Einladung, den geistigen Zustand einer Gesellschaft kurz und bündig zu beschreiben.

5.
Nun könnte also für Frankreich ein neuer „Post“ – Begriff gebräuchlich werden: Es ist das Wort „Post – Katholisch“.
Das heißt: Frankreich ist – schon vor einigen Jahren – in eine neue religiöse Epoche eingetreten. Sie ist bestimmt vom stetigen Abschied von katholischen Glaubenswelten und vom Abschied von der Bindung an die katholische Kirche als Institution. Frankreich lebt in Zeiten, in denen Katholisches als gelebte Orientierung weithin Vergangenheit ist: „Post – katholisch“ eben, selbst wenn die französische Kirche noch über ein großes Gerüst an Institutionen verfügt und viele Kathedralen und Abteien Zeugnisse sind für den Glauben „von einst“.

6.
Wer Verantwortung oder gar Schuld hat an diesem „post-katholischen Zustand“, ist eine wichtige Frage. Unsere These: Es ist die klerikale Herrschaftsform dieser Kirche selbst und ihre absolute Unbeweglichkeit, die auf nicht mehr nachvollziehbare Dogmen nicht verzichten kann und die Menschen aus der Kirche treibt… Es ist also die starre Herrschaft erstarrter Kleriker, die diese „post – katholische Epoche“ hervorgebracht hat. Kleriker nennen gern als „schuldig“ für diesen Zustand diffus „die Säkularisierung“, den fehlenden “Respekt vor den Werten“, die „Konsumgesellschaft”, früher sagte man auch gern „das Fernsehen“… Wenn die Kleriker dann heute vornehm „Reformen“ vorschlagen, dann sind es, wie üblich, immer nur solche, die ihre eigene Macht nicht gefährden.

7.
Es ist dabei interessant zu sehen, dass mit diesem post – katholischen Zustand Frankreichs jetzt eine „post – demokratische Zeitenwende“ gleichzeitig korrespondiert, also die wahrscheinliche Machtübernahme durch die nur nach außen hin gemäßigte, nicht-rechtsradikale Partei von Marine Le Pen, das „Rassemblement National“. Das zentrale Motto dieser Partei ist der egoistische Nationalismus, „La France d abord.“ Egoismus zuerst also. Und deswegen die Forderung: Flüchtlinge und Fremde: Raus…
Weil die Katholiken wahrscheinlich besser die Paragraphen des römischen Katechismus kennen als die Menschenrechte und die Werte der Demokratie, haben gerade die „praktizierenden Katholiken“ am 9.Juni bei den Europa-Wahlen sehr heftig die beiden rechtsradikalen Parteien gewählt (42 % aller praktizierenden Katholiken). Die französischen Bischöfe haben nicht explizit die Katholiken vor den Rechtsextremen gewarnt, sie schweigen sich auch jetzt aus, nach den Ergebnissen der Europawahl. Manche kompetente Beobachter meinen: Vielleicht denken ja auch einige Bischöfe so wie die Führer der Rechtsextremen, die Bischöfe sind wie diese Politiker gegen die „Ehe für alle“, für den absoluten Schutz der heteronormativen Familie, der Liebe zum „alten Frankreich“ usw… Von den Bischöfen Rey (Toulon) oder Aillet (Bayonne) kann man das gewiss sagen.

8.
Ob dieser Zustand des „Post-Katholischen“, also der katholischen Minderheit, sich in Zukunft weiter bestätigt, hängt von vielen Faktoren ab: Gibt es Kräfte, die zur grundlegenden Reformation (nicht zur „Reform”, diese ist viel zu bescheiden angesichts der Probleme) in der Lage sind? Sind die engagierten Laien in den Gemeinden in der Lage, eine Präsenz des Katholischen zu garantieren? Bekanntlich sind sie nur HelferInnen des Klerus, die Eucharistie leiten dürfen sie nicht. Die Feier der Eucharistie wird offiziell vom Klerus als der absoluteste aller Mittelpunkte katholischen Lebens behauptet, aber die Eucharistie dürfen nur zölibatäre Priester leiten, so behalten die Priester nach wie vor die Macht in der absolut wichtigsten aller katholischen „Ereignisse“… Wenn der Klerus ausstirbt, sterben also auch die Gemeinden. Das weiß der Klerus, und er akzeptiert diesen Weg ins Ende des Katholizismus.

Und die eigentlich irgendwann einmal etwas prophetisch gesinnten Ordensleute fallen auch in Frankreich weithin aus, nicht nur weil die Orden, männliche wie weibliche, am Aussterben sind in Frankreich, sondern weil auch das Renommee der neu gegründeten, oft charismatischen Ordensgemeinschaften einfach miserabel ist, wegen der vielen Fälle sexuellen Missbrauchs vor allem durch männliche Ordensleute.

9.
Wer heute noch in dieser Kirche mitwirkt, ist meistens dem konservativen Lager zuzurechnen: Und diese Kreise sind froh, dass auch heute alles der Tradition und den angeblich unwandelbaren Dogmen entsprechen… alles Katholische soll also so bleiben, wie es – angeblich – immer schon war.
In dieser versteinerten Haltung wird die katholische Kirche zur sehr „kleinen Herde“, wie man kirchenintern gern voller Trost im Blick auf ein Jesus-Wort sagt, also zur abgeschotteten Sekte in einer „post – katholischen Gesellschaft“.
Noch einmal: Jetzt nennen sich noch 29 Prozent aller Franzosen, vor allem ältere Menschen, katholisch. Die stärkste „Konfession“ sind heute die Religionslosen, mit über 50 Prozent. Und ihr Anteil wächst. Sind diese Religionslosen aber wirklich ohne Religion? Wenn nein, welche Religion haben sie, suchen sie, das sind offene Fragen, die bisher kaum religionsphilosophisch bearbeitet werden.

10.
Mit den Menschen „sans religion“ , „ohne Religion“, sowie den 5 Millionen Muslims sowie den einigen hunderttausend Evangelikalen und 500.000 Juden und den zahlreichen Buddhisten wird sich also der Minderheiten – Katholizismus irgendwie verständigen müssen, in einer Zeit alsbald, die man dann allgemein nur „post-katholisch“ nennen wird. Nietzsche fragte einst: Wird die Kirche zum Grab Gottes? In Frankreich ist man geneigt, diese frage mit Ja zu beantworten. Man lasse sich nur vom schönen Schein der so schönen Kathedralen etc. täuschen oder von den Wallfahrtsorten und Pilgerrouten, die selbst für „Religionslose“ wichtig geworden sind, als Formen des „Besonderen“, „Anregenden“ und durchaus „Unterhaltsamen“…

………………………

FUßNOTE 1:

Man studiere die Katholizismus-Geschichte etwa seit König Ludwig XIV.: Auch wenn es im seit dem 18. Jahrhundert zahlreiche katholische Ordensgründungen und mystische Bewegungen auch volkstümlicher Art (Pascal, Jansenisten etc.) gab: Eine tiefere, reflektierte und bewusst gelebte Orientierung am Evangelium Jesu gab es weithin nicht.
Darauf hat unter anderen der bekannte Historiker der religiösen Mentalitäten Prof. Jacques Delumeau in seinen zahlreichen Studien seit Mitte der 1970er Jahre hingewiesen. Etwa in dem Buch „Stirbt das Christentum?“ (Walter Verlag Olten, 1978).
Delumeaus wichtige Erkenntnis: Die Katholiken der viel gerühmten früheren Zeiten, etwa des Barock und danach, waren nicht vorbildlich christlich oder katholisch-fromm, selbst wenn sie noch in vielen Regionen sehr oft an der Messe teilnahmen.
Man lese in dem Zusammenhang auch die empirischen, schön geschriebenen journalistischen Beobachtungen und Studien von Sébastian Mercier (geb. 1740 – 1814) „Mein Bild von Paris“ (Insel-Verlag, 1979). Darin etwa das Kapitel „Messen“ (s. 134 ff.) „Sonn-und Feiertage“ (235 ff) oder „Beichtväter“: Deutlich wird die Oberflächlichkeit des Glaubens der meisten Katholiken in Paris kurz vor der Revolution (1789). Deutlicher kann der Glaube der „ältesten Tochter der römischen Kirche“ in Paris nicht beschrieben werden.

Bekannt ist auch, dass etliche französische Bischöfe schon seit 1930 deutlich sahen: Frankreich ist wieder Missionsland geworden, weil trotz der formellen Bindung an die Kirche durch die übliche Taufe die wichtige innere Verbundenheit mit dem Glauben fehlt. Das waren und sind religions-soziologische Feststellungen, die das Äußere der „religiösen Praxis“ betreffen, was aber bekanntlich nichts aussagt über den „inneren Glauben“ des einzelnen Menschen.

Jedenfalls wurden dann durch die Bischöfe Initiativen erlaubt, die ein neues Gesicht der Kirche in Frankreich zeigen sollten: Es waren seit 1940 etwa die Arbeiterpriester, die als Pfarrer und Ordensleute als „normale“ Arbeiter in den Fabriken vor allem tätig waren und keine Verantwortung in Pfarrgemeinden hatten. Die Arbeiterpriester und die entsprechenden katholischen Laienbewegungen der Arbeiter (ACO und JOC) wollten durch ihre solidarische Präsenz mit den Arbeitern zeigen: Christen sind nicht nur (groß)bürgerlich, sie stehen an der Seite des Proletariates, bis hin zur Mitgliedschaft von Arbeiterpriestern und Theologen in der Kommunistischen Partei oder der Gewerkschaft CGT, dies als Ausdruck der echten Verbundenheit mit dem Proletariat. Auch aus politischen Gründen wurde es 1954 von Papst Pius XII.Priestern untersagt, in der Fabrik zu arbeite. (das übliche vatikanische Nein zum Kommunismus und Sozialismus mit dem bekannten Ja und milden Nein zum Faschismus (Mussolini-Konkordat usw. )
Erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil 1965 erlaubte Rom wieder das „Experiment der Arbeiterpriester“, heute sind nur 20 Priester als Arbeiter tätig, weil es zu wenige Priester heute gibt… Und die wenigen jungen Priester sich in gut ausgestatteten bürgerlichen Pfarreien mit lateinischen Messen möglichst noch am wohlsten fühlen. Dass die jungen französischen Priester eher sehr rechts stehen und konservative Theologien vertreten, wurde in den letzten Monaten oft dokumentiert.

FUßNOTE 2:

Hinweise zum Ende der Klerus – Kirche:

Der Klerus in Frankreich ist noch stärker überaltert als etwa in Deutschland: In Paris und Versailles, dort, wie es schön und bequem ist, arbeiten noch etliche junge Priester. Aber in den kleinen Bistümern in der Provinz ist die Ausstattung mit den im Katholizismus immer noch für unersetzlich gehaltenen Klerikern äußerst prekär. Und dies schon seit Jahrzehnten.

Nur ein Beispiel: Die aktuelle Website des Erzbistums Sens-Auxerre in Burgund nennt in seiner aktuellen Website, gelesen am 26.6.2024, noch 64 Priester. Schaut man aber genauer hin, dann sind 2 Priester in anderen Bistümern tätig, 11 meist noch jüngere Priester stammen aus Afrika, und von den anderen, in Frankreich geborenen, sind nach meiner Recherche mindestens 20 über 70 Jahre. Die Website erwähnt sogar im Bistum tätige Priester im Alter von 94 Jahren oder 85 Jahren oder 92 Jahren.

Ich habe 1998 in dem Bistum Sens – Auxerre einen Film für die ARD realisiert, „In letzter Minute“ war der Titel, der schon das bevorstehende Ende der Kirchenstrukturen im Bistum andeuten sollte. Damals führte das Jahrbuch des Bistums „Eglise dans l Yonne“ (1998) noch etwa 100 Priester auf, wobei viele auch sehr vorgerückten Alters waren.damals lebten 320.000 Menschen im Bistum bzw.im Département. Heute, laut website des Bistum, leben dort 340.000 Menschen. Der Anteil der „praktizierenden, d.h. an der Sonntagsmesse teilnehmenden Katholiken in den ingesamt 30 Pfarreien ist minimal. Manche sprechen von 2 Prozent „praktizierender Katholiken“ in diesen Gegenden Burgunds , oft sind es Pariser mit einer Ferienwohnung dort, die an der Messe teilnehmen. Die absolut minimalen Zahlen der „praktizierenden Katholiken“ ist ähnlich in den Bistümern Troyes, Nevers, Moulins, Limoges (Guéret), Perigeux usw. usw. und es sind ganz überwiegend ältere Menschen, die sich noch in die leeren Kirchen sonntags zur Messe setzen, und es sind ältere Frauen, die in den Dörfern als „Ansprechpartner der Kirche“ noch eine gewisse Präsenz der Kirche zeigen…

Aber wer durchs Land fährt, sieht überall verfallene Kirchen, oft schon Ruinen seit 100 Jahren. LINK.

Eine gewisse Melancholie stellt sich ein: Denn die Frage nach der Schuld an diesem Zustand stellt sich ein. Es evident, dass die Herren der Kirche auch für diesen Niedergang Verantwortung tragen, weil sie katholisches Gemeinde – Leben ohne den zölibatären Klerus für unmöglich halten, also Laien nicht Verantwortung geben, die Eucharistie in neuer Form zu feiern. Selbst wenn das heute ab sofort möglich wäre, diese Reform käme zu spät. Es gibt nur wenige Laien, die diese Reformen – schon altersmäßig – mittragen können und wollen. Es ist also vorbei, mit dem Katholizismus in Frankreich, selbst wenn er nach außen hin noch als alte kulturelle Tradition sichtbar ist.

……

Einige Bücher, die für diesen Hinweis wichtig sind:

Céline Béraud et Philipe Portier, Metamorphosen catholiques. Editions de la Maison des sciences de l` homme, Paris, 2015.

Patrick Cabanel, „Le droit de croire. La France et ses minorités religieuses 16.-21. siècle“. Edition Passés Composés, Paris, 2023.

Guillaume Cuchet, „Comment notre monde a cessé d être chrétien“. Ed.du Seuil, Paris, 2018.
Ders., Le catholicisme a-t-il de l avenir en France?“ Ed. du Seuil, 2021.

Jérome Fourquet, „Á la Droite de Dieu“. Ed. du Cerf., Paris, 2018.

Danièle Hervieu – Léger, „Catholicisme, Fin d` un Monde, Ed. Bayard, Paris, 2003.

Danièle Hervieu – Léger, Jean Louis Schlegel, „Vers l `implosion? L` avenir du catholicisme“. Ed. du Seuil, 2022.

Guy Michelat und andere, „Les Francais sont – ils encore Catholiques?“, Ed. Du Cerf, 1991.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Parlamentswahlen in Frankreich: Jetzt hilft nur noch beten, glauben die Bischöfe.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 21.6.2024

Ergänzung zum Wahlverhalten des Ehepaars Klarsfeld: Veröffentlicht am 24.6.2024:

Unsere Hinweise zur Zustimmung zu den rechtsextremen Parteien in Frankreich (vor den Parlamentswahlen am 30.6. und am 7.7.2024) bezieht sich, unseren Schwerpunkten folgend, vor allem auf Katholiken und deren Führer.

Um der Objektivität und der umfassenden Information willen:
Wir finden es skandalös, dass jetzt das bekannte Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld (Paris), geehrt wegen ihrer langjährigen Verfolgung von Nazi-Tätern, ihr Wahlverhalten zur Parlamentswahl 2024 öffentlich erklärt:
Sie wollen die Partei Marine Le Pens wählen, also den „Rassemblement National“ (RN). Dies ist die Nachfolgepartei des rechtsextremen „Front National“ des offen antisemitischen Vaters von Marine, also Jean-Marie Le Pen.

Man kann nur hoffen, dass dieses skandalöse Statement nicht Nachfolger findet, denn „die Klarsfeld“ sind doch „wer“…

Unsere Frage: Warum entscheiden sich Juden, die nach außen hin normalisierte, nach außen hin also nicht mehr antisemitische, hingegen immer noch explizit überaus muslimkritiische und sehr ausländerkritische Partei „Rassemblement National“ zu wählen?

Die Antwort des Ehepaars Klarsfeld: Sie wählen diese rechtsradikale, europafeindliche Partei RN aus dem einen Grund: Weil dieser Rassemblment National nicht explizit antisemitisch sein soll.

Das heißt: Für die beiden Klarsfeld wird ihre eigene Identität, also die Verbundenheit mit Israel und das Jüdischsein, zum entscheidenden und alleinigen Kriterium, eine insgesamt demokratie-feindliche Partei zu wählen.

Die beiden Klarsfeld halten ihre begrenzte jüdische Identität für wichtiger als die universalen Werte der Demokratie.
Wir haben im Zusammenhang der wichtigen Bücher des Philosophen Omri Boehm (Israel/USA) zum Thema mehrfach darauf hingewiesen. LINK.

Zurecht wurde wohl auch von den Klarsfeld früher einmal kritisiert, dass sehr viele Katholiken den Nazi-Freund, Général Pétain einst unterstützten, aus einem formal gleichen Motiv: Der Pétain förderte und unterstützte die katholische, die konfessionell Sache, die katholischen Schulen, die katholischen Werte der katholischen Familie etc. Er förderte die nun einmal begrenzte katholische Identität, die viele Katholiken (auch Bischöfe) wichtiger fanden, als für die Menschenrechte und die Demokratie in Frankreich einzutreten…

So haben sich Fixierungen auf begrenzte Identitäten gegen universalen demokratischen Werten am Leben gehalten und fortgesetzt, auch beim Ehepaar Klarsfeld.

Man muss diese Statements wohl eine Schande nennen. Juden in Frankreich urteilen ähnlich darüber, so befinden sich Kritiker in Deutschland in guter Gesellschaft. Siehe: LINK

Ein Vorschlag: Das Ehepaar Klarsfeld könnte alles tun, um ihren jüdischen Mitbürger Erich Zemmour davon abzuhalten, seine rechtsextreme Partei „Reconquete“ weiter auszubauen.

Zur Vertiefung: siehe die verschiedenen lesenswerten Beiträge der TAZ etwa. LINK. https://taz.de/Ehepaar-Klarsfeld-ueber-Frankreich/!6016087/

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

………………….. DER BEITRAG VOM 21.6.2024:

1.
Sie haben lange geschwiegen, die katholischen Bischöfe Frankreichs nach dem starken Rutsch ins Rechtsextreme auch unter den so genannten praktizierenden Katholiken, also nach den Europawahlen am 9. Juni 2024.
Im Unterschied zu den Verantwortlichen der protestantischen Kirche Frankreichs, die haben sofort präzise vor den Rechtsextremen gewarnt! (Siehe Fußnote 1)

2.
Am 20.6. hat sich nun die französische Bischofskonferenz aufgerafft, eine Stellungnahme zu den bevorstehenden Parlamentswahlen zu veröffentlichen, nachdem zahlreiche katholische Medien und einige katholische Laiengruppen das Schweigen der Hirten zum Sieg der Rechtsextremen am 9.6. 2024 öffentlich kritisiert hatten.

Am 23.6.versammelten sich doch noch einige Christen in Paris, um zu erklären: Die Rechtsextremen sind mit dem christlichen Gkauben nicht zu vereinbaren. (Quelle, Tageszeutung La Croix, Pars, 23.6.2024): “Un rassemblement de chrétiens « contre l’extrême droite » a été organisé, dimanche 23 juin, devant les Invalides à Paris. Un événement qui fait suite à la parution d’une tribune de 6 000 chrétiens expliquant refuser le Rassemblement national au nom de leur foi. Zur “christlichen Protest – Demo” am 23.6. selbst schreibt diese Zeitung: « “Nous sommes ici car nous voulons montrer que nos valeurs chrétiennes sont incompatibles avec celles prônées par l’extrême droite. » C’est le mot d’ordre que reprennent participants et organisateurs du rassemblement de chrétiens « contre l’extrême droite », dimanche 23 juin. Ils sont plus de 200 à s’être réunis, devant les Invalides à Paris.” Immerhin, einige politisch Vernünftige gibt es noch unter Frankreichs Christen vor der Wahl, sie raffen sich auf und demonstrieren. (CM)

3.
Im Mittelpunkt der Erklärung der Bischofskonferenz LINK  steht die Aufforderung, vor den Wahlen ein bestimmtes, neu formuliertes Gebet zu sprechen, siehe dazu Nr. 6. Von politischen Debatten jetzt in den Kirchen und Gemeindehäusern keine Rede, ebenfalls keine Rede, an den großen Demonstrationen gegen Rechtsextreme sollten Katholiken teilnehmen (das machen einige wenige Laien trotzdem). Kurz: Die Bischöfe sind eingeschlossen in ein ängstliches, nur frommes Weltbild.

4.
Zuvor ein Hinweis zu der Erklärung, die die Bischöfe als eine Art „Begleitung“ zu dem Gebet vor den Wahlen verstehen.
In dieser Erklärung ist deutlich: Die Bischöfe sehen durchaus, dass die Auflösung der Nationalversammlung das Land in unerwartete Unruhe („trouble“) führt.
Die Bischöfe fordern die Katholiken auf, verantwortungsbewusste Bürger zu sein, nicht etwa, weil sich diese Katholiken auf die Werte der Demokratie und der Menschenrechte zu allererst stützen. Sondern weil die katholische citoyens an „das Geheimnis von Tod und Auferstehung Jesu“ glauben und daraus ihre politische Hoffnung beziehen… Schuld an dem aktuellen „Malaise“ (Not) seien, so die Bischöfe, Individualismus und Egoismus, die Schwächung des Sinns für den Respekt für das menschliche Leben und die „Auslöschung Gottes im allgemeinen Bewusstsein und Gewissen.“ Außerdem sollen die Franzosen doch bitte die Meinungen der anderen Mitbürger respektieren, fordern die Oberhirten…
Es fällt auf. Mit keinem einzigen Wort werden die rechtsradikalen Parteien als Gefahr für die Demokratie und für den europäischen Zusammenhalt genannt. Die Bischöfe geben sich irgendwie neutral, sie geben – angesichts des langsamen Untergangs der Demokratie – keine konkrete Warnung oder gar konkrete Wahl – Empfehlung. Sie äußern sich jetzt vornehm neutral, als ob die Wähler es nur mit demokratischen Parteien zu tun hätten, bei denen Katholiken natürlich unterschiedliche Meinungen haben dürfen. Aber jetzt ist die Demokratie, ist Europa, bedroht. Irgendwie wirken die französischen Bischöfe, als wären sie aus der Gegenwart gefallen, als hätten sie die vielen hundert Skandale um ihre Priester (Sexueller Missbrauch) in tiefe Depressionen geführt.

5.
Dieses Schweigen der Bischöfe über die rechtsextremen Parteien, diese Angst, konkret Namen der problematischen Führer zu nennen, den Rassismus der rechtsextremen Parteien als solchen zu nennen sowie die Abwehr der Fremden… dieses Schweigen, diese klerikale Angst, sind ein Skandal.
Man kann also interpretieren:
Nicht nur die praktizierenden Katholiken, auch ihre klerikalen Führer, die Bischöfe, glauben nun an Marine Le Pens neues „moderates“ Programm der „dédiabolisation“ ihres Rassemblement National (RN). Madame Le Pen nannte ja ihr nach außen hin moderates Programm eine „Dédiabolisation“, eine „Entteufelung“ dieser Partei.
Wie naiv dürfen eigentlich Bischöfe sein? Oder haben diese Kleriker gar – wie ihre Vorgänger im 20. Jahrhundert – eine meist verstecke, manchmal offene Liebe gegenüber autoritären Politik-Entwürfen und rechtsextremen Politikern? Man denke nur an die Ergebenheit vieler französischer Bischöfe gegenüber dem autoritären Nazi – Freund Marschall Pétain…Oder sind die Bischöfe erfreut, dass der neue Parteichef des RN mal auf einer katholischen Schule war und deswegen so einbrechen katholisch angehaucht ist, oder dass die graue Eminenz des RN, Renaud Labane eifriger Katholik sein will, wenn auch im schismatischen Lager der Pius-Brüder, aber das muss ja nicht sooo schlimm sein, Hauptsache katholisch .. und Kämpfer für die Rechte der hetero-normativen Familie, für PRO LIFE und gegen den – angeblichen – Gender – Wahnsinn. Denn diese Kämpfe sind doch jetzt identisch mit katholisch!

6.
Jetzt hilft nur noch beten: Das bedeutet für klassischen katholischen Theologen: Gott wird schon vom Himmel aus das Flehen seiner Leute auf Erden erhören: Nur, er weiß selbst wahrscheinlich NICHT, was denn nun dieses Gebet seiner Leute in Frankreich konkret für ihn im Himmel bedeutet: Wo soll er denn nun mit seinem heiligen Geist eingreifen? Vielleicht Marine Le Pen zur Demokratin machen? Die Aufforderung zu beten, ist in den letzten Monaten unter Katholiken geradezu inflationär geworden, das nennt man Wunderglauben alter Art.
Gebet hat nur nachvollziehbaren Sinn, wenn mit diesem Wort „kritische Selbstreflexion“ mit dem Ziel demokratischen politischen Handelns gemeint ist. Daran denken die Herren der Kirche offenbar nicht im entferntesten. Sie glauben wider alle von Gott gegebene, deswegen heilige Vernunft, dass Gott im Himmel hört und erhört…Und die armen Katholiken hier jammern und leiden… und je nach Laune entscheidet.

7.
Das Gebet vor der Parlamentswahl:

« Dieu de vérité et de bonté, en ces temps de décisions fortes
pour notre pays la France,
aide-nous à discerner correctement ce qui est juste.
Renouvelle en nous, chaque matin, le goût de servir, pour que nous accomplissions nos tâches avec cœur
et garde-nous de mépriser quelque être humain que ce soit.
Viens, Esprit-Saint, éclairer ceux et celles qui seront choisis comme députés ou auront à gouverner notre pays.
Qu’ils puissent ensemble chercher le meilleur pour nous tous. 
Imprime en eux un grand sens du service du bien commun.
Sainte Vierge Marie, sainte Jeanne d’Arc, sainte Thérèse de l’Enfant Jésus, patronnes de la France, veillez sur notre pays.
Qu’il soit une terre de liberté, de justice, de fraternité et se tienne à la hauteur de son rôle dans l’histoire.
Aidez-nous à y être, à notre modeste place mais selon toute notre responsabilité, des disciples de l’Évangile.
Amen. »
Die Übersetzung kann jeder und jede leicht über die Übersetzungsdienste erhalten.
Es fällt mir in dem Gebet auf, wieder werden in totaler unpolitischer Haltung floskelhaft einige Sätzchen daher gesagt. Und vor allem: Die heilige Jungfrau Maria, die heilige Jeanne d Arc (sic, die kämpferische Heilige, die England besiegte!) und die heilige Theresia vom Kinde Jesu aus Lisieux, sie sind die Patroninnen Frankreichs … diese himmlischen heiligen Damen sollen „veillez sur Notre pays“, also „über unser Land wachen“.
Auch im Gebet wird kein Name, keine rechtsextreme oder antisemitische Partei genannt, die der liebe Gott doch bitte einschränken möge…
Ein Text, der heute schon Geschichte macht, ist eine Blamage, eine theologisch – politische Dummheit der Kirchenführer.
Fußnote 1:
Les instances de „l’Église protestante unie de France“ ont réagi dès le 13 juin 2024:
« Les résultats français des élections au Parlement européen nous accablent […] L’Église protestante unie de France ne peut pas se taire. […] Se tenir à l’écoute de l’Évangile a nécessairement des conséquences politiques qui s’opposent au programme du Rassemblement national. » (Quelle. Internet Zeitschrift „Témoignage Chretien“, Paris, 20.6.2024, LINK
Übersetzung:
„Die französischen Resultate der Wahlen zum Europaparlament bedrücken uns. Die Vereinigte Protestantische Kirche Frankreichs (also die Reformierten und die Lutheraner, CM) kann nicht schweigen. Wenn man auf das Evangelium hört, hat dies notwendigerweise politische Konsequenzen, die sich dem Programm des Rassemblement Nation (RN) widersetzen“.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Der ultraliberale Chef Argentiniens Milei erhält den Preis des ultraliberalen Friedrich A. Hayek in Hamburg

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20. 6.2024.

Zur Demonstration in Hamburg gegen den Ultraliberalen MILEI in HAMBURG am 22.6.2024: LINK

1.
Der österreichische Ökonom Friedrich August Hayek (1899 – 1992) ist der bis heute, bekanntermaßen, sehr wirksame ökonomische Vordenker des Ultraliberalismus, also des radikalen Neoliberalismus, d.h. des Abbaus des (Sozial)-Staates.

Die neoliberale Zerstörerin des Sozialstaates Madame Thatcher rühmte Hayek ausdrücklich als ihr Vorbild. Reagan war auch Hayek – Fan…

Durch Hayeks Ideologie wird der Sozialstaat nicht nur geschmäht, er wird – zumal aktuell in Lateinamerika – heftigst abgebaut.
An Hayeks Ideologie klammert sich der neue Präsident Argentiniens, Javier Milei. Er vertritt die Ideologie des “Anarcho-Kapitalismus”, zu der auch der Rückbau des Rechtsstaates gehört. Dieser Herr, in Argentinien von den Demokraten verachtet und von einigen kritischen Bischöfen dort nich kritisiert, erhält am Wochenende in Hamburg (22. Juni 2024) die Hayek Medaille der Friedrich A. von Hayek – Gesellschaft. Da erkennt man die geistigen und vor allem ökonomischen Verbindungen! Die Liberalen in Deutschland scheinen sich zweifelsfrei mit diesem Herrn sehr wohl zu fühlen.

Der international bekannte Ökonom, Politologe und Theologe, Prof. Franz Hinkelammert (1931 – 2023) nimmt sich in seinem Buch »Die Dialektik und der Humanismus der Praxis«. VSA, 256 S.  auch Friedrich Hayek vor, der ausgehend von der These der »unsichtbaren Hand des Marktes« das automatische Gleichgewicht aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen behauptet. Damit gehe dieser weit über Adam Smith hinaus, der immerhin noch eingestand, dass der Markt zu seiner Zeit nur auf Kosten von ausgebeuteten, hungernden und elend sterbenden Arbeiterkindern stabilisiert werde. Hayek verleiht dem Marktabsolutismus eine religiöse Aura. Damit sanktioniere Hayek quasi jährliches millionenfaches Sterben an Hunger und Armut sowie die weitere Zerstörung der Erde,“ schreibt der Theologe Prof. Ulrich Duchrow.

Papst Franziskus hat jedenfalls im Februar 2024 mit einer sehr freundlichen Umarmung den Anarchokapitalisten und Ultraliberalen Herrn Milei  im Vatikan empfangen und begrüßt! So kann die von Papst Franziskus so oft zitierte Option “eine Kirche für die Armen zu sein”, auch gestaltet werden. Die Hayek – Ideologen befinden sich also in guter päpstlicher Gesellschaft der “Milei – Versteher”… LINK

2.
Mitglieder dieser sozialstaatsfeindlichen Hayek -Gesellschaft sind u.a.:

Der Opus – Dei – Priester Prof. Manfred Rhonheimer,

Die AFD FührerÎnnen Beatrix von Storch sowie Alice Weidel, sie ist allerdings aus diesem Club 2021 ausgetreten.

Der Autor Henryk M. Broder ist Mitglied dieser Gesellschaft.

Der Fürst von Liechtenstein Hans Adam II ebenso usw….

3.
Die Ideologie Hayeks ist die wohl wirksamste und schädlichste ökonomische Ideologie des brutalen Kapitalismus, die in den letzten Jahren formuliert und verbreitet wird … gegen den Sozialstaat und die Fürsorge des Staates für die Armen und an den Rand Gedrängten.

4.
Der liberale FDP Poliiker und jetzt Wirtschaftsminister Christian Lindner ist – immerhin ! – 2015 aus dieser „illustren“ reaktionären Hayek Gesellschaft ausgetreten. Wie viel Geist Hayeks in Lindners  Politik trotzdem steckt, wäre zu prüfen.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

PS.:
Die Hayek Gesellschaft begründet die Ehrung des ultraliberalen argentinischen Präsidenten Milei mit den (in unserer Sucht sehr realitätsfernen, ideologisch fixierten) Worten:

„Der Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft, Prof. Dr. Stefan Kooths, würdigt Milei als ambitionierten Reformer im Sinne Hayeks und der österreichischen Schule der Ökonomie… Mit seiner klaren Sicht auf die Kraft einer marktwirtschaftlichen Ordnung hat Argentinien die Chance, aus dem Interventionismus der Vergangenheit auszubrechen und wieder die Grundlagen für Freiheit, Wohlstand und sozialen Frieden zu legen. Und so weiter und so weiter… LINK   https://hayek.de/wp-content/uploads/2024/02/Pressemitteilung.pdf

Dass Präsident Milei von weitesten Kreisen der durch seine ultraliberale Politik notleidenden argentinischen Bevölkerung, gelinde gesagt, sehr unbeliebt ist, wird, in diesen liberalen Hayek – Kreisen, verschwiegen.

Siehe auch den aktuellen  Bericht über Milei in der selbst eher liberal eingestellten „DIE ZEIT“ vom 20.Juni 2024, im “Wirtschaftsteil” der Zeitung.

Welttag der Flüchtlinge – Eine Initiative im Berliner Dom! 20. Juni 2024.

100 BOOTE – 100 MILLIONEN MENSCHEN und BEIM NAMEN NENNEN!
Wir geben zunächst eine Information des protestantischen Berliner Doms weiter und dann einige Hinweise von Christian Modehn zum Thema:
Zum BERLINER DOM am 20.6.2024:
Namenslesung und Gottesdienst im Berliner Dom
zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2024
Inzwischen können mehr als 110 Millionen Menschen nicht bleiben, wo sie leben. Sie fliehen vor Krieg, HungerundNaturkatastrophen, vor Diskriminierung und Armut. Für viele von ihnen endet die Flucht tödlich. 60.620 Opfer der Festung Europa. Stand heute (18. Juni 2024)

Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni setzt der Berliner Dom ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen auf der Flucht.Von 10 bis 18 Uhrwerden Namen der auf der Flucht nach Europa Umgekommenen im Berliner Dom verlesen. Begleitend gibt es zu jeder vollen Stunde einen musikalischen Impuls. Wir wollen erinnern und nicht wegschauen. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Als Christinnen und Christen glauben wir, dass wir Fluchtursachen bekämpfen müssen, nicht Flüchtende.Um 18 Uhrbeschließt ein Gedenkgottesdienst den Tag und die Aktionen. Es predigt Bischof Dr. Christian Stäblein, der Flüchtlingsbeauftragte der EKD.
Zum Hintergrund
Am 3. Juni begannen zwei Kunstaktionen im Vorfeld des Weltflüchtlingstags im Berliner Dom:
„100 Boote – 100 Millionen Menschen“
Auf eine Initiative der Arbeiterwohlfahrt Sachsen-Anhalt (AWO) wurden 100 XXL-Origami-Boote gefaltet und mit individuellen Botschaften gestaltet. In vielen Einrichtungen bundesweit erinnern sie an die Hoffnungen und Schicksale der Flüchtenden. Auch im Berliner Dom steht ein solches Boot. Es wird am Weltflüchtlingstag in den Lustgarten hinausgetragen, um dort mit den anderen 99 Booten zusammengeführt zu werden. Im Rahmen einer von der AWO organisierten Gedenkveranstaltung erinnern sie an das Elend der weltweiten Flüchtlingsbewegungen.
„Beim Namen nennen!“
Bei der Aktion “Beim Namen nennen!“ werden die Namen der auf der Flucht nach Europa Umgekommenen, ihre Sterbedaten und die Umstände ihres Todes auf Papierbändern öffentlich gemacht. Die von Hilfsorganisationen gesammelten Informationen über die Verstorbenen lassen das Ausmaß ihrer Verzweiflung auf erschütternde Weise spürbar werden. Die Besucher des Berliner Doms waren eingeladen, sich in einer extra dafür eingerichteten „Schreibstube“ einen Moment der Ruhe und Besinnung zu nehmen und die Namen, Daten und Todesumstände auf Papierbänder zu schreiben. Sukzessivewurden alle Bänder in den Arkaden des Domes aufgehängt.
Christian Modehn ergänzt:
1.
Der “Welttag der Flüchtlinge” ist nicht auf diesen einen Tag (20.Juni) begrenzt, jeder Tag sollte in Demokratien ein Tag sein, in dem die universell geltenden Menschenrechte auch für Flüchtlinge erinnert werden. Und Flüchtlinge dürfen nicht pauschal als Gefährder, sondern als Gäste und spätere Mitbürger angesehen und respektiert werden. Dieser Gedanke fällt vielen in Europa schwer, angesichts der zunehmenden rechtsradikalen Hetze und Gewalt gegen Flüchtlinge und “Menschen aus anderen Kulturen. “
2.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) betont jetzt: 120 Millionen Menschen sind auf der Flucht, 120 Millionen Menschen sind Flüchtende.
Ein entscheidender Faktor für diese hohe Zahl leidender, hungernder, vertriebener Menschen ist auch der verheerende Krieg im Sudan, den so wenige in Europa beachten. 10,8 Millionen sind dort auf der Flucht. Wir kennen allmählich in Europa fast jede Stadt und jedes Dorf im Gaza-Streifen (zurecht!) mit Namen, haben aber überhaupt keine genauere Kenntnis, wie es den 10,8 Millionen Flüchtenden dort geht, n welchen Wüstenorten sie hungern und sterben. Es handelt sich offenbar um die “weniger wichtigen Leidenden” in der Sicht vieler… LINK.
Man vergesse auch nicht: Die meisten Flüchtlinge werden in “Zielstaaten” aufgenommen, in denen die Bevölkerung selbst meist in bitterer Armut lebt, etwa West-Afrika.
3.
Ministerin Svenja Schulze (SPD) warnt vor allen Taktiken der sich liberal nennenden FDP, den liberal – dogmatischen Sparkurs auch auf die deutsche Entwicklungshilfe auszudehnen.
4.
Wenn schon die großen Wirtschaftsunternehmen sich für Flüchtlinge interessieren sollten: Dann sollten sie doch bitte wissen: 5,3 Millionen Menschen, “Ausländische Arbeitskräfte”, darunter auch Flüchtlinge, leisten bereits jetzt einen Beitrag in Deutschland angesichts des massiven und größer werdenden Mangels an Arbeitskräften.
Also, liebe Unternehmer, liebe konservative und “liberale” Politiker: Denkt wenigstens strategisch – ökonomisch und laßt mehr Ausländer und Flüchtlinge wenigstens unter dem Titel  “Arbeitskräfte” nach Deutschland. Aber bitte schnell.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Aphorismen von Jürgen Große: “Von schwankender Gestalt”.

Ein Interview: Anläßlich des neuen Buches von Dr. Jürgen Große, Berlin.

Veröffentlicht am 17.6.2024

Herr Große, Sie haben als Historiker und Philosoph schon etliche Bücher auch zum Thema “Religion und Philosophie” vorgelegt. Nun ist Ihre neue Sammlung von Aphorismen mit dem Titel „Von schwankender Gestalt“ erschienen, mit den drei Kapiteln Kunst, Religion und Philosophie.
Um auf den Titel zu kommen: Ist für Sie der Aphorismus ein schwankendes, suchendes, umstrittenes, vielleicht auch gefährdetes Aussagen von Erkenntnissen, vielleicht sogar von Wahrheiten?



Ob umstritten, müssen die einschlägigen Literaturräte entscheiden, ob gefährdet, hängt selten vom Inhalt ab. Was unter dem Titel „Aphorismen“, heutzutage veröffentlicht wird, ist ja oftmals recht bieder, eine Kundgabe von gefestigten Überzeugungen, die nun auch bitte die restliche Welt teilen möge! Wobei viele Autoren sich in ihrer Unschuld tatsächlich für gefährdet glauben durch die unerhörten geistigen Kühnheiten, mit denen sie sich ans Licht wagen …
Doch selbst in der Karikatur wird eine Norm sichtbar, wie der Aphorismus, die Sentenz, die Maxime, um einmal ältere Ausdrücke zu benutzen, sein sollte. Mit der sogenannten Kleinen Form, also auch dem Aphorismus, geht man ein Risiko ein. Es besteht da ein literarischer Zwang zum Apodiktischen, Verkürzten, oft Einseitigen. Wenn man zudem noch in anderen Genres schreibt, riskiert man mit Aphorismen seinen guten Ruf. Dennoch, man muß es wagen, sich nackt in seinen Meinungen, Gefühlen, Vorurteilen zu zeigen, auch in der ganzen Ideologiehaltigkeit der eigenen Existenz. Sonst ist es bloße eitle Feierabendschreiberei und Ich-Dekoration.

Wer schreibt Aphorismen?

Es gibt heute Unmengen von „Aphorismen“-Büchern. Aber die lesbaren Aphorismen werden meistens nicht unter diesem Titel veröffentlicht, sondern finden sich in Nachlässen, Notizen, Nebenarbeiten von Schriftstellern. Aphorismen sind interessant, wenn der Autor gerade nicht das Schatzkästlein seiner gut abhangenen Lebenserfahrung und Weltsicht literarisch überhöht, um sie dem Leser schön formuliert aufzubinden. Sondern im Gegenteil, wenn der Schreiber seine eigenen Defizite literarisch auslebt, in einer gewissen Exhibition und Übertreibung. Steht ihm hierbei ein gewisses philosophisches Vokabular zu Gebote, dann kann das hilfreich sein – wenn es sich nicht als Bildungswissen, als Überzeugungswut in den Vordergrund drängt.
Gerade Philosophen oder einschlägig Studierte sind da gefährdet. Literarisch aufgepeppte Philosopheme interessieren keinen! Doch ächzen professionelle Philosophen, die sich in der Kleinen Form versuchen, oftmals unter ihrem akademischen Bildungsbuckel. Egal, ob solche Menschen ihre sonstige geistige Existenz literarisch auflockern oder feierlich gestalten wollen, es wirkt angestrengt, künstlich, weil das Verhältnis zur Sprache instrumentell bleibt.

Als Aphorismenschreiber hat man sicherlich eine Nähe zur Philosophie, doch im literarischen Idealfall dreht man das Verfahren der professionellen Philosophie um. Man sublimiert und objektiviert seine Subjektivität nicht, sondern man macht sie – gern mit dem Begriffsrepertoire philosophischer Objektivität – scharfumrissen sichtbar. Was dann umgekehrt auch die philosophischen Denkformen und -resultate in einem anderen Licht zeigt, in ihrer versteckten persönlichen Bedingtheit etwa.
Amüsant – und für Autor und Leser erträglich – wird das alles erst bei einer gewissen Natürlichkeit literarischer Sprache und philosophischer Bildung, das heißt eben nicht als Sonntagsschreiberei, sondern schon im Vollzug der Normalexistenz. Dennoch, die Unsicherheit des Autors über den Wert solcher Elaborate wird immer bleiben, somit auch das, was Sie vielleicht mit „Schwanken“ meinen.

Wer oder was bringt diese Gestalten (Aphorismen) denn zum Schwanken? Äußere, gesellschaftliche Kräfte oder der denkende Autor selbst? 



Offensichtlich ein Mißverständnis! Ich meinte mit der schwankenden Gestalt im Untertitel erst einmal das, was bei Hegel die Erscheinungsformen des absoluten Geistes sind, also Kunst, Religion, Philosophie. Eine liebe-, aber auch respektvolle Ironie meinerseits; Stabilisierungsversuche erzeugen bei mir jedenfalls immer Respekt! Denn ich bin überzeugt, daß besagtes Schwanken von Kunst, Religion, Philosophie eine Tatsache ist. Es zeigt den gefährdeten, krisennahen Zustand einer als autark gewollten Kunst, Frömmigkeit, Begriffsdichtung. Das Schwanken resultiert schlicht aus deren Emanzipation.
Man setzt diese Gefährdung pauschal, aber nicht unbegründet mit „der“ Moderne gleich, diese Ansprüche einer Kunst um der Kunst willen, eines Denkens um seiner selbst willen, aus sich selbst gegründet. Zum Aphorismus kommt man angesichts dessen vielleicht, weil er eine literarisch und intellektuell angemessene Ausdrucksform der Unruhe, der Unsicherheit ist. Wobei – es sind auch schon Systeme in Aphorismen entworfen worden …

Sind (für Sie) Aphorismen bevorzugte Formen philosophischer Aussagen? Oder „nur“ Anreize, Impulse, Irritationen, Provokationen?

Ich schreibe auch langatmige Sachbücher und Essays! Aber tatsächlich ist für mich der Aphorismus die philosophische Königsform, weil sie zur Reduktion und somit zur Selbstkonfrontation zwingt: Was will ich sagen? Wollte ich das sagen? Was habe ich da eigentlich gesagt? War das wirklich notwendig?
Es ist ein Selbstgespräch, aber im Rahmen akzeptierter sprachlicher Regeln. Eine Verbindung von Strenge und Freiheit. Ich muß da keine Rücksicht auf tatsächliche oder – wie beim Sachbuchschreiben – imaginierte Gesprächssituationen nehmen, wo es ein Gegenüber argumentativ oder rhetorisch zu bezwingen gilt, wo man die ganze Sprachlast des „also“, „somit“, „daher“ mitschleppt. Kurz, das intuitive Element dominiert, nicht das kausale oder narrative. Der Aphorismus reißt Phänomen- oder Problemzusammenhänge überhaupt erst an, fixiert sie in einem sententiösen Kürzel.
Es ist auch geistige Selbsterziehung. Ich erkenne mich in meiner subjektiven Begrenztheit, meinen Vorurteilen und Denkängsten, ich möchte mich davon befreien, doch nicht, indem ich meine Subjektivität scheinobjektiv und sachlich schick mache für die Öffentlichkeit, sondern indem ich sie mit literarischen Mitteln übertreibe, sie zur Größe von religiösen Dogmen und philosophischen Systemen aufblase und erkenne: Das ist zu groß für einen Menschen, um darin zu leben; der Mensch ist ein vielleicht mängelbehaftetes, aber lebendiges Ganzes; dieses wiederum ist nur in Teilen durch Systeme und Dogmen zu erfassen …

Wie würde sich Ihrer Meinung nach eine geeignete Form der Lektüre Ihrer Aphorismen gestalten? Könnte man sagen: meditativ, verweilend, protestierend, die Irritation als Antwort ausdrückend?

Nichts davon muß, alles kann. Wenn mir Menschen schreiben, daß sie hier und da etwas zu lachen fanden, bin ich glücklich und zufrieden.

In Ihren Aphorismen steckt sozusagen Ihre eigene Philosophie, also das, was Sie als Philosoph für „wesentlich“ halten. Welche Elemente würden Sie da nennen?

Eine gute Fangfrage! Sie läuft letztlich auf die Trennbarkeit von philosophischem Gehalt und literarischer Form heraus, mit der ein Aphoristiker aber seinen Bankrott erklärt hätte. Man kann aphoristische Texte nur bedingt nach ihrem Wesensgehalt referieren. Deshalb bin ich auch bei meinen eigenen Büchern zu Nietzsche oder Cioran an gewisse Grenzen gestoßen.
Doch Ihre Frage zu dem, was ich an der Philosophie wesentlich finde, kann ich beantworten. Philosophie muß Selbst- und Welterkenntnis verbinden können, auf eine sprachlich wie logisch überzeugende Weise. Vielleicht auch auf einmalige, einseitige Weise. Deshalb wohl die unausrottbare Vorstellung, es gäbe so etwas wie Primärautoren, eben Klassiker, auf deren originäre Einsichten man zurückgreifen könnte.

In dem Kapitel „Religion“ wird für mich deutlich, dass Sie mit den Formen des religiösen Glaubens ringen, dass Sie aber auch die Konkretheit von Glaubensformen und Glaubensinhalten ablehnen, aber dann doch daran denken: Irgendeine vernünftige und gute Gestalt von religiösem Glauben könnte es doch geben. Verstehe ich Sie da richtig?

Daß ich konkrete Glaubensinhalte ablehne, wäre zu viel gesagt. Überhaupt kann man ja Glaubensinhalte nicht kritisieren oder ablehnen wie Protokollsätze! Aber als Intellektueller, als Schriftsteller, erfasse ich sie natürlich von einem Standpunkt aus, der seinerseits kein religiöser, zumindest kein religiös-dogmatischer ist. Das ist jedoch keine Metaposition oder geistige Konsumhaltung. Das Religiöse wird bei mir nicht vernutzt, auch nicht aufgeputzt! Intellektuelle und Schriftsteller, die den Glauben zu sozialen Distinktionszwecken benötigen, als Einstecktüchlein an die bürgerliche Ausgehuniform geheftet – die finde ich einfach peinlich. [Herr Mosebach, Sie sind gemeint!] Und weiter: „Vernünftig“ und „gut“ wären schon sehr starke Ausdrücke für meine Klärungsversuche an dem, was „Glaube“ bedeutet. Keine Frage, Glaube kann Lebensform und Institution werden, auch spezielle Bewußtseinsform, in all diesen Fällen ist er dann deutlich von anderen Erfahrungsregionen abgehoben. Ich stelle mich da bewußt etwas ahnungs- oder vorurteilslos und suche die Gläubigkeit erst einmal auf einer alltäglichen, vielleicht banalen Ebene auf. Im banalen wie im anspruchsvollen Sinne kann nun aber niemand von sich selbst mit Sicherheit sagen, ob das sein „Glaube“ ist, was er denkt und fühlt!* Das ergibt sich erst aus Kontrasten mit anderen Erfahrungs- und Denkformen, natürlich auch mit anderen Glaubensinhalten, sprich, das geschieht im sozialen Raum. Und dann zeigt sich zum Beispiel: Gläubig wird jemand genannt, der von den – für andere Menschen – wirklichen Dingen behauptet, daß sie nicht wirklich sind oder wertvoll sind, und der von den – wiederum für andere Menschen – unwirklichen Dingen behauptet, daß sie wirklich sind oder wertvoll sind. So gelten dann schließlich ganze Menschengruppen als gläubig, andersgläubig oder ungläubig. In solchen Adjektiven drückt sich unvermeidlich das Glaubensverhältnis derer aus, die sie anderen anhängen.
*Speziell beim christlichen Glauben habe ich den Eindruck, daß sich sein Bekenner nie ganz sicher sein darf, ob er glaubt, ja auch nur, ob er richtig glaubt; die Sicherheit wäre dann wohl schon zu nahe beim Hochmut.

Die drei Kapitel des Buches, also Kunst – Religion – Philosophie, spielen also auf Hegels Überzeugung vom absoluten Geist an, der sich in drei Stufen zur Philosophie hin als höchster Form des Geistes entwickelt. Ist für Sie auch die Philosophie auch das Höchste der vernünftigen Leistungen des Menschen?

Ihrer Tendenz und ihrem Anspruch nach liefe das auf ein Ja hinaus. Aber das würde als Antwort wohl weder Sie noch mich befriedigen. Mir selbst käme eine Hierarchie entlang der (philosophischen) Vernünftigkeit arrogant und auch ein wenig borniert vor. Ich will damit nicht auf eine doppelte Wahrheit oder ähnliches hinaus, sondern sehe das Problem so ähnlich wie beim Glauben überhaupt: Seinem Ideal nach bringt jeder – dogmatisch befestigte – Glaube seine eigenen Maßstäbe mit, was als „seines“ zu gelten habe. Deshalb könnte es sein, daß auch die Philosophie sich nur im philosophischen Selbstgespräch befände, wenn sie die Vernunftquote von Kunst oder Religion zu ermitteln versuchen würde.

Menschen machen sich ihre Götter, das ist sicher ein zentraler Gedanke für Sie. Wie wäre es mit dem Gedanken: Gott als „schöpferische Kraft“ hat selbst in die Menschen diese seine göttliche Kraft (Geist, Vernunft) gelegt, dass sich die Menschen Götter machen? Die Götter und die Glaubensformen wären also Gottes „Produkt“! Dies wäre eine Überwindung der altbekannten Projektionslehre von Feuerbach.

Ein Entwicklungszirkel also, ein evolutionärer Pantheismus? Eventuell mit einer Perspektive auf die Konvergenz der Weltreligionen? Ich finde das spekulativ interessant und oft kühn und geistreich ausgeführt. Mein leichtes Unbehagen an solchen Spekulationen ist nicht prinzipiell inhaltlich-dogmatisch, sondern denkökonomisch begründet. Wenn man nämlich den Begriff Gott so weit von positiver Offenbarung hinweg ausdehnt (was bei einschlägig hermeneutischer Kunstfertigkeit ja theologisch machbar ist), dann leidet man vielleicht bald an einem Zuviel an Freiheit, weniger nett gesagt: an Beliebigkeit. Mich fesseln eher Denker und Autoren, die sich in engerem Rahmen abmühen. Die haben meine höchste Aufmerksamkeit, auch mein Mitgefühl. Mir fällt dazu das etwas grausame Nietzschewort von der ungeheuren Dummheit ein, daß man Jahrtausende nur gedacht habe, um etwas zu beweisen – und daß diese Dummheit erst den Geist groß gemacht habe.
Und zu Ihrer Eingangsformel: Da fällt mir ein anderer Titan des 19. Jahrhunderts ein, Karl Marx. Gewiß, Menschen machen sich ihre Götter wie ihre Geschichte selbst, aber eben auch unter vorgefundenen, nicht restlos frei wählbaren Bedingungen!

Jürgen Große, Von schwankender Gestalt, Kunst, Religion und Philosophie nach ihrer Befreiung. Taschenbuch, edition fatal, Potsdam 2024, 15 Euro.

Ebenso zum Thema von Jürgen Große: „Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch“ (2021),

“Der sterbende Gott” (2020).

Die Fragen stellte Christian Modehn.

Copyright: Dr. Jürgen Große, Berlin