Kardinal Alfred Bengsch: Ein Bischof von Berlin, der „theologische Mauern“ errichete. Im Osten wie im Westen.

Hinweise von Christian Modehn, publiziert am 21.8.2021.

Zur Einführung:
Warum dieses Thema? Es gibt heute viel Dringenderes. Zweifellos.

Eine Neuigkeit: Joseph Ratzinger schätzte als Theologe und künftiger Erzbischof von München ganz besonders Kardinal Alfred Bengsch. Zwei sehr Konservative kannten sich schon seit dem Konzil… Siehe Nr. 17).

– Aber am Beispiel von Erzbischof und Kardinal Bengsch (1921-1979), Bischof in der geteilten Stadt Berlin, wird einmal mehr deutlich, wie ein einzelner, sich „Ober-Hirte“ nennender Kleriker eine ganze Kircheneinheit, ein Bistum, ins geistige Getto und zu einem von Angst bestimmten Glauben führen kann. Die Herrschaft einzelner, sich Macht anmaßender Bischöfe ist ja im aktuellen Fall von Kardinal Woelki (Köln) allgemein bekannt. Woelki hat in der klerikalen Arroganz viele „Vorgänger“ und „Mitstreiter“. Einer ist Bengsch, einer von vielen „Oberhirten“.

– Als Berliner, geboren in Ost–Berlin, in Berlin-Friedrichshagen, 1958 Flucht nach West-Berlin und dort Abitur sowie ein Semester Studium der ev. und kath. Theologie sowie der Philosophie an der F.U., (die Studien konnte ich in der BRD abschließen), kenne ich Bengsch, weil ich auch familiär mit dem „katholischen Milieu“ damals eng verbunden war. Mir ist es wichtig, ein Stück Erinnerungsarbeit zu leisten. Und vielleicht Aspekte deutlich zu machen, die anlässlich seines 100. Geburtstages in Jubelfeiern verdrängt werden.

Diese Hinweise sind also ein Beitrag der Religionskritik, eines Hauptthemas der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

1. Lobeshymnen oder die historische Wahrheit?
In diesen Wochen erinnern sich nicht nur „Katholiken an den Berliner Erzbischof und Kardinal Alfred Bengsch. Es handelt sich um einen katholischen Bischof, der das katholische „Leben“ in Berlin (-Ost wie auch -West) bestimmte und sich darüber hinaus mit seiner sehr konservativen Theologie in den Katholizismus der BRD einschaltete.

Alfred Bengsch ist, summarisch betrachtet, ein Prototyp des ängstlichen, verschlossenen, dialog-unfähigen und arroganten Bischofs. Diese Tatsachen werden hoffentlich Beachtung verdienen, wenn anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch, wie offiziell – katholisch üblich, die erwünschten Lobeshymnen auf den „Ober-Hirten“ angestimmt werden. Der Herder Verlag wirbt für ein neues Buch über Bengsch mit der Behauptung: „Alfred Kardinal Bengsch gilt bis heute als einer der prominentesten und beliebtesten Oberhirten des Erzbistums Berlin“. Prominent war er auf seine Weise; aber als sturer Dialogverweigerer, kann er da als beliebt gelten? Bei einigen theologisch eher anspruchslosen Gläubigen vielleicht, die sich an Bengschs Predigten erbauten, die ganz auf die traditionelle Masche der klassisch-konservative Innerlichkeit und des bloß spirituellen Trostes setzten.

2. Bengsch wird Bischof – eine Art „Notlösung“
Alfred Bengsch wurde am 10. Februar 1921 in Berlin-Schönberg geboren, zum „Weihbischof“ in Berlin mit Amtssitz in Ost-Berlin wurde er 1959 von Papst Johannes XXIII. ernannt. Zum maßgeblich leitenden Bischof des Bistums Berlin wurde er drei Tage nach der Errichtung der Mauer, also am 16. August 1961, ernannt. Er war also in einem für katholische Bischöfe extrem jugendlichen Alter, er war 40 Jahre alt. Diese Ernennung ist begründet vor allem in der Abberufung des in West-Berlin lebenden Bischofs Julius Döpfner, er wurde Erzbischof von München-Freising. Und Bengsch war da eine schnelle „Lösung“, manche sagen, er wurde verantwortlicher Bischof, weil der Papst „sonst niemanden hatte“.

3. Bengsch repräsentierte die so genannte Einheit des Bistums Berlin
Bischof Bengsch „residierte“ in Ost -Berlin mit dem dortigen kirchlichen Verwaltungsapparat („Ordinariat“), hatte aber die Möglichkeit als einer der wenigen DDR- Bürger regelmäßig nach West-Berlin einzureisen und den aufwendigen, parallelen Verwaltungsapparat im Ordinariat West (wie viele Priester waren damals eigentlich nur „Verwaltungsbeamte“?) sowie die Gemeinden zu besuchen. Das muss noch einmal betont werden: Bengsch war als Bischof in der DDR auch für die Katholiken im freiheitlich und demokratisch geprägten West-Berlin zuständig. Und auch das ist wichtig: Die von kirchenoffizieller Seite bis heute viel beschworene und gerühmte „Einheit des Bistums Berlin“ nach dem Mauerbau am 13.8. 1961 repräsentierte de facto und als leibhaftige Einheit Bischof Bengsch allein: Er war einer der wenigen regelmäßigen, von der DDR-Regierung akzeptierten, Ost-West-Pendler. Natürlich besuchten einige Katholiken aus dem West-Berlin privat auch den Ostteil, aber offizielle Begegnungen in den Ost-Gemeinden fanden nicht statt.
Am 13. Dezember 1979 ist Erzbischof Bengsch in Berlin verstorben.

4. „Eine markige Persönlichkeit“?
Über weitere Details seines Lebens kann man sich über wikipedia usw. informieren. Hier geht es darum, wie es sich gehört, kritische Hinweise zum theologischen und kirchenpolitischen Denken Bengschs zu skizzieren. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch eher Lobeshymnen angestimmt werden als objektive Beobachtungen. Ein Text der Katholischen Akademie Berlin vom Sommer 2021 nennt Bengsch etwa eine „markige Persönlichkeit“, was immer das „markig“ bedeuten mag. Und die Akademie fährt fort: „Er hat bis heute bleibende Spuren hinterlassen“. Wohl wahr, von diesen „Spuren“ handelt dieser Hinweis, es sind – schon jetzt zusammenfassend formuliert – Spuren, die die Katholiken in West-Berlin, in einer Stadt in der „freien Welt“, ins Getto führten, in eine geistige Verkrampfung und Abgeschlossenheit, die spiegelbildlich der Mentalität der DDR-Führung durchaus entspricht. Insofern wäre es eine ausführliche Studie wert zu zeigen, wie Bischof Bengsch in seinem Verhalten des rigiden Regierens die DDR-Mentalität der Herrschenden belebte.

5. Nur Bengsch kennt das „unverkürzte Evangelium“
Eine gewisse Leitlinie der Interpretation des Denkens und Handels von Bengsch bietet sogar eine offizielle katholische Deutung: 1980 wurde im katholischen St. Benno-Verlag in Leipzig das Buch „Der Glaube lebt“ veröffentlicht, darin schreibt das katholische DDR- Autorenteam sehr ehrlich: „Kardinal Bengsch war kein progressiver Bischof“ – mit der sehr treffenden Ergänzung: „falls es so etwas gibt. Im Schubladendenken … ist er einwandfrei im Fach konservativ gelandet, und das noch nicht einmal gegen seinen Willen“ (S. 135). Dieser konservative und ängstliche Theologe Bengsch hatte sich übrigens als seinen Wahlspruch gewählt: „Helfer eurer Freude“. Gemeinte war selbstverständlich bei ihm immer die „innerliche Freude“ der dogmatisch korrekt Glaubenden. Das wahre Motto Bengschs war eher das von ihm häufig verwendete Wort: „Ich will die Lehre der Kirche UNVERKÜRZT lehren“. Wobei er von sich selbst, durchaus arrogant, meinte, das unverkürzte, also das ganze und das authentische Evangelium zu kennen: Pluralismus der Meinung schloss diese Überzeugung aus. Bengsch allein bestimmte, was „unverkürzt“ bedeutet…Davon wird noch zu sprechen sein.

6. Die Häretiker suchen und bestrafen.
Zur theologischen und kirchlichen Laufbahn Alfred Bengschs: In den neunzehnhundertfünfziger Jahren konnten Priester der DDR noch an bundesdeutschen theologischen Fakultäten promovieren, so auch Alfred Bengsch. Er erwarb 1956 an der Universität München bei dem katholischen Dogmatiker (und auch später noch explizit konservativen Theologen) Michael Schmaus seinen Dr. theol. Das Thema der Promotionsschrift ist: „Heilsgeschichte und Heilswissen bei Irenäus von Lyon. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus Haereses, „Gegen die Häretiker“.
Das Thema hat keine aktuelle Bedeutung, damals schon nicht, also 10 Jahre nach Kriegsende und der von Nazis betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums! Da hätte man sich ja auch Relevanteres vorstellen können für einen jungen Theologen aus dem geteilten Deutschland. Aber nein, es musste ein Theologe und ein so genannter „Kirchenvater“ des 1. Jahrhunderts sein, Irenäus von Lyon, über den schon 1956 sicher mindestens 20 Studien vorlagen. Irenäus von Lyon lebte von 135 bis 200. Die Abgrenzung des wahren Glaubens von den Meinungen der Häretiker (bei Irenäus waren es die so genannten Gnostiker) prägte das Denken von Bengsch also von Anfang an.

7. Die grundlegende “Weichenstellung” im Denken von Bengsch
Das ist für das Verständnis entscheidend: Bischof Bengsch lehnte als Teilnehmer des 2. Vatikanischen Reform- Konzils (1962-1965) das entscheidende und grundlegende Konzilsdokument „Die Kirche in der Welt von heute“, auch „Gaudium et spes“ genannt, ab. Am 7. Dezember 1965 fand nach langen und heftigen Debatten die Schlussabstimmung statt: 2.309 Ja-Stimmen standen 75 Nein-Stimmen gegenüber. Mit Nein hatte auch Bischof Bengsch von Berlin gestimmt. Unter der verschwindenden Minderheit der Nein-Sager befanden sich die berühmtesten reaktionären Bischöfe damals, in dieser Gesellschaft bewegte sich also Bengsch offenbar guten Gewissens. Die „Neinsager“ lehnten eine dialogbereite Kirche ab, sie wollten überhaupt nicht, dass sich die Kirche als „Hort der absoluten Wahrheit“ auch lernbereit mit den modernen Denkweisen auseinandersetzen muss. Bekanntlich wurde selbst der Dialog mit Atheisten vom Reformkonzil mit absoluter Mehrheit gutgeheißen. Von dieser Wegweisung des Reformkonzils wollte Bengsch nichts wissen. Die Konsequenz war: Bengsch lehnte den Dialog mit der säkularen, atheistischen, sozialistischen Welt ab, genauso wie dies auch der spätere Traditionalist und „Piusbruder“ Erzbischof Marcel Lefèbvre tat oder der reaktionäre brasilianische Erzbischof Geraldo Sigaud svd. Er war führendes Mitglied der bis heute bestehenden internationalen reaktionären Bewegung „Für Tradition, Familie und Privateigentum“. Bischof Sigaud ist nachweislich der heftigste Feind des Propheten Erzbischof Helder Camara gewesen. Die reaktionären Kreise sammelten sich während des Konzils im „Coetus Internationalis Patrum“, also dem „Internationalen Bund der Väter“, (leibliche Väter waren sie wahrscheinlich nicht). Zu diesem Kreis gehörte auch der große Gegner von Papst Johannes XXIII. :Kardinal Alfredo Ottaviani, Chef der damaligen „Inquisitionsbehörde“. Ob Bengsch zu diesem reaktionären „Coetus“ als Mitglied gehörte, ist für mich nicht eindeutig. Der einstige Pressesprecher des Bistums Berlin, Dieter Hanky schrieb in der offiziellen Bistumszeitung „Petrusblatt“: „Bengschs Bedenken, mit denen er sich zwar nicht allein, aber in einer kleinen Gruppe (also doch dem genannten „Coetus“?, CM) befand, galten vor allem jenen Textstellen, von denen er glaubte annehmen zu dürfen, dass sie vor allem von kommunistischen und anderen atheistischen Regierungen zum Schaden der Kirche missbraucht werden könnten… Als dann das Konzilsdokument, die Konstitution Kirche in der Welt von heute, wenn auch in einigen Punkten verbessert, mit großer Mehrheit vom Konzil angenommen wurde, schrieb Erzbischof Bengsch am 22. November 1965 in tiefer Sorge einen ausführlichen Brief an Papst Paul VI., in dem er ihm die Gründe für seine Ablehnung der Konstitution darlegte. Zu seiner großen Überraschung bat ihn der Papst am 6. Dezember zu einer Privataudienz, in der er den Papst noch einmal beschwor, der Konstitution in dieser Form die Zustimmung zu versagen. Er befürchtete Folgen in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, wo die Verteidigung der religiösen Werte der Kirche als Widerstand gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gewertet würde. Es war umsonst“. (Petrusblatt 12. Dezember 1999). Gott sei Dank, muss man sagen, sonst hätte Bengsch die ganze Kirche noch weiter ins Getto geführt…

8. Die katholische Kirche einmauern, im Osten wie im Westen.
Das Nein zu einem Dialog mit der säkularen, atheistischen Welt hat Bengsch als Bischof von Berlin Ost wie Berlin West fortgesetzt und durchgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen: So, wie sich die DDR in Berlin mit einer Mauer umgab, so umgab Bengsch auch die katholische Kirche in der DDR mit einer Mauer. Seine Mauer-Abschottungs-Ideologie setzte er auch in der Kirche in West-Berlin rigoros durch.

9. Bengsch baut katholische Mauern in der DDR
Über Bengschs durchgängiges Bemühen, die katholischen Kirche in der DDR mit einer geistigen Mauer zu umgeben, sind etliche prägnante historische Studien erschienen. Ich erwähne nur die eher summarische Darstellung von Clemens M. März in dem Buch „Unser Glaube mischt sich ein. Evangelische Kirche in der DDR“, Ev. Verlagsanstalt Berlin 1990. Der Titel des Beitrags von Clemens M. März nach dem Mauerfall, 1990 geschrieben: “Aus dem Winterschlaf erwacht: Befreit zur Katholizität“ Seite 111-120). März zeigt: Die katholische Kirche in der DDR „distanzierte sich ostentativ von jeglicher gesellschaftlichen Mitarbeit“ (S. 115). Die DDR sollte nach Bengschs Meinung soweit es nur geht ignoriert werden,“ die Kirche flüchtete sich in die Katakombe“ (S. 117). Die offenen, weiterführenden Einsichten der Diözesansynode von Meißen (1969-1971) wurden von ihm unterdrückt. „Sie wurden von Bengsch der Ketzerei verdächtigt“ (S. 116) … Da haben wir schon wieder Bengschs Suche nach Ketzern (Häretikern), eine Leidenschaft seit seiner Doktorarbeit. Der katholische Theologe in Leipzig, Dr. Wolfgang Trilling, spricht sogar von einer „Liquidierung der Synode in Meißen“ durch Bengsch, siehe Trillings wichtigen und sehr erhellenden Beitrag in der Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988), Seite 324.
Im ganzen, meint auch der Autor Clemens M. März, habe Bengsch „das selbstgewählte Getto“ gepflegt (S. 118) „indem die katholische Kirche auch dort schwieg, wo sie, analog zum mutigen Eintreten der evangelischen Kirche, für Freiheit und Menschenrechte, hätte reden müssen“ (S. 117).
Zu demselben Ergebnis in der Einschätzung von Bengschs Wirken in der DDR kommt der schon genannte katholische Theologe und Professor für Bibelwissenschaftler Wolfgang Trilling (Leipzig). Er hat seinen Beitrag in der oben genannten Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988) unter den Titel gestellt „Kirche auf Distanz“ (Seite 322-332). Man darf sagen, dass dieser theologisch-historische Beitrag über die katholische Kirche in der DDR, in Leipzig verfasst 1987, stimmungsmäßig auch von einem „heiligen Zorn“ Trillings auf das katholische System bestimmt ist: “Nicht Produktivität, Phantasie, Experiment, Kritik, Freimut mit den neuen Partnern auf den verschiedenen Ebenen (der DDR) werden von Katholiken erwartet und als christliche Verhaltensweisen empfunden, sondern Gemeinsamkeit, ja gar Geschlossenheit, Zusammenhalt der kleinen Herde…“ (S. 324)… „Die Konstitution des Konzils Kirche des Konzils in der Welt von heute wurde in der DDR faktisch nicht rezipiert…es ging keine belebende Wirkung von ihr aus“ (S. 325). Und Trilling weist darauf hin, dass sich „katholische Jugendliche vielfach evangelischen Gruppen angeschlossen hatten, in denen die Friedensthematik z.B. leidenschaftlich diskutiert wurde“ (S. 328). Summa summarum schreibt der katholische Theologe Wolfgang Trilling: „Die gegenwärtige Lage, die durch das Fehlen jedes Instrumentariums innerkirchlicher Öffentlichkeit (synodale Einrichtungen, eigene Laienverbände…) verschärft wird, ist grotesk und in der Weltkirche singulär. Dennoch: Was uns nottut, ist eine entschlossene Abkehr von dem bisherigen Weg“, so (S.331). Über Trillings Widerspruch gegen den „Bengsch-Kurs der Abschottung“ hat auch Theo Mechtenberg in der Trierer Zeitschrift „Imprimatur“ (Heft 3, 2018) geschrieben. Die katholische Kirchenzeitung in den neuen Bundesländern, Ost-Deutschland, „Tag des Herrn“, berichtete am 11.4. 1999 von einer Tagung, auf der der Erfurter Historiker Jörg Seiler über die Beziehung der katholischen Bischöfe zu den jungen Katholiken mit “Gewissenskonflkten“ berichtete, es ging also um die Frage: Was denken die katholischen Bischöfe vom Dienst als Bausoldat oder von Totalverweigerern. Besonderen Einfluss dabei hatte der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch: „Er sah direkte Interventionen in der Frage der Wehrpflicht als Gefährdung des relativ ruhigen Staat-Kirchen-Verhältnisses an.“ Die Auseinandersetzungen um die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen überließ man der evangelischen Kirche“, so der Journalist Matthias Holluba in „Tag des Herrn“.

10. Bengsch und sein „Maulkorberlass“
Der schon genannte Autor Clemens M. März erwähnt zur „politischen Dialogverweigerung Bengsch auch den so genannten „Maulkorberlass von Bengsch“ vom 1. Juni 1977, der den Priestern wie auch den Laien der DDR verbot, politische Aktivitäten auszuüben! Bengsch betonte sogar: „Das kirchliche Amt (also Bengsch selbst, CM) als gültiges Zeichen der Einheit und die prophetische Freiheit (was meint der Bischof denn damit?, CM) verlangen, kein wie auch immer geartetes politisches Engagement einzugehen“ (S. 117). Dadurch hatte sich die katholische Kirche der DDR auch vom Friedensengagement distanziert. Die „friedliche Revolution“ von 1989 war institutionell tatsächlich nur von der Evangelischen Kirche unterstützt und gefördert. 1990 wird dann der neu ernannte Bischof Georg Sterzinsky in einem Interview mit der „WELT“ (1.2.1990) vorsichtig und ein bisschen selbstkritisch bekennen: „Wir Katholiken der DDR hätten unsere Solidarität mit jungen Oppositionsgruppen deutlicher zum Ausdruck bringen müssen“ (S. 119). Um den Titel des Beitrags von Clemens M. März etwas zu variieren: 1990, nach dem die Mauer gefallen war, war die seit Bengsch in den Winterschlaf verfallene katholische Kirche im Osten Deutschlands ein bisschen erwacht…

11.Eine Mauer soll auch West-Berliner Katholiken einschließen
Die Mauer und das eingemauerte Denken hatte Bengsch so tief verinnerlicht, dass er auch die Katholiken in West-Berlin in eine geistige, theologisch engstirnige Mauer einsperrte, was er auch mit aller Bravour in West-Berlin durchsetzte:
Keine katholische Pressefreiheit
Der Redakteur der katholischen Kirchenzeitung in West-Berlin, “Petrusblatt“, Günter Renner, hatte es 1967 gewagt, einen kritischen Leserbrief gegen eine Entscheidung der katholischen Verwaltungsbehörde, des Ordinariates in West-Berlin, zu publizieren. Etwas Normales für eine freie Presse in einer freien Stadt. Die Verwaltungs-Prälaten waren jedoch empört und setzten alles in Bewegung, um den fähigen und bei den meisten Lesern beliebten Redakteur Pfarrer Renner abzusetzen. Viele Zeitungen, auch katholische Blätter in der BRD, zeigten sich verärgert über diese Entscheidung. Selbst die mit der CDU eng verbundene Berliner Morgenpost aus dem eigentlich immer kirchlich wohlgesinnten Hause Axel Caesar Springer protestierte. Die Medien forderten Bengsch auf, Pfarrer Renner als Redakteur weiter arbeiten zu lassen, aber vergebens. Bengsch war entschieden gegen umfassende und normale Pressefreiheit innerhalb der katholischen Kirche. Wieder eine erstaunliche Parallele zur Pressefreiheit in der DDR. Dieses Denken in einem Freund-Feind-Schema ist formal gesehen die gemeinsame Mentalität von Bengsch und der DDR-Führung.
Also musste der Redakteur Pfarrer Renner seinen Posten aufgeben, „er werde mit seinem kritischen Arbeiten den einem Diözesanblatt gestellten Aufgaben nicht gerecht“, hieß es. Nachfolger von Pfarrer Renner wurde damalige, mit Bengsch eng verbundene Ordinariatsräte und konservative Theologen wie Wolfgang Knauft oder Erich Klausener. Sie machten aus dem Petrusblatt eine katholische „Prawda“ oder „Neues Deutschland“. Aus einem dialogbereiten Blatt wurde ein offizielles „Organ“. Dagegen wehrte sich kurze Zeit ein kritisches Wochenblatt, mit dem Titel „Der Christ“ (Auflage 5.000). Bengsch nannte diese Zeitschrift wörtlich, so berichtete der SPIEGEL 1968, auf seine „freundliche“ Art „ein Käseblatt“. Aus Mangel an Geld musste „Der Christ“ bald verschwinden. Kirchensteuer-Gelder erhielten nur die offiziellen Propaganda-Blätter wie das Petrusblatt. (Über die Kirchenpresse im geteilten Berlin siehe auch: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/259675/christliche-gemeinschaft-im-geteilten-berlin)
Was die publizistische Wirkung angeht: Bengsch genießt noch heute wegen seiner rigorosen Haltung als Konservativer viel Achtung, etwa in dem reaktionären Monatsblatt aus Regensburg mit dem Titel „Der Fels“, dort ein Beitrag von Bengsch im Dezember 2013.

12. Keine katholisch- theologische Wissenschaft in Berlin
Über die Mauer, die Bengsch um die katholische Kirche in West-Berlin zog, wären viele Beispiele zu nennen: So gab es etwa überhaupt kein katholisch-theologisches Institut, also keine theologische Forschung, die den Namen verdient. Das wirklich winzige „Seminar für katholische Theologie“ an der Freien Universität stand zwar in der Nähe des FU Hauptgebäudes, dem Henry Ford Bau, es stand aber geistig völlig am Rande, spielte überhaupt keine Rolle im kulturellen und religiösen Leben der Stadt. Der Leiter dieser „Klitsche“, wie wir Studenten damals das winzige Seminar für katholische Theologie nannten, war seit 1956 Prof. Marcel Reding (aus Luxemburg), ein stiller, zurückhaltend-netter gebildeter Priester, der auch etwas Bengsch-kritisch war, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Redings Lebenswerk war die Marx-Interpretation im Lichte des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin. Dann dozierte dort noch der Moral-Theologe und Jesuit Waldemar Molinski, mit dem sich heftige Debatten ergaben etwa über den Willen einiger Studenten, eine ökumenische, also eine gemeinsame katholisch-evangelische Studentengemeinde zu gründen. Diese ökumenische Initiative wurde unterdrückt. Ökumene war überhaupt nicht Bengschs Interesse. Er benutzte evangelische Kirchengebäude auf dem Lande, in Brandenburg, wenn denn kein „katholisches Gotteshaus“ zur Verfügung für die kleine Gemeinde. Aber das war es…
Eine katholische Akademie in West-Berlin, die diesen Namen verdiente, wie etwa die 1957 gegründete Katholische Akademie in München, gab es zu Bengschs Zeiten nicht. Das so genannte“ katholische Bildungswerk“ war ein Einmann-Betrieb mit Pfr. Fassbender, die Sendungen über Kirchen in der ARD Anstalt SFB wurden von Ordinariatsräten streng beobachtet und kritisiert. Demokratische Meinungsvielfalt war ein Horror für Bengsch, dies wollte er seinen Untertanen einbläuen. Prälat Klausener in West-Berlin hatte die Bengsch-Theologie völlig verinnerlicht: „Demokratie ist in der katholischen Kirche abzulehnen, vielmehr ist dem kirchlichen Amt Vertrauen und Gehorsam geboten“, zitiert der katholische Politologe Manfred Krämer in seiner Studie „Kirche kontra Demokratie?“ (München, 1973, S. 46). Dr. Manfred Krämer war ein geradezu leidenschaftlich kluger Vorkämpfer für eine moderne katholische Kirche auch in West-Berlin, aber ist mit seinem Engagement selbstverständlich gescheitert … und leider viel zu früh verstorben…

13. Mit Stasi-Methoden in der Kirche arbeiten
Dem SPIEGEL war es in Heft 26 des Jahres 1969 ein Bericht wert: Kardinal Bengsch folgte Stasi-ähnlichen Methoden und konnte deswegen einen theologisch gebildeten Kaplan in der West-Berliner Gemeinde St. Bernhard in Dahlem vertreiben. Konkret: Ein Bengsch-freundlicher Katholik hatte heimlich – wie die Stasi – die „theologisch-modernen“ Predigten von Kaplan Hebler mitgeschnitten und die Kassetten dem Kardinal bzw. seinen Prälaten zugeschickt. Sie hörten die Mitschnitte ab und … Kardinal Bengsch entfernte Kaplan Hebler aus der Gemeinde. Der SPIEGEL hat sogar den Tonband-affinen Katholiken genannt, es war ein gewisser Alfons Ryzlewicz. Er also förderte, sicher nicht allein, mit seinem orthodoxen Eifer die Absetzung Heblers … wieder einmal wegen „Häresieverdacht“. Der SPIEGEL berichtet: Hebler wurde ins Bischöfliche Ordinariat (West) zitiert, „wo er fünf Stunden lang auf Fragen einer fünfköpfigen Kommission antworten musste. Zwar tranken die geistlichen Herren dabei Tee mit dem Beschuldigten, doch diesem war angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe der »private Ton« eher lästig. Denn er wurde u.a. beschuldigt, er habe den Gottesdienst zum Ort des Protestes gemacht und »engagierte politische Erklärungen« in die Verkündigung gebracht usw… Tatsächlich wurde Hebler dann von Bengsch nach dem Rausschmiss aus der Gemeinde ein „Studienurlaub“ gewährt… Der bekannte, an der FU von moderaten Demokraten sehr geschätzte Katholik, der Politologe Prof. Alexander Schwan, sprach von Hebler als einem der wenigen, die „zu den erschreckend wenigen Predigern in Berlin gehörten, die … einem Großstädter die Verkündigung Jesu Christi heute noch nahezubringen und bedeutsam zu machen vermögen«. Viele Dahlemer Katholiken protestierten gegen die Entscheidung Bengschs und sandten dem Kardinal einen entsprechenden Brief, aber sie erhielten keine Antwort.
Bengsch und die „68 er Bewegung“
Interessant ist auch die Ignoranz Bengschs und der Prälaten in West-Berlin im Umfeld des Mai 68. Als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11.4. 1968 am Kurfürsten Damm 141 Opfer eines Attentates wurde, das er nur schwerstkrank überlebte, berichtete das Petrusblatt recht knapp über „Osterzwischenfälle“ (dieser Titel erinnert an die Sprachregelung des „Neuen Deutschland“ der SED). Und weil einige Demonstranten auf dem Kurfürsten Damm ein Kreuz in der Hand hatten und es hoch hinaus wie eine Mahnung in die Öffentlichkeit streckten, schrieb Prälat Erich Klausener im „Petrusblatt“: „Junge Leute nehmen das Kreuz für sich in Anspruch. In ihrem Sendungsbewusstsein fühlen sie sich als Vollstrecker der Geschichte“. Das Kreuz, so der Prälat, gehöre in die Hände der Kirche, nicht der Aufständischen! Und der Prälat kritisierte dann die Demonstranten weiter, „weil sie einen moralischen Absolutheitsanspruch haben, der nur von wenigen erhoben wird“. Als einige katholische Studenten Flugblätter über den Mai 68 in der Sankt Canisius-Kirche (Charlottenburg) verteilten, wurden sie sofort rausgeworfen. Das Petrusblatt berichtete, dass der dort aufhaltende Erzbischof Bengsch ausdrücklich die Annahme dieses Flugblattes verweigert hätte, weil er sich ja auf die Feier des Pontifikal – Amtes in dieser Kirche vorbereiten musste…(In diesem Absatz zitiere ich aus meinem Beitrag in dem Buch “Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie“, der Titel meines Beitrags: „Der Traum ist vorbei“. Edition Exodus, Luzern/Münster, 2009, S. 11-24).

14. Die Idee vom „unverkürzten Evangelium“
Alfred Bengsch, Bischof und dann auch Kardinal, liebte es, seine eigene überragende Rolle als einzig kompetenter Interpret der Lehre Jesu Christi zu definieren: „Ich will das unverkürzte Evangelium predigen“. Dabei predigte er immer sein auf katholisches Getto verkürztes Evangelium, ohne jeden Respekt für Pluralität auch in der Kirche, Meinungsfreiheit, intellektuelles Niveau. Bekanntlich gibt es im Neuen Testament schon theologische Pluralität….Bengsch aber war von seinem „unverkürzten Evangelium“ absolut und unerschütterlich überzeugt. 1966 fanden sich Westberliner Katholiken noch in der riesigen Deutschlandhalle und füllten geduldig den Raum. Da bezog sich Bengsch auf Kritik und Vorwürfe, die sich gegen sein Kirchenregiment wandten und er fuhr dann in der ihm eigenen Leidens-Mine fort: „Ich werde das alles eher ertragen, als dass ein einziger junger Mensch in meinem Bistum mir vorwerfen sollte, er wäre in die Irre gegangen, weil ich zu feige gewesen wäre, das unverkürzte Evangelium Gottes zu predigen“.
Tatsächlich hat sich, von außen betrachtet, Bengschs unverkürztes konservativ-rigides und nur auf innere Gefühle setzendes Evangelium nicht durchsetzen können. Ab 1968 begann der große kirchliche Abbruch, auch quantitativ gesehen, des West-Berliner Katholizismus. In Bengschs Sicht sind dann also doch viele „in die Irre gegangen“, weil sie schlicht und einfach aus der Kirche austraten. Und daran ist nicht nur irgendeine diffuse säkulare Mentalität „schuld“, wie Kirchenführer oft sagen, sondern auch das rigide Kirchenregiment des Berliner „Ober-Hirten“ und seiner Getreuen. Viele West-Berliner Katholiken haben sich aus der von Bengsch errichten katholischen Getto-Mauer befreit… und sind spirituell als freie Menschen eigene Wege gegangen.

15. Ein eigenes Bistum West-Berlin mit einem freien Bischof für eine freie Metropole.
Es wurde nie ernsthaft diskutiert, ob nicht doch ein eigenes Bistum West-Berlin letztlich für die betroffenen Katholiken hilfreicher gewesen wäre, weil sich dann eine eigene Form katholischen Lebens in einer demokratischen Stadt hätte entwickeln können. Bekanntlich hat die Evangelische Kirche in Berlin zwei Bischöfe gehabt, einen im Osten, einen im Westen. Dadurch konnten die Protestanten frei und auf die unterschiedlichen Verhältnisse unterschiedlich reagieren.
Aber die Fixierung auf die Einheit des Bistums Berlin war ein Wahn, weil, wie gesagt, Bengsch allein diese Einheit als Grenzgänger repräsentierte. Bengschs Nachfolger Bischof Joachim Meisner (bis 1989) war für West-Berliner auch alles andere als ein Lichtblick. Auch er herrschte in einer rigiden Herrschaft, ohne Sinn für theologische Pluralität und Meinungsfreiheit. Auch Meisner hat viele interessierte Katholiken West-Berlins aus dieser Kirche herausgeführt. Auch Meisner dachte in den undemokratischen Kategorien der DDR-Führung. LINK.

15. Gegen die „Schlipspriester“
Ich will mit einer kleinen persönlichen Erinnerung an Bischof Bengsch diese Hinweise beenden. Als Berliner Katholik habe ich als Jugendlicher diesen Berliner Bischof mehrfach erlebt. Eine Szene in einem Gemeindehaus werde ich nicht vergessen, als der Bischof an der Krawatte eines jungen Priesters zerrte und an dem Schlips hin – und herzog und dann brüllte: „Sie Schlips-Priester“. Ich hatte mich so gefreut, dass sich katholische Priester wie andere Männer ein bisschen „normal“ kleiden. Bengsch wollte auch die eindeutige klerikale Kleiderordnung. Und einmal saß ich in einer Runde des katholischen „Primanerforums“ (Leitung der Jesuit Pater Lachmund), da kam Bengsch kurz in den Raum, eilte von einem Jugendlichen zum anderen, schüttelte die Hände, fragte eigentlich desinteressiert kurz nach dem Namen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde… und verschwand. „Der ist aber gar nicht freundlich“, sagte ein Freund am Tisch. Ich konnte dem nur zustimmen.

16.
Bengsch war die falsche Person an diesem exponierten Platz Ost – und West – Berlin. Sein kardinaler Fehler: Er hat zusätzlich zur DDR-SED-Mauer noch katholische Mauern in beiden Teilen der Stadt gebaut, er war in dieser theologischen Enge und Angst-Besessenheit der offiziellen DDR/SED Mentalität nicht ganz unähnlich. Und er hatte geradezu Lust, Dissidenten zu verfolgen und zu bestrafen, und ließ, wie oben gezeigt, Stasi-Methoden in der Kirche zu. 

17.

Ratzinger ein Freund von Bengsch:

Der Theologe Joseph Ratzinger war mit dem konservativen Bischof und Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) eng befreundet.
Ein kirchengeschichtlicher Hinweis von Christian Modehn am 9.1.2023.

Erzbischof Heiner Koch, Berlin, vermittelte am 9.1.2023 in der Johannes Basilika in Berlin – Kreuzberg Erkenntnisse besonderer Art: Sie zeigen, dass Joseph Ratzinger, Konzilstheologe, mit Erzbischof Alfred Bengsch lange Zeit schon vor dem Konzil eng freundlich verbunden war und mit ihm theologisch übereinstimmte. Bengsch war bekanntlich ein konservativer Gegner des Konzilsbeschlusses „Kirche in der Welt von heute“. Ratzinger war von 1968 bis 1977 Professor in Regensburg, in der bewussten Nähe des sehr konservativen Bischofs Rudolf Graber.

Erzbischof Koch sagte also am 9.1.2023:

„Um ein Haar wäre Joseph Ratzinger, unser verstorbener Papst emeritus Benedikt XVI., ein „Berliner“ geworden. Der Grund dafür war
– was zu-nächst paradox klingt – seine Ernennung zum Erzbischof
von München und Freising im Jahr 1977. Seit fast einem
Vierteljahrhundert war Ratzinger zu diesem Zeitpunkt bereits
persönlich, theologisch und geistlich eng mit Alfred Bengsch
verbunden, dem damaligen Bischof von Berlin. Vier Tage nach seiner
Ernennung durch Papst Paul VI. richtete Ratzinger an Bengsch einen
Brief, in dem er ihn zur Weihehandlung einlud. Aber zuvor legte er ein
Geständnis ab: „Einen Augenblick“ lang habe er nämlich, so schrieb
er, darüber nachgedacht, ihn, den Berliner Kardinal, zu bitten, dass er
ihm das Weihesakrament spende. Seine Begründung ist das
Bekenntnis einer tiefen Freundschaft: Es sei, so Ratzinger, „in allen
Wandlungen der Zeit“ zwischen ihnen beiden „die innere Nähe des
Denkens und des Wollens“ geblieben, die schon von ihren ersten
Begegnungen an der Münchener Universität an bestand. Für
Ratzinger rührte diese Nähe „von der gemeinsamen Berufung und
dem sie tragenden Glauben her.“

Quelle: stefan.foerner@erzbistumberlin.de Nachricht vom 9.1.2023.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Vatikan – ein Blick hinter die Mauern. Päpste und Prälaten regieren die Kirche hinter Mauern…

Prälaten und Päpste herrschten und herrschen hinter hohen Mauern
Ein Besuch in der Vatikanstadt
Von Christian Modehn (urspünglich eine Ra­dio­sen­dung im WDR 2009). Noch einmal veröffentlicht am 24.7.2021.

Im Jahr 2009 habe ich diesen Beitrag über den Staat “Vatikan-Stadt” (“Heiliger Stuhl”) veröffentlicht. Diese Hinweise sind nach wie vor gültig: Die hohen und dicken Mauern des Vatikans umgeben die Herrscher der Katholischen Kirche noch immer. Das Thema “Katholizismus ist eingemauert” wäre ein spezielles Thema, wenn man des Mauerbaus am 13.8.1961 in Berlin gedenkt und an Regime denkt, die sich einmauern…

Am 11. 2. 2009 hat einer der ungewöhnlichsten Staaten der Welt sein 80 jähriges Bestehen gefeiert: Nicht nur ein Kleinstaat, wie Andorra, sondern noch kleiner als ein Kleinst- Staat wie etwa die Republik San Marino. Unser Staat verfügt zwar nur über knapp einen halben Quadratkilometer Fläche und zählt 550 Bürger. Aber in diesem Winzling von Staat ist sehr viel politische und religiöse Macht versammelt. Sie wissen es bereits: Wir meinen die Vatikanstadt: In einem Vertrag mit dem Faschisten Benito Mussolini war es Papst Pius XI. im Jahr 1929 gelungen, einen souveränen Staat zu errichten.
Jeder Rombesucher muss die Republik Italien verlassen, wenn er dem Papst auf dem Petersplatz zujubeln will: Denn der Segen „Urbi et Orbi“ wird auf ausländischem Territorium, auf dem Gebiet der Vatikanstadt, gespendet. Und die umfasst z.B. den Petersdom, die Sixtinische Kapelle, die vatikanischen Gärten, einige Kirchen, Paläste und Verwaltungsgebäude sowie auch noch exterritoriale Gebiete wie die luxuriöse Sommerresident Castel Gandolfo. Wenn der oberste Hirte vom Petersdom aus seinen frommen Schäfchen den Segen erteilt, bleibt er selbstverständlich das politische Oberhaupt seines souveränen Staates, der Vatikanstadt. Aber die Rompilger sollten trotz Weihrauch und lateinischen Gesängen einen klaren Kopf behalten: Denn das vatikanische Staatsoberhaupt ist mit einer weiteren umfassenden Macht ausgestattet: Die Päpste ließen es sich vor 80 Jahren von Mussolini verbriefen, dass sie sogar als einzelne Personen auch „Völkerrechtssubjekte“ sind, also geradezu unantastbare Würde weltweit genießen. Als Inhaber des „Heiligen Stuhls“ sind die Päpste von höchster moralischer und religiöser Autorität. Die Appelle z.B. beim Segen Urbi et Orbi stammen also vom Heiligen Stuhl, nicht vom vatikanischen Staatsoberhaupt. Auch Benedikt XVI. fühlt sich in dieser doppelten Rolle als Politiker und religiöser Führer zugleich  recht wohl.
Wer einmal wissen möchte, in welchem Umfeld der Papst lebt, muss hohe Festungsmauern  aus dem 16. Jahrhundert überwinden. Denn das ganze Gebiet der Vatikanstadt ist von meterhohem Gestein umgeben, es ragt bis zu 20 Meter in die Höhe. Die Berliner Mauer wirkt demgegenüber wie ein politischer Witz. Die Botschaft ist deutlich: Besucher sind in der Vatikanstadt nicht erwünscht. Zahlungskräftige Touristen sind lediglich in den vatikanischen Museen willkommen, nicht im Innern des Staatsgebietes. Es wäre darum sinnlos zu versuchen, als frommer Christ aus den Vatikanischen Museen auszubrechen, um ins freie Gelände der Vatikanischen Gärten zu gelangen. Und wer einmal die Gnade empfangen hat, im Vatikanischen Archiv Akten zu studieren, sollte bei der strengen Bewachung besser nicht die Tür öffnen, die ins Innere der päpstlichen Herrschaft führt. Erfolgreicher könnte der Versuch sein, mit einem Rezept ausgestattet, die Apotheke innerhalb der  Vatikanstadt zu konsultieren. Man sollte den kontrollierenden Schweizer Gardisten an der „Porta Santa Ana“ allerdings nicht verraten, dass man „die Pille“ oder gar „Kondome“ zu kaufen wünscht. Die gibt es nämlich nicht in der päpstlichen Pharmazie. Und so wäre dieser Versuch, ins Innere der Papst Stadt einzudringen, zum Scheitern verurteilt. Erfolgreich könnte vielleicht das Ersuchen sein, unbedingt Geld zu wechseln bei der Vatikanbank IOR, schließlich, so wurde berichtet, hätten ja auch machtvolle Familien aus Neapel und Sizilien ihr Geld dort anlegen wollen.
Man sollte gar nicht erwarten, Frauen im Innern des Papststaates zu treffen: Die wenigen Nonnen des Staates müssen sich um Essen und Wäsche ihrer geistlichen Herrn kümmern, einige andere Damen sind im Radio Vatikan mit der Weitergabe päpstlicher Lehren befasst. Wer Tierliebhaber ist, sollte versuchen, auf dem Vatikan Friedhof nach der letzten Ruhestätte des einst so beliebten, weil so umtriebigen Katers Rambo zu fragen: Er ist das einzige nicht getaufte Wesen, das in vatikanischer, d.h. katholischer  Erde ruht.
Der ganze Staat zählt kaum 40 Straßen. Eine Gasse führt zum Beispiel zur Obersten Glaubensbehörde. Dort verfolgte ihr damaliger Chef Kardinal Joseph Ratzinger angebliche Ketzer wie Hans Küng oder Leonardo Boff. Die geistlichen Bürokraten dort im Range eines Erzbischofs verdienen 3.500 Euro netto monatlich. „Wer in einem Interview aber irgendein Geheimnis verrät und dann namentlich zitiert wird“, berichtet der Publizist Alexander Smoltczyk, „kann sein Entlassungsschreiben sofort abholen“. Innerhalb der vatikanischen Mauern ist Selbständigkeit im Denken absolut  unerwünscht. Ein hoch angesehener Insider, Prälat Walter Brandmüller, kann es sich leisten, öffentlich zu sagen: “Man profiliert sich niemals, die Regel heißt: Bloß nicht aufffallen“. Der Vatikan Prälat betont sogar: “Das Ideal des kurialen Funktionärs ist die graue Maus“.
Innerhalb der Mauern überwacht ein klerikaler Mitarbeiter den anderen. Ausschweigungen, auch sexueller Art, sind unter diesen repressiven Bedingungen absolut tabu. Solche Freiheiten dürfen sich Kurienmitarbeiter nur außerhalb der Mauern, also im Sumpf der Metropole Rom, leisten. „Der einzige Unterschied, der bei den Vatikanprälaten zählt, ist die Frage, ob man hetero – oder homosexuelle Vorlieben hat“, berichtet Alexander Smoltczyk. Ältere Herrschaften aus dem Vatikan befriedigen ihre Lust, so wird berichtet,  eher in Luxus Restaurants in der römischen Altstadt. Alexander Smoltczyk nennt die Adressen. Aber diese Freiheiten nehmen sich alle Beteiligten selbstverständlich in absoluter Verschwiegenheit. Verlogenheit wird zum Prinzip, schließlich will man ja noch möglichst lange dem Hof, dem päpstlichen, dienen. Beförderungen spricht der Papst nach eigenem Gutdünken aus, er herrscht wie ein absoluter Fürst. Sehr treffend nennen alle Lexika die Vatikanstadt eine absolute Monarchie. Menschenrechte klagt der Papst nur bei anderen Staaten ein, auf seinem eigenen Territorium vereinigt er in seiner Person alle drei politischen Gewalten.
Der unangemeldete und unerwünschte Besuch im Innern des Papststaates ist eigentlich schnell beendet. Die Türen zu den Behörden in den Renaissance Palästen öffnen sich nur Eingeweihten, und die müssen geweiht sein. Aber der verstohlene Blick in die Gemächer hoch oben zeigt: Da wird das Evangelium verwaltet, inmitten antiker Möbel, von Seidentapeten umgeben und barocker Kunst verziert. „Wer angesichts des Vatikans noch römisch – katholisch bleibt, der  muss schon sehr, sehr tapfer sein“,  sagt ein Insider, natürlich anonym. Aus Angst.

Zahlreiche Informationen verdank ich dem neuen Buch (2009!) von Alexander Smoltczyk, der in Rom als Journalist arbeitet. Er hat seiner Studie den Titel „Vatikanistan“ gegeben. Er will damit gewisse Anklänge an zentralasiatische Regime wecken, die, wie etwa Usbekistan, nicht gerade Vorbilder der Demokratie sind. Das Buch mit Lesebändchen (!) hat 352 Seiten und kostet 17,95 €, erschienen ist es im Heyne Verlag in München. Sehr zu empfehlen!

Katholische Kirche in Deutschland – vor der Abspaltung von Rom?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Dieser kurze Hinweis ist interessant, weil er das mögliche Scheitern des „Synodalen Weges“ der katholischen Kirche in Deutschland heute mit einem Hinweis auf das tatsächlich Scheitern des „Niederländischen katholische Pastoralkonzils“ und damit der katholischen Kirche der Niederlande insgesamt begründet. Nebenbei: Bekanntlich hat Philosophie immer die Aufgabe, Religionskritik zu lehren.

Dieser knappe Hinweis hat sechs kleine Kapitel:

1. Die heutige Angst im Vatikan vor einem Schisma.
2. Was ist ein Schisma, bzw. damit eng verbunden, was bedeutet der Häresie-Vorwurf?
3. Der „Synodale Weg“ der Kirche in Deutschland.
4. Das Scheitern der „Synode der katholischen Kirche in den Niederlanden“ als Hinweis auf das Scheitern (die Erfolglosigkeit) des „Synodalen Weges“ in Deutschland.
5. Warum die römische Kirche außerstande ist, tiefgreifende Reformen, die den Wert einer Reformation haben, zu gestalten.
6.
Warum wollen die Herren der Kirche in Rom kein Schisma in Deutschland?

1.
Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (Paris) ist meist gut informiert über das, was die päpstliche Kurie und der Papst über die katholische Kirche in Deutschland denken. Der Vatikan-Korrespondent dieser Zeitung Loup Besmond de Senneville publizierte am 26.6.2021 einen Beitrag mit dem Titel: „Deutschland, die große Angst (des Vatikans) vor einem Schisma“. Dieser Titel deutet schon an, wie die Kirchenführer im Vatikan nun in Deutschland Angst erzeugen wollen: Denn nichts ist für „normale“ Katholiken belastender, als eines Schisma bzw. der Häresie angeklagt zu werden.
2.
Schisma ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet Abspaltung von einer bestehenden Kirchenorganisation. Ein Schismatiker wird aber schnell zu einem Häretiker in der Sicht des katholischen Kirchenrechts, weil etwa die Ablehnung des päpstlichen Primates nicht nur ein Schisma bewirkt, sondern eine Irrlehre ist, also eine Häresie. Es gibt also nur eine geringe Trennschärfe zwischen dem mehr aufs Institutionelle abzielenden Schisma und der Ablehnung bestimmter Dogmen, also der Haltung der Häresie.
Es gab bedeutende Abspaltungen von der römischen Kirche in den letzten Jahrzehnten, etwa die Gründung der Alt-Katholischen Kirche in Deutschland als Protest einiger Theologen gegen das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit 1871. Es gab die, in Deutschland kaum bekannte, Abspaltung von Rom durch zahlreiche Pfarrer, die 1920 die von Rom unabhängige „Tschechoslowakisch-Hussitische Kirche“ gründeten, die in den ersten Jahren einen starken zahlenmäßigen Zuspruch fand. Diese Kirche besteht bis heute. Man denke an die unabhängige katholische Kirche auf den Philippinen, die Aglipayan – Kirche. Und es gab kürzlich die Spaltung, die der ursprünglich römisch- katholische, dann aber traditionalistische Erzbischof Marcel Lefèbvre 1988 vollzog, als er ohne die Erlaubnis Roms vier seiner traditionalistischen Priester zu Bischöfen weihte. Diese Gemeinschaft besteht bis heute und die römischen Gelehrten sind sich nicht im klaren, ob diese Pius-Brüder nun bloß Schismatiker oder schon Häretiker sind. Viele Kenner meinen, die Traditionalisten sind Häretiker.
Man sieht bei diesem Thema, dass es fürs katholische Denken tatsächlich eine Art „Wahrheits-Zentrale“ im Vatikan gibt, die einfach verfügen kann: „Du bist Häretiker, du bist Schismatiker“. Dass diese Wahrheitszentrale („Glaubenskongregation“, einst „Inquisition“) selbst häretisch sein kann bzw. auch ist, liegt außerhalb des selbstherrlichen Blickfeldes der „Mitarbeiter der Wahrheit“ (so der Wahlspruch von Kardinal Joseph Ratzinger). Man denke nur daran, mit welcher Bravour der Vatikan den Wahn der Erbsündenlehre aus dem 4. Jahrhundert bis heute pflegt und verteidigt….Aber dies ist ein anderes Thema.
3.
Der „Synodale Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland, 2019 begonnen, ist durchaus bekannt, es handelt sich um einen „Gesprächsprozess eigener Art“, an dem Laien und Kleriker beteiligt sind. Werden Beschlüsse gefasst, die tatsächlich dringende Reformbeschlüsse wären, wie die Aufhebung des Pflichtzölibates, müssen diese Beschlüsse „selbstverständlich“ in den Vatikan zur Überprüfung und Genehmigung geschickt werden. Nun weiß jedes Kind, dass grundlegende Reformwünsche, wie etwa zum Zölibat oder zum Priestertum der Frauen, von den Herren der Kirche a priori abgeschmettert werden, auch von Papst Franziskus, der bekanntlich alles andere als ein deutlicher und präziser Reform-Theologe und Reformpapst ist.
Der Synodale Weg kann also als eine Art Freizeitbeschäftigung diskussionsfreudiger, oft frustrierter Katholiken, ohne weitreichende Bedeutung, interpretiert werden. Man denke etwa auch an die mit großem Aufwand betrieben, aber ziemlich wirkungslose „Synode der deutschen Bistümer“ in Würzburg (1971 -1975) oder an spätere Beratungsrunden in vielen einzelnen Bistümern, wie auch in Berlin unter Bischof Joachim Meisner, die nichts anderes waren als zeitraubende Debatten. Der Autor dieses Textes, damals noch Mitglied der römischen Kirche, hat selbst an solchen Tagungungen teilgenommen, da wurden Laien vom Klerus mit leeren Versprechen schlicht und einfach in die Irre geführt. Ich denke an die von mir inszenierten Debatten über Kirchenreformen in der Großstadt, die nichts anderes waren als hübsche Plauderstündchen.
Führende vatikanische Kleriker warnen jedoch seit langem vor dem heutigen „Synodalen Weg“: „Niemand weiß, wie weit die Deutschen gehen werden, aber es ist potentiell explosiv“, zitiert der Korrespondent von „ La Croix“ vatikanische Herren, auch Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär des Heiligen Stuhles, hat mehrfach seine Sorgen geäußert, dass der Synodale Weg die Einheit der Kirche störe. (Mit Einheit der Kirche meint er natürlich die vom Vatikan definierte Einheit der Kirche).
4.

In den Niederlanden wurde das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 65) und dessen Reformbeschlüsse mit besonders großem Enthusiasmus aufgenommen. Katholiken veranstalteten von 1966 – 1970 das „Pastoraal Concilie“, das niederländische Pastoralkonzil, ein Beratungsgremium aus Laien, Priestern und Bischöfen. Sie waren entschlossen, auf ihre Weise die Reformvorschläge des Zweiten Vatikanischen Konzils für ihre Kultur und ihr Land umzusetzen und zu erweitern. Am 7.1.1970 wurde etwa vom Pastoralkonzil mit überwältigender Mehrheit beschlossen, dass Priester heiraten dürfen und als verheiratete Priester weiterhin in ihren Gemeinden arbeiten sollten. Dieses Thema war nur eines, das, dem römischen Rechtssystem entsprechend, nur von den Herren der Kirche im Vatikan genehmigt werden konnte. Der Beschluss der katholischen Niederländer wurde selbstverständlich im Vatikan abgelehnt. Zuvor hatten sich die niederländischen Katholiken in Rom total unbeliebt gemacht wegen ihres neuen Glaubensbuches, den sie „Neuen Katechismus“ nannten, ein Buch, das den christlichen Glauben in moderner Sprache nachvollziehbar beschreibt, ohne auf Kirchenkritik explizit zu verzichten, etwa was den Zentralismus der Kurie angeht. Dieses Glaubensbuch wurde in 34 Sprachen übersetzt und zu hunderttausenden von Exemplaren verbreitet. Das waren Zeiten, als einige progressive Geistliche in Deutschland  aus purer Neugier plötzlich begannen, Niederländisch zu lernen, um dieses Buch zu lesen.
Aber Rom hatte nicht das geringste Interesse, in einen Dialog mit den sehr reformbegeisterten Niederländern einzugehen. Der Vatikan hörte damals wie heute auf die Stimmen der Reaktionären und setzte den Niederländern dann Bischöfe vor, die ganz stramm und extrem auf römischem Kurs standen und entsprechend autoritär handelten.
Mit anderen Worten: Das Niederländische Pastoralkonzil war ein begeistertes Unternehmen, auch von den damaligen Bischöfen, wie Kardinal Alfrink oder Bischof Bluyssen unterstützt, aber es war eine Art Spielwiese, die Beschlüsse des Pastoralkonzils konnten nicht Wirklichkeit werden. Immer mehr Katholiken zogen sich enttäuscht von der Kirche zurück, heute (2021) nennen sich noch etwa 23 Prozent katholisch, zur Messe am Sonntag gehen (2021) regelmäßig etwa 1 Prozent. Die katholische Kirche der Niederlande wurde vom Papst (Johannes Paul II. und Benedikt XVI.) de facto als progressive Kirche zerstört, vor allem durch zahlreiche sehr konservative Bischöfe, am bekanntesten wurden Simonis und Gijsen, aber es sind noch viele andere. „Diese reaktionären Bischöfe haben ihre Gläubigen im Stich gelassen“, sagen niederländische Katholiken seit langer Zeit, resigniert. Und die Gläubigen sind „ausgewandert“, aber wohin? In kleinere eigenständige Basisgemeinden (etwa die Gemeinde, die Huub Oosterhuis gegründet hat) oder in progressive protestantische Kirchen (wie die Remonstranten) oder in spirituelle Gruppen, die noch sehr zahlreich sind in Holland. Ein explizit progressiver niederländischer Katholizismus (im „Synodalen Geist“) ist fast nicht mehr vorhanden. Die großen Orden, wie die Franziskaner, Dominikaner, Jesuiten oder Augustiner stehen kurz vor dem Verschwinden, falls nicht polnische oder indische „Mitbrüder“ noch ein leerstehendes Kloster bewohnen wollen. Jedenfalls ist die Kultur der Orden und Klöster, auch der Frauenorden, so gut wie tot. Ursache dafür ist nicht etwa (nur) der vom Rom viel genannte säkulare Ungeist, sondern vor allem das reaktionäre und sture Verhalten Roms und der meisten Bischöfe. Sie haben die Katholiken aus ihrer Kirche vertrieben, das ist klar. Der niederländische Katholizismus wurde von Rom und den meisten Bischöfen „platt“ gemacht, Tendenz „scheintot“, sagen manche. Das wäre ein Thema für deutsche Historiker, die nicht der Kirche und ihrer Kontrolle verpflichtet sind, also keine Theologen, sondern Historiker sind. (Zur führenden progressiven Gestalt unter den niederländischen Bischöfen: Über Kardinal Alfrink : Siehe den Beitrag von Walter Goddijn (1988) in der Zeitschrift Orientierung, Zürich: http://www.orientierung.ch/pdf/1988/JG%2052_HEFT%2001_DATUM%2019880115.PDF

NOCHMAL direkt zu Kapitel 4:
Die Strukturen der römisch-katholischen Kirche sind so, dass die herrschenden Kleriker über alle Gewalten verfügen. Sie haben sich selbst zu den einzig maßgeblichen Interpreten der Bibel und der Kirchenlehre gemacht, der Papst hat sich mit seinem Anspruch, in Glaubens-und Sittenfragen unfehlbar gemacht und ins Getto eingemauert. Nun gibt es zwar die ca. mehr als eine Milliarde katholischer Laien: Aber die haben in der Kirche nichts zu bestimmen, können nicht mitbestimmen und mitentscheiden. Sie sind wie immer die gehorsamen Schäfchen, denen der Klerus jetzt, weil alles andere total blamabel wäre, gewisse Debattiermöglichkeiten freistellt. So weckt diese autoritäre und, was Demokratie angeht, wahrlich aus der Zeit gefallene religiöse Großorganisation nur den Anschein, dialogbereit und lernfähig zu sein. Sie ist es aber gar nicht. Dies nicht nur zu erkennen, sondern auch mit allen Konsequenzen für einen anderen religiösen Weg anzunehmen, fällt sehr vielen Katholiken schwer. Sie begeben sich gern auf die Spielwiese und fühlen sich aufgewertet, weil sie ein paar Worte sagen, die bei den ewigen Strukturen dieser Klerus beherrschten Kirche aber letztlich keinerlei Rolle spielen. Masochismus und katholische Kirchenbindung waren und sind oft eine innige Einheit.
Um wirklich frei und befreit zu sein, muss ein Schisma doch auch mal gewagt werden. Davon hat der große Reformtheologe Hans Küng leider nie gesprochen. Hätte Luther ewig Angst vor dem Papst gehabt, wäre die Papstkirche entweder verschwunden (was Nietzsche bereits voller Freude andeutete) oder sie würde als riesiges Renaissance – und Barock – Theater noch fortbestehen, zur Erbauung aller Theaterfreunde.
6.
Warum also wollen die Herren der Kirche in Rom kein Schisma der deutschen Katholiken? Nicht nur aus theologisch – ideologischen Gründen, damit des Vatikans Herrschaft universal bleibt.
Die Antwort ist auch und sehr materiell: 6,76 Milliarden Euro hat die katholische Kirche im Jahr 2019 an Kirchensteuern eingenommen. Auch die Spenden für den Vatikan, „Peterspfennig“ genannt, sind beträchtlich. Bricht diese ultrareiche deutsche Kirche für den Vatikan weg, wird sie schismatisch, geht sie eigene Wege, wäre dies auch ein finanzielles Desaster für den Vatikan, auch darauf weist der Korrespondent von „La Croix“ ausdrücklich hin.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Katholische Kirche ist am toten Punkt: Kardinal Marx beurteilt den Zustand der katholischen Kirche.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 5. Juni 2021.

1.
In einem Brief bittet Kardinal Reinhard Marx den Papst, seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising zu akzeptieren.
Dieser Brief und die Erklärungen von Marx zu seinem Rücktritt am 4.6.2021 enthalten wichtige Aspekte vor allem zur immer noch nicht umfassend bearbeiteten „Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“, so Kardinal Marx wörtlich.
Auch die Auswirkungen des Rücktritts von Marx auf die anderen Bischöfe in Deutschland bleiben wichtiges Thema: Wie lange wird etwa der von den meisten Kölner Katholiken nicht mehr respektierte Kardinal Woelki sich noch mit aller Macht an sein Amt klammern können? An eine Vertreibung Woelkis aus seinem Bischofspalais in Köln denken die Kölner wohl noch nicht.
2.
Viel wichtiger und ganz zentral und bedenkenswert sind drei Worte in dem Brief von Marx an den Papst: Es handelt sich um den „gewissen toten Punkt“, an dem sich für Kardinal Marx die katholische Kirche jetzt befindet.
3.
Die Katholische Kirche also: An einem “toten Punkt”! Das hat man in der Deutlichkeit noch nicht von einem der prominentesten Kardinäle gehört. Klingt entfernt etwas nach Martin Luther. Was für eine treffende und wahre Analyse der Zustände der römischen Kirche heute. “Am toten Punkt”, das könnte heißen: Diese Kirche ist zwar noch vorhanden, als Organisation, als Macht rituellen Geschehens, als Repräsentation des Klerus mit allem üblichen „Brimborium“ der Mitras und Hirtenstäbe, umwölkt von Weihrauch-Schwaden. Aber, wie gesagt, diese Kirche ist weithin nur noch vorhanden, sie lebt nicht mehr, ist nicht mehr kreativ, ist nicht mehr lebendig. Und lebendig heißt: Mutig auch inhaltlich den christlichen Glauben neu aussagen. D.h: Alten dogmatischen und kirchenrechtlichen “Schrott”,könnte man diese dogmatisch ausgetüftelte System nennen, also entrümpeln, wie etwa das Zölibatsgesetz, den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt, die “Ehe für alle” als Sakrament (nicht nur als “Segnung”) gestalten usw. Alte Traditionen mögen zwar alt sein, aber sie sind keineswegs noch “ehrwürdig” für eine aufgeklärte Theologie und für demokratisch fühlende Menschen. Und ist es nicht geradezu lächerlich, wenn Kleriker so viel von Gott wissen und arrogant behaupten: Gott höchst persönlich will diese unsere Kirchengesetze?
4.
Der Duden belehrt uns, genau das von Kardinal Marx zitierte Wort „toter Punkt“ zu verstehen: „Die Wendung der tote Punkt kann zwei Bedeutungen haben:
– Ein Stadium, im dem keine Fortschritte mehr erzielt werden, in dem etwas stagniert: Die Verhandlungen waren auf dem toten Punkt angelangt.
– Ein Zustand stärkster Ermüdung, Erschöpfung: Ein starker Kaffee sollte ihr über den toten Punkt hinweghelfen“.

Die „Stagnation“ ist katholische Realität. Und sie ist von den Päpsten und den Klerikern seit Jahrzehnten und Jahrhunderten als solche gewollt. Natürlich gab es im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils (1962 -1965) kleine Reförmchen und Schönheitsreparturen, aber an den alten Dogmen (wie etwa dem furchtbaren Wahn der Erbsünde) wurde nichts verändert. Die unsäglich altertümliche Sprache der Messe wurde aus dem Lateinischen wortwörtlich in die modernen Sprachen übersetzt: Unverständlich fremd und störend ist diese Übersetzung aus dem Lateinischen bis heute.
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Stagnation wird von den Hierarchen heute klein geredet mit dem Hinweis auf Reförmchen, etwa dass Laien ihre Meinung sagen dürfen (in „Laiengremien“), aber selbstverständlich nichts entscheiden dürfen (bestenfalls, ob die Sonntags-Messe um 11 Uhr statt um 10 Uhr beginnt). Von demokratischer Kultur keine Spur in dieser Kirche. Und die Päpste und Prälaten sind stolz darauf und sagen das so, dass ihre Kirche nicht demokratisch ist. „Gott will keine demokratische Kirche, wir Bischöfe reden zwar vom allgemeinen (!) Priestertum aller katholischen Gläubigen, aber wir Kleriker halten uns nicht daran”. Das ist die Realität, die jeder Aufmerksame kennt.

In der zweiten Duden-Definition des „toten Punktes“ wird auf eine mögliche Schocktherapie gegen den toten Punkt im Alltag verwiesen: Etwa Koffein bei starker Müdigkeit.
Im Falle der römischen Kirche heißt die „Schocktherapie“ gegen den Null-Punkt: Gebt der Vernunft, dem Geist, dem Verstand, den absoluten Vorzug in allen kirchlichen und theologischen Fragen. So wie die Missbrauchskatastrophe nicht von Klerikern wegen deren theologischer Befangenheit „gelöst“ werden kann, sondern nur von „auswärts“, also von vernünftigen Spezialisten, so kann auch der „tote Punkt“, an dem sich die Kirche theologisch befindet, nicht von der Theologie überwunden werden. Denn Theologie als „kirchliche, d.h. kirchen-amtliche „Wissenschaft“ ist befangen, wenn nicht blind, zumindest immer verängstigt.
Eine grundlegende Reformation einleiten kann allein eine kirchenamtlich unabhängige Vernunft. Sie allein ist imstande, den Wahn mancher Dogmen und Gesetze zu erkennen und deren Abschaffung zu fordern. Dieser Verzicht als Befreiung macht die Glaubens“lehre“ einfach und nachvollziehbar. Und weiter reformierbar und wieder neu aussagbar für spätere Generationen.
5.
Wird es dazu kommen, wird also „der tote Punkt“ überwunden werden? Kardinal Marx als frommer Theologe setzt erwartungsgemäß, so wörtlich, „auf den österlichen Glauben“, also auf eine Art Auferstehung der Kirche von den Toten. Dieser Glaube aber setzt bei der Überwindung des toten Punktes auf eine Aktivität Gottes. Aber Gott kann bekanntlich gemäß altem dogmatischen Denken „handeln“ wann und wie und wo er “wunderbar” will. Reformen geraten aber damit ins Willkürliche, in den Wartestand auf ein Wunder (der erneuten Auferstehung). Vielleicht will aber dieser Gott gar nicht mehr diese Kirche. „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“, fragte schon Nietzsche, vieles spricht heute dafür.
6.
Wer aber noch als Mensch auf seine Vernunft setzen will, hält an der Erkenntnis fest: Tote Punkte können NUR mit dem Mut der Vernunft überwunden werden. Vorausgesetzt: Alle Interessierten handeln vernünftig in ihren Reformen, und vernünftig heißt, philosophisch gesehen, immer auch frei und demokratisch.

Zur Vertiefung zu dem Thema: “Es ist vorbei”: Katholische Kirche in Europa: LINK
Und auch:LINK

Zum neuen Buch von Hubertus Halbfas, Säkulare Frömmigkeit: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der unbekannte Comenius ist der Theologe Comenius

Das neue Buch von Manfred Richter
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Keine Frage: Jan Amos Komensky ist nicht nur ein bedeutender Intellektueller Tschechiens. Er ist unter dem Namen Comenius weltweit bekannt als ein bis heute inspirierender Pädagoge, deswegen gilt er als „Lehrer der Völker“. Comenius lebte von 1592 bis 1670, er wurde von den katholischen Habsburgern in seiner Heimat verfolgt, flüchtete nach Polen und in die Niederlande, in Amsterdam ist er gestorben. Er hat ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, und darunter zahlreiche theologische Studien, die stets mit seiner kirchlichen Praxis verbunden sind. Und darum geht es hier.
2.
Jetzt hat der Berliner Comenius-Spezialist, Pfarrer Dr. Manfred Richter, erneut in einem umfangreichen Buch einige seiner gründlichen Studien zu dem hierzulande eher unbekannten Theologen und Bischof der protestantischen „Brüderunität“ Jan Amos Comenius vorgelegt: Der Untertitel macht von vornherein die ökumenische Energie dieses tschechischen Theologen deutlich: “Ein Bischof fordert: Ökumene radikal“. Warum radikal? Weil Comenius überzeugt ist: Eigentlich könnten die unterschiedlichen, verfeindeten protestantischen Kirchen mit gutem Willen und in friedfertigem Geist zur Versöhnung finden. Dabei werden auch die spirituellen Verbindungen von Comenius mit dem großen böhmischen Reformator Jan Hus deutlich: „Die Gemeinsamkeit liegt in der Bereitschaft, auf Gott selbst sein Vertrauen zu richten, nicht auf die abgeleitete Autorität der Kirche, die freilich ihre gottgewollte Bedeutung behält“ (S. 39).
3.
Zuflucht fand der aus dem katholischen Böhmen vertriebene Comenius auch in Polen. Mit den damals dort dialogfreundlichen Katholiken suchte er das ausdauernde, geduldige Gespräch, etwa im „Religionsgespräch in Thorn“ im Jahr 1645. Dort forderte er als Weg zur Versöhnung mit den Katholiken ein universales Konzil. Darüber hat Manfred Richter ein eigenes Buch verfasst.
Nebenbei: Heute hat das katholisch reaktionäre, antisemitische Medienimperium Radio Maryja in dieser Stadt Thorn (Torun) seine Zentrale, die beste Stütze der PIS Regierung. Ob der Manager, der Redemptoristen-Pater Rydzyk, schon mal den Namen Comenius gehört hat?
4.
Für viele LeserInnen neu dürfte sein, dass auch der Philosoph Leibniz den Theologen und Pädagogen Comenius schätzte, was sich in seinem Abschiedsgedicht zu Ehren von Comenius etwa ausdrückte (S. 359). Auch zum Thema „Leibniz und Comenus“ bietet das empfehlenswerte Buch von Manfred Richter viele Informationen.
5.
Comenius konnte als ökumenischer Vermittler wirken, weil er das Dogma der damals starken und mächtigen Kirchen teilte, das Trinitäts-Dogma, also den Glauben an den dreifaltigen, dreieinigen Gott. An diesem Bekenntnis hielt Comenius unerschütterlich fest in den Auseinandersetzungen mit der kleinen kirchlichen Bewegung der Sozzinianer, benannt nach den italienischen Juristen und Theologen aus der Familie Sozzini: Sie wollten und konnten nicht anerkennen, dass Jesus von Nazareth als Gott und damit als eine zweite Person in der Trinität betrachtet wird. Die Sozzinianer fanden ebenfalls Zuflucht in dem damals toleranten Polen. Comenius begegnete ihnen, den „Anti-Trinitariern“, also. Manfred Richter spricht von „aggressiven Bekehrungsbemühungen“ seitens der Sozzinianer. Und er nimmt als Historiker selbst persönlich Stellung, wenn er die Sozzinianer Christen nennt, aber Christen in Anführungszeichen, so werden diese verfolgten anders denkenden Christen erneut verurteilt. Gut, dass wenigstens die niederländischen Remonstranten die Sozzinianer immer noch schätzen. Woher kommt denn diese Arroganz zu wissen, dass der arme Prophet Jesus von Nazareth zur zweiten Person der Gottheit erklärt werden kann. Geht es nicht auch einfacher? Muss man einen lebendigen Gott immer trinitarisch denken? Sicher nicht, Gott „nur“ als Geist verstanden ist auch immer schon als Geist lebendig.
Manfred Richter schreibt etwa, die Sozzinianer hätten „die komplexe religiöse Logik des Heilsgeschehens (was ist denn das?, CM) nicht nachvollziehen können und eine „plumpe Eindimensionalität vertreten“ (S. 229, Fn. 16). Die Sozzinianer hätten also nicht die (offenbar trinitarische?) Qualität der Texte der Bibel gekannt, behauptet er. Als würde es im Neuen Testament auch nur einen einzigen bescheidenen Hinweis geben auf das Trinitätsdogma! Dieses ist ein Produkt des 4. Jahrhunderts, unter allerhand politischem Druck zustande gekommen, was hier nicht vertieft werden kann.
Über die Sozzinianer hat sich treffend und richtig der Philosophiehistoriker Kurt Flasch geäußert in seinem neuen empfehlenswerten Buch „Christentum und Aufklärung“.
Auch die in dem Buch „Der unbekannte Comenius“ geäußerte Liebe zu dem Kirchenvater Augustin, dem Erfinder der ebenfalls unbiblischen Erbsündenlehre, wirkt befremdlich, dass christliches Leben ohne die Erbsünden-Ideologie möglich ist, kann man anderswo nachlesen, LINK.
Aber Manfred Richter zweifelt offenbar dann doch an seinem Bravour-Urteil gegen die Sozzinianer und deren angeblicher Liebe zur willkürlichen Auswahl der Bibeltexte. Richter schreibt also in seinem Buch etwas später sehr richtig: „Allerdings muss die Frage erlaubt sein, taten es (also die willkürliche Auswahl) die orthodoxen Christen nicht auch, und bis heute? (S. 241.) Wohl wahr!
Nebenbei. Bei einer willkürlichen Auswahl der Bibeltexte wären dann also auch die so genannten orthodox glaubenden Christen Häretiker, also Leute, die auswählen.
Comenius sprach von einer triadischen Struktur der Wirklichkeit, die ein stummes Zeugnis biete für den dann doch auch triadisch gedachten Gott. Also weil Gott triadisch ist, ist die Wirklichkeit triadisch? Ist es nicht umgekehrt: Das Triadische wird von Menschen auf Gott übertragen, wie es später dann Hegel in seiner Logik der Dialektik tat: Weil der menschliche Geist (!) dialektisch, also irgendwie „trinitarisch“ ist, muss auch Gott als der absolute Geist, dialektisch, also „trinitarisch“, verstanden werden… Aber das nur am Rande, von Hegel ist in dem Buch Manfred Richters keine Rede.
6.
Weil das Thema der dogmatisch gefassten Trinität ja durchaus ein ökumenisches Thema sein sollte, das gegenüber den Festlegungen aus dem 4. und 5. Jahrhundert debattiert werden sollte: ein Zitat des großen katholischen (sic) Theologieprofessors und Dominikanermönchs in Nijmegen Edward Schillebeeckx: Er wollte und konnte ehrlicherweise von Gott nicht „zu viel wissen“. Er sah sich verpflichtet, Gott eben Gott sein zu lassen, als ein bleibendes Geheimnis. Darum sagte Schillbeeckx: „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitäts-Theologie fast ein Agnostiker. Ich bekenne die Trinität, aber ich übe gleichzeitig eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den drei (göttlichen) Personen rational zu erfassen“. („Edward Schillebeeckx im Gespräch“, Luzern 1994, S. 107).
7.
Ich habe im Oktober 2017 ein Interview mit Manfred Richter über seinen Vorschlag publiziert, eine „Erste gesamtökumenische Enzyklika“ zu verfassen. Das Interview ist nach wie vor interessant, es wird in dem Buch nicht erwähnt, siehe: LINK.

Manfred Richter, „Der unbekannte Comenius. Ein Bischof fordert – Ökumene radikal“. LIT Verlag Berlin 2021, 406 Seiten, 29,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Für den Bruch mit der bestehenden Kirche.

Der katholische Theologe Hubertus Halbfas plädiert für eine “säkulare Frömmigkeit”.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das neue Buch des katholischen Theologen Hubertus Halbfas ist – im ganzen gesehen – ein dringender Aufruf zu einer grundstürzenden Reformation der Kirchen: „Nur ein Systembruch (mit dem dogmatischen Kirchensystem, CM) kann die Kirchen retten“ (S. 139), „sonst bleibt auch das Rest-Christentum entbehrlich“ (S. 200).
2.
Halbfas hat einen radikalen Reformvorschlag, also einen an die Wurzeln des bisher Selbstverständlichen gehenden Vorschlag: Nur eine säkulare Frömmigkeit, die kritische Glaubende wie kritische Nichtglaubende gemeinsam (!) leben und reflektieren können, ist noch relevant für die Menschen von heute. Er denkt dabei an die gebildeten Europäer, nicht aber an die Armgemachten in Afrika oder Lateinamerika, die Religion immer noch als Opium offenbar brauchen und gebrauchen.
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Das neue Buch von Halbfas könnte trotz dieser Begrenzung als eine Art Impuls für die aktuellen „Reformbewegungen“ („Maria 2.0“ etc.) und den so genannten „synodalen Weg“ gelesen werden. Diese immer noch ein bisschen hoffnungsvoll gesinnten noch kirchentreuen Katholiken sollten, salopp gesagt, das Buch debattieren und es ihren Bischöfen, Generalvikaren, Ordensoberen usw. schenken „Bitte lesen, Pflichtlektüre“.
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Hubertus Halbfas ist ein viel gelesener Autor mit etwa 16, zum Teil sehr umfangreichen Büchern (allein im Patmos Verlag) und ein deutlich schreibender und klar denkender, vor allem umfassend gebildeter Theologe. Er wird sich gesagt haben: Mit meinen 88 Jahren brauche ich jetzt auf keinen Hierarchen mehr Rücksicht zu nehmen. Dies hat er auch nie getan. Er hat die Gabe der Zuspitzung und der Radikalisierung von Erkenntnissen, eher eine Seltenheit unter katholischen Theologen Deutschlands.
5.
Warum ist das Buch „Säkulares Christentum“ so wichtig? Halbfas nennt in aller Kürze die wichtigsten theologischen und bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gestalt Jesu Christi, zu den Kirchen und ihren Dogmen. Es sind Erkenntnisse, die in der theologischen Forschung überhaupt keinem Zweifel unterliegen, die aber von den (an alte Dogmen gebundenen) Hierarchien und ihren Theologen (sollte man besser sagen: Ideologen) ignoriert werden.
6.
Einige Erkenntnisse, an die Hubertus Halbfas in seinem neuesten Buch erinnert:
– Jesus von Nazareth ist nicht der Gründer der Kirche(n).
– Paulus kannte offenbar nur sehr wenige Lehren des historischen Jesus (etwa seine Gleichnisse). Paulus hat autoritär eine Dogmatik entworfen. Zum Beispiel: Gott als Vater im Himmel opfert seinen Sohn zur Erlösung der Menschheit. Es gibt einen „Unterschied zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium des Paulus“ (S. 200). Die „paulinische Erlösungskonstruktion ist eine fehlgeleitete Entwicklung“ (S. 162). Nicht erwähnt wird von Halbfas die zweifellos vorhandene poetische Begabung des philosophisch gebildeten Apostels Paulus, etwa sein „Hohes Lied der Liebe“ (1. Korintherbrief, Kap. 13), es sagt in seiner Deutlichkeit einen verwandten Inhalt zum Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“.
– Jesus von Nazareth, der Prophet, wurde seit dem 4. Jahrhundert als die zweite „Person“ einer göttlichen Trinität gedacht und damit auch als wahrer Gott verstanden und verehrt. „Der Christus ist eine Kunstfigur, ihn braucht die Kirche für ihre eigenen Repräsentation, für Herrschaft und Glanz“ (S. 140).
– Der authentische Jesus von Nazareth hat „mit dem Kirchen- Jesus der meisten Gebete, Lieder und Bilder nichts gemeinsam“ (S.191).
– Jesu Lebensprogramm ist das auch weltlich erfahrbare und realisierbare „Reich Gottes“ als ein Leben der universellen Gerechtigkeit. Das Spezifische an Jesus wird in seiner „offenen Mahlgemeinschaft“ sichtbar, das gemeinsame Speisen an einem Tisch mit unterschiedlichen, zum Teil einander verfeindeten Menschen (S. 176 f.). Diese offene Tischgemeinschaft haben die Kirchen zu einem exklusiven Sakrament umgedeutet und religiös verfremdet. Hier setzt Halbfas seinen Impuls: Erlösung im Sinne Jesu ist nicht ein transzendentes Geschehen, Erlösung als politische Befreiung geschieht auf Erden. Was „post mortem“ für die Menschen kommt, werden wir dann sehen, meint Halbfas….
– Die Dogmatik der ersten Jahrhunderte folgte der Macht, die vor allem ein Augustinus ausübte, etwa, als er seine Erbsündenlehre erfand und gegen Widerstände (gegen Bischof Julian von Eclanum u.a.) durchsetzte. An diesem Wahn des furchtbaren Erbsündendogmas halten die allermeisten Kirchen bis heute fest. Und vertreiben mit diesem Dogma nachdenkliche Christen aus den Kirchen.
– Die (katholische) Hierarchie hat sich also der von ihr erfundenen Christus-Gestalt bemächtigt und schließt in ihrer Herrschaft Frauen vom Priesteramt aus; die Hierarchie verfügt über die Gesetze der Moral, des Zugangs zu den Sakramenten etc. Die Hierarchie hat sich ihre eigene, von außen nicht kontrollierbare Welt aufgebaut.
– Es gibt Menschen, natürlich auch außerhalb der Kirchen, die dem Lebensentwurf Jesu entsprechen, die also als die weiteren Jesus-Gestalten angesprochen werden könnten: Halbfas nennt als Beispiele: Gandhi oder Janusz Korczak, Franz Jägerstätter und Maximilian Kolbe (S. 188f.).
7.
Sein Buch versteht der Autor ausdrücklich, vom Titel her, als Impuls für eine „säkulare Frömmigkeit“: Fromm hat für ihn eine ungewohnte, durchaus merkwürdige Bedeutung. Ich würde den Mut haben, diesen Begriff „säkulare Frömmigkeit“ mit „humanistischer jesuanischer Frömmigkeit zu übersetzen. Halbfas versteht Frömmigkeit als “rechtschaffen, sorgfältig, tüchtig, vortrefflich“ (S.11). Zur säkularen Frömmigkeit gehört selbstverständlich auch der Respekt vor den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen, der Biologie, der Geschichte, der Religionsgeschichte usw. Ich persönlich finde dieses Verständnis von Frömmigkeit noch zu eng, denn zum Menschen gehört auch das Transzendieren, die Erfahrung des unendlichen Geborgenseins in einer göttlichen „Hand“. Halbfas spricht selbst später davon, wenn er etwa ein Gedicht des Romantikers Eichendorf bewegend findet. Warum also diese enge Definition von Frömmigkeit?
8.
Wichtig bleibt der Hinweis von Halbfas: Ein Glaube, der an den Realitäten der heute erkennbaren Wissenschaften „vorbei-glaubt“, ist existentiell nicht hilfreich und deswegen auch sinnlos. „Nicht Flurprozessionen, sondern der chemisch richtige Dünger sichert eine gute Ernte. Nicht Gelübde schützen vor Diphterie und Scharlach, sondern eine Forschung, die den schützenden Impfstoff erfand“ (S. 47).
9.
Diese säkulare Frömmigkeit verbindet Glaubende wie Nichtglaubende. Insofern kann sich Halbfas selbst auch als säkular verstehen. In diesem Sinne benutzt er das Wort Gott nicht mehr als Titel, der reserviert wäre allein für Glaubende: “Ein Atheist kann das mit dem Wort Gott Gedachte als geistigen Entwurf des Weltganzen nehmen…“ (S. 171).
10.
Der Glaubende im Sinne von Halbfas erlebt eine innere, bleibend-geistig-seelische Präsenz. Dabei beruft sich der Autor auch auf den mittelalterlichen Philosophen Meister Eckart. Dessen Hinweis auf den „Göttlichen Funken“ in der Seele eines jeden Menschen findet Halbfas sehr angemessen für ein „aufgeklärtes Christentum“, wie das Buch im Untertitel fordert.
Interessant und weiter sehr bedenkenswert in dem Zusammenhang auch der viel zu knappe Hinweis: “Wir können auch die Stimme unseres Gewissens … als Stimme Gottes ansehen“ (S. 57). Leider werden diese Einsichten wie auch die zu Meister Eckart nicht vertieft. Das bestätigt den eher thesenartigen Charakter des Buches und weist auf einen Mangel an philosophischer Reflexion hin (Kant, Hegel etc.)
11.
Dies empfinde ich als überflüssig, wenn nicht störend: Der Text stellt sich als Dialog dar. ABER: Die Fragen stellt der Autor selbst. Gerade bei dem Thema und dem Titel wäre eine echte Person als Fragende sehr sinnvoll gewesen.
12.
Zur weiteren Debatte regen die Hinweise zum Sinn des Betens, vor allem der Fürbitte an; dazu hat sich Halbfas schon vor Jahrzehnten geäußert. Für ihn sind Bittgebete immer irgendwie egozentrisch und Ausdruck eines magischen Denkens. „Man kann nicht dafür beten, dass Borussia Dortmund gegen Bayern München gewinnt“ (S. 49). Beten für etwas hat bei Halbfas vor allem den Sinn: „Ich muss mich fragen, was ich etwa für einen Kranken tun kann, für den ich bete“ (S. 49).
13.
Problematisch finde ich, dass Halbfas nicht sieht: Das „klassische“ Beten, auch das Bittgebet, kann die Bedeutung einer persönlichen Poesie haben, auf die sich die Betenden dann noch einmal nachdenkend beziehen. Dabei könnten sie entdecken, dass sie durch diese Gebete in ihrem Wünschen und Fragen über alles weltlich Verfügbare hinausreichen, dass sie sich in ihrem Denken von sich selbst befreien und dem anderen denkend und liebevoll gesinnt zuwenden, dessen Stärke und Schwäche sehen. Solch ein Beten für einen anderen in diesem Sinne hat nicht den Charakter eines „magischen Denkens“. Es führt zur inneren Reife und Selbstfindung und „Nächsten-Findung“.
14.
Problematisch finde ich das erste Kapitel des Buches, das stark eintritt für den Glanz der griechischen Götterwelt. Halbfas spricht da von „poetischer Gültigkeit der altgriechischen Welt“ und dem „darin aufleuchtenden Geheimnis“ (S. 19). Kann man ja mal behaupten, aber es sei daran erinnert: Die ersten Philosophen Griechenland, wie Platon, waren froh, die griechischen Göttermythen im Logos hinter sich gelassen zu haben. Die Schönheit der Götter in ihren Statuen wird dann philosophisch vermittelt! Wir wissen heute aus vielerlei Mythen, wie diese Götter unter sich verfeindet waren, wie widersprüchlich ihr Charakter, wie verworren die Erzählungen sind. Diese Götterwelt muss nun wirklich nicht herhalten für ein heutiges Gespür von Heiligem und von Frömmigkeit. Von Kleists „Amphytryon“ usw. will ich lieber gar nicht sprechen. Ebenso wenig, inwiefern sich da Türen zum Polytheismus öffnen. Den muss man ja nicht verteidigen, wenn man den fundamentalistischen Monotheismus ablehnt. Das gilt allgemein und ist nicht auf Halbfas bezogen.
15.
Wie schon gesagt: es fällt auf, dass bei Halbfas doch eine gewisse Liebe zur Romantik durchbricht. So ganz rationalistisch will er dann doch nicht sein. Er will ja nicht nur die antike (also altgriechische) Naturfrömmigkeit, sondern auch das romantische Naturgefühl in den Diskurs über Religion einführen“ (S. 74). Halbfas spricht voller Achtung und Verehrung von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, er sieht darin “mehr Frömmigkeit als in kirchlichen Gebetbüchern“ (77). Es gibt ja nun auch vernünftige Gebete, die sich auf einen personal gedachten Sinngrund („Gott“) von allem beziehen und nicht in einem stimmungsvoll schönen Mondnacht-Erleben verbleiben, ich denke an Bonhoeffers späte Gebete. Aber vielleicht, ironisch gefragt, können die Menschen auch zum Mond ein personales Verhältnis entwickeln, der Mond, der ihnen letzte Geborgenheit vermittelt…Wer weiß… darüber wäre zu diskutiere.
Deutlich ist jedenfalls: Auch die rationalistische Theologie kommt nicht ohne einen Rest von Verzauberung und romantischen Gefühlen aus. Das ist, philosophisch gesehen, nicht „schlimm“, wenn denn gesagt würde: Der menschliche Geist steuert den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen. Von dieser koordinierenden, steuernden Funktion des Geistes ist leider keine Rede.
16.
Dass von der Evolution gesprochen wird, ist natürlich richtig und selbstverständlich. Ich hätte mir nur mehr präzisere Formulierungen gewünscht: Auf Seite 30 schreibt Halbfas: „Wir sind mit zwingender Konsequenz Geschöpfe der Evolution“ (S. 30). Wir sind Geschöpfe der Evolution, heißt das: Also hat uns die Evolution geschaffen? Aber: Wer oder was hat denn die Evolution erschaffen? Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Auch der Geist ist ein Produkt des evolutionären Geschehens. Er ist bereits in der toten Natur mit angelegt und insgesamt dem Universum inhärent“. Woher aber kommt dieser richtig erkannte „inhärente Geist“, dieses „Produkt des evolutiven Geschehens“?
17.
Vieles andere bleibt merk-würdig im kritisch – fragenden Sinne: Die globale politische Ungerechtigkeit des Neoliberalismus wird nicht umfassend angesprochen, auch nicht das Miteinander der verschiedenen Religionen, Islam, Buddhismus, Judentum, Hinduismus usw.
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Wichtig sind die Hinweise etwa zur theologischen Rechtfertigung der Kriege und der kirchlichen Abweisung von Wehrdienstverweigerern (S. 111 f). Seit Kaiser Konstantin stehen die Kirchen auf der Seite der Machthaber. Davon werden sie sich „nie mehr erholen können“ (S. 113), betont Halbfas. „Der jesuanische Ursprung und sein Reich-Gottes-Konzept sind in der kirchlichen Realität verblasst“ (ebd.).
19.
Welcher Gesamteindruck bleibt nach der Lektüre dieses Buches? Selbstverständlich wird jede LeserIN eigene Konsequenzen ziehen. Viele werden wohl die Konsequenz ziehen und die Institution Kirche als (zahlendes) Mitglied verlassen. Das geschieht ja auch. Aber was dann? Fühlen sich doch viele der „Ausgetretenen“ durchaus als spirituelle, vielleicht sogar als jesuanisch interessierte Menschen. Werden sie die Kraft haben, eigene Gemeinden der kritischen religiösen Vernunft zu schaffen? Oder sich den wenigen bestehenden „freisinnigen“ Kirchen anzuschließen?
20.
In jedem Fall wird aber deutlich, dass Halbfas die humane, „humanistische“ Lebenspraxis (im Sinne eines ursprünglichen Jesus von Nazareth) über alles geschätzt und empfiehlt. Explizit religiöse Kulte, Gebräuche, Riten hingegen bleiben unter dem Verdacht, nur die Herrschaft des Klerus zu stützen und Menschen von einem authentischen Leben abzulenken.
Religiöse Kulte, wie Wallfahrten, Prozessionen, Reliquienverehrungen, in den südeuropäischen und osteuropäische Ländern üblich, werden schnell missbraucht zur Verschleierung realer Zustände. Diese Kulte und Prozessionen, fördern, wenn sie denn mehr sind als touristische Folklore, nur die Scheinheiligkeit der Herrschenden. Und trotzdem werden sie vom Klerus weiterhin dem „Volk“ aufgedrängt. In Süd-Italien hat die Mafia ihre bis vor kurzem noch offiziell – kirchlich unterstützten Wallfahrtsorte. Und die katholische Volksfrömmigkeit in vielen Staaten Lateinamerikas hat auch nicht gerade demokratische und weithin gewaltfreie Verhältnisse geschaffen. Katholische Länder sind kaum Vorbilder der Demokratie, das liegt -psychologisch betrachtet – auch daran, dass die Leute wissen: Die „heilige römische Kirche“ ist selbst nicht demokratisch organisiert, sie kennt keine Gleichberechtigung von Frauen. Wenn das bei einer „von Gott gestifteten“ Institution Kirche so ist: Warum soll denn unser Staat demokratisch sein? Warum sollen die Männer aufhören extrem machistisch zu sein und Gewalt gegen Frauen normal zu finden? Diese Zusammenhänge sollten diskutiert werden.
So wie auch der evangelikale Glaube oder der Glaube vieler Pfingstgemeinden etwa in Nigeria den Zustand politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit eher verfestigt. Christliche Religion ist also weithin oft Opium des Volkes, was selbstverständlich auch für alle anderen Religionen gilt. Ohne Religionen als Klerus-Herrschaft religiös sein und ohne Kirchenbindung jesuanisch sein – das ist wohl die Herausforderung religiös bzw. spirituell interessierter Menschen heute und morgen.

Hubertus Halbfas, „Säkulare Frömmigkeit. Gespräche über ein aufgeklärtes Christentum“. Patmos Verlag, 2021, 208 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Beten um ein Wunder in der Pandemie: Über die Macht des Glaubens und des Aberglaubens.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2021.

1.
Am 1. Mai 2021 startet ein Marathon: Alle Katholiken sollen im Mai, dem Marien – Monat, so wünscht es Papst Franziskus, täglich den Rosenkrank beten. LINK.
Der „Rosenkranz“ muss vielleicht elementar kurz erklärt werden: Er ist ein traditionsreiches Gebet aus dem Mittelalter, das vor allem aus einer Verbindung von Bibelzitaten und dem „Ave Maria“, also dem „Gegrüßet seist du Maria“, besteht. Diese insgesamt 50 Ave Maria werden 4 mal durch das Vater Unser unterbrochen. Fürs Beten wird eine Gebetskette, der „Rosenkranz“, verwendet. Beim Beten kann durch die vielen monoton wirkenden Wiederholungen eine meditative Stille trotz der Worte entstehen. Wer an gut besuchten Rosenkranz – Andachten in Barockkirchen teilnahm, hörte förmlich das „Seufzen der Kreatur“…

2.
Die „Marathon – Beter“ im Mai 2021 sollen sich dabei in Verbundenheit wissen – auch durch Life-Schaltungen – mit berühmten Marien-Wallfahrtsorten weltweit. Denn dort sind ja schon Wunder geschehen. Und um die geht es in dieser ehrgeizigen Gebets – Veranstaltung. Sie wird ausdrücklich Marathon genannt, also assoziiert mit einer intensiven sportlichen körperlichen Anstrengung. Die alte katholische Maxime „Betet heftig, stark und viel“ wird also aktualisiert. Als Sieger gilt allerdings nicht der menschliche Beter, sondern – hoffentlich – Gott persönlich. Denn er soll sich durch das Beten der Menschen zu einem großen Wunder bewegen lassen. Gott soll der Pandemie bitte schön ein Ende setzen. Auf dieses unbescheidene Ziel setzt das „Marathon -Projekt“ ausdrücklich.

3.
Auf diesen Titel ist der „Päpstliche Rat zur Förderung der neuen Evangelisation“ gekommen. Dieser Behörde gehört seit Dezember 2014 auch der bekannte ehemalige Bischof von Limburg, Franz Peter Tebartz – van Elst, an. Der Begriff „Marathon“ ist ihm wohl in den Sinn gekommen, als er sich daran erinnerte, wie er in einem autoritären Geldverschwendungs – Marathon das Bistum Limburg ins Finanzdesaster stürzte wegen extremer Luxus-Bauvorhaben für die eigene bischöfliche Residenz. Und engagierte Katholiken deswegen wie in einem Marathon – Lauf aus der Kirche fortliefen. Jetzt also „macht er“, im Vatikan arriviert, ganz aufs Beten um Wunder. Und dies nennt er dies „Neuevangelisierung“.

4.
Nun kann jede Glaubensgemeinschaft beten um was sie will. Das ist Ausdruck der Bekenntnisfreiheit. Dieses Grundrecht kann jede religiöse Gemeinschaft beanspruchen, so lange sie dabei nicht das Leben der eigenen Gemeinden wie der anderen, der Menschen in der Gesellschaft, gefährdet. Und das ist bei dem geplanten Marathon wohl nicht der Fall.

5.
Aber es muss theologisch und religionsphilosophisch die Frage gestellt werden: Was soll dieser Marathon, der offenbar davon ausgeht: Da sitzt im Himmel ein allmächtiges göttliches Wesen, das, je nach Laune und unter Druck der Betenden und Bittenden, eben mal auch eine Pandemie beseitigen kann. Fromme nennen diese Erwartung „wunderbares Handeln Gottes“. Dabei ist mir bewusst, wie komplex das Thema Bittgebet ist: Wie viele schöne Gesänge (Gregorianik, Messen, Lieder) wurden als Bitt-Gesänge komponiert und werden noch heute gesungen, zur Erbauung und „Rührung“ der HörerInnen. Wer möchte im Ernst auf diese musikalische Kultur verzichten? Aber, das ist die andere Seite bei dem Thema Bittgebete, es darf nie vergessen werden, wie schnell das Bittgebet in den Aberglauben abgleitet, in das Kleinmachen und Verfügbarmachen der göttlichen, der ewigen Wirklichkeit. Und dieser Missbrauch passiert wohl in dem nun auch technisch perfekt arrangierten Gebetsmarathon mit Lifeschaltungen von Rom nach Lourdes und Fatima und Guadeloupe und so weiter. Mit diesem technischen Aufwand und mit diesem Titel „Marathon“ wird förmlich suggeriert: Massenhaftes Beten bewirkt Wunder. Wir Menschen können Gott beeinflussen! Die frommen Brasilianer wünschen sich vielleicht mehr Impfstoffe, die Polen mehr Betten in den Kliniken, die Deutschen wünschen von Gott vielleicht eine Regierung, die endlich einen harten Lock down beschließt, damit wirklich eine Pandemie- Wende kommt in Deutschland. So viele unterschiedliche Bitten soll Gott im Himmel also erhören, abgesehen von sehr persönlichen individuellen Bitten der Schüler im Lockdown: „Lieber Gott, lass mich meine Mathe-Arbeit bestehen“.
Wehe nur, wenn die Betenden enttäuscht werden. Was passiert dann mit ihrem Glauben?

6.
Das Gebet, vor allem das Bittgebet, ist zweifellos ein spiritueller Mittelpunkt der meisten Religionen. Aber das Gebet und vor allem das Bittgebet muss natürlich auch theologisch und religionsphilosophisch kritisch verstanden werden, bezogen auf das Selbstbewusstsein und Fühlen der Menschen von heute. Ein weites Feld, weil es auch auf tiefsitzende Bindungen an das Göttliche, Allmächtige, verweist, Bindungen, die viele Menschen spüren. Aber bekanntlich gibt es Glauben und Aberglauben. Und dieser ist ein Glauben, der den erwachsenen Menschen religiös auf eine infantile Stufe bindet und Gott zu einem braven Kumpel von nebenan macht. Wer als Kirchenleitung beides vermeiden will, sollte sorgsam mit Bittgebeten umgehen und schon gar nicht einen „Marathon“ organisieren, bei dem man vielleicht beleibte Prälaten und Kardinale hächelnd beim betenden Schnelllauf imaginiert…

7.
Bittgebete sind also schlicht und einfach zwar verständliche, aber genauer betrachtet doch illusorische, manchmal egoistische und sogar krankhafte Formen des Wünschens. Sie haben einen gewissen Sinn, wenn der Bittende dabei seine eigene subjektive Situation klarer sieht und versucht, selbst entsprechend zu handeln, sich neu in der Lebenspraxis zu orientieren. Also nicht Gott um Frieden bittet, sondern selbst alles unternimmt, dass Friede auf Erden wirklich wird. Der Betende muss also sein Beten kritisch betrachten und beobachten, er muss auch aus dem Beten nachdenkend heraustreten. Das lernen Katholiken normalerweise nicht. Wie viele Formen des Aberglaubens werden im Marien – Monat Mai in den alten Marienliedern nur so daher gesungen. Vgl. dazu das Buch „Mythos Maria“, etwa das Lied „Maria, Maienkönig, dich will der Mai begrüßen, o segne holde Mittlerin, uns hier zu deinen Füßen“… Welch eine Poesie! Diese Autoren kannten nur eins: Den Reim-Zwang! LINK

8.
Bittgebet hat also nur einen gewissen Sinn für reife Menschen, wenn er sich meditativ und nachdenkend klar macht: Er ist wie jeder andere Mensch mit dem geheimnisvollen Lebens – Grund verbunden, den man auch göttlich nennen kann. Und diese Verbindung mit dem gründenden Lebenssinn erschließt ihm auch den Sinn des eigenen Lebens. Dies ist die Erfahrung und dann Erkenntnis grundsätzlicher metaphysischer Geborgenheit. Mehr braucht ein Mensch – auch von der göttlichen Wirklichkeit – nicht zu verlangen. Bittgebete sind also poetisch betrachtet vielleicht sinnvoll, wenn sie als ein auch zu therapierender Ausdruck der inneren Befindlichkeiten verstanden werden.

9.
Man bedenke und studiere zudem, wie die Kirchenführung die Wunder in Lourdes und Fatima, Guadeloupe manipuliert hat.

10.
Noch einmal: Bittgebete führen zu der Erkenntnis: Gott sorgt für die Welt und die Menschen, was immer kommen mag. Aber wenn es schlimm kommt, müssen die Menschen selbst Abhilfe schaffen. Mehr ist theologisch nicht zu sagen. Aber Päpste und Prälaten fühlen sich auch heute, im 21. Jahrhundert, berufen viel mehr zu wissen, und die frommen Seelen mit Aberglauben zu verstören. Die Frommen sollen ja, so der offizielle päpstliche Text, „von Gott das Ende der Pandemie fordern und erbitten“. Dass diese Pandemie auch durch menschliches Fehlverhalten im Umgang mit der Natur und den (Wild)-Tieren verursacht wurde, wird von Kardinälen und dem Papst nicht gesagt. Beten hat also für diese Kirchenführer und ihre Behörden (Tebartz – van Elst…) nichts mit politischer und philosophischer Aufklärung zu tun. Und das ist der große theologische Fehler.

11.
Nun fördert also Papst Franziskus erneut populäre, aber letztlich dem Aberglauben verbundene Frömmigkeitsformen. schon früher hatte er zur Verehrung den einbalsamierten Leichnam des populären heiligen Pater Pio im Petersdom aufgebahrt oder in ganz Argentinien die obskure Verehrung von „Maria Knotenlöserin“ (Ursprung dieses Kultes ist Augsburg) verbreitet. Immer deutlicher wird: Dieser Papst ist nach außen hin aufgeschlossen, politisch manchmal mutig, aber theologisch konservativ, wundergläubig, also abergläubisch. Wunder werden vom Papst immer wieder verlangt: Etwa bei Heiligsprechungen müssen Heilungswunder nachgewiesen werden, die nach dem Tod des heilig zu Sprechenden durch dessen himmlische Vermittlung geschehen sind. Überhaupt: Diese Vorstellung, es könnten Heilige, es könnte Maria als Himmelskönigin, durch ihren Einfluss „da oben“, bei Gott, Fürsprecher sein… Das kann man alles glauben, irgendwann ist man aber auch bereit zu glauben, „im Himmel ist Jahrmarkt“, eine Vorstellung, die vielleicht mit der immer noch üblichen katholischen Ablass-Lehre zu verbinden wäre. Wer behauptet, die römische Kirche hätte von Luther gelernt, irrt: Die katholische Ablass -Lehre besteht nach wie vor. Luther dreht sich im Grab um, leider hören das die ewig über Ökumene Debattierenden nicht…

12.
Mit anderen Worten: Der offizielle Katholizismus zeigt auch heute – durch seinen Gebetsmarathon – sein populäres religiöses Profil, das eigentlich vom Ausbleiben kritischer Vernunft bestimmt ist. Dabei ist doch die Vernunft, ist doch der Geist, eine Gabe Gottes! Aber wer einmal Vernunft als erste Tugend im Vatikan zu fordern beginnt, fängt schnell an, die päpstliche Unfehlbarkeit abzuschaffen oder das Zölibatsgesetz…, Vernunft ist gefährlich, das wissen die klerikalen Vatikan – Beamten, darum fördern sie ja auch die Unvernunft, den Aberglauben jetzt mal als „Marathon“.

13.
Das einzige überhaupt diskutable Wunder wird in der philosophischen Frage angesprochen: „Warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts?“ Diese Frage ist die einzige philosophisch gesehen legitime Frage nach einem Wunder. Sie bezieht sich auf das „Gegebensein“ von evolutiver Schöpfung in einem Universum… Alle anderen Wunder – Fragen sollte man bitte von uns fernhalten.

14.
Es mag ja angesichts der globalen Hilflosigkeit in der Krise der Pandemie sehr verständlich sein, wenn sich religiöse Menschen allerhand Wunderbares einreden: Und eben auch an einem Gebetsmarathon teilnehmen. Aber: Entscheidend hilfreich wäre es, wenn dies die Kirche leisten könnte: Die Menschen in Gruppen lehren, sich besser um einander zu kümmern, wirksam politisch zu handeln zugunsten der Bereitstellung von Impfstoffen. Katholiken in den reichen Ländern sollten ihre Regierungen kritisieren und bedrängen wegen ihres nationalen Egoismus. Katholiken in Brasilien sollten mit ihren Bischöfen alles tun, dass dieser Präsident Bolsonaro, den sehr viele für einen großen Übeltäter halten, endlich von der politischen Bühne verschwindet. Wie viele sich katholisch nennende Diktatoren und zugleich Pandemie- Leugner gibt es eigentlich, etwa in Afrika? Katholiken sollten überall politische Petitionen unterschreiben, anstatt Petitionen in Richtung in Himmel zu senden. Sie sollten alles tun, um die KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen zu unterstützen und dafür kämpfen, dass sie Anerkennung und einen gerechten Lohn erhalten. Politisches Engagement wäre der geforderte Marathon der Katholiken in Pandemie-Zeiten. Religiös sein heißt für Christen immer zuerst und vor (mit-)menschlich sein, auch politisch zugunsten der Leidenden und Armen. Das ist die eindeutige Weisung des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin