Spenden: Das Gewissen wird beruhigt…wo bleiben politische Aufklärung und Aktion? ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein kurzes Vorwort: „Dieser Beitrag will natürlich stören. Langweilige Artikel gibt es genug…“ (Lichtenberg).

Der “faire Handel” bietet sich als Alternative bzw. Ergänzung zum Spenden an:Siehe dazu:

http://www.inkota.de/material/suedlink-inkota-brief/178-fairer-handel/herrmann/

Vor allem die Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Bei mir stapeln sich die Zahlkarten mit der herzlichen Einladung, die Konten der Hilfs-Organisationen zu füllen. Ich will diese Initiativen nicht alle nennen. Sie leben – auch die Mitarbeiter hier und auswärts – überwiegend von den freiwilligen Gaben gutmütiger Menschen und solcher, deren Gewissen noch nicht ganz lahm gelegt ist angesichts der Not in der Welt, nebenan genauso wie in Burkina Faso oder in Honduras. Viele Elende können zweifelsfrei nur ihr Elend ertragen, vielleicht ihr kurzes Leben, wie im Südsudan um ein halbes Jahr verlängern (und mit 40 sterben), wenn gelegentlich etwas für Sie gespendet wird, aus der reichen Welt. ALSO: aus der Welt der früheren und heutigen Kolonisten; also von Bürgern, deren demokratische Regierungen die Ökonomie in Burkina Faso und die demokratische Politik in Honduras z.B. KAPUTT gemacht haben und immer weiter kaputt machen. Um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen. Die Lepra Krankheit ließe sich weltweit heilen, wenn weltweit an einem Silvester Tag auf die dämliche Knallerei verzichtet würde oder ein Jahr auf Staatsempfängen und Kirchenempfängen Graubrot und Wein serviert würde. Aber das will man nicht, das wollen die Herrscher nicht. Lieber sollen die Armen und die Mittelständler spenden …. und das Elend besteht trotzdem massiv fort.

Und Spender hierzulande sind so etwas hilflose Sanitäter, die nur mit Aspirin- Tabletten gegen Cholera und Aussatz ausgestattet sind; die das Elend etwas lindern, ein Elend, das nicht nur von den kapitalistischen gewinnsüchtigen Organisationen „des Nordens“ erzeugt wird, sondern auch von Politikern. D.h. im Klartext gesprochen, von Diktatoren in Afrika, die sich Eliten nennen, wobei sie herausragend, „Eliten“, sind einzig im Geldraffen (zugunsten ihrer privaten Konten in der Schweiz), also im Diebstahl der Ressourcen ihrer eigenen Länder und Bewohner.

Das ist die Realität des Spendenwesens. Von Haiti als dem Extremfall sinnloser Spenden (sinnlos, weil sie das leidende Volk fast gar nicht erreichen) wollen wir hier lieber schweigen…Und die meisten, die hierzulande etwas gebildet sind, wissen das. Es wird nur selten offen ausgesprochen. Da wird Jahrelang und stundenlang von gut willigen Damen gestrickt und gehäkelt für die Weihnachtsbasare in deutschen Kirchengemeinden, diese bringen vielleicht 15.000 Euro „für Bolivien“ ein, gleichzeitig werden infamerweise in derselben Gemeinde Orgeln für eine halbe Million gekauft und neue Glasfenster vom Feinsten bestellt. Das ist, gelinde gesagt, christlich kaschierter Unsinn… Die häkelnden Damen sollten sich und andere lieber umfassend informieren über das genannte Bolivien und Spanisch lernen und Menschen aus Spanien hierzulande unterstützen und andere Flüchtlinge.

Wir Spender lindern die Not kurzfristig hier und dort ein bisschen, ohne dass in all den Jahren unserer Spenden strukturell und sichtbar demokratische und gerechte Regierungen etwa in Afrika entstanden sind. Vom Ausbleiben einer Geburtenplanung ganz zu schweigen. Von Geburtenplanung redet kein Mensch mehr. In 10 Jahren werden sich auf dem ausgedorrten Haiti die vielen Menschen hoffentlich nicht tot trampeln. 1950 lebten auf den 27.000 Quadratmetern (etwa so groß wie das Bundesland Brandenburg) drei Millionen Menschen, heute sind es 11 Millionen.

Zu Afrika: Außer Ghana, Namibia, Südafrika ist mir kein weiteres wenigstens halbwegs demokratisches Land in Afrika bekannt; falls ich mich irre, bitte melden! In alle Länder Afrikas sind Millionen Dollar geflossen, bloß wo sind die Gelder gelandet?

Und wenn die Rede ist vom Sozialstaat Deutschland, wie kommt es dann, dass tausende Menschen in Deutschland keine Bleibe, keine Wohnung mehr haben? Vertrieben sind im eigenen Land. Wie kommt es, dass der so genannte Sozialstaat mit einer Regierung aus C und S Parteien das elementare Leben der Menschen in Deutschland nicht sichern kann, sondern auf kirchliche Organisationen oder humanistische Organisationen angewiesen ist? Wie in den USA.

Natürlich will ich nicht prinzipiell das Spenden schlecht machen. Aber die eingeschliffene Gewohnheit, förmlich der Denkzwang, bei großer Not ans Spenden zu denken und nicht zuerst ans politisch Analysieren und politische Handeln und an die politische Kritik der Systeme, ist alles andere als „hilfreich“ auf Dauer.

Die Kirchen als Liebhaber der Spenden (Almosengeben als göttliches Gebot ?) bieten zwar Informationen über die Hilfs-Projekte in verschiedenen Ländern. Aber diese Informationen führen nicht weiter, eben HIER politisch zu werden. In den Gottesdiensten wird in den Predigten zum 100. Mal das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nacherzählt, aber politische Aufklärung, wie es sich gehören würde, unterbleibt. So entsteht eine abgehobene weltferne Frömmigkeit..

Und das heißt, wenn man schon bei den Kirchen bleibt, zu fragen: Was ändert sich eigentlich in den Kirchen selbst in Deutschland, mit ihren Milliarden Euro Kirchensteuer-Etats, mit den fetten Gehältern für Bischöfe, Pröpste, Monsignori und Pastoren? Wird da ernsthaft Solidarität gelebt, das heißt, werden da 20 % Gehaltskürzungen durchgesetzt etwa bei den Kardinälen und Erzbischöfen, werden die Bischofs-Paläste vermietet? Wann ist ein Bischof in eine Dreizimmer-Wohnung umgezogen? Oder denkt man: Die Armen, die kleinen Leute, die Kirchgänger, die biederen Bürger, die sollen doch spenden. Wir Funktionäre der Kirchen bleiben bei unseren satten Einkommen.

Solange die Orden etwa in Deutschland weitestgehend im wohlbehüteten Reichtum leben, ist kaum vermittelbar, warum die Witwe A. mit einer Rente von 900 Euro für den Orden spenden soll. Die Orden sollen ihren Reichtum freilegen, möglicherweise ihren Grundbesitz verkaufen, und dann können sie nachdenken, ob sie bei der Witwe A. und den anderen noch mit gutem Gewissen betteln dürfen.

Diese Analysen sind bitter. Aber sie werden wohl keine Selbstkritik bei den genannten kirchlichen Organisationen bewirken. Sondern eher Ausgrenzung und Abwehr derer, die noch davon öffentlich sprechen.

Den Wahn des Spendens hat kürzlich eine Reportage in „Die Zeit“ vom 8.September 2016 aufgezeigt, am Beispiel der Verhältnisse im Silicon Valley, also in der Nähe von San Francisco, Kalifornien.

Bitte lesen Sie diesen ausgezeichneten ausführlichen Beitrag!!! http://www.zeit.de/2016/38/silicon-valley-kalifornien-usa-armut

Die ultra-reichen Spezialisten haben, zusammenfassend gesagt, so unglaublich hohe Gehälter, dass sie fast den gesamten Wohnungsmarkt in San Francisco aufkaufen. Und das heißt: Die alteingesessenen Familien aus den Wohnungen vertreiben. Darum gibt es heute, so der sehr lesenswerte Bericht, arme Mittelständler, die in ihrer Stadt keine Miete mehr bezahlen können und auf de Straße oder in der Nebenkammer von Großmutters Wohnung landen. Internetfirmen treiben Tausende auf die Straße. Und was tun die gut betuchten Manager? Sie spenden natürlich! „Es gibt kaum eine Hilfsorganisation für die neuen Armen, die keine Senden von den Firmen aus Silicon Valley erhält“, so „Die Zeit“. Diese Herrschaften spenden für Suppenküchen der von ihnen selbst arm gemachten Menschen. Sie spenden für Suppen, nicht für Wohnungen, die sie diesen Menschen genommen haben. Natürlich geben diese abgeschotteten und total privilegierten Silicon-Valley Kreise keine Interviews, nur ganz Mutige wagen ein Wort. Mit der Annahme der Spenden fürs Essen der Arm-Gemachten können die Hilfsorganisationen natürlich auch nicht die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt kritisieren. Die Hilfsorganisationen sind einfach zum Schweigen verurteilt, wenn sie noch ein paar Dollars erhalten wollen. Ein grotesker Zustand. Ein Prototyp für den Unsinn und den Sinn des Spendens in einer Welt, in der die Ungerechtigkeit herrscht und die Hilfsorganisationen keinen wirklichen Klartext sprechen können und zum Schweigen verdammt sind. So ist es wohl überall. Welche katholische oder evangelische Hilfsorganisation hat sich mit dem (Un)Sozialstaat Deutschland schon angelegt? Wird darüber beim Reformationsgedenken 2017 gesprochen? Auf dem Kirchentag 2017? Ein bisschen, wie immer unter 1000 anderen Themen…

So schweigt man diplomatisch oder bleibt moderat eher unverbindlich. Aus Angst, keine Spenden mehr zu bekommen. Und aus Angst, das System der so glänzenden Kirche-Staat-Beziehung zu gefährden. Die Kirchensteuer ist schließlich in Deutschland für Christen etwas Heiliges, das gehütet werden muss. Denn die Kirchenangestellten leben gut davon, selbst wenn immer mehr Menschen aus de Kirchen austreten…Eines Tages aber wird auch das System der Kirchensteuer von selbst erledigen, und die wenigen registrierten Christen in Deutschland werden um Spenden für sich selbst betteln. Und dann ist kein Geld mehr da für Burkina Faso oder Honduras…

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Philosophen als Flüchtlinge.

Die Wahrheit findet sich in der Fremde

Dieser Beitrag von Christian Modehn wurde in leicht veränderter Form in der Zeitschrift INSPIRATION, Ausgabe IV/2016 veröffentlicht. Weitere Hinweise zum Heft am Ende dieses Artikels.

1.

Flüchtlinge müssen immer Lernende sein. In einem neuen, nicht frei gewählten Umfeld verändern sich die inneren und äußeren Bedingungen (selbst)kritischen Denkens. Das gilt besonders, wenn Philosophen Flüchtlinge sind. Aber das Thema „erzwungener Ortswechsel“ als Ursprung neuen und anderen Philosophierens wird in der Philosophie kaum beachtet. Dabei geht es um die zentrale Frage: Wie philosophisches Denken von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Kultur eines Landes mitbestimmt wird. Denn eine völlige „Abschottung“ von dem neuen Lebensraum ist fürs Philosophieren weder möglich noch sinnvoll. Der Philosoph Dieter Henrich hat in seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (2011) dieses Thema berührt, aber er hat sich konzentriert auf die „plötzlichen, außerordentlichen Einsichten“ als Ursprung individuellen Philosophierens. In seiner „Philosophie der Philosophie“ erinnert er an die „geschenkten“ Evidenzen, die alles Denken eines Philosophen bestimmen. Auf die Bedeutung des Ortes, der Landschaft, des Staates, fürs Philosophieren wird nicht hingewiesen.

Eine Liste der Philosophen ist leicht zusammenzustellen, die zum Ortswechsel gezwungen wurden und als Flüchtlinge – für immer oder längere Zeit – aus ihrer Heimat fliehen mussten: Descartes, Hugo Grotius, Comenius etwa. Im 20. Jahrhundert sind es jüdische Philosophen, die fliehen müssen: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Hans Jonas und Walter Benjamin., Ernst Cassirer und Karl Popper. Etliche Philosophen mussten während der Franco-Diktatur Spanien verlassen. Seit etwa 1970 sind es Philosophen aus muslimischen Kulturen Nordafrikas, die in Europa Zuflucht suchen müssen und dort in Freiheit vernünftige Interpretationen des Islams bieten.

Aber im Blick auf die lange Geschichte der Philosophie drängt sich die These auf: Die meisten Philosophen waren eher sesshaft. Man denke an Martin Heidegger, der kaum aus dem Schwarzwälder Raum herausfand, von Immanuel Kant in Königsberg ganz zu schweigen. Oder waren Philosophen so staatskonform, dass es gar keine Veranlassung zur Flucht gab? Für Heidegger trifft das zu, für Kant nicht. Es gibt natürlich auch das Phänomen von Fluchtbewegungen innerhalb des eigenen Landes: Voltaire musste sich dem Zugriff der Herrschaft des absolutistischen Regimes oft entziehen.

2.

Hannah Arendt (1906 in Linden bei Hannover geboren, 1975 in New York gestorben) ist eine Philosophin, deren Denken von Vertreibung und Flucht geprägt ist. In Deutschland hatte sie 1928 bei Karl Jaspers ihre Doktorarbeit über den „Liebesbegriff bei Augustin“ geschrieben, ein Versuch, den Kirchenvater existentialphilosophisch zu interpretieren. Über die jüdische Salonnière Rahel Varnhagen und das Problem der Assimilation der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sie noch in Deutschland ihre Habilitationsschrift verfasst.

1933 musste Hannah Arendt als Jüdin Deutschland verlassen.

In Paris angekommen, engagiert sie sich zugunsten zionistischer Vereinigungen. Als Flüchtling in Frankreich beginnt förmlich ihre starke Bindung an politische Zusammenhänge.

Als unter Marschall Pétain ihr Aufenthalt in Frankreich immer bedrohlicher wird, flieht sie nach Lissabon und kommt im Mai 1941 in New York an. Dort macht sie zunächst die Erfahrung: Als Verfolgte nicht willkommen zu sein und zudem, noch schlimmer, als staatenlos zu gelten. 1937 wurde sie von Nazi-Deutschland ausgebürgert. Erst im Dezember 1951 wird sie us – amerikanische Staatsbürgerin. Seit 1953 kann sie an verschiedenen Universitäten der USA lehren; zuletzt, seit 1967, als Professorin an der „New School for Social Research“ in New York.

Entscheidend ist: Hannah Arendt lebt 14 Jahre lang rechtlos, ist auf Duldung angewiesen. Sie fordert dringend, ein Flüchtling habe das „Recht, Rechte zu haben“. Das Wort Flüchtling hat in den USA und anderswo damals schon den Klang des Verdächtigten und Unglückseligen. Ein Flüchtling ist kein Ehrfurcht gebietender „Held“, den die Aufnehmenden hegen und pflegen. Denn heute sei der Geist des Nationalen stärker als der Geist universaler Humanität, meint Arendt. Es seien die immer noch bestehenden Nationalstaaten, die in ihrer Abgrenzung von „den anderen“ die Krise umfassender Menschlichkeit erzeugen.

Die Erfahrungen der Flucht und das Leben in einem gar nicht so freundlichen Zufluchts-Land verändern definitiv Arendts Denken: Sie will sich nicht mehr in einer eher abstrakten philosophischen Weise äußern. Schon 1951 schreibt sie in einem Brief an Eric Voegelin, „dass irgendetwas in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist…“(1), gemeint ist Abgehobenheit im Umgang „ewiger Prinzipien“.

Ihre Existenz als Flüchtling führt also zu einem neuen Selbstverständnis: Sie ist „Wissenschaftlerin für politische Theorien“ und distanziert sich dabei von der Philosophie: In dem weit verbreiteten Fernseh-Interview mit Günter Gaus (1964) betont sie: „Meine Meinung ist, dass ich keine Philosophin bin. Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie endgültig valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert. Aber das besagt ja noch nicht, dass ich dabei geblieben bin“. Sie meint, es gebe gar bei den meisten eine Feindseligkeit gegen alle Politik: „Das will ich nicht. Ich will an der Feinseligkeit gegen Politik bei Philosophen nicht Anteil haben“ (2). In einer Vorlesungsnotiz in den USA definiert sie die Philosophie als „Liebe zum Sein“, also – klassisch – als kontemplative Schau. Philosophie, meint Arendt, lebt wesentlich im Rückzug aus der unruhigen Welt. Die politischen Wissenschaftler hingegen, so sagt sie, haben eine „Sorge um die Welt. Wir fürchten, dass der Welt der Menschen etwas zustoßen kann“ (3)

Dabei ist klar, dass Hannah Arendt selbstverständlich ihre hohe philosophische Reflexionskraft bewahrt hat. Man denke nur an ihr großes Buch „The Human Condition“ (1958), auf Deutsch „Vita activa“ (1960). Aber Philosophieren gibt es für sie nur noch, wenn Gedanken in einen kritisch – reflektierten politischen Zusammenhang gestellt werden. Erst 1943, so berichtet sie, habe sie die Wahrheit von Auschwitz erfahren: „Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet… Dies hätte nie geschehen dürfen. Ich meine die Fabrikation der Leichen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden“ (4). Aber Hannah Arendt kann Worte finden für das Grauen, um eine mögliche Wiederkehr des totalen Verlustes der Menschlichkeit zu verhindern. 1951 erscheint ihr grundlegendes Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, 1955 liegt es auch auf Deutsch vor. Dieses Buch hat viel Aufmerksamkeit gefunden, auch in Deutschland im Zusammenhang des Eichmann-Prozesses 1961. Hannah Arendt war bei dem Prozess dabei und schrieb ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“. Sie meint, durchaus provozierend, dass Eichmann die „Banalität des Bösen“ repräsentiere. Damit wollte sie – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie betont: Einer der Hauptakteure der Juden-Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern: Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle weitergeben fixierter Bürokrat. Hannah Arendts Eichmann Buch ist aber zugleich ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozess der ideologischen Indoktrination systematisch getötet worden. Das ist das eigentlich Böse, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht wiederholbar. Die so genannten Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch eben NICHT widerstehen. „Viel verlässlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…“(5)

3.

Der französische Protestant Pierre Bayle fand 1681 in den Niederlanden Zuflucht. Er nannte Holland „die große Arche der Flüchtlinge“. Bis zu seinem Tod 1706 lebte er in Rotterdam, als freier Mann, der hier ohne ständige Angst vor Verfolgung seine Bücher selbstverständlich auch publizieren kann. Bayle stammte aus einer Pastorenfamilie aus dem Ariège, Südfrankreich. 1647 geboren, studierte er als Protestant bei den Jesuiten in Toulouse, entdeckte die katholische Glaubenswelt und entschloss sich 1669, zum Katholizismus zu konvertieren. Diese Entscheidung machte er aber einige Monate später rückgängig: Er meinte, katholische Glaubenspraxis hielt der philosophischen Vernunftkritik nicht stand. Bayle galt nun als „Rückfälliger“. Er musste nach Genf flüchten: Dort studierte er Theologie und Philosophie. Etliche Jahre konnte er danach noch an der Hochschule der Protestanten im französischen Sedan lehren, bis unter Ludwig XIV. die Toleranz zugunsten der Protestanten, beschlossen im Edikt von Nantes 1598, nichts mehr galt. Von den 700.000 französischen Protestanten konnten ca. 200.000 fliehen. In Rotterdam lehrte er an einem Gymnasium, der „Ecole illustre“. Die niederländische Sprache brauchte er – wie andere Flüchtlinge aus Frankreich – nicht zu lernen, viele Niederländer Französisch gern sprachen. Auch wenn Bayle über das schlechte, kalte Wetter dort klagte und etwa den großen Bierkonsum in seiner neuen Heimat kritisierte: Wirkliche Schwierigkeiten bereiteten ihm nur konservative Theologen aus Frankreich, wie der calvinistische Theologe Pierre Jurien. Er sorgte mit maßlosen Intrigen dafür, dass Bayle im Jahr 1693 seinen Posten als Dozent verlor. Aber er konnte, verbunden in einem weiten Korrespondenten-Netz, die Themen ausbauen, die ihn schon in seiner Heimat bewegt hatten. Er gilt bis heute als einer der wichtigen Philosophen der Aufklärung, seine Thesen wurden am Preußischen Hof (in den Salons von Königin Sophie Charlotte) diskutiert. Auch Leibniz setzte sich intensiv mit Bayle auseinander. Seine vielfältigen Publikationen sind letztlich Variationen über das zentrale Thema: Wie ist die Beziehung von menschlicher Vernunft und christlichem Glauben zu denken? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Heilig ist für Bayle das Gewissen, es ist der Ort, wo der Mensch Gott begegnet. Wer seinem Gewissen zuwider handelt, verrät gleichzeitig Gott. Auch Atheisten folgen ihrem Gewissen und können das Gute erkennen, betont Bayle, der selbst nicht dem Atheismus zuneigte, wie heutige Forschungen klarstellen. Ein strenggläubiger Protestant war er aber auch nicht. Von der philosophischen Vernunft her wollte er die Frage nach dem genau beschreibbaren Wesen Gottes offen lassen, er meinte: Allein im Glauben kann Gottes Wirklichkeit erreicht werden. Vernunft kann niemals Religion ersetzen. Denn der Glaube wendet sich dem Bereich zu, den die Vernunft nicht erreichen kann. So wollte er für die Eigenständigkeit von Vernunft und Religion sorgen. Allerdings war für ihn klar, dass mit der Vernunft alle Formen des verdinglichten Aberglaubens zurückgewiesen werden müssen, etwa der volkstümliche Aberglauben, dass Gott in einem Gewitter „spricht“. In Holland erlebte er einen damals insgesamt ungewöhnlichen, staatlich gewollten religiösen Pluralismus. Nicht nur verschiedene protestantische Kirchen wurden toleriert, auch Katholiken und Juden und prinzipiell auch Muslime. Diese Freiheit prägte Bayles Denken, und man ist froh, dass er nicht in Frankreich bleiben musste, sonst wäre dieser große Geist ermordet worden. In seinem schon damals viel beachteten und geschätzten „Historischen und Kritischen Wörterbuch“ (1692 in Amsterdam erschienen, in Frankreich verboten) ist unter allen Beiträgen einer der längsten Artikel über Mohammed. Dabei wird deutlich, wie sehr Bayle ausführliche mittelalterliche Quellen studierte. Religiös motivierte Bereitschaft zur Gewalt sieht er nicht so sehr bei Muslimen, sondern eher unter Christen: „Sie haben von Jesus den Befehl erhalten zu predigen und zu lehren! Und trotzdem, seit sehr langen Zeiten, zerstören sie mit Feuer und Schwert jene, die nicht zu ihrer Religion gehören“. Er denkt dabei auch an die blutigen Verfolgung von Protestanten durch den katholischen König Ludwig XIV. – Bayles Bruder, auch er ein Protestant, kam im Gefängnis um. Die Gefahr ist für Pierre Bayle groß, „dass Katholiken in höheren staatlichen Ämtern ihre Machtpositionen missbrauchen, um erneut die Andersdenkenden zu verfolgen“, betont der Bayle-Spezialist Yves Bizeul (6). „Für ihn konnte es also eine pragmatische, überlebensnotwendige, eine nicht tolerante Haltung gegenüber den Intoleranten geben“. Aber: Wichtiger als alle Kirchenbindung war für Bayle die praktisch gelebte, allgemein menschliche, vernünftig begründbare Moral, die in der Toleranz ihren Ausdruck findet. Zu einer solchen Aussage konnte er nur als Flüchtling in einem freien Land kommen.

4.

Heute sind Philosophen, die Flüchtlinge sind, in der muslimischen Religion in Nordafrikas, Pakistan oder im Iran groß geworden. Sie haben sich den dogmatischen Denkverboten widersetzt, haben ihre Vorschläge offen gesagt, wurden verfolgt und mussten nach Europa fliehen. Erst dort konnten sie einen „liberalen Islam“ entwickeln.

Die Liste der islamischen philosophischen Flüchtlinge ist lang: Nur drei herausragende Professoren sollen hier genannt werden, ihre Arbeiten zu einem vernünftigen Verständnis des Korans sind auch auf Englisch, Deutsch oder Französisch zugänglich sind: Mohammed Arkoun (1928 in Algerien -2010 in Paris), Nasr Hamid Abu Zaid (1943 in Ägypten– 2010 in Kairo gestorben; Ägypten besuchte er kurz vor seinem Tod, nach Holland musst er 1995 fliehen) und Fazlur Rahman (1919 in Pakistan – 1988 in Chicago). Typisch für diese muslimischen Philosophen ist die Anwendung der historisch-kritischen Deutung des Koran. Ein Zitat aus einem Radio-Interview mit Abu Zaid, das ich 2009 in Berlin führte: „Mein Konzept eines humanistischen Islam besteht darin, die menschlichen Elemente des Korans aufzuzeigen. Wir gehen zum Text zurück und entdecken dabei, was noch bedeutsam ist für unsere heutige moderne Zeit. Dabei kann nur die Vernunft entscheiden, was wirklich Offenbarung Gottes ist. Wir müssen dringend daran weiter arbeiten! Wir müssen diese Fragen weiter pflegen, um gegen die Tabus zu kämpfen“ (7).

„Humanistischer Islam“ ist ein dringendes Projekt, dem sich andere Muslims in Europa verpflichtet wissen, die beste Kenner des Korans sind und, philosophisch geschult, auch als Politologen in Europa tätig sind: Zu diesem Kreis gehört etwa Prof. Elham Manea, Zürich (8). Sie ist in arabischen und westlichen Ländern aufgewachsen. In Zürich und Bern gehört sie zu den Gründerinnen eines humanistisch-islamischen Studienkreises. Sie sagte mir in einem Radio-Interview 2009: „Ich bin in erster Linie Humanistin, dann Araberin und an dritter Stelle Muslimin“. Diese Rangordnung hält sie für wichtig und dem Frieden dienend. Als Professorin an der Universität Zürich hat sie den Mut, öffentlich das dringendste Thema zu besprechen, die „Natur“ des Korans: „Wenn wir eine Reformation des Islam wirklich durchsetzen wollen, müssen wir auch mit der Natur des Koran umgehen. Es geht um eine menschliche Natur des heiligen Textes. Denn die Koranverse wurden von Menschen gesammelt, von Menschen geschrieben“ (9).

5.

Philosophen, die Flüchtlinge sind: Das Thema wird so lange aktuell bleiben, als Ideologien und Religionen einen absoluten Wahrheitsanspruch auch nach außen vertreten und machtvoll durchsetzen. Erst die Anerkennung der kritischen Rolle der Vernunft kann Religionen zu Orten der Menschlichkeit und Toleranz machen. Dann wird es keine Flüchtlinge mehr geben, sondern nur noch Reisende.

 

Quellenangaben:

(1)Karl-Heinz Breier, Hannah Arendt. Hamburg, 2011, S. 63.

(2) Zit. aus dem empfehlenswerten Heft „Hannah Arendt“, Philosophie Magazin 2016, S. 17.

(3) wie (1), Seite 55.

(4) wie (2), S. 25.

(5) in einem Beitrag von Ingeborg Nordmann in Freibeuter, Vierteljahreszeitschrift, 1988, S. 92.

(6) Pierre Bizeul, Pierre Bayle – Vordenker des modernen Toleranzbegriffes, dort S. 83 f. In: http://www.wiwi.uni-rostock.de/fileadmin/Institute/IPV/Lehrstuehle/Politische_Theorie/Yves_Bizeul/ToleranzBizeul.pdf

(7) Radio Interview, NDR, Reihe „Lebenswelten“, Titel: Humanistischer Islam, am 7. März 2010.

(8) Elham Manea, Ich will nicht mehr schweigen: Der Islam, der Westen und die Menschenrechte. Freiburg i.Br. 2009

(9) wie (7)

WEITERLESEN: INSPIRATION. Ein Heft zum Thema FLUCHT. Winter 2016, Grünewald-Verlag. Weitere Informationen zum Heft: http://www.schwabenverlag.de/4zeitsch/meditation/akt/inspiration-Inhaltsverzeichnis-2016-4.pdf

Email: inspiration@schwabenverlag.de     www.gruenewaldverlag.de 

 

 

Ein kalkulierter Verfassungsbruch in Deutschland. Zu den geplanten Kürzungen im „Asylbewerberleistungsgesetz“.

Der Religionsphilosophische Salon hält aus vernünftiger Einsicht die Menschenrechte (als sich stetig weiter entwickelnde Rechte) für den Kernbestand humanen Zusammenlebens. Auch wenn selbst demokratische Staaten diese Menschenrechte allzu oft mißachten gilt diese Einsicht. Darum dokumentieren wir gern einen aktuellen Beitrag des weltweit anerkannten Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Bitte beachten Sie nebenbei, dass schon allein der Name “Asylbewerberleistungsgesetz” nicht nur ein furchtbares Wortungetüm ist, sondern vor allem Ausdruck ist für das total bürokratische Denken in den demokratischen Behörden. CM.

Ein Gastbeitrag des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Berlin  Berlin, den 28. November 2016. – Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS (Jesuit Refugee Service) hat in seiner schriftlichen Stellungnahme die geplanten Kürzungen beim Asylbewerberleistungsgesetz kritisiert. Heute appelliert er vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales an die Abgeordneten, den Gesetzesentwurf abzulehnen. Der Entwurf ignoriert unmissverständliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, bricht Völker- und Europarecht. Statt auf sinnlose Schikanen zu setzen, sollte das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft und durch Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch ersetzt werden. Der Flüchtlingsdienst begrüßt ausdrücklich, dass ein Freibetrag für Aufwandsentschädigungen aus ehrenamtlicher Arbeit vorgesehen ist und regt an, diese Regelung auf den Bundesfreiwilligendienst auszudehnen.   Der Entwurf sieht drastische Kürzungen an Leistungen vor, die bereits als Existenzminimum definiert worden sind. Die größtenteils intransparente Berechnung trifft unter anderem Asylsuchende in Gemeinschaftsunterkünften. Geht es nach dem Entwurf, würden allein stehende Erwachsene dort künftig nur noch 299 Euro erhalten (statt bisher 351 Euro nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; das Sozialgesetzbuch sieht einen Regelbedarf von 404 Euro vor). Das spricht der Lebenssituation der meisten Betroffenen Hohn: Auch wenn sie gezwungenermaßen ihr Schlafzimmer miteinander teilen, bilden sie keine eheähnliche Lebensgemeinschaft, die davon geprägt ist, füreinander einzustehen. „Die faktische ‚Zwangsverpartnerung‘, die der Gesetzentwurf diesen Menschen zumuten will, hat mit einer realistischen Bedarfsermittlung nichts zu tun“, so Stefan Keßler, JRS-Referent für Politik und Recht.„Das ist weder mit verfassungsrechtlichen noch mit völkerrechtlichen Vorgaben des UN-Sozialpakts vereinbar.“   Bereiche, in denen Asylsuchende oft einen Mehrbedarf haben – wie höhere Aufwendungen für Kommunikation, um Kontakte in die Heimat zu halten und neue hier aufzubauen – werden nicht berücksichtigt. Auch die EU-Aufnahmerichtlinie wird weiterhin ignoriert: Die spezifischen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen – wie sie zum Beispiel Opfer von Folter und Gewalt hinsichtlich medizinischer und therapeutischer Versorgung haben – werden wieder übergangen. „Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativiert werden darf, aber genau das wird hier versucht“, betont Pater Frido Pflüger SJ, Direktor des JRS Deutschland. „Dieser kalkulierte Verfassungsbruch ist eines Rechtsstaats unwürdig und als Abschreckungsversuch sinnlos: Kein Mensch flieht wegen ein paar Euro mehr oder weniger, schon gar nicht auf lebensgefährlichen Wegen. Statt diejenigen, die zu uns flüchten, zu entmündigen und zu schikanieren, sollten wir sie menschenwürdig und respektvoll aufnehmen, damit die Wunden der Flucht heilen können und sie sich ein eigenständiges Leben aufbauen können.“ Die Stellungnahme des JRS finden Sie auf unserer Homepage. Sie ist, zusammen mit den Stellungnahmen anderer Verbände, auch beim Bundestag als PDF verlinkt (externer Link): http://tinyurl.com/h5wh59z

…………. Ein Kommentar vom Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: “Der kalkulierte Verfassungsbruch steht im Dienst der Regierung CDU und SPD, um sich den Ideologien der AFD anzupassen und diesen “Herrschaften” zu gefallen. Die Debatte, was denn überhaupt noch so ein bißchen christlich ist an den C-Parteien, sollte noch einmal eröffnet werden, gerade im Jahr des Reformationsgedenkens 2017. Unser Vorschlag: Die C Parteien sollten um der Wahrheit willen auf das C von selbst verzichten. Sie sind es nicht mehr. …………………….

Der Jesuit Refugee Service (Jesuiten-Flüchtlingsdienst, JRS) wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Boat People gegründet und ist heute als internationale Hilfsorganisation in mehr als 50 Ländern aktiv. In Deutschland ist der Jesuiten-Flüchtlingsdienst unter anderem für Asylsuchende, Abschiebungsgefangene und Flüchtlinge im Kirchenasyl tätig und setzt sich für sog. „Geduldete“ und Menschen ohne Aufenthaltsstatus („Papierlose“) ein. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.   Dr. Dorothee Haßkamp Öffentlichkeitsarbeit Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland Jesuit Refugee Service (JRS) Witzlebenstr. 30a D-14057 Berlin Tel.: +49-30-32 60 25 90 Fax: +49-30-32 60 25 92 Spendenkonto: IBAN DE05370601936000401020 BIC: GENO DED1 PAX   dorothee.hasskamp@jesuiten-fluechtlingsdienst.de   www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de www.facebook.com/fluechtlinge

 

“Im Ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit”. Hinweise zur Aktualität der Philosophie von LEIBNIZ.

Einige einführende Hinweise zur Philosophie von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ. Von Christian Modehn.

Veröffentlicht am 19.11.2016, anläßlich des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons am 18.11.2016.

Aktualisierung am 22.11.2016: Ein Freund hat mir zu dem unten publizierten Beitrag geschrieben: “Treffender wäre es, wenn man heute – angesichts des Elends in Afrika und weltweit, der Kriege, der Analphabeten, der von Menschen gemachten ökologischen Katastrophen usw. – von der schlechtesten aller denkbaren Welten sprechen würde.“ ABER: Was wäre, wenn man diesem Vorschlag folgen würde? Dann könnte jeder glauben, alles sei eigentlich böse. Alles sei verloren. Die Welt sei am Ende. Da brauchen wir eigentlich nicht mehr gegenzusteuern. Nicht mehr in freiem Handeln dann doch noch das Gute tun. Also Resignation und Verzweiflung auf der ganzen Linie. Vielleicht auch absoluten Egoismus, weil ja alles verloren ist.

Hingegen gilt die Erkenntnis von Leibniz: „Wir leben in der besten aller denkbaren möglichen Welten“, sie ist immer eine das Leben fördernde Erkenntnis. Leibniz hält an der Freiheit jedes Menschen fest, in dem Sinne, dass die Menschen frei das Gute tun können. Und: Das Böse ist eine Tat freier Menschen, die sich auch anders, im Sinne des Guten, entscheiden könnten. Durch Bildung und Aufklärung ließe sich eine bessere Welt schaffen, wenn der Mensch denn dem Gewissen folgt und die vielfältigen Formen des Egoismus überwindet.

Der Gedanke, wir leben in der besten aller möglichen Welten, ist bei Leibniz um so mehr vertretbar, weil er eine Schöpfung dieser Welt durch einen guten Gott im Denken annimmt.

Der heute weit verbreitete Spruch „Eine andere Welt ist möglich“ ist ja letztlich die Aussage „Eine bessere Welt ist möglich“. Mit „andere Welt“ kann im Ernst nur eine bessere Welt gemeint sein. Insofern sind die heutigen Bewegungen für Alternativen etwa zum Kapitalismus durchaus noch von Leibniz geprägt. Die Gedanken von Leibniz haben vielleicht eine universale Bedeutung, sie entsprechen der Sehnsucht der menschlichen Seele nach einer anderen, einer besseren Welt. Vielleicht ist die Überzeugung „Eine andere/bessere Welt ist möglich,“ unthematischer Ausdruck eines religiösen Glaubens!

Das Gerede führender und sehr mächtiger Politiker, etwa auch der Bundeskanzlerin, „Da gibt es keine Alternative“, „There is no alternative“ (Thatcher) usw. ist nichts als Ideologie, ist Ausdruck von Denkfaulheit und dem Verlust an Mut, dem Verlust an Hoffnung und vor allem: der Missachtung der Kreativität der menschlichen Freiheit. Und es ist gelinde gesagt für Demokraten ein heftiges Problem, dass nun ausgerechnet eine populistische und sehr rechtslastige Partei in Deutschland in ihrem Titel das Wort „Alternative“ führt. Trotz dieser Partei und dem Niedergang des demokratischen Bewusstseins und der demokratischen Praxis im allgemeinen: Wir halten uns an Leibniz: Diese Welt ist aufgrund der anerkannten Freiheit des Menschen, des freien, vernünftigen Tuns im Sinne der Menschenrechte, die beste aller möglichen Welten.

Der Text vom 19. 11. 2016:

Das Motto unseres Salons ist: „Im ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit“. So Friedrich Heer in seinem immer noch lesenswerten und umfassenden Essay über Leibniz in dem Fischer Taschenbuch „Leibniz“(1958). Dort S. 59.

1.Ein Vorwort: Wir entdecken in der Reflexion auf einige zentrale philosophische Begriffe von Leibniz ein Modell, wie ein Philosoph (und tatsächliches „Universalgenie“ damals) Antworten findet (!) auf zentrale Lebensfragen. Wie er durch rationale Argumente eine Art Urvertrauen wecken will, aber ein begründetes Urvertrauen, das nicht in esoterischen Sprüchen, sondern in Argumenten seine Kraft hat. Und der dazu aufrief, deswegen für die „Verbesserung der Welt“ aktiv einzutreten und Gerechtigkeit für alle zu schaffen: das war für ihn die „Liebe des Weisen“. Dabei kämpft Leibniz zugleich gegen den Pessimismus der Calvinisten und der katholischen Jansenisten und aller, die sich in ihre begrenzte und damit Angst machende Dogmenwelt einschließen. „Gott weidet sich an den Qualen der Verdammten“, so beschrieb der schottische Theologe Baxter damals dieses grausige Gottesbild der orthodoxen Calvinisten (in Heer, S. 52). Mit solcher Unvernunft und Inhumanität wollte Leibniz absolut nichts zu tun habe. Er widersetzte sich diesen Lehren der Grausamkeit: eben denkend und handelnd: Zugunsten der besseren, d.h. gerechteren Welt. Seine Erfindungen, sein Bemühen um technischen Fortschritt, seine Auseinandersetzungen um ein besseres Rechtssystem usw. sind AUSDRUCK seiner Überzeugung: eine bessere Welt ist möglich. Und wir haben die Pflicht, dies auch zu tun gegen alle Widerstände der Dummheit.

Noch viel zu wenig bearbeitet ist meines Erachtens, welche Anregungen Leibniz in der Begegnung mit den philosophisch damals hoch gebildeten Kapuzinern in Paris empfing, vor allem von Pater Yves de Paris. Über das Werk des Paters Yves de Paris und Pater Laurent de Paris (bei Heer S. 37) wollen wir später weiter arbeiten.

Was wir immer vor Augen haben sollten: Leibniz war naturgemäß auch eingebunden in damals übliche Denkkategorien, etwa die Vorstellung des Monarchen war ihm noch selbstverständlich. Wenn er darum Gott dachte, dann durchaus in der damals üblichen Begrifflichkeit des Monarchen, allerdings des GUTEN Monarchen.

Aber Leibniz bietet uns in seiner Metaphysik und seiner Erkenntnis von Gott ein Modell, das heutige Modelle wiederum in Frage stellt. Er führt zu der Einsicht: Dass doch viele Erkenntnis von einst nicht deswegen zu verwerfen sind, weil sie von früher stammen. So hilft er vielleicht, dass sich heute Menschen für sich selbst und ihre Gemeinde/Freunde eine rational vertretbare Form des wissenden Glaubens an eine göttliche Wirklichkeit entwickeln.

2.Zur Biographie

Wir müssen beachten, dass Leibniz in der Zeit kurz nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lebte und philosophisch dachte. Und zu seiner Zeit fand der Schwedisch-Brandenburgische Krieg statt, der sogenannte. „Große Türkenkrieg“ sowie die verschiedenen Polnisch Russischen Kriege, der große Nordische Krieg usw. D.h. Töten und Abschlachten aufgrund der Nationalität und der Religionszugehörigkeit (und des Kolonialismus und Rassismus) waren zu Leibniz Zeiten sozusagen selbstverständlich. Leibnizens Philosophie und Metaphysik ist deswegen um so mehr als Friedens-Philosophie zu lesen.

Leibniz wurde am 1.7. 1646 in Leipzig geboren. Er verstarb am 14. 11. 1716, im Alter von 70 Jahren, in Hannover. Er lebte, trotz vieler Reisen, seit 1676 im Dienst des Hauses Hannovers und gehörte dem Hof an. Auch nach Berlin hatte er intensive Beziehungen, durch die Freundschaft und philosophischen Gespräche mit Königin Sophie Charlotte. Er schätzte die intellektuelle Qualität der Frauen besonders hoch ein, damals keine Selbstverständlichkeit.

Leibniz lebte in der Zeit des Barock. Und wenn Barock beschrieben wird, dann durch „das Üppige, das Kraftvolle, das Prächtige, den Überschwang, die Fröhlichkeit, die nach außen gestellte Freude“.

Die Qualitäten des Umfangreichen und durchaus – freilich vernünftig gesteuerten – Überschwänglichen gelten auch für die universalen Interessen (und Arbeiten) von Gottfried Wilhelm Leibniz; allein schon wegen der unglaublichen Breite und Tiefe seiner vielseitigen Begabungen. Seine umfassenden Texte und Studien, Bücher, Briefe, Notizen haben in gewisser Weise das Üppige, auch das Großartige. Man hofft, bis etwa zum Jahr 2040 (!) tatsächlich auch den gesamten Nachlass von Leibniz entziffert und dann ediert zu haben….

ABER:

In Paris erlebt Leibniz den schönen Schein des barocken Staates. 1672 schreibt er über die „Mala Franciae“: Paris blüht nur dem Scheine nach, die Provinzen und die Menschen dort darben und hungern. „Alles ist nur dem Schein nach schön, innen aber verkrüppelt und verkümmert. Für ihn stecken hinter diesem zur Schau getragenen Frommsein Hochmut und Selbstsucht; diese vornehme Gesellschaft ist für ihn bigott, verlogen, sie ist ein Kind einer großen entsetzlichen Angst. (so Friedrich Heer, S. 20).

Leibniz wollte eine Lösung finden im damals wie heute herrschenden Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben, im Kampf der Religionen gegeneinander; es musste ein Weg zum Frieden gefunden werden und es musste eine Antwort gegeben werden auf die persönlichen Erfahrungen des Leidens gerade im Krieg und nach dem Krieg. Die Idee des Besseren, des Besserwerdens und Bessermachens war für ihn Leitmotiv seiner Arbeiten.

3.Philosophisch ist zentral

Eine wesentliche Frage für uns heißt: Was ist der Mittelpunkt seines vielfältigen Schaffens insgesamt? Meine Überzeugung: Es ist seine philosophische, begründete Lehre von Gott, Welt und Mensch. Dies wurde angesichts der vielen technischen und mathematischen Begabungen von Leibniz meines Erachtens in den „Gedenkartikeln“ in diesem Leibniz Jahr 2016 nicht herausgearbeitet. Leibniz ist zuerst Philosoph! Alles andere bei ihm steht im Dienst der „Verbesserung der Welt“.

Leibniz will für die Verbesserung der Welt sorgen und vor allem weiter entwickeln durch die in seiner Sicht einzige Kraft, die dieser Forderung entsprechen kann: Das ist die allgemeine Vernunft, die nichts Beliebiges ist, sondern die sich durch Logik auszeichnet, durch die Anwendung von Begründungen und Gründen für etwas; durch die Reflexion und durch die Erkenntnis, dass auch religiöse Texte wie die Bibel der kritischen Betrachtung bedürfen. Leibniz sah in der Vernunft, die allgemein ist, über die sich debattieren lässt, das Heilmittel zur Verbesserung von Mensch und Welt. Dass es nach dem 30 jährigen Krieg die Welt besser, „fortschrittlicher“, werden muss, ist förmlich eine Evidenz. Menschen, besonders im Umfeld von Kriegen, können niemals auf den Begriff des Fortschritts, in dem Falle des Friedens, verzichten. Sie wollen zudem wieder eine „metaphysische Geborgenheit“ erleben. Fortschritt wird nur dann schlecht geredet, wenn Menschen bereits vieles Gute erreicht haben und sehen, dass global doch nicht alles ihnen so gut gelungen ist, wie es gemeint war… ABER: Fortschritt gibt es immer nur in einer bestimmten Hinsicht, etwa was die Rechte von Frauen angeht, die Rechte von Minderheiten usw. In dieser Hinsicht gibt es zumindest im Bewusstsein der Menschheit tatsächlich Fortschritte. Wenn angesichts des großen Wissens der Friedensforschung etwa tatsächlich auch heute der Friede weltweit keine Realität ist, liegt es am Unwillen der politischen Akteure, der Vernunft zu folgen und eine friedliche Ordnung zu schaffen. Es ist mit anderen Worten, der böse Wille, das Nicht-Reflektieren, also der nationalistische Egoismus, der auch heute unnötigerweise Kriege und Mord und Totschlag produziert.

Leibniz, so wird berichtet, war von einer “ausgesuchten Höflichkeit”; er stellte sich je neu in seinen Argumenten auf seine Gesprächspartner und seine Briefpartner ein. Er wollte deren Sprache sprechen, um sein Ziel zu erreichen: Eine vernünftigere und bessere Welt. Von diesem Ziel war er überzeugt.

Die Wurzel dieser Überzeugung ist letztlich sein vernünftig begründbarer Glaube an Gott. Deswegen wurde er oft –manchmal ironisch, abfällig – „Optimist“ genannt. Er hatte eine friedfertige Gesinnung; legte sich das Pseudonym „Pacidius“ zu, auf Deutsch der Friedfertige. Leibniz wusste natürlich von seiner exzellenten höchsten Begabung für so vieles; deswegen wollte er mit vielen Fürsten und Königen etc. in Kontakt treten, um irgendwie dann doch ein beratender Philosoph in der Politik zu sein. Das ist ihm kaum gelungen.

4.Zur Metaphysik und Gotteslehre

Dies ist der Mittelpunkt des Leibnizschen Denkens: Leibniz sah vernünftiges Denken von Logik bestimmt. Er war sozusagen der Entdecker des „Satzes vom zureichenden Grund“: Ohne einen zureichenden Grund kann kein Wesen vorhanden sein und existieren. Konkret: Wenn es diese Welt gibt, dann muss sie einen gründenden Grund haben. So kam, zusammenfassend gesagt, Leibniz philosophisch zur Idee Gottes als des Schöpfers dieser Welt. Diese Überzeugung ist für ihn absolut zentral. Ohne diese Überzeugung zu sehen, kann man Leibniz nicht verstehen.

Das Verhältnis der Welt bzw. darin auch des Menschen zu Gott als dem Gründenden ist von fundamentaler Bedeutung bei Leibniz…

Er sah als Naturwissenschaftler, wie sich die Überzeugung durchsetzte: Die Welt im ganzen ist gesetzmäßig („wie eine Maschine“) strukturiert. Von daher habe auch der Mensch keine Freiheit, so wurde behauptet.

Leibniz versucht dagegen, diese gesetzmäßige Struktur des Weltganzen mit der menschlichen Freiheit zu verbinden. Dabei sind für ihn gewisse Deduktionen von Grundeinsichten üblich. Er will damit Klarheit schaffen, das Dunkel der Ängste vertreiben, eine Art sicheren Boden zeigen, wie trotz aller Erfahrungen von Leiden das menschliche Leben dennoch sinnvoll ist!

Gott ist kein materieller Gegenstand, sondern Geist, geistige Ursubstanz. Als Geist ist Gott aber dann Vernunft. Und Vernunft handelt logisch. Sie strebt nach dem Guten und Wahren.

Wenn Gott eine Welt erschafft, dann kann er eben nur eine Welt, etwas anderes als Gott, und nicht einen zweiten Gott erschaffen. Ein zweiter Gott würde die Frage nach dem Verhältnis beider Götter stellen und so in unsinnige Debatten führen. Selbst Polytheisten erkennen zwar viele kleinere Götter an, denken aber dann doch einen waltenden Übergott (Zeus).

Gott muss also, wenn er die Welt schafft, etwas Nicht-Göttliches (also Endliches und Begrenztes) schaffen, auch wenn sein Werk, die Welt, als sein Werk, mit ihm verbunden bleibt, eben durch die Vernunft. Die Vernunft des geschaffenen Menschen ist also mit der göttlichen Vernunft verbunden, mehr noch: Beide sind eins. Leibniz Forscher, wie Hans Poser, betonen: „Die menschliche ist von der göttlichen Vernunft nicht prinzipiell, sondern graduell verschieden“, Hans Poser, „Leibniz` Philosophie“, Hamburg 2016, S. 259. Es gibt zwischen Gott und Mensch keinen Dualismus, kein Gegeneinander. Es herrscht die große Einheit. Aufgrund dieser Verbundenheit mit Gott kann also der Philosoph Leibniz förmlich die Gedanken Gottes selber nach vollziehen. Dieses Motiv ist schon in der Mystik, etwa bei Meister Eckart, lebendig, später dann wieder bei Hegel…Das Problem ist nur, dass in der Mystik dann doch wieder die „Andersheit“ Gottes festgehalten wurde. Aber selbst wenn der ganz andere Gott ins Denken „einfällt“ (Lévinas), dann ist doch der menschliche Geist fähig (!), diesen denkend anzunehmen. Also: So „ganz anders“ kann Gott dann doch nicht gegenüber dem menschlichen Geist/der Vernunft sein! Die „dialektische Theologie“ (Kierkegaard, Karl Barth) hat im Sinne von Leibniz also unrecht.

Nun fühlt sich der Mensch in der Welt in seinem Handeln durchaus frei. Er kann seine Willensentscheidungen als Tat realisieren und damit in der Welt und ihrem Geschehen frei wirken. Diese subjektive Freiheitserfahrung verbindet Leibniz mit der Tatsache, dass Gott diese Welt geschaffen hat und ihr die eigenen Gesetze eingefügt hat, also auch Naturgesetze. Aber: Gott ist „im menschlichen freien Tun“ sozusagen „versteckt“ dabei, weil es ja Gott ist, der die Welt schafft und als Gott diese Welt und die Menschen zum Guten und immer Besseren führen will.

Eine göttliche Schöpfung kann also nicht durch Taten der Menschen total versinken und verschwinden. Das wäre sozusagen eine Katastrophe für Gott, er wäre dann nicht mehr Gott; denn sonst würden sich die endlichen, die geschaffenen Menschen als die Herren der Welt zeigen. Das wäre ein Widerspruch zur göttlichen Schöpfung. Heute können die Menschen durch ihre Erfindung der Atombombe tatsächlich Gottes Schöpfung zerstören. Sie haben ihre Freiheit der Forschung maßlos und ohne jeden Bezug auf Ethik beim Bau der Atombomben durchgesetzt. In der Sicht Leibniz` haben sie also eine gottferne Wirklichkeit geschaffen. Die Menschen können jetzt nur noch alles tun, durch Verhandlungen die zerstörerische Macht der Atombomben einzuschränken. Wer das nicht realisiert, ist eigentlich böse.

Für Leibniz jedenfalls zu seiner Zeit gilt: Dieses Zusammenwirken von Mensch und Gott trifft auch zu, wenn sich der Mensch für Böses entscheidet. Dann wird diese Entscheidung allein vom Menschen her als einem freiem Wesen begründet. Aber Gott hat diese bösen Entscheidungen auch vorausgesehen, aber nicht vorher bestimmt (also es gibt keine Prädestination, Gott als Gott schafft also nicht bestimmend das Böse!). Aber Gott kann diese menschlichen, der Freiheit entspringenden Taten des Bösen dann in sein göttliches Konzept der Schöpfung einbeziehen. Es herrscht also eine Art Variabilität: Je nach menschlicher Entscheidung entwickelt sich der Lauf der Welt. Aber Gott bleibt der Herr seiner Schöpfung, indem er dann je neu die Welt weiter zu Besseren hin entwickelt, indem etwa andere, bessere menschliche Entscheidungen möglich werden.

Wenn der einzelne Mensch handelt und im Handeln die Welt in gewisser Weise auch steuert und verändert, dann ist dies eine subjektive Freiheitserfahrung. Aber im Hintergrund dieser subjektiven Tat, sozusagen stillschweigend, aber nicht abschaffbar anwesend, ist die göttliche Vernunft: Sie hat als schöpferische Vernunft das gute Ziel dieser Welt insgesamt vor Augen: Gottes Voraussicht sieht also das Tun der Menschen im einzelnen voraus. Die Menschen entscheiden sich also freiwillig für ihr Tun; sie ahnen dabei gar nicht, dass im Hintergrund die göttliche Vernunft in ihnen mitwirkt; Gott verwirklicht also seine göttlichen Ziele durch menschliches Tun hindurch.

Jedoch: Gott greift nie wunderbar in das Geschehen der Welt direkt ein, er übergeht nicht die Naturgesetze durch einzelne Wunder; lässt etwa keinen abgeschlagenen Arm eines Menschen wunderbarerweise wieder nachwachsen. Er straft nie direkt unmittelbar mit einem Blitzschlag oder so den Übeltäter oder er zaubert auch nicht einen guten Helden oder Heiligen plötzlich als Retter aus der Not hervor. Die Welt entwickelt sich selbst unabhängig von direkten göttlichen Eingriffen. Diese Haltung hat weite theologische Konsequenzen: Das individuelle Bittgebet wird dann überflüssig, weil zu egoistisch bestimmt! Als subjektive Poesie hat das Bittgebet ein Recht. Beten ist nur noch Anerkennen, dass die Menschen von Gott „getragen“ und umfangen sind. Ich denke, das Lied von Paul Gerhardt, „Befiehl du deine Wege“ , auch im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges entstanden, ist ein Lied, das einige Elemente von Leibnizens Philosophie ausdrückt.

5.Die Welt in diesem Zusammenwirken von Gott und Mensch nennt Leibniz „die beste aller möglichen denkbaren Welten“.

Dahinter steht der Gedanke: Gott als Gott könnte eigentlich viele mögliche Welten erschaffen. Etwa eine, in der die Menschen einander nichts Böses antun, so wie es einige Tier-Familien gibt, die einander nicht fressen usw. Nur: Wenn auf diese Weise das Böse aus der Menschenwelt ausgeschlossen wäre, dann gäbe es auch keine Freiheit. Freiheit aber ist identisch mit Reflexion, mit freiem Entscheiden usw. Also wäre in dieser Welt ohne mögliches Bösestun der Mensch nicht mehr Mensch, sondern ein Tier. Also kann Gott aufgrund der menschlichen Freiheit keine Welt schaffen, in der es nicht auch Bösestun durch Menschen gibt. Wenn Gott den Menschen als geistvollen Menschen, also als freien Menschen, will, dann muss er sozusagen auch das Böse zulassen. Und er muss zulassen, weil diese Welt eben eine geschaffene Welt ist, er muss dass die Natur sich „unkontrolliert“ verhält, Bäume beim Wind umfallen usw. und im Zusammenprall widriger Naturelemente Unglück passierrt. Und Gott muss zulassen, dass die Menschen als geschaffene eben dadurch endliche Geschöpfe bleiben und, weil nicht Götter, sterbliche Wesen sind.

Alle diese Strukturen der Welt hält Gott dann doch noch für die beste aller für ihn denkbaren Welten. Diese denkbar beste aller möglichen Welten ist für die Menschen als Geschöpfe nicht die rundum erfreuliche, nicht die so wunderbar-tolle, die absolut immer und für jeden zu jeder Zeit gute Welt. Es gibt subjektiv erfahrenes Elend, Leiden usw. Aber: Diese Erfahrungen mindern für Leibniz nicht die Erkenntnis: Eine bessere Welt mit freien, geistvollen Menschen ist nicht denkbar. Besser konnte Gott keine Welt schaffen. Man kann ja spekulieren: Warum müssen wir eigentlich sterben? Wäre ewiges Leben auf Erden ein Gewinn für uns für unsere Lebensgestaltung? Könnten dann immer noch weitere Menschenwesen geboren werden. Könnte der Mensch weiterhin aus Fleisch und Wasser bestehen? Oder besser aus massivem Holz? Wann wäre diese Welt unsterblicher Menschen wegen Überfüllung geschlossen usw…

Diese Erkenntnis entwickelt Leibniz in seinem sehr umfangreichen und nicht immer leicht lesbaren Buch „Theodizée“, das heißt: Richterspruch über Gott. Man sieht schon bei dem Titel einmal mehr, dass Leibniz auch Jurist ist; Jura war ja sein erstes Studienfach. Leibniz hat als Ziel vor Augen, eine universale Ordnung zu schaffen, die vom Recht bestimmt ist. Leibniz hält nichts von Gewalt, er will alle Verhältnisse nach Recht und Gerechtigkeit gestalten. (Heer, S.15). In der „Theodizee“ geht es um die Anklage: Warum hat Gott die Welt und die Menschen so geschaffen, wie sie offenbar böse und begrenzt nun einmal erlebt wird. Diese „Theodizée“ wurde 1710 veröffentlicht.

Viele Kritiker haben sich nach oberflächlicher Lektüre darauf gestürzt und besserwisserisch gesagt: Was, diese Welt soll die beste sein? Sie haben dabei alle Nuancierungen, die der kluge Leibniz bot zum Thema, übersehen und eben alles als metaphysischen Schwachsinn schlecht gemacht. Bloß zu sagen, „so ist das nun alles mal in dieser blöden Welt, sie hat keinen Gott, es gibt nur Idioten um uns herum“ ist doch für viele nicht befriedigend. Da passiert sozusagen ein Selbstverzicht aufs Nachdenken. Kant hat die Theodizee von Leibniz zurückgewiesen, weil sie seiner Definition von Erkenntnis und damit, bei Kant, der Unmöglichkeit von Erkenntnis Gottes widersprach. Aber im Denken musste dann selbst Kant in seine praktischen Vernunft die Idee Gottes annehmen….

Geradezu komisch wirkt der Einwurf, die Theodizee –Kritik von Odo Marquard: „Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen (der Welt) dann nicht bleiben lassen ? “ (In: Odo Marquard, Entlastungen, in Apologie des Zufälligen, Reclam 1986, Seite 17). Nun aber gibt es diese Welt und darauf muss man philosophisch reagieren. Die Welt als nicht existent bei einem Gott im Himmel für sich allein zu denken, ist gelinde gesagt nur komisch. Oder eben eine der vielen „netten“ Marquardschen Formulierungen, die das Publikum so toll (komisch) fand…

Eine andere Frage ist, wie die Abgründigkeit des Bösen, etwa der Holocaust oder jetzt der Krieg in Syrien und die Sklaverei, mit dem Leibniz Konzept der besten aller möglichen Welten zusammen gedacht werden kamnn.. Gerade, wenn der subjektive Schmerz der Betroffenen einzelnen im Leiden immens ist. Dennoch ist es philosophisch gesehen die Frage: So sehr das Leiden der einzelnen furchtbar ist, so muss doch gesehen werden: Der Holocaust, der Krieg in Syrien, die Sklaverei usw. sind im letzten Ausdruck freier menschlicher Entscheidungen in der Politik. Sie sind keine unergründlichen (vielleicht nur für den Klerus zu klärenden) Mysterien, sie sind keine blinden Schicksalsschläge, sie sind vielmehr Ausdruck der politisch gewollten Stilllegung der Vernunft bei so vielen, auch den vielen Mitläufern usw. Das heißt: Dieses Grauen ist Ausdruck der Freiheit vieler Menschen, also der freien Willen. Da wäre mit Vernunft vieles zu verändern und zu verbessern (gewesen). Der Holocaust usw. hätte nicht sein müssen bei einer vernünftigen Gesellschaft in Deutschland! Aber wie wurde die Weimarer Republik schlecht gemacht…Leibniz würde wohl sagen, ohne zynisch zu werden: Auch all das Schlimme ist Ausdruck dieser Welt freier Menschen, einer Welt, die also solche dann aber immer noch die beste aller denkbaren ist. „Gott musste das Übel zulassen, um in Freiheit die beste der möglichen Welten zu schaffen“ (Hans Poser, S. 260).

Es ist für den einzelnen Leidenden im Augenblick des Leidens wohl schwierig, sich dieser Erkenntnis anzuschließen, er muss diese Gedanken schon vorher in Ruhe gedacht haben, um sie als Trost wahrzunehmen.

Aber was sind die Auswege? Voltaire hat in seinem Anti-Leibniz Roman Candide (von 1759, nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon) gezeigt, wie die Irrfahrten des leidenden Candide dann enden: Letztlich können seine beiden philosophischen Begleiter angesichts nur beruhigende Sprüche aus der Verhaltenstherapie weiter geben: Der Weise Martin empfiehlt: „Lasst uns arbeiten ohne nachzudenken, das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen“. Und der Philosoph Pangloss, der nach wie vor einen ungetrübten Optimismus predigt, wird von Candide im letzten Satz der Novelle mit der Erkenntnis beschieden: „Gut gesagt, aber unser Garten muss bestellt werden“. Die Arbeit soll also von allen Fragen nach dem Sinn von Leiden befreien. Das ist eine Art resignatives Denkverbot, bis heute leider üblich. Voltaire hat förmlich die Üblichkeit eingeleitet, den Leibnizschen metaphysischen Gedanken schlecht zu machen und zu diffamieren. Trost spenden kann Voltaire mit seiner Verhaltenstherapie (Arbeiten, den Garten pflegen) gar nicht.

6.Auf die hoch komplexe Leibnizsche Lehre von den Monaden kann hier nur ganz kurz verwiesen werden: Gott ist die Ursubstanz, die alle anderen Substanzen der Welt und der Menschen belebt. Eine Monade nennt Leibniz die kleinste unteilbare Einheit, die in allem lebt und unzerstörbar ist. Die menschliche Seele ist unteilbar, damit nicht materiell, sondern geistig. Gottes Reich, zu dem jeder Mensch gehört, verliert keine Person, d.h Menschen sind als Seelen ewig. Gott wird hier als der gerechteste und gütigste Monarch, so wörtlich, gedacht. Er will das Glück der Menschen, er will nur, „dass man ihn liebt“ (S. 163 Metaphysische Abhandlung). Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand und gegen alle Umwälzungen des Weltalls beschirmt; da nichts auf sie einwirken kann als Gott allein“ (S. 165 in Metaphysische Abhandlung, Suhrkamp). Dieser Text wurde 1686 geschrieben, aber erst 1846 gedruckt.

7.Für die Versöhnung der Religionen und der getrennten Kirchen arbeiten.

Es wird sehr oft vergessen, dass Leibniz leidenschaftlich und klug die Einheit der vielen getrennten Kirchen förderte und zahlreiche Gespräche und Korrespondenzen zu dem Thema hatte. Das war zu den Zeiten sensationell. Er meinte: Nur die vereinten Kirchen können den Fortschritt der Menschheit befördern. Man stelle sich vor, heute in diesen Kriegszeiten, würden die großen Kirchen einander als gleichwertig anerkennen und versöhnt mit einander in Vielfalt leben, was wäre dies für ein Symbol. Was wäre das für ein Zeichen in der zerrissenen Welt. Vielleicht ein „Vorbild“.Für Leibniz ist entscheidend, dass auch die Kirchenlehren nur unter der Kritik der Vernunft bestehen können. Das heißt, die philosophische Vernunft ist letztlich wichtiger als die Aussagen der Offenbarung und der Kirchenlehre.

Wenn die Kirchenlehren also relativ sind und die Erkenntnisse über Gott durch die Philosophie entscheidend sind: Dann kann alles daran gesetzt werden, dass die getrennten Kirchen ihre dann immer relativen und zweitrangigen Lehren zurückstellen und sich auf eine Kirchengemeinschaft mit einer einfachen gemeinsamen Lehre/gemeinsamen Dogmen einigen.

Dieser Einsatz von Leibniz für die Ökumene ist kaum bekannt, kaum erforscht und nach meinen Kenntnissen nicht nur Kirchenkreisen unbekannt oder der Leibniz Beitrag dazu wird unterdrückt. Dabei ist die Anerkennung der Relativität der Kirchen-Dogmen heute schon eine verbreitete Erkenntnis, es fehlt nur weithin die Anerkennung der Vorrangigkeit der Vernunft, wie Leibniz sie sah… Nebenbei: Es gab 2009 in Berlin eine Tagung zu Leibniz und die Ökumene. Die Vorträge sind veröffentlicht in den „Studia Leibnitiana“ von Hans Poser.

8.Für den Dialog und den Austausch mit China: Ein zentrales Thema von Leibniz

Auch dies ist ein weithin unbekanntes Thema, und es fehlt meines Erachtens in vielen journalistisch-oberflächlichen Leibniz Darstellungen in Filmen und Zeitschriften im Leibniz-Jubiläum 2016, selbst in einem Film, der für ARTE 2016 gemacht wurde. Da wird Leibniz sozusagen als Vorläufer der modernen Computer-Welt interpretiert.

Der interkulturelle Dialog ist genauso wichtig: Tatsache ist: „Denken ist für Leibniz Mitdenken, auch Zustimmen zu Fremden, weil die Vernunft die Kunst des Verknüpfens ist von allen Wahrheiten und Wirklichkeiten“. (S 20, Heer)

Die Rezeption des chinesischen Philosophen Konfuzius und Menzius durch Leibniz sowie seinen Schülers Christian Wolff ist ein Beispiel dafür, dass schon die Frühaufklärung von außereuropäischen Einflüssen geprägt ist. Es ist also falsch, die Aufklärung nur als auf europäisches Denken begrenzte Philosophie zu verstehen. China war für die Europäer etwas absolut Neues, für Europäer, die sonst in der Begegnung mit anderen, fremden Kulturen sehr imperialistisch waren. In Amerika, so meinten sie, hätten die Europäer ungebildete Wilde „entdeckt“; in Afrika stand den Kolonisten ein Markt von Sklaven bereit, also von „Untermenschen“. In China hingegen begegneten die Europäer einer großen uralten Kultur, die sie einfach als wichtig und „entwickelt“ anerkennen mussten.

Leibniz schrieb einen Essay über die chinesische Weisheit/ Philosophie. Er korrespondierte mit zahlreichen Wissenschaftlern aus dem Jesuitenorden. Sie stammten aus Frankreich und Italien vor allem, die in China seit etwa 1550 – lebten und in Peking lehrten und durch ihre Übersetzungen chinesischer Werke überhaupt China in Europa bekannt machten.

Tatsache ist: Mit dem grundlegenden chinesischen Philosophen Konfuzius hat sich Leibniz viele Jahre befasst, das war ein absolutes Novum damals! Natürlich standen Leibniz nur einige erste chinesische Werke in lateinischer Übersetzung zur Verfügung! Seit Leibniz 1689 in Rom den Jesuitenpater Grimaldi kennen lernte, gibt es sein ausgeprägte Interesse an China. Grimaldi berichtete von seinen Aufenthalten in China. Da entwickelte Leibniz bereits die Vorstellung eines Kulturaustausches. Nicht nur der Handel, der Austausch der Ideen sollte Europa wie auch China bestimmen. Nicht nur Handel mit Gewürzen, sondern Austausch der Kulturen. Noch auf dem Sterbebett schrieb Leibniz einen Essay über die chinesische Philosophie – sie war das Herzensanliegen eines Mannes, der schon 1698 dem Kaiser Kangxi nach Peking einen ausführlichen

Brief geschrieben hatte, in dem er die Gründung zweier Akademien – einer in Hannover, einer in Peking – vorschlug. Sie sollten beide Kulturen vergleichend studieren und herausfinden, wie beide voneinander lernen und sich befruchten können. Vgl. hier die weiterführenden Hinweise von Henrik Jäger:

http://www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/doku/201208_Jaeger.pdf

Zahlreiche Briefe offenbaren den Dialog des Lutheraners Leibniz mit Jesuiten. Er schätzte die Leistungen der Jesuiten in Peking als Mathematiker, Astronomen, Übersetzer sehr! Und fand bei diesen aufgeschlossenen Katholiken den Geist der Vernunft, also den Geist, mit wissenschaftlichen Erklärungen den Chinesen vieles deutlich zu machen. Aber die Päpste und andere in Europa waren so begrenzt und dumm, dass sie diesen Dialog der Jesuiten in China nicht mehr zuließen. Die Jesuiten meinten: Wenn ein Chinese Katholik werden will, und das wollten doch einige tausend, dann können sie als Chinesen auch ihrem Ahnen – Kult und anderen uralte Riten treu bleiben. Diese Offenheit lehnte Rom mit seiner strengen Dogmatik ab. So scheiterte 1704 das Experiment der Jesuitenmission in China, was Leibniz sehr bedauerte. Sein Briefaustausch mit den Jesuiten dort kam 1703 kam an ein Ende. Diese Jesuitenpräsenz in China ist sicher eines der spannenden Themen der Religionsgeschichte. Philosophisch ist wichtig zu sehen: Dieses Experiment eines „chinesischen Katholizismus“ konnte ja nur deswegen scheitern, weil die Jesuiten dort im letzten doch glaubten, die Chinesen sollten Katholiken werden. Hätte man auf diesen Missionsgedanken verzichtet, also die völlige Gleichwertigkeit chinesischer Religionen und chinesischer Philosophen mit dem Christentum anerkannt, dann wäre es bei einem fruchtbaren Kulturaustausch geblieben und vielleicht hätte man viel später, wie von selbst gefragt: Was verbindet uns Chinesen und uns Jesuiten/Katholiken eigentlich. Mit anderen Worten: Der Gedanke der Mission als Auftrag zur Bekehrung anderer (Chinesen) hat auch das große Kulturexperiment zunichte gemacht.

Hinzu kam, dass auch in Europa eine tiefe Verunsicherung durch die Kenntnis der chinesischen Kultur bestand: Denn die christlichen Europäer merkten plötzlich, dass sich die Bibel, so wie sie verstanden, offenbar geirrt hatte; denn die Christen errechneten die Daten der Schöpfung und der Sintflut aus dem Alten Testament. Und merkten: Die Chinesen waren von der Sintflut (zwischen ca. 2 500 und 2344 vor Christus, dies errechnen einige christliche Fundamentalisten noch heute) gar nicht betroffen. Die biblischen Erzählungen enthalten also gar nicht universale Wahrheiten! Und im uralten und maßgeblichen „Buch der Wandlungen“ aus dem 3. Jahrtausend vor Chr. wurde behauptet: Die Welt hat weder einen Anfang noch ein Ende. Das aber widersprach angeblich der christlichen Dogmatik… Dabei hat doch Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt geschaffen, dachte man… Deswegen wollte man die chinesischen Texte als atheistische Texte in Europa verbieten.

Leibniz hingegen dachte viel konstruktiver: Er fordert Missionare aus China für die Europäer, so in einem Brief von April 1709, (S. 20 in Heer) „Europa muss von Missionaren der Menschlichkeit missioniert werden, von Menschen, deren Denken Menschenliebe ausdrückt“. Europa muss also umfassende Moral von konfuzianischen Weisheiten empfangen. Heute lernen einige Europäer in Zen-Klöstern die Zen-Philosophie und Zen—Meditation. Aber hat sich Europa deswegen schon geöffnet für einen umfassenden Dialog mit anderen Kulturen? Sicher (noch) nicht. Was wissen wir von afrikanischer Philosophie, was von den indigenen Weisen in Peru oder Mexiko? Leibniz könnte den bornierten Europäern helfen, sich für die Mitte der Welt zu empfinden.

Leibniz hatte aber auch durchaus eine gewisse Skepsis vor einem zu großzügigen Informieren der Chinesen durch Europa: Er hielt die Chinesen für technisch so hoch begabt, dass sie technische Leistungen der Europäer egoistischer Weise einfach übernehmen, also „klauen“. Das Thema „Industriespionage durch China“ ist ja in Europa und anderswo eine viel besprochene Tatsache jetzt. Genau so wie die Tatsache, dass mit dem Philosophen Konfuzius durch die chinesische KP Führung insofern Missbrauch getrieben wird: Die staatlichen, also KP abhängigen chinesischen Kulturinstitute haben den Titel „Konfuzius-Institute“, vertreten in mehr als 100 Ländern!, selbst in Benin !, auch Spionage und „Wirtschaftsrecherche“ soll dort betrieben werden, berichten deutsche Fernsehreportagen.

Also: Was schätzte Leibniz an Konfuzius? Die Ethik des Konfuzius ist eine freie philosophische Ethik ohne Bindung an Religionen. Der Mensch kann selbst und von sich aus sein Leben in die eigenen Hände nehmen. Diese Ethik hat universale Züge. Dass sie dabei auch sehr „Herrscher-freundlich“ schon war, sah Leibniz offenbar nicht.

8.Christian Wolff führt den Dialog mit China weiter

Eigentlich müsste jetzt auch an den grossen – leider weithin unbekannten – Christian Wolff erinnert werden, der mit Leibniz korrespondierte. Er sah in seiner philosophischen Ethik eine vollkommene Übereinstimmung mit Konfuzius. Wolff musste deswegen die Universität Halle „binnen 2 Tagen verlassen“, so groß war die Angst des preußischen Königs vor diesem „Zerstörer der Kirchenlehren“…Wolff meinte: Vernunft ist größer als der Glaube. Der Mensch kann sich frei ethisch weiter entwickeln und verbessern auch ohne die Kirchen. Religion wird zwar nicht überflüssig, aber sie wird relativiert.

Wolff fand in Marburg Zuflucht. Er hatte dort tausende von Hörern auch aus Asien. Er hat es zu Weltruhm gebracht. Auch der junge Kant im Austausch mit Wolff.

Wichtig ist vor allem: Christian Wolff hatte auch die Philosophie des Konfuzianers Menzius entdeckt: Menzius (372 bis 289 v.Chr.) lehrte die grundsätzlich gute Natur des Menschen, er war also ein chinesischer Weiser, der in Europa als Gegner christlichen „Erbsünde“ wahrgenommen wird. Bei einer Reise nach Halle sollte man das schöne „Christian Wolff Haus“ unbedingt besuchen, in Deutschland eines der wenigen wirklichen Museen, bezogen auf einen Philosophen! Und nebenbei die Franckesche Stiftung, den einstigen Hort des sehr frommen Pietismus…

Dringend ist für uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: Mit Menzius sollten wir uns bald befassen, vielleicht das große und schöne Buch von Henrik Jäger lesen, „Den Menschen gerecht“. Ein Menzius Lesebuch, Ammann Verlag. Wenn wir uns darin vertiefen , haben wir auf anderer Ebene immer noch mit LEINBIZ zu tun!

Neben der genannten Literatur und den Interpretationen möchte ich ausdrücklich die umfangreiche Biographie und Werk-Einführung von Eike Christian HIRSCH empfehlen, “Der berühmte Herr Leibniz”. Die überarbeitete 3. Neuauflage erschien 2016 im C.H.Beck Verlag, das Buch hat 659 Seiten und ein Register!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

 

Salon am Fr., 16. Dezember 2016: Was ist uns (noch) heilig?

Der Religionsphilosophische Salon debattiert am Freitag, den 16. Dezember 2016, um 19 Uhr, über ein Thema, das entfernt, vielleicht für manchen auch näher, zum Weihnachts – Fest (bzw. – Trubel) gehört:

“Was ist mir, dir, uns heute (noch) HEILIG?” Sicher nicht bloß der “Heilige Abend”. Also: Was bedeutet eigentlich heilig? Was ist dagegen profan, weltlich? Stimmt diese Gegenüberstellung? Kann für manche nicht sehr Profanes in den absoluten Mittelpunkt rücken und so heilig für ihn werden? “Macht” sich also vielleicht jeder Mensch Heiliges? Kann aber Heiliges wirklich “machen”? Ist vielleicht die Würde der Person das einzige, was das Prädikat heilig verdient? Wenn man es theologisch will: Seit Gott Mensch geworden ist, ist jeder Mensch als Mensch als heilig. Welchen Sinn haben dann noch Religionen und Kirchen, die abgegrenzte Bezirke des Heiligen noch pflegen?

Das könnte ein spannender Disput werden, auch zu einem politischen Thema: Offenbar wird leider für immer mehr Menschen “die Nation”  wieder heilig: “America first”. “La France d` abord”. Oder auch leider wieder wie seit 1933: “Deutsche und Deutschland zuerst”. Diese Slogans bringen das vernünftige Denken so vieler zum Erliegen und … gerissene Populisten an die Macht.

Von jedem Teilnehmer, jeder TeilnehmerIn, erbitte ich wieder 5 € für die Raummiete. Ich selbst mache Philosophisches bekanntermaßen gratis, aber hoffentlich für Sie, für mich, nicht “umsonst”.

Der ORT: Die Kunstgalerie FANTOM, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf.

Luther würde sagen: Es ist genug! Hört auf, mich zu bejubeln. Eine Art Zwischenruf

Von Christian Modehn. Vorschläge für eine neue Reformation anno 2016.

Das aktualisierte Motto: “Welches Buch haben Sie nicht zu Ende gelesen?” fragt “Der Tagesspiegel” am 11.12.2016 Margot Käßmann, die “Botschafterin für das Lutherjubiläum 2017”. Die Luther – bzw. Reformations-Botschafterin antwortet: “Nicht zu Ende gelesen habe ich die gefühlt 17. Lutherbiografie”. Also, so sagt man sich auch:”Es ist genug, es reicht”…

Natürlich kann ich nicht mit 20 Fußnoten belegen, dass Luther in irgendeinem Brief oder bei einem Tischgespräch seinen Freunden zurief: „Hört auf, mich zu bejubeln“. Aber es ist – von außen betrachtet – mehr als wahrscheinlich, dass er bei all den aktuellen Jubelfeiern, Gedenkfeiern genannt, doch jetzt sagen würde: „Ich bin zwar in mancher (!) Hinsicht noch inspirierend und manchmal noch wichtig. Aber heute, angesichts dieser Welt im Jahr 2016, gibt es wirklich Dringenderes als mich und die Wittenberger Reformation“. Gerade für religiöse Menschen, die sich Christen nennen und Protestanten speziell. Also: „Wendet euch dem Dringenden zu“, würde Luther sagen. Fraglos inspirierend bleibt sein Mut, der allmächtigen Herrschaft der römischen Kirche entgegenzutreten und eine andere Gestalt von Kirche tatsächlich dann zu fördern. Fraglos wichtig bleibt seine Lehre vom „allgemeinen Priestertum“ aller Christen ebenso die Ermunterung, dass ein jeder selbst die Bibel lese und … historisch-kritisch studiere, möchte man anfügen. Abzulehnen bleibt Luthers gewalttätige Abwehr eines sozialkritischen Glaubens an der Seite der Armen, vertreten durch Thomas Müntzer, den er hasste. Abzulehnen bleibt Luthers viel besprochener und leider so wirksam gewordener Antisemitismus. Abzulehnen bleibt seine bis heute spürbare Bevorzugung der staatlichen Autoritäten… Alle diese guten und diese unerfreulichen Aspekte Luthers sind allmählich, bis hin zu den theologisch eher wohl ein bißchen uninteressierten BILD-Zeitungslesern, bekannt. Sollen alle diese historischen Luther-Themen nun monatelang weiter, auch durch den Kirchentag 2017, erneut in aller Popularisierung durchgekaut werden? Gott bewahre uns davor! Schon vor der Luther-Bücherflut im Herbst 2015 konnte ER uns nicht retten, klicken Sie hier. Mit Luther lässt sich eben doch auch Geld machen, und seien es die Buch- und Vortragshonorare.Und die Kirche kann mit staatlichen Fördermillionen feinste Luther-Gedenkstätten, also Museen, schaffen.

Es geht angesichts einer Welt zunehmender Gewalt, Krieg, Zerstörung, Wahn der Dikatoren usw.  heute darum, die religiösen Traditionen und theologischen Debatten auf den zweiten Platz zu setzen. Also die Luther-Lehren, die katholischen und evangelischen Dogmen und religiösen Weisheiten und alle die hübschen Erinnerungen an das 16. Jahrhundert, all das sollte bitte nicht länger im primären Interesse von Information, Bildung, Veranstaltung kirchlicherseits stehen. Dringend ist es in der heutigen Lage der Menschheit nicht, alle Details über Luther zu wissen. Natürlich muss es historisch-kritische Luther-Forschung geben. Aber was nützt all diese Kenntnis, um wenigstens schrittweise eine gerechtere Welt zu schaffen? Um die Menschen zu mobilisieren, für den Frieden und die universale Gerechtigkeit wirksam einzutreten? Ob dabei die ewigen und so oft durchgekauten Debatten über reformatorische Lehren, Zwei-Reiche-Lehren usw. weiterhelfen, darf sehr bezweifelt werden. Es geht nicht nur um die für religiöse Menschen zugängliche Wahrheiten. Es geht um die Verbreitung von elementaren ethischen Einsichten, die sich der Vernunft, jeder Vernunft, erschließen. Es ist eben ein grober Denk-Fehler, wenn etwa Antje Jackelén, die lutherische Bischöfin von Uppsala, Schweden, sagt: “Wir müssen den Flüchtlingen helfen, weil wir Christen sind” (FAZ 31.10.2016, Seite 4). Nein, es muss heißen: “Wir müssen als Menschen den Flüchtlingen helfen, wir müssen helfen, weil wir Christen wie alle anderen eben auch und zuerst Menschen sind”. Der christliche Glaube (Beispiel: Barmherziger Samariter usw.) kann lediglich verstärkend und unterstützend die allgemeine, für alle gültige Ethik unterstützen! Es gibt in dem Sinne eben keine “christliche Ethik”!

Wichtig ist, so kann man in einem philosophischen Denken meinen, also die Bildung und Verbreitung der Ethik, einer politischen Ethik. Sie stellt die sich stets weiter entwickelnden Menschenrechte in den Mittelpunkt des Interesses und der zentralen Verpflichtung unseres Menschseins. Selbst wenn diese Menschenrechte in Europa dank der Philosophie und des Humanismus (fast gar nicht dank der Kirchen !) entstanden sind, so sind sie doch für alle Menschen gültig, selbst wenn die USA, offenbar noch eine Demokratie, in ihrer Politik permanent die von ihnen hoch geschätzten Menschenrechte so oft ignoriert haben und ignorieren…

Also: Auch für eine der Menschheit dienende Kirche (“Kirche für andere”, Bonhoeffer) gilt heute: Die Menschenrechte zuerst, die ethische Bildung zuerst, die politischen Debatten in diesem Sinne zuerst auch in den Kirchen. Und das hat zur Konsequenz: Es muss der nationale Egoismus überwunden werden. Es gilt, tatsächlich das große Projekt zu bearbeiten: Aufbau einer gerechten Gesellschaft; Schluss damit, dass sich die reichen Christen angewöhnen,die Millionen Hungernder einfach so zu akzeptieren; Beendigung des Waffenhandels durch sich christliche nennende Staaten. Erst wenn sich die Kirchen primär an diesem Thema abgearbeitet haben, kann man das weite Feld des Religiösen studieren… und ein bißchen, in vernünftigen Rahmen, auch Luther feiern. Welche Art von Verstopfung Luther hatte, wie er sprach, wie er liebte, wie zornig er sein konnte und so weiter: Das ist alles Folklore, unnützes Wissen. Populär gemachtes Bla Bla aus Gründen der Anbiederung.

Nützliches Wissen ist für die Christen, eben weil sie Menschen sind: Was ist der Kategorische Imperativ im Sinne Kants, das universale moralische Gesetz; was ist die „Goldene Regel“, was ist Empathie. Eine Kirche, die sich der jesuanischen Reich-Gottes-Idee verpflichtet weiß, also der gerechten Gesellschaft, kann tatsächlich und muss es auch im Sinne Jesu, Ethik wichtiger nehmen als interne religiöse Dogmen und Weisheiten. Die kann man ja pflegen, aber bitte erst, wenn alle Gottesdienste im Luther-Gedenkjahr sich um die Ausbildung einer humanen Ethik drehen. Dann wird man erkennen: Eigentlich ist der christliche Glaube etwas – von der Lehre her gesehen – Einfaches: Er ist die Lebenshaltung der Liebe, der Hoffnung, des Glaubens an eine Dimension des Göttlichen, das in allen menschlichen Leben wachgerufen werden kann. Der christliche Glaube hat jedenfalls in dieser alles entscheidenden elementaren Form nichts zu tun mit den 814 Seiten eines katholischen Katechismus, der ziemlich alle Details des Innenleben Gottes zu kennen meint; ein evangelischer Katechismus ist nur etwas kleiner.

Sagen wir es kurz und bündig: Glauben ist zuallererst ethische Praxis; Glauben ist Leben nach den Menschenrechten. Man lese bitte wieder Kant, etwa das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. In der „moralischen Anlage“ des Menschen, jedes Menschen, sah Kant „eine Heiligkeit“. Er sprach davon, dass diese moralische Anlage im Menschen (also der kategorische Imperativ) eine „göttliche Abkunft habe“. So viel Göttliches IM Menschen reicht, um menschlich zu leben mit anderen. Meister Eckart sah das nicht viel anders!

Kant ist also weder Atheist noch „veraltet“. In seinem Sinne gilt: Es würde den Kirchengemeinden gut anstehen, die ethische Bildung, auch gesprächsweise mit den Muslims, in den Mittelpunkt zu stellen, im Verbund mit Menschenrechts-Organisationen.

Welche ethisch-moralischen Katastrophen auch aus dummer Frömmigkeit entstehen, sieht man gegenwärtig in den USA und dem dortigen Wahl-Gemetzel. Die unflätigen Hass-Attacken eines Herrn Trump finden jubelnd Zustimmung bei einer Bevölkerung, die ganz überwiegend nicht nur christlich, oft evangelikal ist, sondern auch zu eifrigsten Kirchengängern zählt. Wie passt das alles zusammen? Diese Frommen haben kein Nachdenken gelernt, kein Reflektieren, sie haben kein Bewußtsein von universaler Ethik. Sie denken mit dem Bauch. Die sich zum Hass aufstachelnden Trump-Freunde haben von ihren (evangelikalen oder pfingstlerischen) Predigern offenbar so viel spirituellen Blödsinn gehört, dass sie jetzt auf diesem Niveau gelandet sind. Damit ist nicht gesagt, dass Hillary Clinton in ihrer Lust, “die amerikanische Macht weltweit unbedingt zu stärken” politisch klug ist und dem Welt-Frieden dient. PS: Zum Wahlverhalten der “weißen Evangelikalen” in den USA am 8. Nov. 2016: Siehe den Beleg für unsere These zur Trump Nähe und evangelikaler Frömmigkeit unten, am Ende des Beitrags.

Es ist schon verstörend, dass die Luther-Jubelfeiern vor allem in einem Bundesland Sachsen-Anhalt stattfinden, in dem die AFD leider so unglaublich hohe Zustimmung findet. 17 Prozent der Protestanten haben AFD gewählt. Bei den Katholiken waren es genauso viele. Luther-Jubel, Luther Restauration (alle diese renovierten Luther-Häuser als Museen)  in einem von der AFD geprägten Land, das ist bis jetzt noch kein Thema. Allgemein übersetzt: Luther und der (neue) Nationalismus sollte bearbeitet werden.

Die Verirrungen in der Mentalität in den USA zeigen einmal mehr, wie wichtig es jetzt ist, wenn Luther sagt: „Hört auf mit allen theologischen Spitzfindigkeiten. Kümmert euch nicht so sehr um mich, den spätmittelalterlichen Mönch; kümmert euch um die Entwicklung einer Menschenrechts orientierten universalen Ethik, werdet reife, werdet nachdenkliche Menschen, kritische Bürger“. Und der fromme Mann würde wohl hinzufügen: „Allein dies gefällt Gott!”

PS: Dass hier vom römischen Katholizismus so wenig gesprochen wird, liegt lediglich an dem Fokus dieses Beitrags. Die Forderung: “Universale Ethik ist wichtiger als römischer Glaube” gilt selbstverständlich auch für den Katholizismus. Hier wäre noch von dem viel massiveren Klerikalismus zu sprechen, jener unverzeihlichen Sünde Roms, die schon Jan Hus, aber auch Luther richtigerweise, aber erfolglos, attackierten. Bis heute. Man lese etwa die entsprechende Kritik von Papst Franziskus an der ihn umgebenden Kurie, als dem “Hof” der Kardinäle und Prälaten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Weiße Evangelikale absolut für Trump: 1.Despite reservations expressed by many evangelical and Republican leaders, white born-again/evangelical Christians cast their ballots for the controversial real estate mogul-turned-politician at an 81 percent to 16 percent margin over Hillary Clinton”. Quelle: http://www.christianitytoday.com/gleanings/2016/november/trump-elected-president-thanks-to-4-in-5-white-evangelicals.html gelesen 9.11. 2016,  19.00 Uhr.

2. : White evangelical voters have been reliable Republican voters for decades, but this year some are having trouble reconciling their Christian values with Donald Trump’s unholy language. Quelle: http://abcnews.go.com/Politics/evangelical-values-voters-struggle-choosing-trump-president/story?id=43303321    gelesen am 9.11. 2016 19.00 Uhr.

 

 

„Der Mensch ist böse und Gott hat ihn geschaffen“. Thesen im Rückblick auf den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 26.10.2016

Von Christian Modehn

Notiert am 9. November 2016: Entscheidend bleibt die Erkenntnis von Hannah Arendt: Böses entsteht, wenn Menschen nicht mehr die Kraft und den Willen haben, selbstkitisch nachzudenken, wenn sie weithin gedankenlos handeln. Und unverzichtbar bleibt, selbst wenn es manchmal zu “spät” ist, die fundamentale Erkenntnis Kants, die auch im Politischen gilt: Wenn sich die Maximen des einzelnen und ganzer  großer Gesellschaftsgruppen vom dummen Egoismus bzw., was prinzipiell dasselbe ist, sich vom ebenso dummen Nationalismus bestimmen lassen  und nicht mehr in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ handeln, entsteht Böses.

Über „das Böse“ nachzudenken: Da bleiben mehr Fragen als Antworten. Aber Fragen führen weiter. Antworten, etwa religiöser Traditionen, fixieren auf eine bestimmte Weise zu denken. Entscheidend ist die Frage:

„Gibt es“ „das Böse“ überhaupt ? Das Böse verstanden als dingliche Gegebenheit, als Macht und Kraft, vielleicht sogar irgendwie als „Subjekt“, wie ein Teufel und böser Dämon?

Sicher „gibt es“ für kritische Erkenntnis nicht dieses greifbare und verfügbare und umfassend erkennbare Böse verdinglichter Art. Den Menschen fällt es leicht, diese Verdinglichung, „das Böse“, vorzunehmen und es dann zu beschwören in Riten usw., die den klaren Verstand gerade aber ausschalten. Insofern wird dann oft noch mehr Böses befördert. Man spricht, um der schnellen Verständigung willen, auch in philosophischen Büchern, von „dem Bösen“. Denkt aber dabei nicht an eine dinghafte oder „personale“ Gegebenheit. „Das Böse“ ist also lediglich eine begriffliche Hilfskonstruktion. „Den Teufel“ sollte man vernünftigerweise längst aus dem Denken und der furchtbaren religiösen Praxis vertrieben haben (Teufelaustreibungen gibt es bis heute im Katholizismus und eine Schande fürs Christentum: Die Verteufelungen etwa von Frauen, Hexen usw.).

Das Böse ist also nur ein Begriff, der wie eine abstrakte Idee dann verwendet wird, wenn Menschen so handeln, dass sie in ihrem Gewissen, dem „moralischen Gesetz“ (Kant), wissen: Diese meine Handlung war nicht gut, sie beschädigt mich und andere. Diese meine Handlung ist also böse.

Das Wort böse hat eigentlich nur Sinn, wenn man es auf Handlungen aus Freiheit bezieht. Darin zeigen sich dann unterschiedliche Aspekte des Tuns des Bösen.

In einer philosophischen Reflexion über das Böse, die auch das Religiöse einbeziehen will, muss an die Schöpfung der Welt und den Sündenfall erinnert werden. Im ersten Kapitel der hebräischen Bibel, Altes Testament genannt, ist davon die Rede. Die beiden dort erzählten Mythen sind sicher die am meisten besprochenen und am meisten künstlerisch gestalteten: Nur ein Beispiel: Lucas Cranach der Ältere und der Jüngere haben schätzungsweise 50 mal dieses hübsche Thema des fast nackten Paares in kürzester Zeit gemalt. Wer hat diese Gemälde bestellt, und warum gewollt gerade in der Reformationszeit?

Dieser Mythos enthält viele bedenkenswerte Elemente, die bis heute in den Köpfen sich festgesetzt haben: Das Paradies, die verführerische Schlange, sozusagen ein erstes Bild des Teufels, der Glaube an Teufel und Hexen hat letztlich in der verführerischen Schlange ein gewisses Urbild. Durch den Ungehorsam Evas und Adams haben die beiden Menschen Erkenntnis gewonnen, sie erkannten einander als sexuelle Wesen. Aber Gott hat den Ungehorsam bestraft. Ohne Ungehorsam keine Erkenntnis, könnte man denken. Im Alten Testament ist als göttliche Strafe nur die Rede von der Notwendigkeit zu arbeiten für den Mann; und für die Frau, dass sie Kinder nur unter Schmerzen zur Welt bringen kann. Dass sie aus Adams Rippe stammt, also dem Mann unterlegen und von ihm abhängig ist und untertan, das haben die alten Theologen nicht als Übel betrachtet. Das war offenbar normal. Paulus ist in seinem Römerbrief der Überzeugung, dass „der Tod durch die Sünde des einen Menschen, Adam, in die Welt gekommen ist“ (Kap. 5, 12). Die Sterblichkeit der Menschen ist also eine Strafe für die Sünde im Paradies, die dann später als Erbsünde (schon durch Paulus) gedeutet wird.

Philosophen haben sich von der unmittelbaren Lektüre des Mythos gelöst und auf einige Unstimmigkeiten in den Erzählungen aufmerksam gemacht.

Ich nenne hier nur den Philosophen Pierre Bayle, einen Protestanten aus Frankreich, der sich unter Ludwig XIV. nach Holland, nach Rotterdam, retten konnte und dort u.a. ein umfassendes und viel gelesenes Dictionnaire, eine Art Lexikon, verfasste. Darin geht es um die zentrale Frage, damals, um 1690, genauso aktuell wie heute:

Wenn man annimmt, Gott habe die Welt und die Menschen geschaffen: Dann stellt sich die Frage: Wie ist es dann möglich, dass Gott, wenn er denn Gott ist, also allmächtig und gütig, es zulassen kann, dass in seiner Schöpfung die Menschen, als seine Geschöpfe, moralisch Böses tun? In dieser Reflexion wird Gott sozusagen zum verfügbaren Gegenstand für die Reflexion. Die Sache wird komplizierter: Wer aber hat denn die Freiheit geschaffen? Ist es nicht Gott gewesen, der den Menschen als Menschen, also als freies Wesen mit Vernunft, geschaffen hat? Ist also Gott nicht nur unweise und unallmächtig, also ohnmächtig, zu nennen, sondern auch unfähig, weil er den Menschen mit der Freiheit ausgestattet hat, eben auch Böses zu tun. Ist die Freiheit selbst also etwas Böses, heißt die Frage, die dann viele umtreibt. Die Spekulation reicht noch weiter: Oder versteckt sich hinter dem offenbar böse agierenden Gott noch der eigentliche Gott, der diesen bösen Gott als Gegner sich gegenüber sieht. Aber durch diese Verdoppelung Gottes wird das Problem nur verschoben.

Die Erbsündenlehre interpretiert den genannten biblischen Mythos. Die Erbsündenlehre wurde im 4. Jahrhundert als eine bis heute allmächtige Kirchenlehre erfunden, um irgendwie theoretisch zu klären, warum denn alle Menschen irgendwie immer Böses tun. Diese universale Dimension, dass der Mensch, jeder Mensch, immer und überall, ein irgendwie auch böses Wesen hat, sollte mit dem Begriff der Erbsünde erklärt werden. Da gab es nur die Schwierigkeit, dass Sünde immer eine vom einzelnen begangene in freier Entscheidung getätigte Untat ist. Sünde des einzelnen ist also etwas Erlebbares. Die Erbsünde hingegen ist als solche nicht erlebbar. Sie ist ein gedankliches Konstrukt, pure Theorie, manche sagen Ideologie. Warum wurde von Augustinus dieses Konstrukt erfunden? Er wollte die totale Übermacht des gnadenhaften göttlichen Handelns angesichts des Bösen und der sündigen Menschen unterstreichen. Nur Gott rettet ist seine Devise.

Wegen der Erbsünde müssen schon Babys getauft werden, wenn sie als Babys sterben, kommen sie in die Hölle, darum ist die Kirche und der taufende Klerus so wichtig usw. Die Erbsünde wird übertragen im Moment der Zeugung. Sex überträgt das Böse, deswegen ist, so heißt es dann weiter, Sex sowieso irgendwie doch nicht so gut, wenn nicht böse. Wenn Kinder geboren werden und nicht getauft werden, dann kommen sie in die Hölle. Denn vor der Hölle kann einzig die Gnade Gottes bewahren.

Die Lehre von der Erbsünde hat das Bewusstsein der Christen verdorben. Es hat jede Lebensfreude genommen, jede Zuversicht, im freien Tun etwas Gutes zu schaffen. Eine düstere Wolke der Verzweiflung und Angst („Hat mich denn nun der willkürlich erlösende Gott tatsächlich erlöst? ) hat sich über das sich christlich nennende Europa gelegt. Die Überwindung der Erbsündenlehre des Augustinus ist eine der dringenden Aufgaben der heutigen Theologie, die aber noch nicht angepackt wird

Immanuel Kant versucht, die Debatte über das Böses Tun weitgehend von der Bezogenheit auf Gott zu befreien, er ist ein Gegner der orthodoxen Erbsündenlehre. Wenn Kant über „das Böse“ nachdenkt, dann nur Zusammenhag der gelebten menschlichen (Willens)-Freiheit. Ich kann mir Maximen, individuelle für mich geltende Lebensentwürfe, schaffen: Und dabei das moralische Gesetz, den Gewissensspruch, ignorieren. Wenn Maximen nicht mehr dem kategorischen Imperativ entsprechen, sind sie böse. Im Spruch des Gewissens äußert sich das moralische Gesetz, wer ihm folgt, folgt dem moralisch guten Leben. Aus der dauerhaften Praxis moralisch böser Taten entwickelt sich der „Hang“ zum Bösen, von dem Kant in einer gewissen Unentschiedenheit spricht: Ist er „angeboren“ oder/und erworben? Es gibt für Kant jedenfalls so wörtlich einen „faulen Fleck“ in unserer Gattung, den herauszubringen, also lozuwerden, notwendig ist, um den „Keim des Guten“ in uns zu entfalten (S. 48 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003).

Für Kant aber ist die Anlage zum Guten herrschender und stärker als der “Hang“ zum Bösen: Denn selbst wer als Egoist Böses tut, meint noch in dieser Tat zumindest für sich selbst etwas Gutes getan zu haben. Das heißt: Der Bezogenheit auf Gutes kann kein menschlicher Geist entkommen. Man könnte diese Bezogenheit auf Gutes „transzendental notwendig“ nennen.

Für Kant ist Religion und die Stimme eines göttlichen Wesen im Gewissen zu vernehmen. Das Gewissen ist der ort, wo das moralische Gesetz und letztlich auch Gott spricht. Kant sieht: Es gibt Vorwürfe des Gewissens gegen unser Tun. Diese Stimme des Gewissens ist nur dann von Wirkung, wenn man sie als Repräsentanten Gottes denkt: „Gott hat einen erhabenen Stuhl über uns und in uns einen Richterstuhl“, so in der „Schrift über Pädagogik“, 1803. Zit nach „Kant Reader“, Würzburg 2005, S. 335. Dieser Gott im Gewissen vernehmbar ist für Kant die Grundlage aller vernünftigen Religion. Alle anderen Formen (dogmatischer Fremdbestimmung) lehnt er als unvernünftig und für den Menschen eher schädlich ab. Über dieses Gottes-„Bild“ von Kant wäre heute aus aktuellen Gründen einer veräußerlichten, gewalttätigen Religion vermehrt zu sprechen! Kant spricht auch vom Hang zum Bösen, wenn er an die Geschichte der Kirchen erinnert, an ihre Machtbesessenheit, an das blinde Wüten der verfeindeten Konfessionen. Kurz: Die Religionen folgen selbst nicht dem Kategorischen Imperativ. (Dazu S. 177 ff. in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“)

Ein Hinweis auch zu Hannah Arendt, sie ist stark bezogen auf Kant, mit ihm oft verbunden, auch in ihrem Buch „Über das Böse“, bei Piper erschienen.

Von Hannah Arendt stammt das Stichwort von der „Banalität des Bösen“. Damit meinte sie nicht, dass das Böse banal sei. Sie meinte, Böses tun kann bei Menschen den Charakter des Banalen haben. Etwa: Wenn denn diese Menschen blind und stumm den Weisungen anderer folgen. Der autoritäre Charakter spielt da rein. Nur das eigene Nachdenken, das Reflektieren auf das, was man tut, kann vom Böses Tun befreien. Notwendig ist: Man denkt noch mal über das eigene Denken nach. „Denken ist Reden mit sich selbst“.

Und auch zum Willen zeigt sich diese Doppelung: Ich bin zum Handeln bewegt und muss mich aber entscheiden, wenn ich etwas tue und handle. Ich muss also IM Handeln urteilen können. Im Handeln und dem Willen zu handeln zeigt sich immer ein Urteilen. Es gibt einen Schiedsrichter, sagt Arendt, der in meinem Handeln entscheidet.

DUMM ist der, der nicht urteilen kann. Der Mangel an Urteilskraft ist das Schlimmste. „Mangel an Urteilskraft ist das, was man Dummheit nennt“, sagt Kant. Das angewendet auf die Mitläufer in der Nazis. Auf die Mitläufer heute.

Im Urteilen innerhalb einer praktischen Entscheidungssituation, in der mein Wille aufgerufen ist, wird auch die Einbildungskraft lebendig. Ich stelle mir vor, was ist mit den anderen, die ich kenne oder die ich vor Augen habe, wenn ich diese Tat vollziehe.

Die Freiheit ist gut. Aber der Mensch ist niemals auf etwas „nur Gutes“ oder „nur Böses“ festzulegen. Es bleibt die Ambivalenz in jedem Menschen selbst. Jeder ist gut und böse. Wer sich nur für rundum gut hält, ist dumm und neigt deswegen zum Bösen, weil das Böse gar nicht mehr wahrnimmt und vor allem die Dimensionen der Freiheit ignoriert. Die Macht der eigenen egoistischen Maximen. „Der Tugendhafte“ wurde Robespierre genannt. Dies ist auch das ganze Problem der Heiligen und der Heiligenverehrung, die oft als rundum gute Menschen dargestellt werden. Und bei denen auch Makel und Böses offiziell oft verschwiegen und verdrängt werden.

Was bleibt angesichts „des Bösen“? Die bösen Taten müssen so weit es geht, überwunden werden. Das ist eine Aufgabe der Pädagogik und des politischen Handelns in der Demokratie. Es gibt aber auch böse Strukturen, Verfestigungen der individuell bösen Taten, die den einzelnen von vornherein belasten und prägen und vielleicht gar keine Ahnung schaffen, was Freiheit ist und was Gutes Tun überhaupt sein könnte. Diese üblen Strukturen der Unfreiheit und im ganzen Strukturen der Unmenschlichkeit müssen abgebaut werden. Das muss als Ziel immer wieder formuliert werden.

Die Freiheit der egoistischen Maxime führt zu falschen, moralisch verwerflichen Entscheidungen auch bei Politikern. Das Böse, das unsere westliche kapitalistische und immer noch imperialistische Politik(er) und Ökonomen erzeugen, wird von uns Bürgern meistens verdrängt und beschönigend-naiv„weg-interpretiert“. Gegen dieses Böse muss man handelnd eingreifen. Der Gedanke, dass wir doch alle Erbsünder sind, also irgendwie hilflose arme Typen, beschwichtigt da nur. Und ist ohnehin falsch. „Das Böse“ ist auch eine Form des Verdrängens und falschen Entschuldigens.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin