Was ist uns noch heilig? Hinweise von Christian Modehn im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 14. 12. 2016.

Ein Vorwort zu einem etwas längeren “Hinweis”, der für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 16.12. 2016 vorbereitet wurde.

Wir treffen uns hier in einer Zeit, in der so wenig, fast nichts möchte man meinen, als heilig, d.h. als erhaben und unantastbar gilt und als das „Unantastbare“ und „Erhabene“ auch respektiert wird. Das „Contra-Heilige“ als das Unmenschliche und Unheil zeigt seine widerwärtige Fratze. Es bedroht uns im Alltag. Aber es ist keine anonyme Urgewalt eines anonymen Bösen. Es sind vielmehr Menschen, die sich in ihrer Freiheit für das Böse entscheiden, also gegen die Heiligkeit ihrer eigenen Person und der Heiligkeit und Unantastbarkeit aller anderen Menschen. Wenn Unheil religiös motiviert wird, muss diese so genannte Religion als Ideologie zurückgewiesen werden. Nur Religionskritik rettet das Heilige heute. Aber wenn sich das Unheilige und das Unheil offenbar immer mehr bemerkbar machen: So wollen es eben die Machthaber, die Börsenjongleure, die Waffenhändler, die Menschenhändler, die Nationalisten allerorten, die einzige ihren privaten (materiellen oder ideologisch verblendeten) Vorteil suchen. Denen sind wir offenbar hilflos ausgesetzt und deren Wahn und Inkompetenz ertragen wir leidend: Aber dagegen müssen wir uns mit schwachen Kräften wehren, und diese Widerstandskräfte finden wir in der Vernunft, der Religionskritik, der Ideologiekritik, der Fürsorge, der Vorsicht, der Achtsamkeit und Empathie und im politischen Widerstand. Die Gewalt der Waffen muss die “letzte Möglichkeit”, dann aber rechtzeitig eingesetzt werden. Heiliges wird heute im Widerstand gewonnen und geschützt.

Mit dem offensichtlichen Verlust des Heiligen als des unbedingt zu Schützenden-Menschlichen ist also nicht etwa der mögliche Verlust des verzückten Erschauerns beim Betreten einer gotischen Kathedrale gemeint. Vielmehr, noch einmal gesagt, ist gemeint: Es ist der Verlust des Respekts vor dem absolut unantastbaren Leben eines jeden Menschen. Diesen totalen Verlust sehen wir entsetzt und verzweifelt im Blick auf das Abschlachten in Syrien, etwa in Aleppo. Dieser Name Aleppo wird in gewisser Weise ein so ungeheuerliches, die Menschheit entehrendes Symbol bleiben wie der Name Auschwitz. In mehreren Hinsichten haben Aleppo und Auschwitz etwas gemeinsam: Es handelt sich um die totale Niederlage der humanen Vernunft, um die Niederlage einer Politik auch von Staaten, die sich demokratisch nennen. Aleppo als Symbol der Niederlage der Menschlichkeit und der Menschheit zeigt: Die so oft propagierte Erinnerung an Auschwitz hat nichts bewirkt, zumindest nichts bei den Politikern. Dabei ist Aleppo uns geographisch gesehen so nahe, es liegt fast in unserer Nachbarschaft: 2.594 Kilometer Luftlinie sind es von Berlin nach Aleppo, das sind 1000 Kilometer WENIGER als von Berlin ins beliebte „Ferienparadies“ Gran Canaria.

Unser heutiges Thema in unserem religionsphilosophischen Salon „Was ist uns noch heilig“ hat also eine starke, auch politische Aktualität. Und wenn wir etwas Heiliges für uns noch entdecken, wird dies etwas Sinnstiftes, etwas „Trotz allem“, sein, etwas, das uns einen bleibenden Horizont des Guten erschließt, vielleicht etwas Ewiges, grundlos Gründendes, das „da“ ist, auch wenn es so wenige Menschen respektieren. Dazu mehr unter Nr. 8.

  1. Profanes und Heiliges. Wenn Menschen “Heiliges” machen.

Es gibt unterschiedliche Erfahrungen, die uns „nach“ dem Erleben besonderer Art zur sprachlich gestalteten Überzeugung führen: „Da ist mir etwas Heiliges begegnet. Ich habe Heiliges erlebt“. In unserer Welt-Erfahrung müssen wir das Heilige nicht von vornherein zu hoch ansetzen, nicht in den fernen Himmel schieben. Sondern das Heilige hier bei uns auf einfache, ich möchte sagen, fast alltägliche Art „erden“. Diese alltägliche Erfahrung des Heiligen kann die Erfahrung von grundlegender Geborgenheit sein und angstfreier Ruhe und von Trost; aber auch von Erschütterung; von dem Gefühl, etwas Außergewöhnlichem, Glanzvollem oder auch Schauderhaftem begegnet zu sein. Und das ist schon ein intensives Erleben, auf das später noch im Zusammenhang mit Rudolf Otto hingewiesen wird.

Immer ist es wohl so, dass wir das Erlebnis des Heiligen dann doch in Abgrenzung vom Alltäglichen und Gewöhnlichen verstehen, als das Andere zum üblichen und monotonen Lauf des Lebens, das sich zwischen Aufstehen und Waschen und Essen und Arbeiten und Schlafen abspielt, wenn wir an unsere feine bürgerliche Existenz denken und nicht dem Alltagsrhythmen der Ausgehungerten ausgesetzt sind, etwa in den Slums afrikanischer Großstädte. Diese Menschen erleben den Alltag oft nur als Schreckliche, das möglicherweise in den Hungertod führt.

Die Reflexion auf das Heilige muss also stets politisch-kritisch bleiben, muss wissen: Wenn wir hier im reichen Europa über das Heilige nachdenken, ist diese Reflexion in gewisser Weise auch Teil des Luxus, an dem wir hier – mit welchem Recht eigentlich gegenüber den Verhungernden? – teilhaben…

Das Heilige ist also für uns auch als das Andere zu verstehen gegenüber dem Banalen und Primitiven, dem Hässlichen und Gewalttätigen, dem Ordinären, dem herrschsüchtigen Denken, das nur an eigenen materiellen Vorteilen Interesse hat. Diese Welt kann man das Profane nennen.

Aber das ist nur die eine Seite: Profan kommt ja aus dem Lateinischen, das Wort enthält zwei Begriffe: Pro und Fanum, also: örtlich verstanden, „vor“ dem Heiligtum gelegen. Also, in diesem Denken, noch außerhalb einer abgesonderten sakralen und besonderen Welt gelegen. Profan bedeutet darum auch alles, was mit Wissenschaft zu tun hat, also mit Logik, Technik und Denken und Rechtsprechung, Essen, Reisen usw. Und dieses genannte Profane, Weltliche, Laizistische, ist schützenswert! In diesen Bereichen sollen Gesetze gelten, die für alle Menschen gelten und für alle nachvollziehbar sind. Profanes ist also keineswegs Banales.

Aber wie zeigt sich denn in unserem alltäglichen Umgang in der profanen Welt, im Umgang mit den Menschen und den Dingen, dieses Andere, das wir das ganz Andere, das Heilige bezeichnen?

Ich meine, Zugänge zum Heiligen sollten wir in unserem tätigen Leben in der Welt suchen, immer dann, wenn wir etwas Bestimmten höchste Aufmerksamkeit und höchstes Interesse zuwenden, wo wir sagen, dieses Ding oder jener Mensch hat für uns höchste Bedeutung: „Dem opfern wir fast alles. Dem wollen wir uns hingeben, verbunden sein. Für das wollen wir uns aufopfern. Das wollen wir unbedingt schützen…“

Diese „Hochschätzungen“ sind natürlich ihrerseits gefährlich, weil sie zu Vergötterungen von Dingen und Menschen führen. Man denke an das heilige Auto, das heilige Fußball“spiel“, die heiligen Ikonen, also diese Stars und Sportler und beinahe vergötterten Politiker. Das sah man beim Hitler-Wahn, das sieht man wieder, wenn man Vergötterungen von Wählern des Herrn Trump bei öffentlichen Massenveranstaltungen sieht, da wird ein „Heilsbringer“ gefeiert.

Die Menschen überhaupt leisten sich ständig diese Vergötterungen des Dinghaften oder der Menschen, diese behindern die Freiheit, schränken ein, verhindern das fragende Suchen nach dem, was wirklich den Titel „heilig“ verdient. Trotzdem kommen wir ohne von uns selbst gesetzte zentrale Mittelpunkte in unserem Leben nicht aus. Aber diese Mittelpunkte als nicht-heilige Lebens-Zentren sollte es immer im Plural geben und sie sollten im Laufe des Lebens sich oft ändern, um unserer eigenen Freiheit willen. Selbst Gott, der uns immer nur als selbstverständlich wandelbares Gottesbild gegeben ist, wandelt sich hoffentlich für uns in unserem Leben … zu immer größerer (mystischer) Reife…

Heiliges ist also zunächst etwas, das von uns Menschen konstruiert , „gemacht“, wird. Und dieses von uns gemachte „Heilige“ muss kritisch befragt werden und mit dem authentisch Heiligen konfrontiert werden. Nur deswegen kann man und muss man philosophisch selbstverständlich Heiliges kritisieren und Scharlatane, oft vom Vatikan „Heiliggesprochene“, entlarven, wie den Volksheiligen und angeblich stigmatisierten Padre Pio in Süditalien oder Theresa Neumann von Konnersreuth, um nur mal zwei populäre Beispiele aus dem katholischen Raum zu nennen.

2.  Wenn Heiliges profaniert wird und Profanes heilig wird.

Wichtig ist, dass es Übergänge gibt vom Profanen zum Sakralen und vom Sakralen zum Profanen. Auf diese Übergänge hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem Aufsatz „Lob der Profanierung“ hingewiesen. Wichtig bei seinen Überlegungen scheint mir in unserem Zusammenhang zu sein: Agamben unterscheidet Profanierung von Säkularisierung: Wenn ein Herrscher, etwa König Ludwig XIV., sich göttliche Qualitäten zuspricht, was der Fall war, ist das eine Säkularisierung, also eine Verschiebung des Göttlichen von Gott auf einen menschlichen Herrscher. Die Aura des Göttlichen mit allem Pomp usw. wird dem Menschen übergeben. Die Aura des Göttlichen besteht also beim Menschen fort.

Hingegen: Wenn Heiliges profaniert wird, dann wird es in den allgemeinen menschlichen Gebrauch gesetzt: Man denke an eine Kirche, die ausgeräumt und in eine Buchhandlung oder eine Kneipe umgebaut wird. Da wird etwa eine tatsächlich heute als hässlich empfundene (evangelische) Beton-Kirche von 1955 nicht mehr für Gottesdienste benutzt, die Bänke und der Altar werden entnommen und es zieht eine Buchhandlung oder eine Kneipe ein. Manche Gemeindemitglieder sehen dann noch immer die alten Gemäuer, vielleicht ein buntes Fenster von einst mit dem heiligen Geist (eine Taube) in roten Farben, während sie gemütlich ihr Bierchen trinken. Manche werden dabei nostalgisch…Dies sind die heute so zahlreichen Profanierungen. Hingegen kann eine profanierte (zum Beispiel verfallene) Kirche auch wieder zurückverwandelt werden in ein so genanntes Gotteshaus. Agamben will darauf hinaus: Es gibt Wechselbeziehungen zwischen Sakral und Profan. Wenn das Sakrale profaniert wird, dann wird das im Sakralen Erlebte aus der Ecke des Besonderen, des Heiligen, befreit und dem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben, siehe Profanierung von Kirchen (Gotteshäusern) oder Formen des Spiels als Profanierung des Ritus. Die Frage ist: Wo und wann gibt es in unserem Leben diese Übergänge?

Nebenbei: Nur der Kapitalismus schafft etwas Heiliges und Unberührbares. Dies ist der Konsum und das ständige Wachstum der Wirtschaft /Geldvermehrung der Kapitalisten: Diese absolute und alternativlos genannte, also heilige Struktur des Kapitalismus darf laut Kapitalisten nicht profaniert, also aufgelöst werden: Ein profanierter heiliger Kapitalismus wäre das Ende des Kapitalismus…

Weitere Beispiele für den Übergang von Profan zu Heilig: Eine lang andauernde Wanderung durch die Natur und die umgebenden kleinen Dörfer kann von den Teilnehmern als Weg zum Wesentlichen, zur meditativen Haltung, also als Pilgerweg verstanden und gedeutet werden. Oder: Ein schlichter Kellerraum kann von Jugendlichen als Treffpunkt gewählt werden, in denen sie Poesie, Musik, vielleicht Gebete, vortragen und dann gemeinsam meditieren. Und so bekommt der profane Kelleraum eine oft kurzfristige heilige Bedeutung, der Ort wird schützenswert. Jesuanisch gesagt: “Wo zwei oder drei Menschen in „meinem Namen“ versammelt sind (also unter göttlicher Obhut stehen), bin ich mitten unter ihnen“…

3.  Wenn Katholiken “Heiliges”  und Heilige schaffen.

Es ist wichtig, auf konfessionelle Unterschiede hinzuweisen: Protestantische Kirchen gelten für Protestanten selbst nicht als heilig, diese Gebäude sind also leichter zu profanieren als katholische Kirchen, die als Gotteshäuser gelten, also als eigens geweihte, Gott übergebene, Gebäude. Die Weihe von katholischen Gebäuden und katholischen Personen, etwa Priesterweihe oder Jungfrauenweihe oder auch die Weihe von Altären für den Gottesdienst, ist in innerhalb der katholischen Kirchen selbstverständlicher Teil der Lehre. Sie schafft damit den abgegrenzten sakralen Raum, vor allem auch mit eigenen „sakralen“ Rechten, die gegenüber bürgerlichen Rechten den Vorzug haben (sollen, behaupten die Kleriker)! Man denke an die eigene Rechtsprechung für katholische Laienmitarbeiter, die innerhalb der Kirche nicht offen homosexuell-„verpartnert“ leben dürfen: Sonst werden sie von der Kirchenführung entlassen. Die staatliche Rechtsprechung in Deutschland respektiert –für mich unverständlicherweise – diese katholischen Sonderrechte.

Die katholische Kirche schafft also heilige Räume und heilige Orte und heilige Menschen, die abgesondert sind von der profanen Welt. Nach Umbau oder Zerstörung von Kirchen muss diese Kirche, wenn sie wieder für Gottesdienste genutzt werden soll, neu geweiht werden: Denn sie war profan, muss also explizit in die Sakralität zurückgeführt werden. Es ist interessant, dass aufzugebende katholische Kirchen niemals direkt in Moscheen umgewandelt werden dürfen. Das wirft ein Licht auf den viel beschworenen Dialog der Religionen. Da hat das katholische Rechtsbuch, der „Codex Iuris Canonici“ § 1222, Klarheit geschaffen: Der Bischof kann die Kirche einem profanen Gebrauch übergeben, aber so wörtlich, einem „nicht unwürdigen Gebrauch“. Das wird gleich zweimal in Absatz 2 dieses Paragraphen, gesagt.

Ein Beispiel: In Amsterdam, an der zentral gelegenen Rozengracht, gab es bis 1971 die katholische Kirche „de Zaaier“, der Sämann, von Jesuiten geleitet. Diese Kirche wurde 1927 errichtet, 1971 dann verkauft, aber nicht an eine muslimische Gemeinschaft, sondern an das Teppichzentrum „Nederlandse Tapijt Centrale“. Und erst durch diese offenbar „würdige“ (?) (kommerziell ertragreiche?) Zwischennutzung konnte die ehemalige Kirche dann weiterverkauft werden an die türkische muslimische Gemeinschaft, die nun über den Umweg sozusagen, die „Fatih Moschee“ dort zur Verfügung hat. Wer das Gebäude von außen betrachtet, wird angesichts der beiden Türme immer noch an die Kirche „Der Sämann“ erinnert… und Innen entdecken Kenner immer noch Elemente der katholischen Kirche.

Die katholische Kirchenführung kann durch ihr eigenes Gesetz Dinge und Menschen der profanen Welt entnehmen und in einen Sonderraum, einen heiligen Raum, überführen. Theologen werden zu Priestern geweiht. Darum ist auch der Austritt aus der heiligen Priesterschaft eine Profanierung. Der „Ex-Priester“ gilt als „Abgesprungener“, als Herausgefallener aus der heiligen Priesterwelt, mit ihren eigenen Gesetzen. Er muss sich nun selbst sehr profan um seinen Lebensunterhalt kümmern und lebt nicht mehr (rundum gesichert) von Spenden (Kirchensteuern) der Gläubigen.

In meiner Sicht ist also das Heilige keineswegs nur das Seltene und Außergewöhnliche oder das Wunderbare, das uns mit Blitz und Donner und Katastrophen förmlich aus der Balance wirft und uns den Boden entzieht und in himmlische Sphären versetzt. Dieses verstörende Monströse oder auch, je nach dem, strahlend Glänzende, kennen wir eher aus science-fiction-Filmen als aus der Realität. Oder stimmt das doch nicht so ganz?

4. Rudolf Otto: Das Numinose und das Heilige

Für das Heilige als einer objektiven „Sonderregion“ in unserer Welterfahrung tritt Rudolf Otto ein, der protestantische Religionswissenschaftler, in seinem ziemlich weltbekannten Buch „Das Heilige“ von 1917: Der Untertitel ist bezeichnend: “Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“.

Irrational meint bei Rudolf Otto eine Art Gefühl des großen Zusammenhangs. Dieses Gefühl hat nicht die Bedeutung, gegen die vernünftige Einsicht zu sein. Otto will das Rationale am Heiligen erweisen. Er möchte angesichts der profanen und banal erlebten Welt einen Sonderbereich in dieser Welt förmlich erweisen und dadurch als etwas ganz Eigenes retten: Nämlich das Heilige, das er für alle (!) Religionen geltend behauptet. Dabei sieht er durchaus Entwicklungen im Sinne des Fortschritts: Es gibt für ihn primitiv Erfahrenes Heiliges und „den Vollklang“, wie er sagt (S. 134), also die höchste Entwicklung, die er – wie zu erwarten – im Christentum sieht. Wichtig ist seine These; Religiöses und Heiliges sind für ihn etwas „Artbesonderes“, also ganz Einmaliges und Abgesondertes. Darüber wird zu diskutieren sein!

Weil aber das Heilige als Begriff vielfältige und populäre Inhalte hat, spricht Otto eher auch vom Numinosen, als einer besonderen Qualität in Objekten der Außenwelt, also außerhalb des Ichs, des Subjekts usw. erscheinend. Das Numinose ist für Rudolf Otto das schauervolle Geheimnis, das Wild-Dämonische, das zur Verzückung und Ekstase führt. Der Mensch erlebt sich angesichts dieser schauervollen Welt (die, so wörtlich, „Gänsehaut“ erzeugt) als klein, als kreatürlich, als unbedeutend usw. Wenn der Mensch dieses abgegrenzte Heilige erlebt: Dann erfasst ihn ein Schauer, ein Zittern, er erlebt Furcht und fühlt sich gleichzeitig angezogen von dem Ungeheuerlich-Wunderbaren. Otto spricht von dem Tremendum und dem Fascinosum. Es ist eine Art Gruseln, das sich beim Menschen zeigt…

Das Numinose hat noch keine Struktur, die zum Denken führt und es ist noch offen in Fragen der Ethik, also schwankend in der Weisung, was denn gut und böse ist für den Menschen. Während das über das Numinose hinaus gewachsene Heilige (vor allem im Christentum erlebt) selbst als der Spitzen-Begriff durchaus zur Reflexion einlädt und auch ethisch das Gute fördert. Otto nennt das Numinose das Gestaltlos Göttliche. Das Heilige hingegen ist so tief, dass es sich jeder verstandesmäßigen Erfassung entzieht. Das Heilige ist also sprachlich nur anzudeuten.

Das Heilige zu erleben ist für Otto eine Art Vorgegebenheit eines jeden menschlichen Lebens, er spricht vom „Apriori“, von einem von vornherein und immer schon Gegebenen im Geist des Menschen. Otto bezieht sich dabei vor allem auf Texte der Religionsgeschichte und dort besonders der Bibel. Er meint, auch der Gott der Bibel habe diesen erschütternden und faszinierenden Charakter.

Ein Hauptproblem sieht Rudolf Otto selbst: Er behauptet zu wissen, dass Menschen, die die Beschreibungen der Bibel von dem Heiligen nicht aus eigenem Erleben kennen, durch sein Buch auch nicht klüger werden, d.h. durch sein Buch auch nicht zum Heiligen hin geführt werden. Otto geht so weit, gleich am Anfang, auf Seite 8 seines Buch „Das Heilige“ zu schreiben: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen“. Das ist in meiner Sicht, gelinde gesagt, ein grober philosophischer Mangel, dass offenbar das Heilige als das Heilige selbst dem Heiligkeits-Entwöhnten Menschen nicht argumentativ gezeigt werden kann.

In jedem Fall hält Otto das Aufzeigen des Numinosen und dann des Heiligen für so wichtig, um überhaupt von Gott reden zu können: Denn Gott, der biblische Gott, an den er vornehmlich denkt, zeigt sich für ihn im Milieu des Heiligen als der Heilige. Ohne das Erleben des Heiligen, wie es Otto sieht, kann es für ihn keinen christlichen Glauben geben. Darüber wäre zu diskutieren.

Auch vom Buddhismus spricht Otto – ein bisschen: Das Geheimnis in der Lehre des Buddhismus sagt er im Blick auf „buddhistische Mystiker“ sei die Leere, das Nichts. Und Otto behauptet gar: Wer keine innere, religiöse Fühlung hat, dem kann das buddhistische Nichts wie Irrsinn erscheinen (Das Heilige, S. 35). Angesichts der Bauwerke, der Tempel im Buddhismus, stelle sich das Gefühl des Magischen ein; besonders „in den seltsam eindrücklichen Buddha-Gestalten frühchinesischer Kunst“. Und diese Wirkung sei erlebbar auch ohne Kenntnis des Mahayana Buddhismus, schreibt Otto (S. 86). Es entsteht das Gefühl des Erhabenen und Vergeistigt -Überlegenen, diese Gestalten sind transparent auf einen ganz anderen hin. (S. 87). Zum Heiligen im Buddhismus siehe weiter unten den eigenen Beitrag des Buddhismus Lehrers Michael Peterssen. (siehe Nr. 9)

5. Der “heilige Schauer” und das Unverständliche als Weg zum Heiligen?

Ich muss sagen, dass ich diese Konzeption Rudolf Ottos vom Heiligen als einer fixen Gegebenheit, außerhalb des Menschen gelagert und durch apriorische Strukturen im Geist des Menschen erreichbar, (heute) nicht (mehr) für relevant halte. Das ist alles irgendwie „Buchweisheit“, voller Behauptungen, auch wenn er als Religionswissenschaftler durchaus auch Kenntnisse auf Reisen erworben hat, etwa im indischen Raum. So sehr man das Ziel der Studien Ottos auch anerkennen mag, in einer weithin angeblich säkularen Welt das Heilige als eigene Kategorie zu retten. Der von ihm genannte „heilige Schauer“ wird heute eher im Horrorfilm erlebt und dann aber als gemachter Hollywood Schauer und nicht als Sakrales oder wenigstens Numinoses. Der damals wie heute erfahrenen “Entzauberung“ der Welt wollte Otto eine Wiederverzauberung durch das Heilige entgegensetzen. Aber dieses Heilige rückt er in die Ecke des Unverständlichen. Das wird deutlich, wenn man Ottos Lobeshymnen auf die lateinische Messe liest oder auf die Verwendung des Altslawischen in der russisch-orthodoxen Liturgie, die kein Teilnehmender versteht und eigentlich als mysteriös im Weihrauch erstickend erlebt. Das Unverständliche mit dem Heiligen zu verbinden ist problematisch. Der Katholizismus hat die lateinische Sprache aus der Messe weithin vertrieben. Das göttliche Geheimnis ist so groß, dass es sich nicht in unverständlichen Sprachen verstecken muss. Nur die reaktionären (meist antidemokratischen, wie in Frankreich) Pius-Brüder halten an der lateinischen Sprache in der Messe fest: Heiliges ist, so sagen manche Kritiker, dann eben unverständlich genutscheltes Latein des Priesters…

Ich verweise weiterführend auf die römische Liturgie: In der dort zentralen „Wandlung“ des Brotes und des Weines in den Leib und das Blut Christi: Da werden diese beiden Elemente vom Priester, der als einziger „wandeln“ darf, längere Sekunden ganz sichtbar hochgehalten, die Gemeinde der Laien kniet nieder, Ministranten läuten ihre Glöckchen, alle Musik verstummt, es ist ein Moment der Stille, wo Christus, so die Lehre, selbst in diese Kirche gelangt. Da erleben etliche Menschen sicher Heiliges, mag sein.

Reste des heiligen Brotes, also des Leibes Christi, werden als solche im Tabernakel verwahrt, sie dürfen nicht als Reststückchen nach dem Gottesdienst wie in den evangelischen Kirchen aufgegessen werden. Den Wein als Blut Christi trinkt der katholische Pfarrer übrigens immer für sich allein. Auch die größeren Wein-Reste… Das ist das Privileg des Klerus. Jan Hus (und Luther) kämpfte im 14. Jahrhundert schon um den Laienkelch, um die Sonderstellung des Klerus aufzuheben, hat aber nichts genützt. Hus wurde 1415 verbrannt…

6. Wo und wann wir Heiliges im Alltag erleben und pflegen sollten

Wichtiger scheint mir, nach der Anwesenheit von Erfahrungen der Heiligkeit heute zu suchen: Dies nicht, um einer neuen Religiosität auf die Spur zu kommen, sondern um philosophisch im Denken zu erleben: Menschen suchen auch heute aus dem Alltag herauszufinden in die besonderen, die einmaligen und erhebenden Dimensionen. Ob diese dann immer hilfreich und heilsam sind für ein mündiges Leben, ist eine andere Frage. Aber es gibt diese erhabenen, vielleicht auch schauervollen oder faszinierenden Momente im Leben.
Das kann die Musik sein. Sie erhebt in eine andere Welt. Dazu gibt es zahllose Stellungnahmen „großer“ Musiker. Jeder von uns hat seine Lieblingsmusik(en), die man immer wieder hört und dabei, wenn die Musik wertvoll ist, immer wieder Neues entdecken lässt.

Die Kunst. Da denke ich besonders an die Kunstwerke in unseren Wohnungen: Sie sind ja meist bewusst ausgewählte Kunstwerke, alles andere als bloße Garnierung kahler Wände. Da haben wir uns einen meditativen Blickfang geschaffen, vor dem wir betrachtend doch manchmal verweilen und in die Welt des Kunstwerkes hineingeführt werden, .d.h. also aus der profanen Wohnung herausgeführt werden. Ich denke jetzt auch, und das ist keineswegs als Plädoyer für Kitsch gemeint, an den kleinen Hausaltar: Das haben ja auch viele, vielleicht eine Ecke mit den Fotos der verstorbenen Eltern, mit einer Kerze. Oder ein religiöses Symbol, eine Christusdarstellung oder eine Buddha-Figur, die man solche schätzt und nicht als Accessoire missversteht.

Die Natur. Da brauche ich gar nicht viel zu sagen: Normalerweise verreisen wir in die Natur, suchen in er Natur Entspannung und Ruhe und eben nicht machen wir Urlaub in den Hochhaussiedlungen oder in den verfallenen Straßen von Detroit oder in der Nordstadt von Dortmund. Wir suchen die Natur als Wald, als Wasser, als Quelle, als Lebensquelle, wenigstens als Park.

Der Sonntag. Das wäre auch ein bedenkenswertes Thema, passend zur Frage nach den Unterbrechungen in der Profanität: Sollen wir einen Tag bewahren in der Woche, an dem Nichts-Tun gilt und Sich Besinnen und Feiern? Vielleicht muss der Sonntag aus der Profanität befreit werden? Erst wieder neu erfunden werden? Meine Meinung: Ohne den Sonntag gibt es eigentlich keine Gliederung der Woche und damit des Monats mehr, und in dem Sinne auch keinen Alltag, weil eben dann alles Alltag geworden ist. Und „Alltag“ steht dem Begriff des (hier negativ gefärbten) bloß Profanen sehr nahe.

Auf heilige Orte, so genannte Wunderorte , will ich jetzt nicht eingehen, also nicht von wunderbaren Erscheinungen Marias in Fatima und Lourdes reden. Da ist alles eher mysteriös und sehr „gemacht“ vom Klerus. Bekanntlich wurden die dortigen Seherkinder sehr schnell in entfernte Klöster usw. abgeschoben. 2017 sind es 100 Jahre her, dass Maria höchst persönlich vom Himmel herabstieg und den Kindern in Fatima „erschien“. Ich empfehle als Lektüre: Jürgen Alberts, Fatima. Rowohlt Verlag, auch antiquarisch.

7. Das Zentrum aller Heiligkeits-Debatten: Die Sakralität der Person

Mir ist in der Philosophie am wichtigsten, von der Sakralität der Person zu sprechen. Darüber hat der jetzt in Berlin lebende Soziologe und Philosoph Hans Joas ein Buch unter dem gleichen Titel veröffentlicht (Suhrkamp Verlag 2011), er bezieht sich dabei auf Einsichten des französischen Religionssoziologen Emile Durkheim (1858-1917) (im Joas-Buch ab Seite 82ff). Seine These: In der Moderne sollten wir an die hoch heiligen Menschenrechte glauben und an die in ihnen grundsätzlich immer mit gemeinte absolute und unantastbare und deswegen heilige Menschenwürde eines jeden Menschen. (Dass Menschenrechte permanent auch von so genannten Demokratien wie den USA missbraucht wurden und werden, brauche ich hier nicht eigenes zu betonen. Menschenrechte gelten selbstverständlich auch im Falle ihres ständigem Missbrauchs. Logik gilt ja auch, wenn fast niemand mehr 4 dividiert durch 0,274 berechnen kann…) Die Qualifizierung des Menschen als einer „sakralen Person“ darf keineswegs als Plädoyer für eine neue Konfessionalisierung des menschlichen Wesens oder als eine religiöse Verschleierung oder Überhöhung des Daseins verstanden werden. Sakralität, so betont Joas, hat etwas mit Heiligem zu tun, und die Erfahrung und Geltung des Heiligen liegt allem Religiösen (schon gar dem konfessionell Religiösen) voraus! Wenn Kant in seiner Philosophie, etwa in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, von der „Würde“ des Menschen spricht, erwähnt er auch die „Heiligkeit“ des menschlichen Wesens. „Würde“ hat keinen Preis, sie kann nicht erworben, schon gar nicht gekauft, kann auch nicht durch Willkür anderer beseitigt werden. Menschliche Würde ist mit dem Dasein selbst immer und überall da, sie steht für sich selbst, sie ist nicht menschlich verfügbar: Wer in dieser Weise von der unantastbaren Menschenwürde spricht, der denkt, so Kant, wie von selbst auch an die Heiligkeit, im Sinne des Erhabenen, also des über den Menschen und ihrem Zugriff Stehenden. Im Erleben der eigenen Person wie der Personenwürde anderer tritt deutlich zutage, was man das Heilige nennen könnte: Nur ein Beispiel: Im ungerechten Leiden anderer Personen, etwa der gefolterten Widerstandskämpfer gegen diktatorische Gewaltherrschaft, können Menschen erleben, wie sich in ihnen vor allem in der Empathie mit den Opfern eine starke Überzeugung auch emotionaler Art bildet. Sie ist so etwas wie eine umfassend intellektuelle Kraft. Sie sagt absolut Nein zu dem Unrecht, zur Folter, zur Qual. Warum? Weil da die Heiligkeit und Unverletzbarkeit der Person, ihre Unantastbarkeit, verteidigt werden soll.Dieser Einsatz für die Sakralität ist nichts anderes als das konkrete Engagement für die Menschenrechte; diese sind selbstverständlich stetig weiter zu entwickeln, wie auch die Demokratie niemals etwas Fertiges ist.

Hans Joas lässt sich von dem französischen Soziologen und Ethnologen Emile Durkheim (1858 – 1917) inspirieren, der in seinen zahlreichen Studien, vor allem im Erleben des antisemitischen Dreyfus – Skandals, von der universalen Menschenwürde als der „Religion der Moderne“ sprach (etwa in seinem Aufsatz „Der Indvidualismus und die Intellektuellen“, von 1898). Durkheim schreibt: „Die menschliche Person wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie (die Person) hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen…Wer auch immer einen Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profaniert sieht“. (Joas, S. 82f). Die Sakralität ist für Durkheim die allgemeine, die menschliche Spiritualität! Sie gilt für Gläubige und konfessionell nicht – gläubige Menschen… Die Frage ist natürlich, wie es gelingen kann, in der zunehmend anonym werdenden Massengesellschaft Menschen darauf aufmerksam zu machen: Ihr seid eigentlich von sakraler, also heiliger Würde? Diese Einsicht – auch pädagogisch für alle Altersklassen – zu vermitteln ist genauso wichtig wie das Engagement für die universale Geltung der Menschenrechte und damit der Demokratie. Menschenrechte sind also nicht nur eine “Verhandlungsmasse” auf politischer Ebene, oft vom Kalkül bestimmt und aufgrund ökonomischer Zwänge allzu häufig verraten und vernachlässigt. Menschenrechte haben eine eigene “Aura”; sie bleiben selbstverständlich der vernünftigen Argumentation verpflichtet. Aber es ist die Vernunft selbst und nicht irgendeine religiöse Phantasie, die die Erkenntnis erschließt: Die Menschenrechte sind etwas Besonderes „Sakrales“ und absolut zu Verteidigendes.

Wie weit die (immer weiter zu entwickelnden) Menschenrechte zum Kernbestand religiösen Glaubens werden können, ist eine dringende Frage: Die Menschenrechte gehören ins Zentrum der Religionen, sie sollten in Predigen erschlossen und den Menschen gelehrt werden. Wir meinen: Nicht das tausendfache Alleluja in den charismatischen Kirchen und Pfingstgemeinden hilft aus der tiefen Krise, sondern sich das Besinnen auf die gemeinsame, gemeindliche Gestaltung de Menschenrechte. Das gilt natürlich auch für Deutschland, angesichts des Elends so vieler Armer, so vieler Flüchtlinge usw.

Ich meine: Wir brauchen heute weniger Religion und mehr Auseinandersetzung mit den Menschenrechten, mehr das Erleben, dem anderen und den anderen ins Antlitz zu schauen, ihn zu schätzen und zu pflegen… dies täte uns (auch den Kirchen) gut. Die Kirchen verlassen dabei nicht „ihren“ Bereich. Denn, siehe oben, die Menschenrechte sind heilig. Es gilt also, eine neue Form der Heiligkeit zu pflegen. Am 14.12. 2016 ist im Alter von 95 Jahren ein mir gut bekannter Kardinal und Befreiungstheologe aus Sao Paulo, Brasilien gestorben. Kardinal Paulo Evaristo Arns hat mir in einem Interview 1985 in gewisser sein bleibendes Vermächtnis mitgeteilt, das auch philosophisch bedeutsam ist: „Die Menschenrechte sind der Kern des Evangeliums. Also sie kommen aus dem Herzen des Evangeliums heraus. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen zu retten, also dass er Mensch werde, dass er Mensch bleiben kann, dass er wirklich alle seine Möglichkeiten als Mensch verwirklichen kann für die anderen. Und wenn er das nicht kann, dann ist Christus umsonst auf die Welt gekommen und Gott hat den Menschen umsonst geschaffen“ (Kardinal Arns, Sao Paulo).

8. Der alles gründende, sich entziehende Grund als das wahre Heilige

Dieses Heilige zeigt sich, wenn man die grundlegende philosophische Frage bedenkt: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?Also: Warum ist Etwas und dann das Ganze, in dem sich das Etwas „aufhält“? Warum bin ich, warum sind wir als Teil dieses Ganzen, das wir nur nennen, nicht aber als ganzes umgreifen und damit definieren können? Aber wir stellen doch diese Frage, auch wenn wir keine definitive Antwort und Definition erhalten. Wir stellen die Frage nach dem Gründenden. Ist denn etwas denkbar, ohne „etwas Gründendes“, das als solches ganz anders sein muss als alle Einzelteile (Etwas) in dieser Welt. Diese Frage führt zu dem Erstaunlichen. Manche nennen dies, im Unterschied zu einem Rätsel, das als (wissenschaftliches) Rätsel immer „auflösbar“ ist, das bleibende Geheimnis.

Aber das ist nur die „Objekt-Seite“ dieser Frage, die ins bleibende Geheimnis und damit ins Heilige führen kann..

Es gibt auch die subjektive Seite: Denn immer bin ich es, der diese Frage stellt. Und zwar kraft meiner Vernunft (Geist), vielleicht angestoßen durch Gefühle, die aber dann Wort werden sollten kraft der Vernunft. Also ich denke diese Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“. Ich bin also in der Vernunft über das „Etwas“ schon hinaus, bin nicht eingebunden in die Objekt-Welt der vielen Etwas. Und ich erlebe in bestimmten Momenten, auch in der Kunst, der Musik, manchmal der Religion, wie dieses in der Vernunft angestrebte Gründende tatsächlich als solches „hervorbricht“. Wie also dieses bleibende Geheimnis sich mit mir (und jedem Menschen kraft der Vernunft) verbindet. Und vielleicht verbündet. Wie also dann doch eine schwache Antwort auf die genannte Frage erscheint: Wir Menschen sind auf das bleibende Geheimnis bezogen. Wir werden es nie greifen. Aber wir leben und denken in dessen Nähe. Vielleicht der bleibenden Nähe des Göttlichen. Um das wiederum zu wissen, muss diese (göttliche) Nähe bereits immer schon in uns sein. Manche sagen Göttliches, Gott, ist Mensch (geworden).

9. Ein weiter führender Hinweis von Michael Peterssen, Lehrer für Buddhismus in Berlin und Teilnehmer in unserem Salon, verfasst nach unserem Gespräch im Salon: „Zu unserem Thema fiel mir aus buddhistischer Sicht als erstes ein, wie ein chinesischer Herrscher der Legende nach einen buddhistischen Mönch fragte, was denn der Kern seiner Botschaft sei. Der soll daraufhin kurz und bündig geantwortet haben: “Offene Weite, nichts von heilig.” Im Buddhismus ist sehr wenig von heilig die Rede, und so musste ich gestern Abend eine Menge “Übersetzungsarbeit” leisten. Im Laufes des Gespräches ist mir dann aber aufgefallen, dass es im Buddhismus doch einiges gibt, was der Sache nach heilig genannt werden könnte, z.B. kanonische Schriften (z.B. darf man die bei traditionellen tibetischen Buddhisten auf keinen Fall auf den nackten Boden legen); Sprachen wie Sanskrit, Pali, Sino-Japanisch; die Drei Juwelen, d.h. den Buddha, seine Lehre und die Gemeinschaft der (ordinierten) Praktizierenden; Tempel; Altäre; alles, was mit der Erleuchtung / dem Erwachen zu tun hat. Ich habe neulich mal nachgerechnet und festgestellt, dass ich zusammengenommen wohl etwa drei Jahre meines Lebens auf Seminaren im Schweigen verbracht habe. Obgleich ich vielerlei Meditationserfahrungen hatte, so hatte ich interessanterweise nie das Gefühl, etwas Heiligem oder Überweltlichem begegnet zu sein. Ich habe diese Erlebnisse immer als das Erschließen  einer anderen, sicherlich wertvollen  Dimension meines Daseins in dieser Welt verstanden“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Die Heimat des Weltbürgers: Ein philosophischer Salon.

Der erste religionsphilosophische Salon in Berlin im Jahr 2017 findet am Freitag, den 27. Januar um 19.00 wieder in der Galerie FANTOM, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Wir danken wieder herzlich bei den Verantwortlichen der Galerie FANTOM, dass wir uns dort schon seit etlichen Monaten treffen können!

Das aktuelle, durchaus politische, aber wie üblich immer auch philosophische Thema:

Die Heimat des Weltbürgers (des Kosmopoliten).

Nur wer auch Kosmopolit ist, kann die kleine Welt der eigenen Heimat schätzen und bewerten. Und ist vor dem Wahn des Nationalismus etwas geschützt. Und ist am Aufbau einer gerechten Weltgesellschaft interessiert. Und interessiert sich leidenschaftlich für EUROPA (das ja nicht nur „Brüssel“ ist). Und hält die Menschenrechte für unendlich wichtiger als die dummen Sprüche am Stammtisch. Wir bereiten uns also in gewisser Weise auf philosophischen Widerstand vor gegen alle Formen des rechten (rechtsextremen) Populismus!

Gleichzeitig werden wir überlegen, wie der zunehmende Nationalismus eine Form kollektiven Egoismus ist und überwunden werden kann. Was hilft das kritische, „allgemeine“ philosophische Denken dabei? Haben Religionen und Kirchen als internationale Gemeinschaften die Kraft, dem Nationalismus Einhalt zu gebieten?

Wir hoffen, dass Teilnehmer aus vielfältigen Kulturen, etwa Südeuropas, Lateinamerikas, Afrikas, diesmal mit uns debattieren. Nur so macht die kosmopolitische Haltung als Lebensform ja Sinn. Selbstverständlich werden wir dabei die Vorschläge Kants zum Weltbürger und zum Frieden erörtern.

Unser Salon besteht 2017 10 Jahre mit über 100 Salonabenden. Als “Eigenlob” gesagt: “Recht hübsch eigentlich“… Eine philosophische “Basisinitiative”… Und: Dank an alle, die immer wieder mal dabei sein können oder neu dazukommen und mitdenken und weiterdenken.

Es ist ein Ziel der Initiatoren und sicher aller TeilnehmerInnen, dass sich die Idee des philosophischen Salons etwas mehr herumspricht und an anderen Orten auch realisiert als Form qualifizierten, grundsätzlichen und philosophischen, d.h. freien Nachdenkens, außerhalb dogmatischer Systeme. Als Form des – im guten Sinne – (welt)bürgerlichen Miteinanders in der Stadt.

Anmeldung erbeten an: christian.modehn@berlin.de

copyright: Christian Modehn, Berlin

 

Spenden: Das Gewissen wird beruhigt…wo bleiben politische Aufklärung und Aktion? ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein kurzes Vorwort: „Dieser Beitrag will natürlich stören. Langweilige Artikel gibt es genug…“ (Lichtenberg).

Der “faire Handel” bietet sich als Alternative bzw. Ergänzung zum Spenden an:Siehe dazu:

http://www.inkota.de/material/suedlink-inkota-brief/178-fairer-handel/herrmann/

Vor allem die Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Bei mir stapeln sich die Zahlkarten mit der herzlichen Einladung, die Konten der Hilfs-Organisationen zu füllen. Ich will diese Initiativen nicht alle nennen. Sie leben – auch die Mitarbeiter hier und auswärts – überwiegend von den freiwilligen Gaben gutmütiger Menschen und solcher, deren Gewissen noch nicht ganz lahm gelegt ist angesichts der Not in der Welt, nebenan genauso wie in Burkina Faso oder in Honduras. Viele Elende können zweifelsfrei nur ihr Elend ertragen, vielleicht ihr kurzes Leben, wie im Südsudan um ein halbes Jahr verlängern (und mit 40 sterben), wenn gelegentlich etwas für Sie gespendet wird, aus der reichen Welt. ALSO: aus der Welt der früheren und heutigen Kolonisten; also von Bürgern, deren demokratische Regierungen die Ökonomie in Burkina Faso und die demokratische Politik in Honduras z.B. KAPUTT gemacht haben und immer weiter kaputt machen. Um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen. Die Lepra Krankheit ließe sich weltweit heilen, wenn weltweit an einem Silvester Tag auf die dämliche Knallerei verzichtet würde oder ein Jahr auf Staatsempfängen und Kirchenempfängen Graubrot und Wein serviert würde. Aber das will man nicht, das wollen die Herrscher nicht. Lieber sollen die Armen und die Mittelständler spenden …. und das Elend besteht trotzdem massiv fort.

Und Spender hierzulande sind so etwas hilflose Sanitäter, die nur mit Aspirin- Tabletten gegen Cholera und Aussatz ausgestattet sind; die das Elend etwas lindern, ein Elend, das nicht nur von den kapitalistischen gewinnsüchtigen Organisationen „des Nordens“ erzeugt wird, sondern auch von Politikern. D.h. im Klartext gesprochen, von Diktatoren in Afrika, die sich Eliten nennen, wobei sie herausragend, „Eliten“, sind einzig im Geldraffen (zugunsten ihrer privaten Konten in der Schweiz), also im Diebstahl der Ressourcen ihrer eigenen Länder und Bewohner.

Das ist die Realität des Spendenwesens. Von Haiti als dem Extremfall sinnloser Spenden (sinnlos, weil sie das leidende Volk fast gar nicht erreichen) wollen wir hier lieber schweigen…Und die meisten, die hierzulande etwas gebildet sind, wissen das. Es wird nur selten offen ausgesprochen. Da wird Jahrelang und stundenlang von gut willigen Damen gestrickt und gehäkelt für die Weihnachtsbasare in deutschen Kirchengemeinden, diese bringen vielleicht 15.000 Euro „für Bolivien“ ein, gleichzeitig werden infamerweise in derselben Gemeinde Orgeln für eine halbe Million gekauft und neue Glasfenster vom Feinsten bestellt. Das ist, gelinde gesagt, christlich kaschierter Unsinn… Die häkelnden Damen sollten sich und andere lieber umfassend informieren über das genannte Bolivien und Spanisch lernen und Menschen aus Spanien hierzulande unterstützen und andere Flüchtlinge.

Wir Spender lindern die Not kurzfristig hier und dort ein bisschen, ohne dass in all den Jahren unserer Spenden strukturell und sichtbar demokratische und gerechte Regierungen etwa in Afrika entstanden sind. Vom Ausbleiben einer Geburtenplanung ganz zu schweigen. Von Geburtenplanung redet kein Mensch mehr. In 10 Jahren werden sich auf dem ausgedorrten Haiti die vielen Menschen hoffentlich nicht tot trampeln. 1950 lebten auf den 27.000 Quadratmetern (etwa so groß wie das Bundesland Brandenburg) drei Millionen Menschen, heute sind es 11 Millionen.

Zu Afrika: Außer Ghana, Namibia, Südafrika ist mir kein weiteres wenigstens halbwegs demokratisches Land in Afrika bekannt; falls ich mich irre, bitte melden! In alle Länder Afrikas sind Millionen Dollar geflossen, bloß wo sind die Gelder gelandet?

Und wenn die Rede ist vom Sozialstaat Deutschland, wie kommt es dann, dass tausende Menschen in Deutschland keine Bleibe, keine Wohnung mehr haben? Vertrieben sind im eigenen Land. Wie kommt es, dass der so genannte Sozialstaat mit einer Regierung aus C und S Parteien das elementare Leben der Menschen in Deutschland nicht sichern kann, sondern auf kirchliche Organisationen oder humanistische Organisationen angewiesen ist? Wie in den USA.

Natürlich will ich nicht prinzipiell das Spenden schlecht machen. Aber die eingeschliffene Gewohnheit, förmlich der Denkzwang, bei großer Not ans Spenden zu denken und nicht zuerst ans politisch Analysieren und politische Handeln und an die politische Kritik der Systeme, ist alles andere als „hilfreich“ auf Dauer.

Die Kirchen als Liebhaber der Spenden (Almosengeben als göttliches Gebot ?) bieten zwar Informationen über die Hilfs-Projekte in verschiedenen Ländern. Aber diese Informationen führen nicht weiter, eben HIER politisch zu werden. In den Gottesdiensten wird in den Predigten zum 100. Mal das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nacherzählt, aber politische Aufklärung, wie es sich gehören würde, unterbleibt. So entsteht eine abgehobene weltferne Frömmigkeit..

Und das heißt, wenn man schon bei den Kirchen bleibt, zu fragen: Was ändert sich eigentlich in den Kirchen selbst in Deutschland, mit ihren Milliarden Euro Kirchensteuer-Etats, mit den fetten Gehältern für Bischöfe, Pröpste, Monsignori und Pastoren? Wird da ernsthaft Solidarität gelebt, das heißt, werden da 20 % Gehaltskürzungen durchgesetzt etwa bei den Kardinälen und Erzbischöfen, werden die Bischofs-Paläste vermietet? Wann ist ein Bischof in eine Dreizimmer-Wohnung umgezogen? Oder denkt man: Die Armen, die kleinen Leute, die Kirchgänger, die biederen Bürger, die sollen doch spenden. Wir Funktionäre der Kirchen bleiben bei unseren satten Einkommen.

Solange die Orden etwa in Deutschland weitestgehend im wohlbehüteten Reichtum leben, ist kaum vermittelbar, warum die Witwe A. mit einer Rente von 900 Euro für den Orden spenden soll. Die Orden sollen ihren Reichtum freilegen, möglicherweise ihren Grundbesitz verkaufen, und dann können sie nachdenken, ob sie bei der Witwe A. und den anderen noch mit gutem Gewissen betteln dürfen.

Diese Analysen sind bitter. Aber sie werden wohl keine Selbstkritik bei den genannten kirchlichen Organisationen bewirken. Sondern eher Ausgrenzung und Abwehr derer, die noch davon öffentlich sprechen.

Den Wahn des Spendens hat kürzlich eine Reportage in „Die Zeit“ vom 8.September 2016 aufgezeigt, am Beispiel der Verhältnisse im Silicon Valley, also in der Nähe von San Francisco, Kalifornien.

Bitte lesen Sie diesen ausgezeichneten ausführlichen Beitrag!!! http://www.zeit.de/2016/38/silicon-valley-kalifornien-usa-armut

Die ultra-reichen Spezialisten haben, zusammenfassend gesagt, so unglaublich hohe Gehälter, dass sie fast den gesamten Wohnungsmarkt in San Francisco aufkaufen. Und das heißt: Die alteingesessenen Familien aus den Wohnungen vertreiben. Darum gibt es heute, so der sehr lesenswerte Bericht, arme Mittelständler, die in ihrer Stadt keine Miete mehr bezahlen können und auf de Straße oder in der Nebenkammer von Großmutters Wohnung landen. Internetfirmen treiben Tausende auf die Straße. Und was tun die gut betuchten Manager? Sie spenden natürlich! „Es gibt kaum eine Hilfsorganisation für die neuen Armen, die keine Senden von den Firmen aus Silicon Valley erhält“, so „Die Zeit“. Diese Herrschaften spenden für Suppenküchen der von ihnen selbst arm gemachten Menschen. Sie spenden für Suppen, nicht für Wohnungen, die sie diesen Menschen genommen haben. Natürlich geben diese abgeschotteten und total privilegierten Silicon-Valley Kreise keine Interviews, nur ganz Mutige wagen ein Wort. Mit der Annahme der Spenden fürs Essen der Arm-Gemachten können die Hilfsorganisationen natürlich auch nicht die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt kritisieren. Die Hilfsorganisationen sind einfach zum Schweigen verurteilt, wenn sie noch ein paar Dollars erhalten wollen. Ein grotesker Zustand. Ein Prototyp für den Unsinn und den Sinn des Spendens in einer Welt, in der die Ungerechtigkeit herrscht und die Hilfsorganisationen keinen wirklichen Klartext sprechen können und zum Schweigen verdammt sind. So ist es wohl überall. Welche katholische oder evangelische Hilfsorganisation hat sich mit dem (Un)Sozialstaat Deutschland schon angelegt? Wird darüber beim Reformationsgedenken 2017 gesprochen? Auf dem Kirchentag 2017? Ein bisschen, wie immer unter 1000 anderen Themen…

So schweigt man diplomatisch oder bleibt moderat eher unverbindlich. Aus Angst, keine Spenden mehr zu bekommen. Und aus Angst, das System der so glänzenden Kirche-Staat-Beziehung zu gefährden. Die Kirchensteuer ist schließlich in Deutschland für Christen etwas Heiliges, das gehütet werden muss. Denn die Kirchenangestellten leben gut davon, selbst wenn immer mehr Menschen aus de Kirchen austreten…Eines Tages aber wird auch das System der Kirchensteuer von selbst erledigen, und die wenigen registrierten Christen in Deutschland werden um Spenden für sich selbst betteln. Und dann ist kein Geld mehr da für Burkina Faso oder Honduras…

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Philosophen als Flüchtlinge.

Die Wahrheit findet sich in der Fremde

Dieser Beitrag von Christian Modehn wurde in leicht veränderter Form in der Zeitschrift INSPIRATION, Ausgabe IV/2016 veröffentlicht. Weitere Hinweise zum Heft am Ende dieses Artikels.

1.

Flüchtlinge müssen immer Lernende sein. In einem neuen, nicht frei gewählten Umfeld verändern sich die inneren und äußeren Bedingungen (selbst)kritischen Denkens. Das gilt besonders, wenn Philosophen Flüchtlinge sind. Aber das Thema „erzwungener Ortswechsel“ als Ursprung neuen und anderen Philosophierens wird in der Philosophie kaum beachtet. Dabei geht es um die zentrale Frage: Wie philosophisches Denken von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Kultur eines Landes mitbestimmt wird. Denn eine völlige „Abschottung“ von dem neuen Lebensraum ist fürs Philosophieren weder möglich noch sinnvoll. Der Philosoph Dieter Henrich hat in seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (2011) dieses Thema berührt, aber er hat sich konzentriert auf die „plötzlichen, außerordentlichen Einsichten“ als Ursprung individuellen Philosophierens. In seiner „Philosophie der Philosophie“ erinnert er an die „geschenkten“ Evidenzen, die alles Denken eines Philosophen bestimmen. Auf die Bedeutung des Ortes, der Landschaft, des Staates, fürs Philosophieren wird nicht hingewiesen.

Eine Liste der Philosophen ist leicht zusammenzustellen, die zum Ortswechsel gezwungen wurden und als Flüchtlinge – für immer oder längere Zeit – aus ihrer Heimat fliehen mussten: Descartes, Hugo Grotius, Comenius etwa. Im 20. Jahrhundert sind es jüdische Philosophen, die fliehen müssen: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Hans Jonas und Walter Benjamin., Ernst Cassirer und Karl Popper. Etliche Philosophen mussten während der Franco-Diktatur Spanien verlassen. Seit etwa 1970 sind es Philosophen aus muslimischen Kulturen Nordafrikas, die in Europa Zuflucht suchen müssen und dort in Freiheit vernünftige Interpretationen des Islams bieten.

Aber im Blick auf die lange Geschichte der Philosophie drängt sich die These auf: Die meisten Philosophen waren eher sesshaft. Man denke an Martin Heidegger, der kaum aus dem Schwarzwälder Raum herausfand, von Immanuel Kant in Königsberg ganz zu schweigen. Oder waren Philosophen so staatskonform, dass es gar keine Veranlassung zur Flucht gab? Für Heidegger trifft das zu, für Kant nicht. Es gibt natürlich auch das Phänomen von Fluchtbewegungen innerhalb des eigenen Landes: Voltaire musste sich dem Zugriff der Herrschaft des absolutistischen Regimes oft entziehen.

2.

Hannah Arendt (1906 in Linden bei Hannover geboren, 1975 in New York gestorben) ist eine Philosophin, deren Denken von Vertreibung und Flucht geprägt ist. In Deutschland hatte sie 1928 bei Karl Jaspers ihre Doktorarbeit über den „Liebesbegriff bei Augustin“ geschrieben, ein Versuch, den Kirchenvater existentialphilosophisch zu interpretieren. Über die jüdische Salonnière Rahel Varnhagen und das Problem der Assimilation der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sie noch in Deutschland ihre Habilitationsschrift verfasst.

1933 musste Hannah Arendt als Jüdin Deutschland verlassen.

In Paris angekommen, engagiert sie sich zugunsten zionistischer Vereinigungen. Als Flüchtling in Frankreich beginnt förmlich ihre starke Bindung an politische Zusammenhänge.

Als unter Marschall Pétain ihr Aufenthalt in Frankreich immer bedrohlicher wird, flieht sie nach Lissabon und kommt im Mai 1941 in New York an. Dort macht sie zunächst die Erfahrung: Als Verfolgte nicht willkommen zu sein und zudem, noch schlimmer, als staatenlos zu gelten. 1937 wurde sie von Nazi-Deutschland ausgebürgert. Erst im Dezember 1951 wird sie us – amerikanische Staatsbürgerin. Seit 1953 kann sie an verschiedenen Universitäten der USA lehren; zuletzt, seit 1967, als Professorin an der „New School for Social Research“ in New York.

Entscheidend ist: Hannah Arendt lebt 14 Jahre lang rechtlos, ist auf Duldung angewiesen. Sie fordert dringend, ein Flüchtling habe das „Recht, Rechte zu haben“. Das Wort Flüchtling hat in den USA und anderswo damals schon den Klang des Verdächtigten und Unglückseligen. Ein Flüchtling ist kein Ehrfurcht gebietender „Held“, den die Aufnehmenden hegen und pflegen. Denn heute sei der Geist des Nationalen stärker als der Geist universaler Humanität, meint Arendt. Es seien die immer noch bestehenden Nationalstaaten, die in ihrer Abgrenzung von „den anderen“ die Krise umfassender Menschlichkeit erzeugen.

Die Erfahrungen der Flucht und das Leben in einem gar nicht so freundlichen Zufluchts-Land verändern definitiv Arendts Denken: Sie will sich nicht mehr in einer eher abstrakten philosophischen Weise äußern. Schon 1951 schreibt sie in einem Brief an Eric Voegelin, „dass irgendetwas in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist…“(1), gemeint ist Abgehobenheit im Umgang „ewiger Prinzipien“.

Ihre Existenz als Flüchtling führt also zu einem neuen Selbstverständnis: Sie ist „Wissenschaftlerin für politische Theorien“ und distanziert sich dabei von der Philosophie: In dem weit verbreiteten Fernseh-Interview mit Günter Gaus (1964) betont sie: „Meine Meinung ist, dass ich keine Philosophin bin. Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie endgültig valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert. Aber das besagt ja noch nicht, dass ich dabei geblieben bin“. Sie meint, es gebe gar bei den meisten eine Feindseligkeit gegen alle Politik: „Das will ich nicht. Ich will an der Feinseligkeit gegen Politik bei Philosophen nicht Anteil haben“ (2). In einer Vorlesungsnotiz in den USA definiert sie die Philosophie als „Liebe zum Sein“, also – klassisch – als kontemplative Schau. Philosophie, meint Arendt, lebt wesentlich im Rückzug aus der unruhigen Welt. Die politischen Wissenschaftler hingegen, so sagt sie, haben eine „Sorge um die Welt. Wir fürchten, dass der Welt der Menschen etwas zustoßen kann“ (3)

Dabei ist klar, dass Hannah Arendt selbstverständlich ihre hohe philosophische Reflexionskraft bewahrt hat. Man denke nur an ihr großes Buch „The Human Condition“ (1958), auf Deutsch „Vita activa“ (1960). Aber Philosophieren gibt es für sie nur noch, wenn Gedanken in einen kritisch – reflektierten politischen Zusammenhang gestellt werden. Erst 1943, so berichtet sie, habe sie die Wahrheit von Auschwitz erfahren: „Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet… Dies hätte nie geschehen dürfen. Ich meine die Fabrikation der Leichen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden“ (4). Aber Hannah Arendt kann Worte finden für das Grauen, um eine mögliche Wiederkehr des totalen Verlustes der Menschlichkeit zu verhindern. 1951 erscheint ihr grundlegendes Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, 1955 liegt es auch auf Deutsch vor. Dieses Buch hat viel Aufmerksamkeit gefunden, auch in Deutschland im Zusammenhang des Eichmann-Prozesses 1961. Hannah Arendt war bei dem Prozess dabei und schrieb ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“. Sie meint, durchaus provozierend, dass Eichmann die „Banalität des Bösen“ repräsentiere. Damit wollte sie – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie betont: Einer der Hauptakteure der Juden-Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern: Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle weitergeben fixierter Bürokrat. Hannah Arendts Eichmann Buch ist aber zugleich ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozess der ideologischen Indoktrination systematisch getötet worden. Das ist das eigentlich Böse, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht wiederholbar. Die so genannten Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch eben NICHT widerstehen. „Viel verlässlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…“(5)

3.

Der französische Protestant Pierre Bayle fand 1681 in den Niederlanden Zuflucht. Er nannte Holland „die große Arche der Flüchtlinge“. Bis zu seinem Tod 1706 lebte er in Rotterdam, als freier Mann, der hier ohne ständige Angst vor Verfolgung seine Bücher selbstverständlich auch publizieren kann. Bayle stammte aus einer Pastorenfamilie aus dem Ariège, Südfrankreich. 1647 geboren, studierte er als Protestant bei den Jesuiten in Toulouse, entdeckte die katholische Glaubenswelt und entschloss sich 1669, zum Katholizismus zu konvertieren. Diese Entscheidung machte er aber einige Monate später rückgängig: Er meinte, katholische Glaubenspraxis hielt der philosophischen Vernunftkritik nicht stand. Bayle galt nun als „Rückfälliger“. Er musste nach Genf flüchten: Dort studierte er Theologie und Philosophie. Etliche Jahre konnte er danach noch an der Hochschule der Protestanten im französischen Sedan lehren, bis unter Ludwig XIV. die Toleranz zugunsten der Protestanten, beschlossen im Edikt von Nantes 1598, nichts mehr galt. Von den 700.000 französischen Protestanten konnten ca. 200.000 fliehen. In Rotterdam lehrte er an einem Gymnasium, der „Ecole illustre“. Die niederländische Sprache brauchte er – wie andere Flüchtlinge aus Frankreich – nicht zu lernen, viele Niederländer Französisch gern sprachen. Auch wenn Bayle über das schlechte, kalte Wetter dort klagte und etwa den großen Bierkonsum in seiner neuen Heimat kritisierte: Wirkliche Schwierigkeiten bereiteten ihm nur konservative Theologen aus Frankreich, wie der calvinistische Theologe Pierre Jurien. Er sorgte mit maßlosen Intrigen dafür, dass Bayle im Jahr 1693 seinen Posten als Dozent verlor. Aber er konnte, verbunden in einem weiten Korrespondenten-Netz, die Themen ausbauen, die ihn schon in seiner Heimat bewegt hatten. Er gilt bis heute als einer der wichtigen Philosophen der Aufklärung, seine Thesen wurden am Preußischen Hof (in den Salons von Königin Sophie Charlotte) diskutiert. Auch Leibniz setzte sich intensiv mit Bayle auseinander. Seine vielfältigen Publikationen sind letztlich Variationen über das zentrale Thema: Wie ist die Beziehung von menschlicher Vernunft und christlichem Glauben zu denken? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Heilig ist für Bayle das Gewissen, es ist der Ort, wo der Mensch Gott begegnet. Wer seinem Gewissen zuwider handelt, verrät gleichzeitig Gott. Auch Atheisten folgen ihrem Gewissen und können das Gute erkennen, betont Bayle, der selbst nicht dem Atheismus zuneigte, wie heutige Forschungen klarstellen. Ein strenggläubiger Protestant war er aber auch nicht. Von der philosophischen Vernunft her wollte er die Frage nach dem genau beschreibbaren Wesen Gottes offen lassen, er meinte: Allein im Glauben kann Gottes Wirklichkeit erreicht werden. Vernunft kann niemals Religion ersetzen. Denn der Glaube wendet sich dem Bereich zu, den die Vernunft nicht erreichen kann. So wollte er für die Eigenständigkeit von Vernunft und Religion sorgen. Allerdings war für ihn klar, dass mit der Vernunft alle Formen des verdinglichten Aberglaubens zurückgewiesen werden müssen, etwa der volkstümliche Aberglauben, dass Gott in einem Gewitter „spricht“. In Holland erlebte er einen damals insgesamt ungewöhnlichen, staatlich gewollten religiösen Pluralismus. Nicht nur verschiedene protestantische Kirchen wurden toleriert, auch Katholiken und Juden und prinzipiell auch Muslime. Diese Freiheit prägte Bayles Denken, und man ist froh, dass er nicht in Frankreich bleiben musste, sonst wäre dieser große Geist ermordet worden. In seinem schon damals viel beachteten und geschätzten „Historischen und Kritischen Wörterbuch“ (1692 in Amsterdam erschienen, in Frankreich verboten) ist unter allen Beiträgen einer der längsten Artikel über Mohammed. Dabei wird deutlich, wie sehr Bayle ausführliche mittelalterliche Quellen studierte. Religiös motivierte Bereitschaft zur Gewalt sieht er nicht so sehr bei Muslimen, sondern eher unter Christen: „Sie haben von Jesus den Befehl erhalten zu predigen und zu lehren! Und trotzdem, seit sehr langen Zeiten, zerstören sie mit Feuer und Schwert jene, die nicht zu ihrer Religion gehören“. Er denkt dabei auch an die blutigen Verfolgung von Protestanten durch den katholischen König Ludwig XIV. – Bayles Bruder, auch er ein Protestant, kam im Gefängnis um. Die Gefahr ist für Pierre Bayle groß, „dass Katholiken in höheren staatlichen Ämtern ihre Machtpositionen missbrauchen, um erneut die Andersdenkenden zu verfolgen“, betont der Bayle-Spezialist Yves Bizeul (6). „Für ihn konnte es also eine pragmatische, überlebensnotwendige, eine nicht tolerante Haltung gegenüber den Intoleranten geben“. Aber: Wichtiger als alle Kirchenbindung war für Bayle die praktisch gelebte, allgemein menschliche, vernünftig begründbare Moral, die in der Toleranz ihren Ausdruck findet. Zu einer solchen Aussage konnte er nur als Flüchtling in einem freien Land kommen.

4.

Heute sind Philosophen, die Flüchtlinge sind, in der muslimischen Religion in Nordafrikas, Pakistan oder im Iran groß geworden. Sie haben sich den dogmatischen Denkverboten widersetzt, haben ihre Vorschläge offen gesagt, wurden verfolgt und mussten nach Europa fliehen. Erst dort konnten sie einen „liberalen Islam“ entwickeln.

Die Liste der islamischen philosophischen Flüchtlinge ist lang: Nur drei herausragende Professoren sollen hier genannt werden, ihre Arbeiten zu einem vernünftigen Verständnis des Korans sind auch auf Englisch, Deutsch oder Französisch zugänglich sind: Mohammed Arkoun (1928 in Algerien -2010 in Paris), Nasr Hamid Abu Zaid (1943 in Ägypten– 2010 in Kairo gestorben; Ägypten besuchte er kurz vor seinem Tod, nach Holland musst er 1995 fliehen) und Fazlur Rahman (1919 in Pakistan – 1988 in Chicago). Typisch für diese muslimischen Philosophen ist die Anwendung der historisch-kritischen Deutung des Koran. Ein Zitat aus einem Radio-Interview mit Abu Zaid, das ich 2009 in Berlin führte: „Mein Konzept eines humanistischen Islam besteht darin, die menschlichen Elemente des Korans aufzuzeigen. Wir gehen zum Text zurück und entdecken dabei, was noch bedeutsam ist für unsere heutige moderne Zeit. Dabei kann nur die Vernunft entscheiden, was wirklich Offenbarung Gottes ist. Wir müssen dringend daran weiter arbeiten! Wir müssen diese Fragen weiter pflegen, um gegen die Tabus zu kämpfen“ (7).

„Humanistischer Islam“ ist ein dringendes Projekt, dem sich andere Muslims in Europa verpflichtet wissen, die beste Kenner des Korans sind und, philosophisch geschult, auch als Politologen in Europa tätig sind: Zu diesem Kreis gehört etwa Prof. Elham Manea, Zürich (8). Sie ist in arabischen und westlichen Ländern aufgewachsen. In Zürich und Bern gehört sie zu den Gründerinnen eines humanistisch-islamischen Studienkreises. Sie sagte mir in einem Radio-Interview 2009: „Ich bin in erster Linie Humanistin, dann Araberin und an dritter Stelle Muslimin“. Diese Rangordnung hält sie für wichtig und dem Frieden dienend. Als Professorin an der Universität Zürich hat sie den Mut, öffentlich das dringendste Thema zu besprechen, die „Natur“ des Korans: „Wenn wir eine Reformation des Islam wirklich durchsetzen wollen, müssen wir auch mit der Natur des Koran umgehen. Es geht um eine menschliche Natur des heiligen Textes. Denn die Koranverse wurden von Menschen gesammelt, von Menschen geschrieben“ (9).

5.

Philosophen, die Flüchtlinge sind: Das Thema wird so lange aktuell bleiben, als Ideologien und Religionen einen absoluten Wahrheitsanspruch auch nach außen vertreten und machtvoll durchsetzen. Erst die Anerkennung der kritischen Rolle der Vernunft kann Religionen zu Orten der Menschlichkeit und Toleranz machen. Dann wird es keine Flüchtlinge mehr geben, sondern nur noch Reisende.

 

Quellenangaben:

(1)Karl-Heinz Breier, Hannah Arendt. Hamburg, 2011, S. 63.

(2) Zit. aus dem empfehlenswerten Heft „Hannah Arendt“, Philosophie Magazin 2016, S. 17.

(3) wie (1), Seite 55.

(4) wie (2), S. 25.

(5) in einem Beitrag von Ingeborg Nordmann in Freibeuter, Vierteljahreszeitschrift, 1988, S. 92.

(6) Pierre Bizeul, Pierre Bayle – Vordenker des modernen Toleranzbegriffes, dort S. 83 f. In: http://www.wiwi.uni-rostock.de/fileadmin/Institute/IPV/Lehrstuehle/Politische_Theorie/Yves_Bizeul/ToleranzBizeul.pdf

(7) Radio Interview, NDR, Reihe „Lebenswelten“, Titel: Humanistischer Islam, am 7. März 2010.

(8) Elham Manea, Ich will nicht mehr schweigen: Der Islam, der Westen und die Menschenrechte. Freiburg i.Br. 2009

(9) wie (7)

WEITERLESEN: INSPIRATION. Ein Heft zum Thema FLUCHT. Winter 2016, Grünewald-Verlag. Weitere Informationen zum Heft: http://www.schwabenverlag.de/4zeitsch/meditation/akt/inspiration-Inhaltsverzeichnis-2016-4.pdf

Email: inspiration@schwabenverlag.de     www.gruenewaldverlag.de 

 

 

Ein kalkulierter Verfassungsbruch in Deutschland. Zu den geplanten Kürzungen im „Asylbewerberleistungsgesetz“.

Der Religionsphilosophische Salon hält aus vernünftiger Einsicht die Menschenrechte (als sich stetig weiter entwickelnde Rechte) für den Kernbestand humanen Zusammenlebens. Auch wenn selbst demokratische Staaten diese Menschenrechte allzu oft mißachten gilt diese Einsicht. Darum dokumentieren wir gern einen aktuellen Beitrag des weltweit anerkannten Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Bitte beachten Sie nebenbei, dass schon allein der Name “Asylbewerberleistungsgesetz” nicht nur ein furchtbares Wortungetüm ist, sondern vor allem Ausdruck ist für das total bürokratische Denken in den demokratischen Behörden. CM.

Ein Gastbeitrag des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Berlin  Berlin, den 28. November 2016. – Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS (Jesuit Refugee Service) hat in seiner schriftlichen Stellungnahme die geplanten Kürzungen beim Asylbewerberleistungsgesetz kritisiert. Heute appelliert er vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales an die Abgeordneten, den Gesetzesentwurf abzulehnen. Der Entwurf ignoriert unmissverständliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, bricht Völker- und Europarecht. Statt auf sinnlose Schikanen zu setzen, sollte das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft und durch Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch ersetzt werden. Der Flüchtlingsdienst begrüßt ausdrücklich, dass ein Freibetrag für Aufwandsentschädigungen aus ehrenamtlicher Arbeit vorgesehen ist und regt an, diese Regelung auf den Bundesfreiwilligendienst auszudehnen.   Der Entwurf sieht drastische Kürzungen an Leistungen vor, die bereits als Existenzminimum definiert worden sind. Die größtenteils intransparente Berechnung trifft unter anderem Asylsuchende in Gemeinschaftsunterkünften. Geht es nach dem Entwurf, würden allein stehende Erwachsene dort künftig nur noch 299 Euro erhalten (statt bisher 351 Euro nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; das Sozialgesetzbuch sieht einen Regelbedarf von 404 Euro vor). Das spricht der Lebenssituation der meisten Betroffenen Hohn: Auch wenn sie gezwungenermaßen ihr Schlafzimmer miteinander teilen, bilden sie keine eheähnliche Lebensgemeinschaft, die davon geprägt ist, füreinander einzustehen. „Die faktische ‚Zwangsverpartnerung‘, die der Gesetzentwurf diesen Menschen zumuten will, hat mit einer realistischen Bedarfsermittlung nichts zu tun“, so Stefan Keßler, JRS-Referent für Politik und Recht.„Das ist weder mit verfassungsrechtlichen noch mit völkerrechtlichen Vorgaben des UN-Sozialpakts vereinbar.“   Bereiche, in denen Asylsuchende oft einen Mehrbedarf haben – wie höhere Aufwendungen für Kommunikation, um Kontakte in die Heimat zu halten und neue hier aufzubauen – werden nicht berücksichtigt. Auch die EU-Aufnahmerichtlinie wird weiterhin ignoriert: Die spezifischen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen – wie sie zum Beispiel Opfer von Folter und Gewalt hinsichtlich medizinischer und therapeutischer Versorgung haben – werden wieder übergangen. „Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativiert werden darf, aber genau das wird hier versucht“, betont Pater Frido Pflüger SJ, Direktor des JRS Deutschland. „Dieser kalkulierte Verfassungsbruch ist eines Rechtsstaats unwürdig und als Abschreckungsversuch sinnlos: Kein Mensch flieht wegen ein paar Euro mehr oder weniger, schon gar nicht auf lebensgefährlichen Wegen. Statt diejenigen, die zu uns flüchten, zu entmündigen und zu schikanieren, sollten wir sie menschenwürdig und respektvoll aufnehmen, damit die Wunden der Flucht heilen können und sie sich ein eigenständiges Leben aufbauen können.“ Die Stellungnahme des JRS finden Sie auf unserer Homepage. Sie ist, zusammen mit den Stellungnahmen anderer Verbände, auch beim Bundestag als PDF verlinkt (externer Link): http://tinyurl.com/h5wh59z

…………. Ein Kommentar vom Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: “Der kalkulierte Verfassungsbruch steht im Dienst der Regierung CDU und SPD, um sich den Ideologien der AFD anzupassen und diesen “Herrschaften” zu gefallen. Die Debatte, was denn überhaupt noch so ein bißchen christlich ist an den C-Parteien, sollte noch einmal eröffnet werden, gerade im Jahr des Reformationsgedenkens 2017. Unser Vorschlag: Die C Parteien sollten um der Wahrheit willen auf das C von selbst verzichten. Sie sind es nicht mehr. …………………….

Der Jesuit Refugee Service (Jesuiten-Flüchtlingsdienst, JRS) wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Boat People gegründet und ist heute als internationale Hilfsorganisation in mehr als 50 Ländern aktiv. In Deutschland ist der Jesuiten-Flüchtlingsdienst unter anderem für Asylsuchende, Abschiebungsgefangene und Flüchtlinge im Kirchenasyl tätig und setzt sich für sog. „Geduldete“ und Menschen ohne Aufenthaltsstatus („Papierlose“) ein. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.   Dr. Dorothee Haßkamp Öffentlichkeitsarbeit Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland Jesuit Refugee Service (JRS) Witzlebenstr. 30a D-14057 Berlin Tel.: +49-30-32 60 25 90 Fax: +49-30-32 60 25 92 Spendenkonto: IBAN DE05370601936000401020 BIC: GENO DED1 PAX   dorothee.hasskamp@jesuiten-fluechtlingsdienst.de   www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de www.facebook.com/fluechtlinge

 

“Im Ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit”. Hinweise zur Aktualität der Philosophie von LEIBNIZ.

Einige einführende Hinweise zur Philosophie von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ. Von Christian Modehn.

Veröffentlicht am 19.11.2016, anläßlich des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons am 18.11.2016.

Aktualisierung am 22.11.2016: Ein Freund hat mir zu dem unten publizierten Beitrag geschrieben: “Treffender wäre es, wenn man heute – angesichts des Elends in Afrika und weltweit, der Kriege, der Analphabeten, der von Menschen gemachten ökologischen Katastrophen usw. – von der schlechtesten aller denkbaren Welten sprechen würde.“ ABER: Was wäre, wenn man diesem Vorschlag folgen würde? Dann könnte jeder glauben, alles sei eigentlich böse. Alles sei verloren. Die Welt sei am Ende. Da brauchen wir eigentlich nicht mehr gegenzusteuern. Nicht mehr in freiem Handeln dann doch noch das Gute tun. Also Resignation und Verzweiflung auf der ganzen Linie. Vielleicht auch absoluten Egoismus, weil ja alles verloren ist.

Hingegen gilt die Erkenntnis von Leibniz: „Wir leben in der besten aller denkbaren möglichen Welten“, sie ist immer eine das Leben fördernde Erkenntnis. Leibniz hält an der Freiheit jedes Menschen fest, in dem Sinne, dass die Menschen frei das Gute tun können. Und: Das Böse ist eine Tat freier Menschen, die sich auch anders, im Sinne des Guten, entscheiden könnten. Durch Bildung und Aufklärung ließe sich eine bessere Welt schaffen, wenn der Mensch denn dem Gewissen folgt und die vielfältigen Formen des Egoismus überwindet.

Der Gedanke, wir leben in der besten aller möglichen Welten, ist bei Leibniz um so mehr vertretbar, weil er eine Schöpfung dieser Welt durch einen guten Gott im Denken annimmt.

Der heute weit verbreitete Spruch „Eine andere Welt ist möglich“ ist ja letztlich die Aussage „Eine bessere Welt ist möglich“. Mit „andere Welt“ kann im Ernst nur eine bessere Welt gemeint sein. Insofern sind die heutigen Bewegungen für Alternativen etwa zum Kapitalismus durchaus noch von Leibniz geprägt. Die Gedanken von Leibniz haben vielleicht eine universale Bedeutung, sie entsprechen der Sehnsucht der menschlichen Seele nach einer anderen, einer besseren Welt. Vielleicht ist die Überzeugung „Eine andere/bessere Welt ist möglich,“ unthematischer Ausdruck eines religiösen Glaubens!

Das Gerede führender und sehr mächtiger Politiker, etwa auch der Bundeskanzlerin, „Da gibt es keine Alternative“, „There is no alternative“ (Thatcher) usw. ist nichts als Ideologie, ist Ausdruck von Denkfaulheit und dem Verlust an Mut, dem Verlust an Hoffnung und vor allem: der Missachtung der Kreativität der menschlichen Freiheit. Und es ist gelinde gesagt für Demokraten ein heftiges Problem, dass nun ausgerechnet eine populistische und sehr rechtslastige Partei in Deutschland in ihrem Titel das Wort „Alternative“ führt. Trotz dieser Partei und dem Niedergang des demokratischen Bewusstseins und der demokratischen Praxis im allgemeinen: Wir halten uns an Leibniz: Diese Welt ist aufgrund der anerkannten Freiheit des Menschen, des freien, vernünftigen Tuns im Sinne der Menschenrechte, die beste aller möglichen Welten.

Der Text vom 19. 11. 2016:

Das Motto unseres Salons ist: „Im ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit“. So Friedrich Heer in seinem immer noch lesenswerten und umfassenden Essay über Leibniz in dem Fischer Taschenbuch „Leibniz“(1958). Dort S. 59.

1.Ein Vorwort: Wir entdecken in der Reflexion auf einige zentrale philosophische Begriffe von Leibniz ein Modell, wie ein Philosoph (und tatsächliches „Universalgenie“ damals) Antworten findet (!) auf zentrale Lebensfragen. Wie er durch rationale Argumente eine Art Urvertrauen wecken will, aber ein begründetes Urvertrauen, das nicht in esoterischen Sprüchen, sondern in Argumenten seine Kraft hat. Und der dazu aufrief, deswegen für die „Verbesserung der Welt“ aktiv einzutreten und Gerechtigkeit für alle zu schaffen: das war für ihn die „Liebe des Weisen“. Dabei kämpft Leibniz zugleich gegen den Pessimismus der Calvinisten und der katholischen Jansenisten und aller, die sich in ihre begrenzte und damit Angst machende Dogmenwelt einschließen. „Gott weidet sich an den Qualen der Verdammten“, so beschrieb der schottische Theologe Baxter damals dieses grausige Gottesbild der orthodoxen Calvinisten (in Heer, S. 52). Mit solcher Unvernunft und Inhumanität wollte Leibniz absolut nichts zu tun habe. Er widersetzte sich diesen Lehren der Grausamkeit: eben denkend und handelnd: Zugunsten der besseren, d.h. gerechteren Welt. Seine Erfindungen, sein Bemühen um technischen Fortschritt, seine Auseinandersetzungen um ein besseres Rechtssystem usw. sind AUSDRUCK seiner Überzeugung: eine bessere Welt ist möglich. Und wir haben die Pflicht, dies auch zu tun gegen alle Widerstände der Dummheit.

Noch viel zu wenig bearbeitet ist meines Erachtens, welche Anregungen Leibniz in der Begegnung mit den philosophisch damals hoch gebildeten Kapuzinern in Paris empfing, vor allem von Pater Yves de Paris. Über das Werk des Paters Yves de Paris und Pater Laurent de Paris (bei Heer S. 37) wollen wir später weiter arbeiten.

Was wir immer vor Augen haben sollten: Leibniz war naturgemäß auch eingebunden in damals übliche Denkkategorien, etwa die Vorstellung des Monarchen war ihm noch selbstverständlich. Wenn er darum Gott dachte, dann durchaus in der damals üblichen Begrifflichkeit des Monarchen, allerdings des GUTEN Monarchen.

Aber Leibniz bietet uns in seiner Metaphysik und seiner Erkenntnis von Gott ein Modell, das heutige Modelle wiederum in Frage stellt. Er führt zu der Einsicht: Dass doch viele Erkenntnis von einst nicht deswegen zu verwerfen sind, weil sie von früher stammen. So hilft er vielleicht, dass sich heute Menschen für sich selbst und ihre Gemeinde/Freunde eine rational vertretbare Form des wissenden Glaubens an eine göttliche Wirklichkeit entwickeln.

2.Zur Biographie

Wir müssen beachten, dass Leibniz in der Zeit kurz nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lebte und philosophisch dachte. Und zu seiner Zeit fand der Schwedisch-Brandenburgische Krieg statt, der sogenannte. „Große Türkenkrieg“ sowie die verschiedenen Polnisch Russischen Kriege, der große Nordische Krieg usw. D.h. Töten und Abschlachten aufgrund der Nationalität und der Religionszugehörigkeit (und des Kolonialismus und Rassismus) waren zu Leibniz Zeiten sozusagen selbstverständlich. Leibnizens Philosophie und Metaphysik ist deswegen um so mehr als Friedens-Philosophie zu lesen.

Leibniz wurde am 1.7. 1646 in Leipzig geboren. Er verstarb am 14. 11. 1716, im Alter von 70 Jahren, in Hannover. Er lebte, trotz vieler Reisen, seit 1676 im Dienst des Hauses Hannovers und gehörte dem Hof an. Auch nach Berlin hatte er intensive Beziehungen, durch die Freundschaft und philosophischen Gespräche mit Königin Sophie Charlotte. Er schätzte die intellektuelle Qualität der Frauen besonders hoch ein, damals keine Selbstverständlichkeit.

Leibniz lebte in der Zeit des Barock. Und wenn Barock beschrieben wird, dann durch „das Üppige, das Kraftvolle, das Prächtige, den Überschwang, die Fröhlichkeit, die nach außen gestellte Freude“.

Die Qualitäten des Umfangreichen und durchaus – freilich vernünftig gesteuerten – Überschwänglichen gelten auch für die universalen Interessen (und Arbeiten) von Gottfried Wilhelm Leibniz; allein schon wegen der unglaublichen Breite und Tiefe seiner vielseitigen Begabungen. Seine umfassenden Texte und Studien, Bücher, Briefe, Notizen haben in gewisser Weise das Üppige, auch das Großartige. Man hofft, bis etwa zum Jahr 2040 (!) tatsächlich auch den gesamten Nachlass von Leibniz entziffert und dann ediert zu haben….

ABER:

In Paris erlebt Leibniz den schönen Schein des barocken Staates. 1672 schreibt er über die „Mala Franciae“: Paris blüht nur dem Scheine nach, die Provinzen und die Menschen dort darben und hungern. „Alles ist nur dem Schein nach schön, innen aber verkrüppelt und verkümmert. Für ihn stecken hinter diesem zur Schau getragenen Frommsein Hochmut und Selbstsucht; diese vornehme Gesellschaft ist für ihn bigott, verlogen, sie ist ein Kind einer großen entsetzlichen Angst. (so Friedrich Heer, S. 20).

Leibniz wollte eine Lösung finden im damals wie heute herrschenden Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben, im Kampf der Religionen gegeneinander; es musste ein Weg zum Frieden gefunden werden und es musste eine Antwort gegeben werden auf die persönlichen Erfahrungen des Leidens gerade im Krieg und nach dem Krieg. Die Idee des Besseren, des Besserwerdens und Bessermachens war für ihn Leitmotiv seiner Arbeiten.

3.Philosophisch ist zentral

Eine wesentliche Frage für uns heißt: Was ist der Mittelpunkt seines vielfältigen Schaffens insgesamt? Meine Überzeugung: Es ist seine philosophische, begründete Lehre von Gott, Welt und Mensch. Dies wurde angesichts der vielen technischen und mathematischen Begabungen von Leibniz meines Erachtens in den „Gedenkartikeln“ in diesem Leibniz Jahr 2016 nicht herausgearbeitet. Leibniz ist zuerst Philosoph! Alles andere bei ihm steht im Dienst der „Verbesserung der Welt“.

Leibniz will für die Verbesserung der Welt sorgen und vor allem weiter entwickeln durch die in seiner Sicht einzige Kraft, die dieser Forderung entsprechen kann: Das ist die allgemeine Vernunft, die nichts Beliebiges ist, sondern die sich durch Logik auszeichnet, durch die Anwendung von Begründungen und Gründen für etwas; durch die Reflexion und durch die Erkenntnis, dass auch religiöse Texte wie die Bibel der kritischen Betrachtung bedürfen. Leibniz sah in der Vernunft, die allgemein ist, über die sich debattieren lässt, das Heilmittel zur Verbesserung von Mensch und Welt. Dass es nach dem 30 jährigen Krieg die Welt besser, „fortschrittlicher“, werden muss, ist förmlich eine Evidenz. Menschen, besonders im Umfeld von Kriegen, können niemals auf den Begriff des Fortschritts, in dem Falle des Friedens, verzichten. Sie wollen zudem wieder eine „metaphysische Geborgenheit“ erleben. Fortschritt wird nur dann schlecht geredet, wenn Menschen bereits vieles Gute erreicht haben und sehen, dass global doch nicht alles ihnen so gut gelungen ist, wie es gemeint war… ABER: Fortschritt gibt es immer nur in einer bestimmten Hinsicht, etwa was die Rechte von Frauen angeht, die Rechte von Minderheiten usw. In dieser Hinsicht gibt es zumindest im Bewusstsein der Menschheit tatsächlich Fortschritte. Wenn angesichts des großen Wissens der Friedensforschung etwa tatsächlich auch heute der Friede weltweit keine Realität ist, liegt es am Unwillen der politischen Akteure, der Vernunft zu folgen und eine friedliche Ordnung zu schaffen. Es ist mit anderen Worten, der böse Wille, das Nicht-Reflektieren, also der nationalistische Egoismus, der auch heute unnötigerweise Kriege und Mord und Totschlag produziert.

Leibniz, so wird berichtet, war von einer “ausgesuchten Höflichkeit”; er stellte sich je neu in seinen Argumenten auf seine Gesprächspartner und seine Briefpartner ein. Er wollte deren Sprache sprechen, um sein Ziel zu erreichen: Eine vernünftigere und bessere Welt. Von diesem Ziel war er überzeugt.

Die Wurzel dieser Überzeugung ist letztlich sein vernünftig begründbarer Glaube an Gott. Deswegen wurde er oft –manchmal ironisch, abfällig – „Optimist“ genannt. Er hatte eine friedfertige Gesinnung; legte sich das Pseudonym „Pacidius“ zu, auf Deutsch der Friedfertige. Leibniz wusste natürlich von seiner exzellenten höchsten Begabung für so vieles; deswegen wollte er mit vielen Fürsten und Königen etc. in Kontakt treten, um irgendwie dann doch ein beratender Philosoph in der Politik zu sein. Das ist ihm kaum gelungen.

4.Zur Metaphysik und Gotteslehre

Dies ist der Mittelpunkt des Leibnizschen Denkens: Leibniz sah vernünftiges Denken von Logik bestimmt. Er war sozusagen der Entdecker des „Satzes vom zureichenden Grund“: Ohne einen zureichenden Grund kann kein Wesen vorhanden sein und existieren. Konkret: Wenn es diese Welt gibt, dann muss sie einen gründenden Grund haben. So kam, zusammenfassend gesagt, Leibniz philosophisch zur Idee Gottes als des Schöpfers dieser Welt. Diese Überzeugung ist für ihn absolut zentral. Ohne diese Überzeugung zu sehen, kann man Leibniz nicht verstehen.

Das Verhältnis der Welt bzw. darin auch des Menschen zu Gott als dem Gründenden ist von fundamentaler Bedeutung bei Leibniz…

Er sah als Naturwissenschaftler, wie sich die Überzeugung durchsetzte: Die Welt im ganzen ist gesetzmäßig („wie eine Maschine“) strukturiert. Von daher habe auch der Mensch keine Freiheit, so wurde behauptet.

Leibniz versucht dagegen, diese gesetzmäßige Struktur des Weltganzen mit der menschlichen Freiheit zu verbinden. Dabei sind für ihn gewisse Deduktionen von Grundeinsichten üblich. Er will damit Klarheit schaffen, das Dunkel der Ängste vertreiben, eine Art sicheren Boden zeigen, wie trotz aller Erfahrungen von Leiden das menschliche Leben dennoch sinnvoll ist!

Gott ist kein materieller Gegenstand, sondern Geist, geistige Ursubstanz. Als Geist ist Gott aber dann Vernunft. Und Vernunft handelt logisch. Sie strebt nach dem Guten und Wahren.

Wenn Gott eine Welt erschafft, dann kann er eben nur eine Welt, etwas anderes als Gott, und nicht einen zweiten Gott erschaffen. Ein zweiter Gott würde die Frage nach dem Verhältnis beider Götter stellen und so in unsinnige Debatten führen. Selbst Polytheisten erkennen zwar viele kleinere Götter an, denken aber dann doch einen waltenden Übergott (Zeus).

Gott muss also, wenn er die Welt schafft, etwas Nicht-Göttliches (also Endliches und Begrenztes) schaffen, auch wenn sein Werk, die Welt, als sein Werk, mit ihm verbunden bleibt, eben durch die Vernunft. Die Vernunft des geschaffenen Menschen ist also mit der göttlichen Vernunft verbunden, mehr noch: Beide sind eins. Leibniz Forscher, wie Hans Poser, betonen: „Die menschliche ist von der göttlichen Vernunft nicht prinzipiell, sondern graduell verschieden“, Hans Poser, „Leibniz` Philosophie“, Hamburg 2016, S. 259. Es gibt zwischen Gott und Mensch keinen Dualismus, kein Gegeneinander. Es herrscht die große Einheit. Aufgrund dieser Verbundenheit mit Gott kann also der Philosoph Leibniz förmlich die Gedanken Gottes selber nach vollziehen. Dieses Motiv ist schon in der Mystik, etwa bei Meister Eckart, lebendig, später dann wieder bei Hegel…Das Problem ist nur, dass in der Mystik dann doch wieder die „Andersheit“ Gottes festgehalten wurde. Aber selbst wenn der ganz andere Gott ins Denken „einfällt“ (Lévinas), dann ist doch der menschliche Geist fähig (!), diesen denkend anzunehmen. Also: So „ganz anders“ kann Gott dann doch nicht gegenüber dem menschlichen Geist/der Vernunft sein! Die „dialektische Theologie“ (Kierkegaard, Karl Barth) hat im Sinne von Leibniz also unrecht.

Nun fühlt sich der Mensch in der Welt in seinem Handeln durchaus frei. Er kann seine Willensentscheidungen als Tat realisieren und damit in der Welt und ihrem Geschehen frei wirken. Diese subjektive Freiheitserfahrung verbindet Leibniz mit der Tatsache, dass Gott diese Welt geschaffen hat und ihr die eigenen Gesetze eingefügt hat, also auch Naturgesetze. Aber: Gott ist „im menschlichen freien Tun“ sozusagen „versteckt“ dabei, weil es ja Gott ist, der die Welt schafft und als Gott diese Welt und die Menschen zum Guten und immer Besseren führen will.

Eine göttliche Schöpfung kann also nicht durch Taten der Menschen total versinken und verschwinden. Das wäre sozusagen eine Katastrophe für Gott, er wäre dann nicht mehr Gott; denn sonst würden sich die endlichen, die geschaffenen Menschen als die Herren der Welt zeigen. Das wäre ein Widerspruch zur göttlichen Schöpfung. Heute können die Menschen durch ihre Erfindung der Atombombe tatsächlich Gottes Schöpfung zerstören. Sie haben ihre Freiheit der Forschung maßlos und ohne jeden Bezug auf Ethik beim Bau der Atombomben durchgesetzt. In der Sicht Leibniz` haben sie also eine gottferne Wirklichkeit geschaffen. Die Menschen können jetzt nur noch alles tun, durch Verhandlungen die zerstörerische Macht der Atombomben einzuschränken. Wer das nicht realisiert, ist eigentlich böse.

Für Leibniz jedenfalls zu seiner Zeit gilt: Dieses Zusammenwirken von Mensch und Gott trifft auch zu, wenn sich der Mensch für Böses entscheidet. Dann wird diese Entscheidung allein vom Menschen her als einem freiem Wesen begründet. Aber Gott hat diese bösen Entscheidungen auch vorausgesehen, aber nicht vorher bestimmt (also es gibt keine Prädestination, Gott als Gott schafft also nicht bestimmend das Böse!). Aber Gott kann diese menschlichen, der Freiheit entspringenden Taten des Bösen dann in sein göttliches Konzept der Schöpfung einbeziehen. Es herrscht also eine Art Variabilität: Je nach menschlicher Entscheidung entwickelt sich der Lauf der Welt. Aber Gott bleibt der Herr seiner Schöpfung, indem er dann je neu die Welt weiter zu Besseren hin entwickelt, indem etwa andere, bessere menschliche Entscheidungen möglich werden.

Wenn der einzelne Mensch handelt und im Handeln die Welt in gewisser Weise auch steuert und verändert, dann ist dies eine subjektive Freiheitserfahrung. Aber im Hintergrund dieser subjektiven Tat, sozusagen stillschweigend, aber nicht abschaffbar anwesend, ist die göttliche Vernunft: Sie hat als schöpferische Vernunft das gute Ziel dieser Welt insgesamt vor Augen: Gottes Voraussicht sieht also das Tun der Menschen im einzelnen voraus. Die Menschen entscheiden sich also freiwillig für ihr Tun; sie ahnen dabei gar nicht, dass im Hintergrund die göttliche Vernunft in ihnen mitwirkt; Gott verwirklicht also seine göttlichen Ziele durch menschliches Tun hindurch.

Jedoch: Gott greift nie wunderbar in das Geschehen der Welt direkt ein, er übergeht nicht die Naturgesetze durch einzelne Wunder; lässt etwa keinen abgeschlagenen Arm eines Menschen wunderbarerweise wieder nachwachsen. Er straft nie direkt unmittelbar mit einem Blitzschlag oder so den Übeltäter oder er zaubert auch nicht einen guten Helden oder Heiligen plötzlich als Retter aus der Not hervor. Die Welt entwickelt sich selbst unabhängig von direkten göttlichen Eingriffen. Diese Haltung hat weite theologische Konsequenzen: Das individuelle Bittgebet wird dann überflüssig, weil zu egoistisch bestimmt! Als subjektive Poesie hat das Bittgebet ein Recht. Beten ist nur noch Anerkennen, dass die Menschen von Gott „getragen“ und umfangen sind. Ich denke, das Lied von Paul Gerhardt, „Befiehl du deine Wege“ , auch im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges entstanden, ist ein Lied, das einige Elemente von Leibnizens Philosophie ausdrückt.

5.Die Welt in diesem Zusammenwirken von Gott und Mensch nennt Leibniz „die beste aller möglichen denkbaren Welten“.

Dahinter steht der Gedanke: Gott als Gott könnte eigentlich viele mögliche Welten erschaffen. Etwa eine, in der die Menschen einander nichts Böses antun, so wie es einige Tier-Familien gibt, die einander nicht fressen usw. Nur: Wenn auf diese Weise das Böse aus der Menschenwelt ausgeschlossen wäre, dann gäbe es auch keine Freiheit. Freiheit aber ist identisch mit Reflexion, mit freiem Entscheiden usw. Also wäre in dieser Welt ohne mögliches Bösestun der Mensch nicht mehr Mensch, sondern ein Tier. Also kann Gott aufgrund der menschlichen Freiheit keine Welt schaffen, in der es nicht auch Bösestun durch Menschen gibt. Wenn Gott den Menschen als geistvollen Menschen, also als freien Menschen, will, dann muss er sozusagen auch das Böse zulassen. Und er muss zulassen, weil diese Welt eben eine geschaffene Welt ist, er muss dass die Natur sich „unkontrolliert“ verhält, Bäume beim Wind umfallen usw. und im Zusammenprall widriger Naturelemente Unglück passierrt. Und Gott muss zulassen, dass die Menschen als geschaffene eben dadurch endliche Geschöpfe bleiben und, weil nicht Götter, sterbliche Wesen sind.

Alle diese Strukturen der Welt hält Gott dann doch noch für die beste aller für ihn denkbaren Welten. Diese denkbar beste aller möglichen Welten ist für die Menschen als Geschöpfe nicht die rundum erfreuliche, nicht die so wunderbar-tolle, die absolut immer und für jeden zu jeder Zeit gute Welt. Es gibt subjektiv erfahrenes Elend, Leiden usw. Aber: Diese Erfahrungen mindern für Leibniz nicht die Erkenntnis: Eine bessere Welt mit freien, geistvollen Menschen ist nicht denkbar. Besser konnte Gott keine Welt schaffen. Man kann ja spekulieren: Warum müssen wir eigentlich sterben? Wäre ewiges Leben auf Erden ein Gewinn für uns für unsere Lebensgestaltung? Könnten dann immer noch weitere Menschenwesen geboren werden. Könnte der Mensch weiterhin aus Fleisch und Wasser bestehen? Oder besser aus massivem Holz? Wann wäre diese Welt unsterblicher Menschen wegen Überfüllung geschlossen usw…

Diese Erkenntnis entwickelt Leibniz in seinem sehr umfangreichen und nicht immer leicht lesbaren Buch „Theodizée“, das heißt: Richterspruch über Gott. Man sieht schon bei dem Titel einmal mehr, dass Leibniz auch Jurist ist; Jura war ja sein erstes Studienfach. Leibniz hat als Ziel vor Augen, eine universale Ordnung zu schaffen, die vom Recht bestimmt ist. Leibniz hält nichts von Gewalt, er will alle Verhältnisse nach Recht und Gerechtigkeit gestalten. (Heer, S.15). In der „Theodizee“ geht es um die Anklage: Warum hat Gott die Welt und die Menschen so geschaffen, wie sie offenbar böse und begrenzt nun einmal erlebt wird. Diese „Theodizée“ wurde 1710 veröffentlicht.

Viele Kritiker haben sich nach oberflächlicher Lektüre darauf gestürzt und besserwisserisch gesagt: Was, diese Welt soll die beste sein? Sie haben dabei alle Nuancierungen, die der kluge Leibniz bot zum Thema, übersehen und eben alles als metaphysischen Schwachsinn schlecht gemacht. Bloß zu sagen, „so ist das nun alles mal in dieser blöden Welt, sie hat keinen Gott, es gibt nur Idioten um uns herum“ ist doch für viele nicht befriedigend. Da passiert sozusagen ein Selbstverzicht aufs Nachdenken. Kant hat die Theodizee von Leibniz zurückgewiesen, weil sie seiner Definition von Erkenntnis und damit, bei Kant, der Unmöglichkeit von Erkenntnis Gottes widersprach. Aber im Denken musste dann selbst Kant in seine praktischen Vernunft die Idee Gottes annehmen….

Geradezu komisch wirkt der Einwurf, die Theodizee –Kritik von Odo Marquard: „Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen (der Welt) dann nicht bleiben lassen ? “ (In: Odo Marquard, Entlastungen, in Apologie des Zufälligen, Reclam 1986, Seite 17). Nun aber gibt es diese Welt und darauf muss man philosophisch reagieren. Die Welt als nicht existent bei einem Gott im Himmel für sich allein zu denken, ist gelinde gesagt nur komisch. Oder eben eine der vielen „netten“ Marquardschen Formulierungen, die das Publikum so toll (komisch) fand…

Eine andere Frage ist, wie die Abgründigkeit des Bösen, etwa der Holocaust oder jetzt der Krieg in Syrien und die Sklaverei, mit dem Leibniz Konzept der besten aller möglichen Welten zusammen gedacht werden kamnn.. Gerade, wenn der subjektive Schmerz der Betroffenen einzelnen im Leiden immens ist. Dennoch ist es philosophisch gesehen die Frage: So sehr das Leiden der einzelnen furchtbar ist, so muss doch gesehen werden: Der Holocaust, der Krieg in Syrien, die Sklaverei usw. sind im letzten Ausdruck freier menschlicher Entscheidungen in der Politik. Sie sind keine unergründlichen (vielleicht nur für den Klerus zu klärenden) Mysterien, sie sind keine blinden Schicksalsschläge, sie sind vielmehr Ausdruck der politisch gewollten Stilllegung der Vernunft bei so vielen, auch den vielen Mitläufern usw. Das heißt: Dieses Grauen ist Ausdruck der Freiheit vieler Menschen, also der freien Willen. Da wäre mit Vernunft vieles zu verändern und zu verbessern (gewesen). Der Holocaust usw. hätte nicht sein müssen bei einer vernünftigen Gesellschaft in Deutschland! Aber wie wurde die Weimarer Republik schlecht gemacht…Leibniz würde wohl sagen, ohne zynisch zu werden: Auch all das Schlimme ist Ausdruck dieser Welt freier Menschen, einer Welt, die also solche dann aber immer noch die beste aller denkbaren ist. „Gott musste das Übel zulassen, um in Freiheit die beste der möglichen Welten zu schaffen“ (Hans Poser, S. 260).

Es ist für den einzelnen Leidenden im Augenblick des Leidens wohl schwierig, sich dieser Erkenntnis anzuschließen, er muss diese Gedanken schon vorher in Ruhe gedacht haben, um sie als Trost wahrzunehmen.

Aber was sind die Auswege? Voltaire hat in seinem Anti-Leibniz Roman Candide (von 1759, nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon) gezeigt, wie die Irrfahrten des leidenden Candide dann enden: Letztlich können seine beiden philosophischen Begleiter angesichts nur beruhigende Sprüche aus der Verhaltenstherapie weiter geben: Der Weise Martin empfiehlt: „Lasst uns arbeiten ohne nachzudenken, das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen“. Und der Philosoph Pangloss, der nach wie vor einen ungetrübten Optimismus predigt, wird von Candide im letzten Satz der Novelle mit der Erkenntnis beschieden: „Gut gesagt, aber unser Garten muss bestellt werden“. Die Arbeit soll also von allen Fragen nach dem Sinn von Leiden befreien. Das ist eine Art resignatives Denkverbot, bis heute leider üblich. Voltaire hat förmlich die Üblichkeit eingeleitet, den Leibnizschen metaphysischen Gedanken schlecht zu machen und zu diffamieren. Trost spenden kann Voltaire mit seiner Verhaltenstherapie (Arbeiten, den Garten pflegen) gar nicht.

6.Auf die hoch komplexe Leibnizsche Lehre von den Monaden kann hier nur ganz kurz verwiesen werden: Gott ist die Ursubstanz, die alle anderen Substanzen der Welt und der Menschen belebt. Eine Monade nennt Leibniz die kleinste unteilbare Einheit, die in allem lebt und unzerstörbar ist. Die menschliche Seele ist unteilbar, damit nicht materiell, sondern geistig. Gottes Reich, zu dem jeder Mensch gehört, verliert keine Person, d.h Menschen sind als Seelen ewig. Gott wird hier als der gerechteste und gütigste Monarch, so wörtlich, gedacht. Er will das Glück der Menschen, er will nur, „dass man ihn liebt“ (S. 163 Metaphysische Abhandlung). Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand und gegen alle Umwälzungen des Weltalls beschirmt; da nichts auf sie einwirken kann als Gott allein“ (S. 165 in Metaphysische Abhandlung, Suhrkamp). Dieser Text wurde 1686 geschrieben, aber erst 1846 gedruckt.

7.Für die Versöhnung der Religionen und der getrennten Kirchen arbeiten.

Es wird sehr oft vergessen, dass Leibniz leidenschaftlich und klug die Einheit der vielen getrennten Kirchen förderte und zahlreiche Gespräche und Korrespondenzen zu dem Thema hatte. Das war zu den Zeiten sensationell. Er meinte: Nur die vereinten Kirchen können den Fortschritt der Menschheit befördern. Man stelle sich vor, heute in diesen Kriegszeiten, würden die großen Kirchen einander als gleichwertig anerkennen und versöhnt mit einander in Vielfalt leben, was wäre dies für ein Symbol. Was wäre das für ein Zeichen in der zerrissenen Welt. Vielleicht ein „Vorbild“.Für Leibniz ist entscheidend, dass auch die Kirchenlehren nur unter der Kritik der Vernunft bestehen können. Das heißt, die philosophische Vernunft ist letztlich wichtiger als die Aussagen der Offenbarung und der Kirchenlehre.

Wenn die Kirchenlehren also relativ sind und die Erkenntnisse über Gott durch die Philosophie entscheidend sind: Dann kann alles daran gesetzt werden, dass die getrennten Kirchen ihre dann immer relativen und zweitrangigen Lehren zurückstellen und sich auf eine Kirchengemeinschaft mit einer einfachen gemeinsamen Lehre/gemeinsamen Dogmen einigen.

Dieser Einsatz von Leibniz für die Ökumene ist kaum bekannt, kaum erforscht und nach meinen Kenntnissen nicht nur Kirchenkreisen unbekannt oder der Leibniz Beitrag dazu wird unterdrückt. Dabei ist die Anerkennung der Relativität der Kirchen-Dogmen heute schon eine verbreitete Erkenntnis, es fehlt nur weithin die Anerkennung der Vorrangigkeit der Vernunft, wie Leibniz sie sah… Nebenbei: Es gab 2009 in Berlin eine Tagung zu Leibniz und die Ökumene. Die Vorträge sind veröffentlicht in den „Studia Leibnitiana“ von Hans Poser.

8.Für den Dialog und den Austausch mit China: Ein zentrales Thema von Leibniz

Auch dies ist ein weithin unbekanntes Thema, und es fehlt meines Erachtens in vielen journalistisch-oberflächlichen Leibniz Darstellungen in Filmen und Zeitschriften im Leibniz-Jubiläum 2016, selbst in einem Film, der für ARTE 2016 gemacht wurde. Da wird Leibniz sozusagen als Vorläufer der modernen Computer-Welt interpretiert.

Der interkulturelle Dialog ist genauso wichtig: Tatsache ist: „Denken ist für Leibniz Mitdenken, auch Zustimmen zu Fremden, weil die Vernunft die Kunst des Verknüpfens ist von allen Wahrheiten und Wirklichkeiten“. (S 20, Heer)

Die Rezeption des chinesischen Philosophen Konfuzius und Menzius durch Leibniz sowie seinen Schülers Christian Wolff ist ein Beispiel dafür, dass schon die Frühaufklärung von außereuropäischen Einflüssen geprägt ist. Es ist also falsch, die Aufklärung nur als auf europäisches Denken begrenzte Philosophie zu verstehen. China war für die Europäer etwas absolut Neues, für Europäer, die sonst in der Begegnung mit anderen, fremden Kulturen sehr imperialistisch waren. In Amerika, so meinten sie, hätten die Europäer ungebildete Wilde „entdeckt“; in Afrika stand den Kolonisten ein Markt von Sklaven bereit, also von „Untermenschen“. In China hingegen begegneten die Europäer einer großen uralten Kultur, die sie einfach als wichtig und „entwickelt“ anerkennen mussten.

Leibniz schrieb einen Essay über die chinesische Weisheit/ Philosophie. Er korrespondierte mit zahlreichen Wissenschaftlern aus dem Jesuitenorden. Sie stammten aus Frankreich und Italien vor allem, die in China seit etwa 1550 – lebten und in Peking lehrten und durch ihre Übersetzungen chinesischer Werke überhaupt China in Europa bekannt machten.

Tatsache ist: Mit dem grundlegenden chinesischen Philosophen Konfuzius hat sich Leibniz viele Jahre befasst, das war ein absolutes Novum damals! Natürlich standen Leibniz nur einige erste chinesische Werke in lateinischer Übersetzung zur Verfügung! Seit Leibniz 1689 in Rom den Jesuitenpater Grimaldi kennen lernte, gibt es sein ausgeprägte Interesse an China. Grimaldi berichtete von seinen Aufenthalten in China. Da entwickelte Leibniz bereits die Vorstellung eines Kulturaustausches. Nicht nur der Handel, der Austausch der Ideen sollte Europa wie auch China bestimmen. Nicht nur Handel mit Gewürzen, sondern Austausch der Kulturen. Noch auf dem Sterbebett schrieb Leibniz einen Essay über die chinesische Philosophie – sie war das Herzensanliegen eines Mannes, der schon 1698 dem Kaiser Kangxi nach Peking einen ausführlichen

Brief geschrieben hatte, in dem er die Gründung zweier Akademien – einer in Hannover, einer in Peking – vorschlug. Sie sollten beide Kulturen vergleichend studieren und herausfinden, wie beide voneinander lernen und sich befruchten können. Vgl. hier die weiterführenden Hinweise von Henrik Jäger:

http://www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/doku/201208_Jaeger.pdf

Zahlreiche Briefe offenbaren den Dialog des Lutheraners Leibniz mit Jesuiten. Er schätzte die Leistungen der Jesuiten in Peking als Mathematiker, Astronomen, Übersetzer sehr! Und fand bei diesen aufgeschlossenen Katholiken den Geist der Vernunft, also den Geist, mit wissenschaftlichen Erklärungen den Chinesen vieles deutlich zu machen. Aber die Päpste und andere in Europa waren so begrenzt und dumm, dass sie diesen Dialog der Jesuiten in China nicht mehr zuließen. Die Jesuiten meinten: Wenn ein Chinese Katholik werden will, und das wollten doch einige tausend, dann können sie als Chinesen auch ihrem Ahnen – Kult und anderen uralte Riten treu bleiben. Diese Offenheit lehnte Rom mit seiner strengen Dogmatik ab. So scheiterte 1704 das Experiment der Jesuitenmission in China, was Leibniz sehr bedauerte. Sein Briefaustausch mit den Jesuiten dort kam 1703 kam an ein Ende. Diese Jesuitenpräsenz in China ist sicher eines der spannenden Themen der Religionsgeschichte. Philosophisch ist wichtig zu sehen: Dieses Experiment eines „chinesischen Katholizismus“ konnte ja nur deswegen scheitern, weil die Jesuiten dort im letzten doch glaubten, die Chinesen sollten Katholiken werden. Hätte man auf diesen Missionsgedanken verzichtet, also die völlige Gleichwertigkeit chinesischer Religionen und chinesischer Philosophen mit dem Christentum anerkannt, dann wäre es bei einem fruchtbaren Kulturaustausch geblieben und vielleicht hätte man viel später, wie von selbst gefragt: Was verbindet uns Chinesen und uns Jesuiten/Katholiken eigentlich. Mit anderen Worten: Der Gedanke der Mission als Auftrag zur Bekehrung anderer (Chinesen) hat auch das große Kulturexperiment zunichte gemacht.

Hinzu kam, dass auch in Europa eine tiefe Verunsicherung durch die Kenntnis der chinesischen Kultur bestand: Denn die christlichen Europäer merkten plötzlich, dass sich die Bibel, so wie sie verstanden, offenbar geirrt hatte; denn die Christen errechneten die Daten der Schöpfung und der Sintflut aus dem Alten Testament. Und merkten: Die Chinesen waren von der Sintflut (zwischen ca. 2 500 und 2344 vor Christus, dies errechnen einige christliche Fundamentalisten noch heute) gar nicht betroffen. Die biblischen Erzählungen enthalten also gar nicht universale Wahrheiten! Und im uralten und maßgeblichen „Buch der Wandlungen“ aus dem 3. Jahrtausend vor Chr. wurde behauptet: Die Welt hat weder einen Anfang noch ein Ende. Das aber widersprach angeblich der christlichen Dogmatik… Dabei hat doch Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt geschaffen, dachte man… Deswegen wollte man die chinesischen Texte als atheistische Texte in Europa verbieten.

Leibniz hingegen dachte viel konstruktiver: Er fordert Missionare aus China für die Europäer, so in einem Brief von April 1709, (S. 20 in Heer) „Europa muss von Missionaren der Menschlichkeit missioniert werden, von Menschen, deren Denken Menschenliebe ausdrückt“. Europa muss also umfassende Moral von konfuzianischen Weisheiten empfangen. Heute lernen einige Europäer in Zen-Klöstern die Zen-Philosophie und Zen—Meditation. Aber hat sich Europa deswegen schon geöffnet für einen umfassenden Dialog mit anderen Kulturen? Sicher (noch) nicht. Was wissen wir von afrikanischer Philosophie, was von den indigenen Weisen in Peru oder Mexiko? Leibniz könnte den bornierten Europäern helfen, sich für die Mitte der Welt zu empfinden.

Leibniz hatte aber auch durchaus eine gewisse Skepsis vor einem zu großzügigen Informieren der Chinesen durch Europa: Er hielt die Chinesen für technisch so hoch begabt, dass sie technische Leistungen der Europäer egoistischer Weise einfach übernehmen, also „klauen“. Das Thema „Industriespionage durch China“ ist ja in Europa und anderswo eine viel besprochene Tatsache jetzt. Genau so wie die Tatsache, dass mit dem Philosophen Konfuzius durch die chinesische KP Führung insofern Missbrauch getrieben wird: Die staatlichen, also KP abhängigen chinesischen Kulturinstitute haben den Titel „Konfuzius-Institute“, vertreten in mehr als 100 Ländern!, selbst in Benin !, auch Spionage und „Wirtschaftsrecherche“ soll dort betrieben werden, berichten deutsche Fernsehreportagen.

Also: Was schätzte Leibniz an Konfuzius? Die Ethik des Konfuzius ist eine freie philosophische Ethik ohne Bindung an Religionen. Der Mensch kann selbst und von sich aus sein Leben in die eigenen Hände nehmen. Diese Ethik hat universale Züge. Dass sie dabei auch sehr „Herrscher-freundlich“ schon war, sah Leibniz offenbar nicht.

8.Christian Wolff führt den Dialog mit China weiter

Eigentlich müsste jetzt auch an den grossen – leider weithin unbekannten – Christian Wolff erinnert werden, der mit Leibniz korrespondierte. Er sah in seiner philosophischen Ethik eine vollkommene Übereinstimmung mit Konfuzius. Wolff musste deswegen die Universität Halle „binnen 2 Tagen verlassen“, so groß war die Angst des preußischen Königs vor diesem „Zerstörer der Kirchenlehren“…Wolff meinte: Vernunft ist größer als der Glaube. Der Mensch kann sich frei ethisch weiter entwickeln und verbessern auch ohne die Kirchen. Religion wird zwar nicht überflüssig, aber sie wird relativiert.

Wolff fand in Marburg Zuflucht. Er hatte dort tausende von Hörern auch aus Asien. Er hat es zu Weltruhm gebracht. Auch der junge Kant im Austausch mit Wolff.

Wichtig ist vor allem: Christian Wolff hatte auch die Philosophie des Konfuzianers Menzius entdeckt: Menzius (372 bis 289 v.Chr.) lehrte die grundsätzlich gute Natur des Menschen, er war also ein chinesischer Weiser, der in Europa als Gegner christlichen „Erbsünde“ wahrgenommen wird. Bei einer Reise nach Halle sollte man das schöne „Christian Wolff Haus“ unbedingt besuchen, in Deutschland eines der wenigen wirklichen Museen, bezogen auf einen Philosophen! Und nebenbei die Franckesche Stiftung, den einstigen Hort des sehr frommen Pietismus…

Dringend ist für uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: Mit Menzius sollten wir uns bald befassen, vielleicht das große und schöne Buch von Henrik Jäger lesen, „Den Menschen gerecht“. Ein Menzius Lesebuch, Ammann Verlag. Wenn wir uns darin vertiefen , haben wir auf anderer Ebene immer noch mit LEINBIZ zu tun!

Neben der genannten Literatur und den Interpretationen möchte ich ausdrücklich die umfangreiche Biographie und Werk-Einführung von Eike Christian HIRSCH empfehlen, “Der berühmte Herr Leibniz”. Die überarbeitete 3. Neuauflage erschien 2016 im C.H.Beck Verlag, das Buch hat 659 Seiten und ein Register!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

 

Salon am Fr., 16. Dezember 2016: Was ist uns (noch) heilig?

Der Religionsphilosophische Salon debattiert am Freitag, den 16. Dezember 2016, um 19 Uhr, über ein Thema, das entfernt, vielleicht für manchen auch näher, zum Weihnachts – Fest (bzw. – Trubel) gehört:

“Was ist mir, dir, uns heute (noch) HEILIG?” Sicher nicht bloß der “Heilige Abend”. Also: Was bedeutet eigentlich heilig? Was ist dagegen profan, weltlich? Stimmt diese Gegenüberstellung? Kann für manche nicht sehr Profanes in den absoluten Mittelpunkt rücken und so heilig für ihn werden? “Macht” sich also vielleicht jeder Mensch Heiliges? Kann aber Heiliges wirklich “machen”? Ist vielleicht die Würde der Person das einzige, was das Prädikat heilig verdient? Wenn man es theologisch will: Seit Gott Mensch geworden ist, ist jeder Mensch als Mensch als heilig. Welchen Sinn haben dann noch Religionen und Kirchen, die abgegrenzte Bezirke des Heiligen noch pflegen?

Das könnte ein spannender Disput werden, auch zu einem politischen Thema: Offenbar wird leider für immer mehr Menschen “die Nation”  wieder heilig: “America first”. “La France d` abord”. Oder auch leider wieder wie seit 1933: “Deutsche und Deutschland zuerst”. Diese Slogans bringen das vernünftige Denken so vieler zum Erliegen und … gerissene Populisten an die Macht.

Von jedem Teilnehmer, jeder TeilnehmerIn, erbitte ich wieder 5 € für die Raummiete. Ich selbst mache Philosophisches bekanntermaßen gratis, aber hoffentlich für Sie, für mich, nicht “umsonst”.

Der ORT: Die Kunstgalerie FANTOM, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf.