Luther würde sagen: Es ist genug! Hört auf, mich zu bejubeln. Eine Art Zwischenruf

Von Christian Modehn. Vorschläge für eine neue Reformation anno 2016.

Das aktualisierte Motto: “Welches Buch haben Sie nicht zu Ende gelesen?” fragt “Der Tagesspiegel” am 11.12.2016 Margot Käßmann, die “Botschafterin für das Lutherjubiläum 2017”. Die Luther – bzw. Reformations-Botschafterin antwortet: “Nicht zu Ende gelesen habe ich die gefühlt 17. Lutherbiografie”. Also, so sagt man sich auch:”Es ist genug, es reicht”…

Natürlich kann ich nicht mit 20 Fußnoten belegen, dass Luther in irgendeinem Brief oder bei einem Tischgespräch seinen Freunden zurief: „Hört auf, mich zu bejubeln“. Aber es ist – von außen betrachtet – mehr als wahrscheinlich, dass er bei all den aktuellen Jubelfeiern, Gedenkfeiern genannt, doch jetzt sagen würde: „Ich bin zwar in mancher (!) Hinsicht noch inspirierend und manchmal noch wichtig. Aber heute, angesichts dieser Welt im Jahr 2016, gibt es wirklich Dringenderes als mich und die Wittenberger Reformation“. Gerade für religiöse Menschen, die sich Christen nennen und Protestanten speziell. Also: „Wendet euch dem Dringenden zu“, würde Luther sagen. Fraglos inspirierend bleibt sein Mut, der allmächtigen Herrschaft der römischen Kirche entgegenzutreten und eine andere Gestalt von Kirche tatsächlich dann zu fördern. Fraglos wichtig bleibt seine Lehre vom „allgemeinen Priestertum“ aller Christen ebenso die Ermunterung, dass ein jeder selbst die Bibel lese und … historisch-kritisch studiere, möchte man anfügen. Abzulehnen bleibt Luthers gewalttätige Abwehr eines sozialkritischen Glaubens an der Seite der Armen, vertreten durch Thomas Müntzer, den er hasste. Abzulehnen bleibt Luthers viel besprochener und leider so wirksam gewordener Antisemitismus. Abzulehnen bleibt seine bis heute spürbare Bevorzugung der staatlichen Autoritäten… Alle diese guten und diese unerfreulichen Aspekte Luthers sind allmählich, bis hin zu den theologisch eher wohl ein bißchen uninteressierten BILD-Zeitungslesern, bekannt. Sollen alle diese historischen Luther-Themen nun monatelang weiter, auch durch den Kirchentag 2017, erneut in aller Popularisierung durchgekaut werden? Gott bewahre uns davor! Schon vor der Luther-Bücherflut im Herbst 2015 konnte ER uns nicht retten, klicken Sie hier. Mit Luther lässt sich eben doch auch Geld machen, und seien es die Buch- und Vortragshonorare.Und die Kirche kann mit staatlichen Fördermillionen feinste Luther-Gedenkstätten, also Museen, schaffen.

Es geht angesichts einer Welt zunehmender Gewalt, Krieg, Zerstörung, Wahn der Dikatoren usw.  heute darum, die religiösen Traditionen und theologischen Debatten auf den zweiten Platz zu setzen. Also die Luther-Lehren, die katholischen und evangelischen Dogmen und religiösen Weisheiten und alle die hübschen Erinnerungen an das 16. Jahrhundert, all das sollte bitte nicht länger im primären Interesse von Information, Bildung, Veranstaltung kirchlicherseits stehen. Dringend ist es in der heutigen Lage der Menschheit nicht, alle Details über Luther zu wissen. Natürlich muss es historisch-kritische Luther-Forschung geben. Aber was nützt all diese Kenntnis, um wenigstens schrittweise eine gerechtere Welt zu schaffen? Um die Menschen zu mobilisieren, für den Frieden und die universale Gerechtigkeit wirksam einzutreten? Ob dabei die ewigen und so oft durchgekauten Debatten über reformatorische Lehren, Zwei-Reiche-Lehren usw. weiterhelfen, darf sehr bezweifelt werden. Es geht nicht nur um die für religiöse Menschen zugängliche Wahrheiten. Es geht um die Verbreitung von elementaren ethischen Einsichten, die sich der Vernunft, jeder Vernunft, erschließen. Es ist eben ein grober Denk-Fehler, wenn etwa Antje Jackelén, die lutherische Bischöfin von Uppsala, Schweden, sagt: “Wir müssen den Flüchtlingen helfen, weil wir Christen sind” (FAZ 31.10.2016, Seite 4). Nein, es muss heißen: “Wir müssen als Menschen den Flüchtlingen helfen, wir müssen helfen, weil wir Christen wie alle anderen eben auch und zuerst Menschen sind”. Der christliche Glaube (Beispiel: Barmherziger Samariter usw.) kann lediglich verstärkend und unterstützend die allgemeine, für alle gültige Ethik unterstützen! Es gibt in dem Sinne eben keine “christliche Ethik”!

Wichtig ist, so kann man in einem philosophischen Denken meinen, also die Bildung und Verbreitung der Ethik, einer politischen Ethik. Sie stellt die sich stets weiter entwickelnden Menschenrechte in den Mittelpunkt des Interesses und der zentralen Verpflichtung unseres Menschseins. Selbst wenn diese Menschenrechte in Europa dank der Philosophie und des Humanismus (fast gar nicht dank der Kirchen !) entstanden sind, so sind sie doch für alle Menschen gültig, selbst wenn die USA, offenbar noch eine Demokratie, in ihrer Politik permanent die von ihnen hoch geschätzten Menschenrechte so oft ignoriert haben und ignorieren…

Also: Auch für eine der Menschheit dienende Kirche (“Kirche für andere”, Bonhoeffer) gilt heute: Die Menschenrechte zuerst, die ethische Bildung zuerst, die politischen Debatten in diesem Sinne zuerst auch in den Kirchen. Und das hat zur Konsequenz: Es muss der nationale Egoismus überwunden werden. Es gilt, tatsächlich das große Projekt zu bearbeiten: Aufbau einer gerechten Gesellschaft; Schluss damit, dass sich die reichen Christen angewöhnen,die Millionen Hungernder einfach so zu akzeptieren; Beendigung des Waffenhandels durch sich christliche nennende Staaten. Erst wenn sich die Kirchen primär an diesem Thema abgearbeitet haben, kann man das weite Feld des Religiösen studieren… und ein bißchen, in vernünftigen Rahmen, auch Luther feiern. Welche Art von Verstopfung Luther hatte, wie er sprach, wie er liebte, wie zornig er sein konnte und so weiter: Das ist alles Folklore, unnützes Wissen. Populär gemachtes Bla Bla aus Gründen der Anbiederung.

Nützliches Wissen ist für die Christen, eben weil sie Menschen sind: Was ist der Kategorische Imperativ im Sinne Kants, das universale moralische Gesetz; was ist die „Goldene Regel“, was ist Empathie. Eine Kirche, die sich der jesuanischen Reich-Gottes-Idee verpflichtet weiß, also der gerechten Gesellschaft, kann tatsächlich und muss es auch im Sinne Jesu, Ethik wichtiger nehmen als interne religiöse Dogmen und Weisheiten. Die kann man ja pflegen, aber bitte erst, wenn alle Gottesdienste im Luther-Gedenkjahr sich um die Ausbildung einer humanen Ethik drehen. Dann wird man erkennen: Eigentlich ist der christliche Glaube etwas – von der Lehre her gesehen – Einfaches: Er ist die Lebenshaltung der Liebe, der Hoffnung, des Glaubens an eine Dimension des Göttlichen, das in allen menschlichen Leben wachgerufen werden kann. Der christliche Glaube hat jedenfalls in dieser alles entscheidenden elementaren Form nichts zu tun mit den 814 Seiten eines katholischen Katechismus, der ziemlich alle Details des Innenleben Gottes zu kennen meint; ein evangelischer Katechismus ist nur etwas kleiner.

Sagen wir es kurz und bündig: Glauben ist zuallererst ethische Praxis; Glauben ist Leben nach den Menschenrechten. Man lese bitte wieder Kant, etwa das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. In der „moralischen Anlage“ des Menschen, jedes Menschen, sah Kant „eine Heiligkeit“. Er sprach davon, dass diese moralische Anlage im Menschen (also der kategorische Imperativ) eine „göttliche Abkunft habe“. So viel Göttliches IM Menschen reicht, um menschlich zu leben mit anderen. Meister Eckart sah das nicht viel anders!

Kant ist also weder Atheist noch „veraltet“. In seinem Sinne gilt: Es würde den Kirchengemeinden gut anstehen, die ethische Bildung, auch gesprächsweise mit den Muslims, in den Mittelpunkt zu stellen, im Verbund mit Menschenrechts-Organisationen.

Welche ethisch-moralischen Katastrophen auch aus dummer Frömmigkeit entstehen, sieht man gegenwärtig in den USA und dem dortigen Wahl-Gemetzel. Die unflätigen Hass-Attacken eines Herrn Trump finden jubelnd Zustimmung bei einer Bevölkerung, die ganz überwiegend nicht nur christlich, oft evangelikal ist, sondern auch zu eifrigsten Kirchengängern zählt. Wie passt das alles zusammen? Diese Frommen haben kein Nachdenken gelernt, kein Reflektieren, sie haben kein Bewußtsein von universaler Ethik. Sie denken mit dem Bauch. Die sich zum Hass aufstachelnden Trump-Freunde haben von ihren (evangelikalen oder pfingstlerischen) Predigern offenbar so viel spirituellen Blödsinn gehört, dass sie jetzt auf diesem Niveau gelandet sind. Damit ist nicht gesagt, dass Hillary Clinton in ihrer Lust, “die amerikanische Macht weltweit unbedingt zu stärken” politisch klug ist und dem Welt-Frieden dient. PS: Zum Wahlverhalten der “weißen Evangelikalen” in den USA am 8. Nov. 2016: Siehe den Beleg für unsere These zur Trump Nähe und evangelikaler Frömmigkeit unten, am Ende des Beitrags.

Es ist schon verstörend, dass die Luther-Jubelfeiern vor allem in einem Bundesland Sachsen-Anhalt stattfinden, in dem die AFD leider so unglaublich hohe Zustimmung findet. 17 Prozent der Protestanten haben AFD gewählt. Bei den Katholiken waren es genauso viele. Luther-Jubel, Luther Restauration (alle diese renovierten Luther-Häuser als Museen)  in einem von der AFD geprägten Land, das ist bis jetzt noch kein Thema. Allgemein übersetzt: Luther und der (neue) Nationalismus sollte bearbeitet werden.

Die Verirrungen in der Mentalität in den USA zeigen einmal mehr, wie wichtig es jetzt ist, wenn Luther sagt: „Hört auf mit allen theologischen Spitzfindigkeiten. Kümmert euch nicht so sehr um mich, den spätmittelalterlichen Mönch; kümmert euch um die Entwicklung einer Menschenrechts orientierten universalen Ethik, werdet reife, werdet nachdenkliche Menschen, kritische Bürger“. Und der fromme Mann würde wohl hinzufügen: „Allein dies gefällt Gott!”

PS: Dass hier vom römischen Katholizismus so wenig gesprochen wird, liegt lediglich an dem Fokus dieses Beitrags. Die Forderung: “Universale Ethik ist wichtiger als römischer Glaube” gilt selbstverständlich auch für den Katholizismus. Hier wäre noch von dem viel massiveren Klerikalismus zu sprechen, jener unverzeihlichen Sünde Roms, die schon Jan Hus, aber auch Luther richtigerweise, aber erfolglos, attackierten. Bis heute. Man lese etwa die entsprechende Kritik von Papst Franziskus an der ihn umgebenden Kurie, als dem “Hof” der Kardinäle und Prälaten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Weiße Evangelikale absolut für Trump: 1.Despite reservations expressed by many evangelical and Republican leaders, white born-again/evangelical Christians cast their ballots for the controversial real estate mogul-turned-politician at an 81 percent to 16 percent margin over Hillary Clinton”. Quelle: http://www.christianitytoday.com/gleanings/2016/november/trump-elected-president-thanks-to-4-in-5-white-evangelicals.html gelesen 9.11. 2016,  19.00 Uhr.

2. : White evangelical voters have been reliable Republican voters for decades, but this year some are having trouble reconciling their Christian values with Donald Trump’s unholy language. Quelle: http://abcnews.go.com/Politics/evangelical-values-voters-struggle-choosing-trump-president/story?id=43303321    gelesen am 9.11. 2016 19.00 Uhr.

 

 

„Der Mensch ist böse und Gott hat ihn geschaffen“. Thesen im Rückblick auf den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 26.10.2016

Von Christian Modehn

Notiert am 9. November 2016: Entscheidend bleibt die Erkenntnis von Hannah Arendt: Böses entsteht, wenn Menschen nicht mehr die Kraft und den Willen haben, selbstkitisch nachzudenken, wenn sie weithin gedankenlos handeln. Und unverzichtbar bleibt, selbst wenn es manchmal zu “spät” ist, die fundamentale Erkenntnis Kants, die auch im Politischen gilt: Wenn sich die Maximen des einzelnen und ganzer  großer Gesellschaftsgruppen vom dummen Egoismus bzw., was prinzipiell dasselbe ist, sich vom ebenso dummen Nationalismus bestimmen lassen  und nicht mehr in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ handeln, entsteht Böses.

Über „das Böse“ nachzudenken: Da bleiben mehr Fragen als Antworten. Aber Fragen führen weiter. Antworten, etwa religiöser Traditionen, fixieren auf eine bestimmte Weise zu denken. Entscheidend ist die Frage:

„Gibt es“ „das Böse“ überhaupt ? Das Böse verstanden als dingliche Gegebenheit, als Macht und Kraft, vielleicht sogar irgendwie als „Subjekt“, wie ein Teufel und böser Dämon?

Sicher „gibt es“ für kritische Erkenntnis nicht dieses greifbare und verfügbare und umfassend erkennbare Böse verdinglichter Art. Den Menschen fällt es leicht, diese Verdinglichung, „das Böse“, vorzunehmen und es dann zu beschwören in Riten usw., die den klaren Verstand gerade aber ausschalten. Insofern wird dann oft noch mehr Böses befördert. Man spricht, um der schnellen Verständigung willen, auch in philosophischen Büchern, von „dem Bösen“. Denkt aber dabei nicht an eine dinghafte oder „personale“ Gegebenheit. „Das Böse“ ist also lediglich eine begriffliche Hilfskonstruktion. „Den Teufel“ sollte man vernünftigerweise längst aus dem Denken und der furchtbaren religiösen Praxis vertrieben haben (Teufelaustreibungen gibt es bis heute im Katholizismus und eine Schande fürs Christentum: Die Verteufelungen etwa von Frauen, Hexen usw.).

Das Böse ist also nur ein Begriff, der wie eine abstrakte Idee dann verwendet wird, wenn Menschen so handeln, dass sie in ihrem Gewissen, dem „moralischen Gesetz“ (Kant), wissen: Diese meine Handlung war nicht gut, sie beschädigt mich und andere. Diese meine Handlung ist also böse.

Das Wort böse hat eigentlich nur Sinn, wenn man es auf Handlungen aus Freiheit bezieht. Darin zeigen sich dann unterschiedliche Aspekte des Tuns des Bösen.

In einer philosophischen Reflexion über das Böse, die auch das Religiöse einbeziehen will, muss an die Schöpfung der Welt und den Sündenfall erinnert werden. Im ersten Kapitel der hebräischen Bibel, Altes Testament genannt, ist davon die Rede. Die beiden dort erzählten Mythen sind sicher die am meisten besprochenen und am meisten künstlerisch gestalteten: Nur ein Beispiel: Lucas Cranach der Ältere und der Jüngere haben schätzungsweise 50 mal dieses hübsche Thema des fast nackten Paares in kürzester Zeit gemalt. Wer hat diese Gemälde bestellt, und warum gewollt gerade in der Reformationszeit?

Dieser Mythos enthält viele bedenkenswerte Elemente, die bis heute in den Köpfen sich festgesetzt haben: Das Paradies, die verführerische Schlange, sozusagen ein erstes Bild des Teufels, der Glaube an Teufel und Hexen hat letztlich in der verführerischen Schlange ein gewisses Urbild. Durch den Ungehorsam Evas und Adams haben die beiden Menschen Erkenntnis gewonnen, sie erkannten einander als sexuelle Wesen. Aber Gott hat den Ungehorsam bestraft. Ohne Ungehorsam keine Erkenntnis, könnte man denken. Im Alten Testament ist als göttliche Strafe nur die Rede von der Notwendigkeit zu arbeiten für den Mann; und für die Frau, dass sie Kinder nur unter Schmerzen zur Welt bringen kann. Dass sie aus Adams Rippe stammt, also dem Mann unterlegen und von ihm abhängig ist und untertan, das haben die alten Theologen nicht als Übel betrachtet. Das war offenbar normal. Paulus ist in seinem Römerbrief der Überzeugung, dass „der Tod durch die Sünde des einen Menschen, Adam, in die Welt gekommen ist“ (Kap. 5, 12). Die Sterblichkeit der Menschen ist also eine Strafe für die Sünde im Paradies, die dann später als Erbsünde (schon durch Paulus) gedeutet wird.

Philosophen haben sich von der unmittelbaren Lektüre des Mythos gelöst und auf einige Unstimmigkeiten in den Erzählungen aufmerksam gemacht.

Ich nenne hier nur den Philosophen Pierre Bayle, einen Protestanten aus Frankreich, der sich unter Ludwig XIV. nach Holland, nach Rotterdam, retten konnte und dort u.a. ein umfassendes und viel gelesenes Dictionnaire, eine Art Lexikon, verfasste. Darin geht es um die zentrale Frage, damals, um 1690, genauso aktuell wie heute:

Wenn man annimmt, Gott habe die Welt und die Menschen geschaffen: Dann stellt sich die Frage: Wie ist es dann möglich, dass Gott, wenn er denn Gott ist, also allmächtig und gütig, es zulassen kann, dass in seiner Schöpfung die Menschen, als seine Geschöpfe, moralisch Böses tun? In dieser Reflexion wird Gott sozusagen zum verfügbaren Gegenstand für die Reflexion. Die Sache wird komplizierter: Wer aber hat denn die Freiheit geschaffen? Ist es nicht Gott gewesen, der den Menschen als Menschen, also als freies Wesen mit Vernunft, geschaffen hat? Ist also Gott nicht nur unweise und unallmächtig, also ohnmächtig, zu nennen, sondern auch unfähig, weil er den Menschen mit der Freiheit ausgestattet hat, eben auch Böses zu tun. Ist die Freiheit selbst also etwas Böses, heißt die Frage, die dann viele umtreibt. Die Spekulation reicht noch weiter: Oder versteckt sich hinter dem offenbar böse agierenden Gott noch der eigentliche Gott, der diesen bösen Gott als Gegner sich gegenüber sieht. Aber durch diese Verdoppelung Gottes wird das Problem nur verschoben.

Die Erbsündenlehre interpretiert den genannten biblischen Mythos. Die Erbsündenlehre wurde im 4. Jahrhundert als eine bis heute allmächtige Kirchenlehre erfunden, um irgendwie theoretisch zu klären, warum denn alle Menschen irgendwie immer Böses tun. Diese universale Dimension, dass der Mensch, jeder Mensch, immer und überall, ein irgendwie auch böses Wesen hat, sollte mit dem Begriff der Erbsünde erklärt werden. Da gab es nur die Schwierigkeit, dass Sünde immer eine vom einzelnen begangene in freier Entscheidung getätigte Untat ist. Sünde des einzelnen ist also etwas Erlebbares. Die Erbsünde hingegen ist als solche nicht erlebbar. Sie ist ein gedankliches Konstrukt, pure Theorie, manche sagen Ideologie. Warum wurde von Augustinus dieses Konstrukt erfunden? Er wollte die totale Übermacht des gnadenhaften göttlichen Handelns angesichts des Bösen und der sündigen Menschen unterstreichen. Nur Gott rettet ist seine Devise.

Wegen der Erbsünde müssen schon Babys getauft werden, wenn sie als Babys sterben, kommen sie in die Hölle, darum ist die Kirche und der taufende Klerus so wichtig usw. Die Erbsünde wird übertragen im Moment der Zeugung. Sex überträgt das Böse, deswegen ist, so heißt es dann weiter, Sex sowieso irgendwie doch nicht so gut, wenn nicht böse. Wenn Kinder geboren werden und nicht getauft werden, dann kommen sie in die Hölle. Denn vor der Hölle kann einzig die Gnade Gottes bewahren.

Die Lehre von der Erbsünde hat das Bewusstsein der Christen verdorben. Es hat jede Lebensfreude genommen, jede Zuversicht, im freien Tun etwas Gutes zu schaffen. Eine düstere Wolke der Verzweiflung und Angst („Hat mich denn nun der willkürlich erlösende Gott tatsächlich erlöst? ) hat sich über das sich christlich nennende Europa gelegt. Die Überwindung der Erbsündenlehre des Augustinus ist eine der dringenden Aufgaben der heutigen Theologie, die aber noch nicht angepackt wird

Immanuel Kant versucht, die Debatte über das Böses Tun weitgehend von der Bezogenheit auf Gott zu befreien, er ist ein Gegner der orthodoxen Erbsündenlehre. Wenn Kant über „das Böse“ nachdenkt, dann nur Zusammenhag der gelebten menschlichen (Willens)-Freiheit. Ich kann mir Maximen, individuelle für mich geltende Lebensentwürfe, schaffen: Und dabei das moralische Gesetz, den Gewissensspruch, ignorieren. Wenn Maximen nicht mehr dem kategorischen Imperativ entsprechen, sind sie böse. Im Spruch des Gewissens äußert sich das moralische Gesetz, wer ihm folgt, folgt dem moralisch guten Leben. Aus der dauerhaften Praxis moralisch böser Taten entwickelt sich der „Hang“ zum Bösen, von dem Kant in einer gewissen Unentschiedenheit spricht: Ist er „angeboren“ oder/und erworben? Es gibt für Kant jedenfalls so wörtlich einen „faulen Fleck“ in unserer Gattung, den herauszubringen, also lozuwerden, notwendig ist, um den „Keim des Guten“ in uns zu entfalten (S. 48 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003).

Für Kant aber ist die Anlage zum Guten herrschender und stärker als der “Hang“ zum Bösen: Denn selbst wer als Egoist Böses tut, meint noch in dieser Tat zumindest für sich selbst etwas Gutes getan zu haben. Das heißt: Der Bezogenheit auf Gutes kann kein menschlicher Geist entkommen. Man könnte diese Bezogenheit auf Gutes „transzendental notwendig“ nennen.

Für Kant ist Religion und die Stimme eines göttlichen Wesen im Gewissen zu vernehmen. Das Gewissen ist der ort, wo das moralische Gesetz und letztlich auch Gott spricht. Kant sieht: Es gibt Vorwürfe des Gewissens gegen unser Tun. Diese Stimme des Gewissens ist nur dann von Wirkung, wenn man sie als Repräsentanten Gottes denkt: „Gott hat einen erhabenen Stuhl über uns und in uns einen Richterstuhl“, so in der „Schrift über Pädagogik“, 1803. Zit nach „Kant Reader“, Würzburg 2005, S. 335. Dieser Gott im Gewissen vernehmbar ist für Kant die Grundlage aller vernünftigen Religion. Alle anderen Formen (dogmatischer Fremdbestimmung) lehnt er als unvernünftig und für den Menschen eher schädlich ab. Über dieses Gottes-„Bild“ von Kant wäre heute aus aktuellen Gründen einer veräußerlichten, gewalttätigen Religion vermehrt zu sprechen! Kant spricht auch vom Hang zum Bösen, wenn er an die Geschichte der Kirchen erinnert, an ihre Machtbesessenheit, an das blinde Wüten der verfeindeten Konfessionen. Kurz: Die Religionen folgen selbst nicht dem Kategorischen Imperativ. (Dazu S. 177 ff. in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“)

Ein Hinweis auch zu Hannah Arendt, sie ist stark bezogen auf Kant, mit ihm oft verbunden, auch in ihrem Buch „Über das Böse“, bei Piper erschienen.

Von Hannah Arendt stammt das Stichwort von der „Banalität des Bösen“. Damit meinte sie nicht, dass das Böse banal sei. Sie meinte, Böses tun kann bei Menschen den Charakter des Banalen haben. Etwa: Wenn denn diese Menschen blind und stumm den Weisungen anderer folgen. Der autoritäre Charakter spielt da rein. Nur das eigene Nachdenken, das Reflektieren auf das, was man tut, kann vom Böses Tun befreien. Notwendig ist: Man denkt noch mal über das eigene Denken nach. „Denken ist Reden mit sich selbst“.

Und auch zum Willen zeigt sich diese Doppelung: Ich bin zum Handeln bewegt und muss mich aber entscheiden, wenn ich etwas tue und handle. Ich muss also IM Handeln urteilen können. Im Handeln und dem Willen zu handeln zeigt sich immer ein Urteilen. Es gibt einen Schiedsrichter, sagt Arendt, der in meinem Handeln entscheidet.

DUMM ist der, der nicht urteilen kann. Der Mangel an Urteilskraft ist das Schlimmste. „Mangel an Urteilskraft ist das, was man Dummheit nennt“, sagt Kant. Das angewendet auf die Mitläufer in der Nazis. Auf die Mitläufer heute.

Im Urteilen innerhalb einer praktischen Entscheidungssituation, in der mein Wille aufgerufen ist, wird auch die Einbildungskraft lebendig. Ich stelle mir vor, was ist mit den anderen, die ich kenne oder die ich vor Augen habe, wenn ich diese Tat vollziehe.

Die Freiheit ist gut. Aber der Mensch ist niemals auf etwas „nur Gutes“ oder „nur Böses“ festzulegen. Es bleibt die Ambivalenz in jedem Menschen selbst. Jeder ist gut und böse. Wer sich nur für rundum gut hält, ist dumm und neigt deswegen zum Bösen, weil das Böse gar nicht mehr wahrnimmt und vor allem die Dimensionen der Freiheit ignoriert. Die Macht der eigenen egoistischen Maximen. „Der Tugendhafte“ wurde Robespierre genannt. Dies ist auch das ganze Problem der Heiligen und der Heiligenverehrung, die oft als rundum gute Menschen dargestellt werden. Und bei denen auch Makel und Böses offiziell oft verschwiegen und verdrängt werden.

Was bleibt angesichts „des Bösen“? Die bösen Taten müssen so weit es geht, überwunden werden. Das ist eine Aufgabe der Pädagogik und des politischen Handelns in der Demokratie. Es gibt aber auch böse Strukturen, Verfestigungen der individuell bösen Taten, die den einzelnen von vornherein belasten und prägen und vielleicht gar keine Ahnung schaffen, was Freiheit ist und was Gutes Tun überhaupt sein könnte. Diese üblen Strukturen der Unfreiheit und im ganzen Strukturen der Unmenschlichkeit müssen abgebaut werden. Das muss als Ziel immer wieder formuliert werden.

Die Freiheit der egoistischen Maxime führt zu falschen, moralisch verwerflichen Entscheidungen auch bei Politikern. Das Böse, das unsere westliche kapitalistische und immer noch imperialistische Politik(er) und Ökonomen erzeugen, wird von uns Bürgern meistens verdrängt und beschönigend-naiv„weg-interpretiert“. Gegen dieses Böse muss man handelnd eingreifen. Der Gedanke, dass wir doch alle Erbsünder sind, also irgendwie hilflose arme Typen, beschwichtigt da nur. Und ist ohnehin falsch. „Das Böse“ ist auch eine Form des Verdrängens und falschen Entschuldigens.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erfindet euch neu! Ein Interview zu Michel Serres.

Fragen an Dr. Hans Blersch, Mathematiker und praktischer Philosoph.

Die Fragen stellte Christian Modehn.

In unserem Salon-Gespräch im September 2016 haben Sie deutlich Ihre Sympathien für den französischen Philosophen Michel Serres geäußert. Was schätzen Sie an seinem Werk besonders? Ist es vielleicht die gelegentliche Leichtigkeit des Stils und/oder die Verbindungen, die er zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und philosophischer Reflexion vor Augen führt?

Ja, in Michel Serres Werk und vor allem in den Internet-Filmen mit ihm begegnet man dieser„gelegentlichen Leichtigkeit“ seines Stils, von der Sie sprechen. Sie ist dort überall zu spüren. Mit Leichtigkeit meine ich Einfachheit und unprätentiös vorgetragene Ideen. Nicht Seichtigkeit. Das Buch „Erfindet Euch neu!“ habe ich erst einigermaßen verstanden, als ich Serres darüber sprechen sah. Das ist ja gar nicht so schwer, was er uns in seinem Buch sagen will, dachte ich plötzlich. In den Filmen ist sein Witz, seine Freundlichkeit, seine Aufmerksamkeit, seine Freude am Denken, sein Wunsch, seine Gesprächspartner zum Denken zu verführen, ganz unübersehbar. Und was mich persönlich am meisten beruhigte, war Serres frohe Botschaft: Leute, freut Euch! Ihr braucht Euer Gehirn nicht mehr länger mit dummem Wissen vollzustopfen, denn das dumme Wissen findet Ihr heute leicht und schnell bei Google und Konsorten. Das heißt nichts anderes als: ihr könnt fast alles vergessen, was in der Schule zu lernen war. Euer Gehirn, sagt Serres, ist zum Lernen von Fakten zu schade. Benutzt es lieber zum Denken.

Wir haben uns in dem Gespräch besonders auf das Buch von Michel Serres „Petite Pucette“ konzentriert, es ist auf Deutsch mit dem Titel „Erfindet euch neu“ 2013 erschienen. Serres sieht enthusiastisch und optimistisch die Entwicklung der neuen digitalen Technologien, etwa von iPhones, facebook und Internet. Die Gefahren der Kontrolle durch die offenkundige Allmacht von Google usw. hingegen sieht er offenbar nicht. Warum ist es berechtigt, bei aller Kritik an facebook usw. dennoch die großen „Errungenschaften“ dieser neuen Medien positiv einzuschätzen?

Ganz sicher sind Serres diese Gefahren sehr wohl bewusst. Aber dieser Aspekt wurde und wird seit Orwell schon lang und breit behandelt. Warum also noch ein weiteres Lamento hinzufügen? Eine unaufhaltsame Entwicklung kann (wie z.B. der Regen) nicht wegdiskutiert werden, denn ersten brauchen wir ihn (den Regen) und zweitens kann man auch Regenschirme bauen. Den negativen Aspekten von Google, facebook und Cie. sind deren positive Aspekte entgegen zu setzen, schon allein deshalb, weil – siehe oben – das menschliche Gehirn als reiner Faktenspeicher zu schade ist.

Ist die Kritik, wenn nicht die Angst vor Google und facebook heute wirklich vergleichbar der alten Angst früher vor Erfindungen, etwa der Eisenbahn im 19. Jahrhundert? Oder ist den Bürgern (und den Politikern) die Beeinflussung von Google und facebook längst entglitten?

Zweimal ja: Angst vor Veränderungen gab es schon immer. Immer denken wir, dass sich alles zum Schlimmen hin verändert. Aber sehen Sie heute noch einen Grund etwa weiterhin zu Pferd oder mit der Postkutsche zu reisen? Statt mit der Bahn? Neue Entwicklungen erkennen wir erst dann, wenn sie sich durchgesetzt haben und schon längst nicht mehr vermeidbar sind. Als mein Sohn mir vor zwanzig Jahren ganz stolz sein erstes Handy vorführte, dachte ich im Stillen „dieser Unsinn wird schnell wieder vergehen“. Was dachten wohl die Erzähler der Odyssee, als die Schrift erfunden worden war? Was die katholische Kirche, als klar wurde, dass zusammen mit dem Buchdruck die Möglichkeit eröffnet wurde, den Mönchen die Bibeln aus der Hand zu nehmen und jedem einzelnen Gläubigen zum Studium zu überlassen? (Luther soll angeblich gesagt haben: „Mit der Bibel in der Hand, kann jeder Mensch Papst sein“.)

Das Buch „Erfindet euch neu“ hat den Untertitel „Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“. Serres will als ein Alter (jetzt 86 Jahre) offenbar die jungen Menschen ermuntern, neu mit den neuen Medien umzugehen, um anders zu leben. Was müsste da geschehen?

Ich weiß nicht, ob die vernetzten jungen Menschen eine Liebeserklärung benötigen. Denken sie nicht eher: lasst uns unseren Weg finden, auch wenn er noch nicht klar zu sehen ist? Sicher ist nur, dass wir auf den alten Wegen nicht weiter kommen werden. In der französischen Fassung übrigens steht als Untertitel: „Die Welt hat sich so sehr verändert, dass die Jungen alles neu erfinden müssen: Neue Weisen des Zusammenlebens,neue Einrichtungen, neue Arten des Seins, des Erkennens“. Das heißt, jetzt geht es um Patchworkfamilien, Globalisierung, Kampf um Ressourcen, Erderwärmung, Hunger und Gentechnik. „Umdenken Mister – Umdenken Mister“, sang F.J. Degenhardt schon vor 50 Jahren.

„Erfindet euch neu“ könnte ja auch als Aufforderung an die „Alten“ gemeint sein, sich neu zu erfinden. Was müsste da geschehen?

Woran erkennt man die Alten, wenn nicht an ihren Schwierigkeiten, sich neu zu erfinden? Die Alten müssten zunächst ein Verständnis finden für die Neuerungen, die es im Laufe ihres eigenen Lebens gegeben hat und auf welche Weise sich die Neuerungen damals durchgesetzt haben. Plötzlich gab es in den 60er Jahren in allen Familien Telefon und Fernseher, obwohl sich das zehn Jahre vorher niemand vorstellen konnte. Die Alten können ihre Lebenserfahrungen einbringen und sollten – wie früher – weiterhin für eine bessere Welt kämpfen und dabei offen und neugierig bleiben. Egal aber, wie wir Alten uns verhalten: die Zeit ist schon im Begriff, uns sachte und unaufhaltsam aus dem Weg zu räumen, das wenigstens ändert sich nicht. Eines Tages wird auch ein Herr Zuckerberg die Welt nicht mehr verstehen. Facebook? werden dann die jungen Leute lachen, wer von euch weiß, was das mal war?

Die Vielfalt der Publikationen von Serres (bis 2015 mehr als 60 Buch-Titel!) zeigt nicht nur die Universalität seines Denkens, sondern eben neue essayistische Formen des Philosophierens. Inwiefern macht Serres Mut, sich selbst auf den Weg des Philosophierens zu begeben?

Immer mehr denke ich, dass Poesie und Musik die eigentlichen Medien der Philosophie sind, viel mehr jedenfalls, als streng logische Ableitungen. Obwohl Serres Mathematik studiert hat, tauchen sehr lyrische und unerwartete Bilder bei ihm auf. Wenn ich mir die 60 Titel seiner Bücher ansehe, staune ich: das alles soll Philosophie sein? Serres fordert uns mit dieser Vielfalt auf, das zu überdenken, was uns unmittelbar berührt und zu Fragen anregt. Etiketten, sagt er, sind für Leute, die zu faul sind zum Denken. Unsere Geschichtschreibung hatte und hat immer noch nur einen Mittelpunkt, sagt Serres: den oder die Menschen. Ist das nicht ein schrecklicher Narzissmus? Müssten nicht auch Tiere, Pflanzen, Organismen in geschichtliche Studien einbezogen werden?

In einem gerade erschienen Buch – Hergé mon ami – beschäftigt Serres sich mit Tintin (Tim und Struppi) und den in diesen Kindergeschichten enthaltenen Metaphern und Archetypen: dem cholerischen Säufer Haddock und seinem moralisch einwandfreien Freund, dem Musterknaben Tintin, dem zerstreuten Professor Tournesol, dem Spießer Seraphin Lampion, der sich durch keine Beleidigung aus der Fassung bringen lässt, den Polizeizwillingen Dupond und Dupont, die so redundant sind, dass einer von ihnen genügt hätte, und die aus purem Pflichtbewusstsein nicht davor zurückschrecken, auch Freunde zu verhaften, der exzentrischen Operndiva Castafiore usw. In Wirklichkeit, so Serres, haben wir es in diesen Comics mit einer klassischen „Comédie humaine“ zu tun.

Hergé mon ami offenbart meine kindliche Verzauberung, meine Jugendträume und meine Altersmeditationen“. Also sprach Michel Serres.

copyright: Hans Blersch, Berlin.

Eine Art zu denken: Das neue Philosophie-Magazin

Eine Art zu denken: Philosophieren ist überall möglich und nötig

Ein Hinweis auf das Philosophie Magazin, Ausgabe Oktober/November 2016

Von Christian Modehn

Philosophie ist nichts für Eingeweihte und Spezialisten, Philosophie ist keineswegs immer schwierig. Man kann ins Philosophieren langsam hineinwachsen, möchte man sagen. Und dann? Ja, dann verändert sich der Blick auf einen Selbst und die Welt. Nicht alles wird einfacher, vieles wird deutlicher, und einiges zeigt seine Tiefe oder seinen hohlen Schein. Insofern ist Philosophieren auch immer auf das Leben bezogen. Die Hefte des „Philosophie Magazin“ bieten dazu immer wieder Inspirationen. Die neue Ausgabe, leider nur 100 Seiten stark, hat wieder neben kurzen Beiträgen (zum Terrrorismus, zu Pokémon GO, selbst zum Thema Zölibat !) grundlegende Artikel, etwa eine Diskussion zwischen Alain Badiou und Marcel Gauchet über die Bedeutung der Nationalstaaten in einem internationalen, kapitalistischen globalisierten System. Badiou, sehr links, und Gauchet, liberal, sind bisher eher einem französischen Publikum bekannt. Das Philosophie Magazin übernimmt etliche Beiträge von der entsprechenden französischen Ausgabe. Sie erscheint monatlich, man kann nur hoffen, dass die deutsche Ausgabe auch sehr bald diesem zeitlichen Rhythmus folgt. Badious Meinung ist weithin realistisch: „Es gibt in der Politik nur Geschäfte und Interessen. Und in der breiten öffentlichen Meinung herrscht ein feiger und ängstlicher Konsens, der auf die Bewahrung westlicher Privilegien abzielt. Daher stammt ein widerliches Flirten mit dem Kulturrassismus, dem Motiv der Überlegenheit des Westens und allgemeiner Furcht vor dem Fremden…“ (S. 31).

Der wichtigste Beitrag in dem Heft ist für mich das Interview, das der Chefredakteur Wolfram Eilenberger mit Dieter Thomä (Philosophie- Prof. in St. Gallen) führt. Thomä plädiert für die Störenfriede als den Menschen, die eine Demokratie erst lebendig machen. Er spricht von ihnen auch mit Blick auf die Philosophiegeschichte in seinem neuen Buch „Puer Robustus“ (Suhrkamp). Die These: Wir sollten uns befreien von dem Gedanken des „total Anderen“ bzw. auf der anderen politischen, hier der rechten, der „totalen Identität“. Wichtig sind die Störenfriede „dazwischen“, an den Rändern, Störenfriede sind „Schwellengestalten“. Sie zeigen, wo Neues aufbricht. Wenn sich Störenfriede allerdings fest einrichten, werden sie zu Ordnungsfanatikern. „Das zeichnet Populisten und Islamisten gemeinsam aus“. Schon wegen dieses Interviews mit Dieter Thomä lohnt sich der Kauf des Heftes! Wo sind diese zu Ordnungsfanatikern erstarrten Störenfriede in der Philosophie? Wo in der Religion? Wurde der Störenfried Martin Luther zu einem schon konfessionalistisch eingeschränkten Ordnungsfanatiker (in seinem Kampf gegen den Reformator Thomas Müntzer etwa)? Diese weiterführenden Fragen würde man gern weiter besprechen…

Dass Philosophieren überall und immer stattfinden kann, zeigt ein ganz anderer, schöner Beitrag von Svenja Flaßpöhler über ihre eigenen Erfahrungen im Schrebergarten zu Berlin. Neu ist für viele LeserInnen sicher auch die Information über die sehr abschreckende Pädagogik des Namensgebers dieser kleinen Gärtchen und Häuschen, eben des Herrn Moritz Schreber: Er war Arzt und Hauptvertreter der „schwarzen Pädagogik“, die, wie der Name andeutet, sich durch brutale Strenge gegenüber Kindern auszeichnete. Interessant, wie wir so oft mit eher üblich gewordenen Namen gedankenlos umgehen, etwa mit den „Schreber – Gärten“. Ob da wohl Umbenennungen bald anstehen? Wann endlich verzichten wir etwa auf Hindenburg-Alleen und Straßen, die etwa benannt sind nach heftigsten Militaristen? Welche Frömmigkeit soll, nebenbei gefragt, in einer Kirche entstehen, die Kaiser Wilhelm Gedächtnis- Kirche heißt? Welche spirituellen und friedlichen und sozialen Impulse gehen von diesem Kaiser im 21. Jahrhundert aus? Was soll diese Erinnerung an die Einheit von Thron und Altar noch heute? Wäre doch ein Thema im Reformationsgedenken 2017. Wird die Kirche aber nicht aufgreifen, Philosophen als freie Geister könnten es und sollten es!

Empfehlen möchte ich die Lektüre des Hauptartikels „Sind wir berechenbar?“, das heißt auch kontrollierbar, von aller Privatsphäre befreit, sozusagen als eine durchleuchtete Person der Werbung usw. preisgegeben. Und da ist besonders das Interview mit Ethan Zuckermam inspirierend. Der vielfach engagierte Aktivist und Mitarbeiter des Instituts of Technology in Massachusetts (MIT), sagt u.a. „Cookies sind ein Albtraum,!“….“Forscher am MIT haben festgestellt, dass wir über 80 Prozent unserer Lebenszeit berechenbar sind. Für den Markt ist das ein ziemlich hoher Wert“ (S. 47). Manchmal ist es nötig, etwa im Falle von Verbrechern, vorausschauend deren Leben zu prognostizieren. Auch dazu gibt es einen Beitrag: Sollen wir Angst haben vor dem Unberechenbaren fragen sich die Thea Dorn, Philosophin und Roman-Autorin und Vince Ebert Autor eines Buches über das Unberechenbare. Thea Dorn weist darauf hin, wie das absolut Unberechenbare, also das Göttliche oder Gott, in der Haltung Martin Luthers eine Rolle spielte. Damit öffnet sie die weiter zu führende Debatte über Martin Luther und die Philosophie: Vom philosophischen Denken hielt der Reformator gar nichts, er stürzte sich lieber ziemlich blind in den Glauben.

Leider zu kurz ausgefallen ist der Beitrag über Heideggers „Schwarze Hefte“ und die Frage: Was bleibt vom Ganzen des Heideggerschen Denkens angesichts seiner erst seit einigen Monaten bekannten nicht nur antisemitischen, sondern demokratiefeindlichen Bekenntnissen? Der schon erwähnte Philosoph Dieter Thomä warnt vor einer „pauschalen Heidegger Kritik“, also vor einer pauschalen Zurückweisung seines Denkens im ganzen. Bedenklich irritierend bleibt der Hinweis aus den Schwarzen Heften: Heidegger selbst ersehne den Moment, in dem „sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet“ (S. 91). Damit wäre dann auch Heideggers Philosophie verschwunden. Diese apokalyptische Vision des so hoch gelobten Denkers der frühen Bundesrepublik, diesen Wahn der Vernichtung, sollte man ausführlicher besprechen. Diese Frage passt gut zu dem Beitrag über Walter Benjamin und die Geschichte. Öffnen sich „neue Fenster der politischen Hoffnung“, heißt die leitende Frage in dem Beitrag, verfasst u.a. von Wolfram Eilenberger.

Bei der Lektüre der Hefte schon über etliche Monate stellt sich mir immer wieder die Frage: Wann endlich wird es in Berlin ein „Haus der Philosophie“ geben, so wie es Zentren für Literatur gleich mehrfach hier schon gibt? Könnte sich das Philosophie Magazin nicht um die Gründung eines solchen (vielleicht am Anfang noch bescheidenen) Hauses/Zentrums kümmern, wo man viele wichtige philosophische Texte und vor allem Zeitschriften lesen kann, etwa auch die französische Ausgabe des Philosophie Magazins und alle die anderen englischen, amerikanischem, spanischen und holländischen usw. Philosophie-Magazine. Und natürlich auch die Fachzeitschriften? Und natürlich auch ein Café und eine Tee-Stube hätte zum Debattieren? Findet sich denn für ein solches Projekt, das selbstverständlich auch die interkulturelle Philosophie aus Afrika, Asien und Lateinamerika darstellt, keinen Sponsor, der der Philosophie dann wirklich alle Denkfreiheit lässt und nicht reinredet? Möchte man fast nicht glauben…Zumal im Leibniz Jahr 2017 will man sich vom Optimismus von Leibniz (oder Michel Serres) anstecken lassen und das schier Unmögliche doch für möglich halten: Eben ein philosophisches Haus für alle, die das Denken, das philosophische, lieben. Und das werden sicher immer mehr!

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Marsch für das Leben in Berlin mit Erzbischof Koch. Kritisches zu diesem politischen, rechtslastigen “Marsch”

Ein Kommentar von Christian Modehn. Veröffentlicht am 15. 9 2016.

Wer am so genannten „Marsch für das Leben“ am 17.9.2016 in Berlin teilnimmt, befindet sich auf einer Veranstaltung der AFD bzw. jener rechten (katholischen und evangelikalen) Gruppen und Kreise, für die die CDU/CSU nicht rechts genug ist.

Der Organisator des Marsches, der Journalist Martin Lohmann, EX-CDU, ist Mitarbeiter der rechtslastigen Wochenzeitung „Junge Freiheit“, sie steht bekanntermaßen der AFD sehr nahe.

Auch Frau von Storch AFD ist wieder bei dem „Marsch“ dabei. Sie wird nicht die einzige von der AFD sein.

Wenn katholische Bischöfe (Koch, Voderholzer; 2015 schon Weihbischof Laun, Salzburg, ein öffentlicher FPÖ Freund) bei dem Marsch als Mit-Läufer dabei sind, entsteht wie von selbst der Eindruck: Diese Bischöfe unterstützen diese (letztlich AFD nahe) Veranstaltung. Es entsteht weiter der Eindruck: Bischöfe machen also indirekt Wahlpropaganda. Und das einen Tag vor der Wahl in Berlin. Ist dies noch das Amt eines Bischofs, darf man wohl als Theologe fragen. Haben diese Bischöfe bei deutschen Rüstungsfirmen protestiert in einem Protestmarsch für das Leben derer, die mit deutschen Waffen abgeknallt werden in Syrien, Saudi-Arabien, Mexiko usw. usw.? Oder wollen diese Herren nur das ungeborene Leben schützen? Ist ja auch viel einfacher, als die Macht der Waffenproduzenten öffentlich zu kritisieren?

Da helfen selbst allgemein gehaltene, sanft-kritische „Grußworte“ von Erzbischof Koch, Berlin, bei dem “Marsch” nicht viel, wenn er einen humanen Umgang mit Flüchtlingen anmahnt. Allein schon dieses militärische Wort “Marsch”, da klingt das Aggressive automatisch schon an…

Aber der so genannte Schutz „des“ „ungeborenen“ Lebens ist seit Jahrzehnten Mittelpunkt eines konservativen christlichen Glaubensbekenntnisses geworden. Mutter Teresa ist förmlich die hoch verehrte Kirchenlehrerin für alle um das ungeborene Leben kämpfenden Marschierer. Sie können eben, aus Faulheit, Dummheit?, nicht unterscheiden: Was ist Leben im allgemeinen? Was ist menschliches, geistvolles Leben. Und wann beginnt dieses. Da gibt es, wenn man denn nuancieren kann und will, eben Unterschiede. Und vor allem: Diese Marschierer für das ungeborene Leben sind rabiat gegenüber Frauen, die in einer Demokratie ihre freien und eigenen Entscheidungen treffen. “Pro Life” in den USA ist bekanntermaßen gewalttätig gegen Ärzte und Kliniken. Diese Marschierer sind letztlich Gegner demokratischer Entscheidungen. Für Religionskritiker ist es interessant zu wissen: Es gibt in den USA eine breite, auch katholische Bewegung “Pro Choice”, sie respektiert die Würde und Wahlfreiheit der Frauen. Bei Pro Choice sind auch katholische Nonnen dabei; sie sind “selbstverständlich” ständig von der Exkommunikation durch Bischöfe und Päpste bedroht.

Bezeichnenderweise haben katholische Bischöfe in fast allen Ländern Lateinamerikas dafür gesorgt, dass dort die unmenschlichsten Gesetze erlassen wurden, die den Schwangerschaftsabbruch rigoros verbieten. Die reichen katholischen Damen lassen in den USA oder Puerto Rico „abbrechen“, die armen Frauen sind auf Pfuscher in aller Heimlichkeit angewiesen. Diese armen Frauen, Opfer einer Macho-Unkultur, sterben oft bei diesen Eingriffen. das ist die Konsequenz dieser frommen Lebensschützer, abgesehen davon, dass fast alle Kinder in menschenunwürdigen Slums in Lateinamerika überleben müssen….

Mit anderen Worten: Diese Marschierer für das ungeborene Leben gehören zu einem weltweiten Netz von Menschen, die den Schutz des ungeborenen Lebens nur als Vorwand benutzen, um antidemokratische, ungerechte Strukturen zu verfestigen. Und etliche Christen und Bischöfe fühlen sich in einem solchen “Milieu” offenbar sehr wohl. Wer da seine kritische Stimme erhebt, wird sofort als “Feind des Lebens” hingestellt.

Wird dieser Marsch am 17.9. 2016 ein wichtiges Datum sein, ein Tag, an dem zum ersten Mal katholische Bischöfe mit der AFD gemeinsam marschierten? Wer wird sich darüber freuen?

PS: Wir freuen uns, dass die Leitung der Berliner protestantischen Kirche offiziell nicht bei diesem Marsch dabei ist.

copyright:Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Menschen sind wie Objekte. Man kann sie vernichten”: Philosophisches zum Internationalen Tag der Indigenen Völker“

Menschen sind wie Objekte. Man kann sie vernichten: Philosophisches zum Internationalen Tag der Indigenen Völker“

Von Christian Modehn

Philosophisches Denken, wenn es lebendig ist, bezieht sich auf die Gegenwart. Und heute werden Menschen wie Objekte behandelt, die man irgendwo hinbestellen kann, verwalten kann, entlassen kann, fertigmachen kann usw. Diese Verdinglichung der Menschen durch das System der Herrschaft ist philosophisch oft, leider noch zu selten, analysiert und diskutiert worden.

Am „Welttag der Indigenen Völker“ am 9. August gibt es einmal mehr eine Chance, kritisch philosophisch nachzudenken. Denn indigene Völker sind in der Sicht der Herrschenden, also der Mehrheit, die quantité négligeable, sind die Restbestände wilder Wesen, wilder Menschen aus angeblichen Vorzeiten, die „man“ ignorieren kann.

Das wird besonders deutlich im Umgang der Herrschenden, und das sind nicht immer nur Politiker, sondern vor allem die gierigen Internationalen Konzerne, in Brasilien. Und sicher in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten. Wer heute nach Rio blickt, zur Olympiade inmitten des Elends der Slums bei selbstverständlich gewordener Korruption, der sollte immer die Indigenas in den Wäldern rund um den Amazonas mit-bedenken und für sie eintreten. „Diese Völker sind nur noch ein Hindernis für die Modernisierung des Landes“, sagt der katholische Bischof Roque Paloschi. Er kümmert sich intensiv um die Menschenrechte der Indianer, in einer sicher verdienstvollen katholischen Organisation, die aber immer noch den Titel „Indianermissionsrat“ (CIMI) hat. Denkt man in diesen katholischen Kreisen nicht mit Grauen an die Mission, die im Zusammenhang der Kolonisierung und Auslöschung so vieler Millionen „Indianer“ seit 1492 betrieben wurde? Warum noch diese Sprache? Soll die Kirche doch sagen: Wir wollen keine Mission für diese indigenen Völker. Wir wollen mit ihnen solidarisch sein und sie unterstützen in eigenen Projekten…. aber das nur am religionskritischen „Rande“…

Die Rechte der Indigenas, ihr Lebensraum, ihre Kultur, das zählt nichts für den so genannten Fortschritt, den die Regierungen als ausführende Organe der internationalen Industrien betreiben. Dieser Fortschritt vernichtet die Natur, vernichtet die Menschheit, das ist tausendfach geschrieben worden, aber von den maßgeblichen Bürokratien nicht wahrgenommen worden.. Man lese die Hinweise auf den wichtigen Film von Martin Kessler über das Staudammprojekt Belo Monte! Die Ureinwohner am Amazonas, die eigentlichen Landeigentümer seit Jahrhunderten, werden einfach so mit einem bürokratischen Akt enteignet, vertrieben, angeblich „entschädigt“. Denn sie stehen der Ausbeutung der Rohstoffvorkommen im Wege. Von dem Profit bekommen die Indigenas selbstverständlich nichts ab, denn meist überleben sie nicht den rabiaten Zugriff auf ihr Land, ihre Wälder, ihre Tiere, ihr Wasser. Das Morden geht weiter, das Morden der Weißen, das Morden der Internationalen Firmen. Diese Institutionen, und die von ihnen bestens bezahlten Manager, haben keinen Sinn für den Menschen, den anderen, den Schwachen, den Kleinen, den Fremden, den Indianer oder den Schwarzen. Der Kleine als der andere gilt ihnen nichts. Die Geschichten zur Gentrifizierung in europäischen Großstädten erzählen auch vom Umgang mit „den anderen“. Eine weltweite Geschichte…”Menschen sind wie Objekte, man kann sie vernichten”, sagt so direkt niemand von den Herrschenden. Aber viele denken so und handeln so.

Copyright: Christian Modehn

 

Olympiade in Rio: Im Land der Rechtlosigkeit. Der Film “Count-Down am XINGU”

Olympiade in Rio: Im Land der Korruption und Rechtlosigkeit.

Der neue Film „Count-Down am Xingu“ von Martin Keßler.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zur aktuellen Rezeption dieses wichtigen Films finden Sie Infos am Ende dieses Beitrags. Interessant auch, dass dieser Film in Kurzfassung im Netz zu sehen ist, auch auf Portugiesisch!

Am 5. August 2016 beginnen in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele. Ihr Motto: „Lebe deine Leidenschaft“. Wer wissen will, wer in Brasilien und in der globalen Welt des internationalen Kapitalismus seine gierige Leidenschaft lebt und austobt und wer von diesen korrupten Leuten dabei an den Rand gedrängt wird, sollte den neuen Dokumentarfilm von Martin Kessler sehen und verbreiten: „Count-Down am Xingu“. Der 95 Minuten dauernde großartige Film wurde erst vor kurzem fertig gestellt. Dass dieser Film anstelle der ewigen Wiederholungen von „Tatort“ und „Wallander“ im deutschen Fernsehen im Abendprogramm gezeigt wird, ist angesichts der politischen Aussage dringend gewünscht, von der Bevölkerung, die mehr will als Unterhaltung. Denn der Film Count-Down am Xingu“ zeigt die totale Rechtlosigkeit nicht in einer der allseits bekannten „Tatort“ Versionen, sondern in der brutalen Realität der globalen Ökonomie im Land der angeblich „glorreichen Olympischen Spiele“.

„Count–Down am Xingu“ dokumentiert die Ereignisse und Konsequenzen beim Bau der des Megastaudamms „BELO MONTE“ am Fluss XINGU im weiten Umfeld der Amazonas-Region. Die zwei Stauseen haben etwa die Größe des Bodensees. Am 5. Mai 2016 wurde die erste Turbine des weltweit drittgrößten gigantischen Staudamms eröffnet. Der Staudamm wird Strom erzeugen für die rasant wachsende Wachstums-Gesellschaft, vor allem für die Montanindustrie dort, nicht für die Bewohner. Er soll die Profit-Gier etwa der multinationalen Aluminium-Konzerne befriedigen.

Der Staudamm dient also in der Propaganda der Herrschenden dem Fortschritt. Und Fortschritt, dass wissen wir allmählich, heißt oft genug Zerstörung der Natur und Degradierung der Menschenrechte, vor allem der Armen und der indigenen Völker. Denn diese stören den Fortschritt der Herrschenden, stören deren Ideologie, die da heißt: „Es gibt keine Alternative“. Also: Wir müssen die Natur zerstören und Menschen drangsalieren.

Die verheerenden Konsequenzen dieses Ultra-Mega-Projektes sind schon heute vor aller Augen, sie sind sichtbar, auch wenn sie von den Regierenden und den internationalen Konzernen, darunter auch Siemens, selbstverständlich, wie üblich, bestritten werden.

Die Liste der Verletzungen der Menschenrechte, also die Liste der Rechtsbrüche und Korruptionsskandale im Umfeld der Errichtung von „Belo Monte“, ist lang. Nur einige Beispiele, die der Film von Martin Keßler ausführlich dokumentiert:

Der Bau des Staudamms hat riesige Flächen Natur, von Wald, unwiederbringlich zerstört. Das hat Auswirkungen auf das Klima weltweit, zumal am Amazonas die Konzerne seit Jahren permanent weiter massenhaft Urwald vernichten, etwa für den Maisanbau, verwendbar für die Tiernahrung, von der wiederum nur die Reichen profitieren…

Der Bau des Staudamms erforderte die Zwangsumsiedlung von etwa 40.000 Einwohnern. Die Arbeitslosigkeit der Bewohner dieser Region hat zugenommen. Fischer ziehen nun tote Fische aus dem verseuchten Fluss. Indigene Völker verlieren ihren typischen Lebensraum. Das Bauwerk ist nur entstanden, weil ein Netzwerk von korrupten Politikern in ihrer maßlosen Gier sich auf diese Weise bereichern wollten. Das „Movimiento Xingu“, eine Bürgerinitiative, mehr noch eine entschlossene, gewaltfrei kämpfende Gemeinschaft, die für die Menschenrechte aller eintritt, sagt: “Dieses Bauwerk ist von Grund auf korrupt. Dieses Bauwerk hat die Regierungsmitglieder auch von Dilma Rousseff bereichert“. Vor allem: 36 der 38 Mitglieder, die zur Kommission der Amtsenthebung von Dilma Rousseff gehörten, sind der Korruption überführt worden. Der Film zeigt die Hintergründe des Korruptionsskandals um „Petrobras“, korrupte Konzerne die den Staudamm bauten, haben auch die Stadien in Rio für die Olympiade gebaut. Deutlich wird die Hilflosigkeit der Justiz in einem von Korruption zerfressen Land. Die Justiz ist ohnmächtig: “Die Entscheidungen unterer Instanzen gegen massive Rechtsverstöße bei Belo Monte werden immer wieder zurückgewiesen, weil ein oberster bundesrichter kann die Entscheidungen aufheben, wenn nationale Interessen in gefahr sind. Dies ist ein Verfahren aus Zeiten der Militärdiktatur”, so Martin Keßler in FREITAG, 4.8.2016, Seite 7.

Selbstverständlich kommt in dem Film der inzwischen weltbekannte katholische Bischof Erwin Kräuter, Bischof von Altamira, Xingu, zu Wort. Ohne seine, auch international bekannte, Jahre dauernde Solidarität mit den indianischen Völkern und den Armen dort, wäre vielleicht von dem Mega-Wahn des Mega Staudamms wenig bekannt geworden. Bischof Kräutler sagt wie andere kritische Beobachter: „Ohne Korruption wäre der Staudamm Belo Monte nicht gebaut worden“. Er kritisiert, dass europäische Firmen, wie Siemens, Turbinen für dieses Projekt geliefert haben, ohne dabei auf die verheerenden ökologischen Konsequenzen zu achten.

Es sollen weitere Staudämme in Brasilien gebaut werden, etwa am Fluss Tapajos, wo Menschen aus dem Volk der Munduruku leben. Der Wahn, der sich Fortschritt nennt, aber tatsächlich verbrecherische Strukturen hat, ist also überhaupt nicht beendet.  Die Entwicklung von Solar-Strom kommt offenbar in einem „Sonnenland“ wie Brasilien nicht voran. Noch viel weniger die Diskussion übeer das Ende der Wachstumsgesellschaft. Wachsen sollten nur noch die Armen, in der Bildung, der Gesundheitsfürsorge usw.,  Abspecken die Herren der internationalen Konzerne und Regierungs-Bürokratien.

Nur am Rande notiert: Man darf nicht vergessen, dass in einem anderen lateinamerikanischen Staat, in HONDURAS, der Protest gegen den Bau des Staudamms Agua Zarca bereits zum Mord an der Aktivistin Berta Cáceres geführt hat. Die empfehlenswerte Zeitschrift WELTSICHTEN, Frankfurt M. berichtet in ihrer Ausgabe Juli 2016 S. 25 ff. über die hierzulande kaum wahrgenommenen Verbrechen in HONDURAS unter dem Titel: “Die Eliten lassen töten”. In dem Beitrag heißt es: “Das kleine HONDURAS ist nicht nur das Land mit der höchsten Mordrate weltweit, hier werden auch die meisten Umweltaktivisten getötet” (S. 26). Weiter heißt es in dem Beitrag von Kathrin Zeiske: “Siemens und Voith sind mitschuldig an Menschen­rechts­ver­letz­ungen in Ländern wie Honduras, Brasilien, Kolumbien und China, weil sie u.a. Turbinen für Wasserkraftprojekte liefern, die mit Zwangsumsiedlungen, Gewalt und Morden durchgesetzt werden, heißt es in dee OXFAM-Veröffentlichung” (S. 27).

Also: Die Diskussionen über die Wachstumsgesellschaft und die Solar-Energie müssen weitergehen. Der Film „Count-Down am Xingu“ bietet dafür beste Anregungen. Auch in Gesprächsrunden, in Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, selbstverständlich auch bei Siemens und dem deutschen Wirtschaftsministerium. „Zu den beteiligten europäischen Firmen gehören als Zulieferer Alstom, Andritz, Voith und Siemens. Die Münchener Rückversicherungsgesellschaft Munich Re versichert das Projekt“ (Quelle: wikipedia).

Selbstverständlich werden –so die utopische Hoffnung- Kirchengemeinden den Film in Form eines public-viewing anschauen. Zur Fußball EM hat man ja da in Kirchenkreisen und Gemeindehäusern beste Erfahrungen machen, warum nicht auch bei einem politischen Film? Die Kurzfassung von 25 Minuten ersetzt auch wunderbar eine Sonntagspredigt mitten im Gottesdienst und bringt mehr Licht in die Lebensdeutung des heutigen globalisierten Menschen als eine immer wieder alte moralische Standpauke mit frommen Sprüchen.

Es gibt inzwischen auch die 25 Minutenversion im Internet, auf Deutsch als auch in Portugiesisch. Auf Deutsch: https://www.youtube.com/watch?v=Ugi0kP-Mj6o

Versão curta (25 min) em português:     https://www.youtube.com/edit?o=U&video_id=xHdslKr7EOA

Die Langfassung als DVD, Länge 95 Minuten, kann bestellt werden für 19,90 EURO bei bestellung@neuewut.de     Weitere Infos: www.neuewut.de

Der Religionsphilosophische Salon Berlin setzt sich nicht nur für die philosophische Idee der universalen Menschenrechte für alle ein, er verteidigt auch den politischen Einsatz für die Menschenrechte.

Von unserem religionskritischen Interesse her können wir uns eine Bemerkung nicht „verkneifen“: Der Film zeigt den großartigen Bischof Erwin Kräutler inmitten der protestierenden, empörten Armen und indianischen Völker. Und dann plötzlich muss er wohl auftreten in dem barocken Dom zu Würzburg, umgeben von prächtig gewandeten Bischöfen in einer üppigen Kirche. Und man fragt sich beim Anblick der so gut versorgten deutschen “Hirten”: Werden diese deutschen Bischöfe dem Vorbild Erwin Kräutlers folgen und etwa bei Siemens, Alstrom, Voith, der Münchner Rückversicherung nachfragen, warum sie dieses Projekt Belo Monte mit betreiben? Wir haben von entsprechenden Gesprächen deutscher Bischöfe mit den internationalen Konzernen mit Sitz in Deutschland bisher nichts gehört. Den immer selben Ritus einer Messe zu feiern ist ja auch viel einfacher und viel harmloser und unverbindlicher. Den realen, lebensgefährlichen Kampf um die Menschenrechte und die Menschenwürde überlässt man lieber unentwegten Gestalten wie Erwin Kräutler. Inzwischen wurde er aus Altersgründen pensioniert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Aktuelle Infos:

Kurzbericht aktueller Stand (2.8.2016) von Martin Keßler:

Die Premieren in Frankfurt (5.7.16), Berlin (12.7.16) und Stuttgart 817.7.16) sind super gelaufen – allein in Frankfurt 160 Premierengäste. Der Film ist sehr gut angekommen – auch bei der Kritik. U.a. in der „FR“, „taz“ und es gab längere Interviews in Hr2 und Radio Eins / RBB. (siehe Anhang und www.neuewut.de). Die Wochenzeitung „Freitag“ wird diese Woche noch ein langes Interview bringen, die „FR“ hat den Film als „Sommerlektüre“ empfohlen. Auch in blogs im Internet gab es mehrere Besprechungen. Nach der Sommerpause wird es weitere Vorstellungen geben, u.a. in Hamburg, Saarbrücken, der Schweiz und Österreich.

Außerdem wird der Film am 24.Sept. aus Anlass der Verleihung des Menschenrechtspreises der Stadt Memmingen an Bischof Erwin Kräutler (am 25.Sept.) von dem Kulturamt der Stadt Memmingen und dem Preiskomitee im Kino im Memmingen gezeigt.

Die portugiesische Fassung ist jetzt auch fertig und wir haben schon viele DVDs an Bischof Kräutler, Xingu vivo, die Mundurukus etc versandt, damit der Film jetzt auch in Brasilien gezeigt werden kann.

Inzwischen gibt es auch die Kurzfassung im Netz:

Kurzfassung (25 min) auf Deutsch:

https://www.youtube.com/watch?v=Ugi0kP-Mj6o

Versão curta (25 min) em português:

https://www.youtube.com/edit?o=U&video_id=xHdslKr7EOA

“Wir hoffen, dass zahlreiche am Thema interessierte Organisationen die Kurzfassung mit Ihren Internetseiten verlinken und helfen, den Film zu verbreiten. Das selbe gilt für die DVD mit der Lang – und Kurzfassung, Auch hier hoffen wir auf Unterstützung bei der Verbreitung / dem Verkauf der DVD und der Organisation von Veranstaltungen sowie der Nutzung des Filmes in der Bildungsarbeit. Hier besteht ein enormes Potential, das leider nur mithilfe von Partnern – auch den Organisationen / Stiftungen, die das Filmprojekt gefördert haben – genutzt werden kann. Wir sind aus personellen und finanziellen Gründen dazu alleine leider nicht in der Lage” (Martin Kessler).