Homosexualität ist kein Verbrechen, bleibt aber eine Sünde. Verworrenes von Papst Franziskus im Januar 2023.

Von Christian Modehn am 30.1.2023.

Die Stellungnahmen von Papst Franziskus zur Homosexualität werden immer zwiespältiger. Sie bestätigen nur das Hin-und Her-Lavieren der katholischen Kirche bei dem Thema.

Ende Januar 2023 hat Papst Franziskus gleich zweimal zu diesem Thema Stellung genommen. In einem Interview für AP am 25.1.2023 LINK und in einem Brief an den US-amerikanischen Jesuiten James Martin. LINK. Siehe auch handschriftlich LINK.

Erstens sagte der Papst: „Homosexualität ist kein Verbrechen“. Also keine Untat, die in mehr als 60 Staaten immer noch gesetzlich verfolgt und bestraft wird.

Kommentar: Eine scheinbar mutige Aussage, in der sich der Papst von den mehr als 60 Staaten und ihrer Politiker absetzt, die immer noch Homosexuelle verfolgen, ausgrenzen, quälen, töten. Damit spricht sich der oberste Chef der römischen Kirche aber endlich nur für den allgemeinen humanen Standard aus, den vernünftige und gebildete Menschen (und deren Politiker) schon seit etlichen Jahren vertreten.
Und die Wahrheit, die immer mehr vernünftige und gebildete Menschen verteidigen, heißt: Homosexualität (um nur von ihr zu sprechen in der Vielfalt queeren Lebens) ist normal, sie ist nichts anderes als eine Variante in den sexuellen Orientierungen. Die universal geltenden Menschenrechte stehen über allen positiven Gesetzen der Staaten und über allen faktischen Lehren, Dogmen der verschiedenen Religionen. Menschenrechte sind der universale Maßstab.
Die päpstliche Aussage „Homosexualität ist kein Verbrechen“ scheint in gewisser Weise mutig zu sein, wenn man bedenkt, dass der Papst Anfang Februar 2023 den Staat Südsudan besucht, deren Bewohner zu 77% sich Christen nennen (39 % nennen sich katholisch). Dieser Staat Südsudan aber hat Gesetze, die Homosexuelle bestrafen und ausgrenzen. Und die dortigen katholischen wie anglikanischen Bischöfe unterstützen diese staatlichen Gesetze. Es wird also nicht leicht sein, wenn der Papst, der ja eigentlich nur für „geistliche“ und „moralische“ Verhalten zuständig ist, nun dort hoffentlich zum leidenschaftlicher Verteidiger der Homosexuellen wird und lautstark verkündet: „Auch die Homosexuellen im Südsudan sind keine Verbrecher“. Wird seine Stimme vernommen? Der Papst wird wohl leider unverrichteter Dinge wieder nach Rom zurückfliegen: Denn die Regierung des Südsudan kann der Papst nicht austauschen, und die Katholischen Bischöfe ebenfalls nicht. Die werden wohl bei ihrer tiefsitzenden, angeblich theologisch begründeten Anti-Gay-Haltung bleiben.
Man möchte man den Politikern und Bischöfen in Südsudan zurufen: Schafft endlich demokratische Gesetze, beendet die Verfolgung von Homosexuellen und sorgt endlich dafür, dass die eigene Bevölkerung nicht länger verhungert… Dies zu sagen hat gar nichts mit Neo-Kolonialismus zu tun. Nur mit der Geltung der universalen (!) Menschenrechte.

Zweitens sagte der Papst: Der Papst ergänzt zur selben Zeit, Ende Januar 2023, ebenfalls gleich zweimal sein erstes Statement und lehrt: „Homosexualität ist Sünde“! Und dies mit der Begründung: „Weil der offizielle Katechismus der römischen Kirchen (verfasst unter Kardinal Ratzinger) Sexualität nur in der Ehe erlaubt“.

Kommentar:
Der Papst stellt also zum hundertsten Male wie seine Vorgänger schon ganz deutlich heraus: Homosexualität ist Sünde. Und damit sind konsequenterweise Homosexuelle auch besonders stigmatisierte Sünder. Vor allem Homosexuelle gelten nun wieder einmal als auffällige Sünder.
Theologisch ist die Aussage verrückt und falsch, sie muss von vernünftigen Theologen energisch zurückgewiesen werden: Denn Sünder kann nur jemand sein, der sich freiwillig für eine bestimmte Tat und Haltung entscheidet, die moralisch verwerflich sind. Aber Homosexualität wurde nie frei gewählt. Homosexualität ist, wenn man es theologisch deuten will, eine Gabe Gottes, die dem Menschen zugewiesen wurde, weil Gott als guter Gott nur Gutes schafft, darum ist also Homosexualität eine „gute Gabe Gottes“. Sie ist nur eine Variante innerhalb der Sexualitäten.

Die Konsequenz:
Wenn der Papst also hoch offiziell immer noch Homosexualität für eine Sünde hält und damit Homosexuelle als die nun öffentlich besonders bekannten Sünder hinstellt, hat er kein Argument mehr, um seine durchaus politische These durchzusetzen: Homosexualität ist kein Verbrechen, nichts, was ein Staat verfolgen darf.
Denn die Staats-Chefs können doch angesichts der „Sünden-Behauptung“ sagen: Wir helfen dir lieber Papst doch nur, die Sünde in der Welt zu besiegen, wenn wir die homosexuellen Sünder bestrafen und verfolgen und auslöschen. Dies ist ein alter Usus der Zusammenarbeit von Staat und Kirche: Die Päpste markieren bestimmte Menschen als schwere Sünder, und der Staat löscht sie dann unter dem Titel „Verbrecher“ aus. Siehe Inquisitionsgeschichte.

Die Lösung:
Eine vernünftige Lösung kann nur bedeuten: Der Papst lehrt kraft seines Amtes verbindlich und ein für allemal: „Homosexualität ist weder ein Verbrechen NOCH eine Sünde“. Er sagt öffentlich und laut und in allen Sprachen: „Homosexualität ist etwas Normales. Und deswegen unterstützen wir gern Homosexuelle, wenn sie eine Ehe schließen wollen, selbstverständlich segnen wir auch homosexuelle Paare, wir wollen schließlich als Kirche nicht länger nur wie üblich Autos, Wohnungen, Handy, Tiere usw. segnen, sondern eben auch alle Menschen“.

Ein – ironischer – Ausweg jetzt schon:
Vielleicht gibt es für einige wenige noch katholisch „gebundene“ Homosexuelle einen Ausweg, den Papst Franziskus selber in seinem Brief an Pater James Martin andeutet: Der Papst schreibt: „I should have said “it is a sin, as is any sexual act outside of marriage.”
Also, das heißt: Wer in einer Ehe lebt, begeht in seinem sexuellen Lieben und Leben keine Sünde. Das heißt dann aber: Homosexuelle, die im Sinne der richtigen Gesetze demokratischer Staaten verheiratet sind, können ohne weiteres mit päpstlichem Segen ihre Sexualität leben. Mit anderen Worten: Der Papst will sagen: Katholische Homosexuelle! Heiratet, folgt den richtigen Gesetzen in euren demokratischen Staaten, dann könnt ihr mit meinem päpstlichen Segen durchaus Sex haben und Liebe empfinden. Ihr seid ja Eheleute und verheiratet!

Weitere Projekte der Forschung:
– Warum wird gerade in Afrika Homosexualität so oft verboten? Wovor haben die Politiker und weite Kreise der unwissenden Bevölkerung Angst, wenn es um Menschenrechte für Homosexuelle geht?
– Folgen die afrikanischen Bischöfe in ihrer Feindschaft auf Homosexuelle nur der alten Lehren der europäischen und nordamerikanischen Missionare im 19. und 20.Jahrhundert, die den armen „Einheimischen“ einbläuten: Homosexualität ist eine Sünde? Man darf vermuten, dass es so war. Das Zerstörerische der Kolonial/Missionsgeschichte wird einmal mehr deutlich.

Katholische Kirche in ihrer Verfolgung der Homosexuellen, Hinweis auf einige Beiträge des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en-Salon Berlin.

Die Studie “Sodom” des französischen Soziologen Frédéric Martel, sie dokumentiert das verborgene, verlogene schwule Leben des Klerus: LINK

Kardinal Sarah (geb.in Guninea) war und ist einer der heftigsten Feinde homosexueller Gleichberechtigung: LINK

Kardinal Pengo aus Tanzania hat Unsägliches über Homosexuelle gesagt:  LINK

Im Jahr 2018 hätte Papst Franziskus in einem Interview am liebsten einen katholischen §175 geschaffen. LINK

Weihbischof Andreas Laun aus Salzburg war so geistig daneben, dass er den Segen für homosexuelle Paare mit einem Segen für KZs verglich. LINK

Dies ist nur ein Ausschnitt über die angestammten Umgangsformen des (hohen) Klerus mit Homosexuellen und Homosexualität. Das Thema bewegt diese Herren, weil sie oft selbst verkrampft schwul sind und alle verachten, die offen diese ihre normale Sexualität leben. Um dies zu erkennen, muss man kein Tiefenpsychologe sein.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Theologe Wilhelm Gräb gestorben

Am 25.1.2023 notiert: Eine traurige Nachricht, ein großer Verlust für eine moderne “liberale Theologie”: Prof. Wilhelm Gräb, Prof. em. für praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin,  ist am 23. Januar 2023 in Berlin nach langer Krankheit gestorben. Der Religionsphilosophische Salon Berlin verdankt ihm viele wichtige Anregungen und dankt nochmals auf diese Weise für insgesamt 65 Beiträge und Interviews, die Wilhelm Gräb in mehr als zehn Jahren für diese website gab. LINK.

Ich darf sagen, wir haben einen Freund verloren, der als ein Theologe der heutigen Moderne ungewöhnliche, aber richtige Perspektiven zeigte in seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit. Für ihn war die religiöse Glaubensform eines jeden Menschen wichtiger als die fixierenden, dogmatischen Lehren der Kirche. Diese theologische Freiheit, alle dogmatische Engstirnigkeit, allen Fundamentalismus auch in der evangelischen Kirche zu überwinden, “beiseite zu tun”, wie Wilhelm gern sagte, ist in ihrem radikalen Mut schon ziemlich einmalig. Ob diese Vorschläge und Ansätze zu einer Reformation der Kirchen noch ernstgenommen werden, gerade in dieser “Kirchenkrise” ist eine offene Frage… Über seine Verdienste in der Forschung zu Schleiermacher wird später zu berichten sein.

Fest steht: Wilhelm Gräb war ein Theologe, der über die allmählich verschwindende Macht der Kirchen hinausdachte, damit auch über die so genannte Säkularisierung, und der in der SINN-Frage, die jeden Menschen bewegt, die entscheidende Dimension geistvollen Lebens entdeckte und reflektierte. Letztlich kam es ihm auf die Pflege der SINN-Frage an, was für eine richtige Radikalität.

Die Vorlesung Wilhelm Gräbs beim offiziellen Abschied (Emeritierung) von der Humboldt – Universität hat der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Salon als erster publiziert. LINK.

Interessant in dem Zusammenhang das Interview, das uns Wilhelm Gräb 2012 zum Thema TOD und Sterben gab: LINK 

Zur theologischen Besinnung empfehle ich auch unser Interview mit Wilhelm Gräb “Der Gott der Liebe”. LINK:

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, führte insgesamt 65 Interviews mit Prof. Wilhelm Gräb, die auf der website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en-salon.de   nachzulesen sind. LINK.

Siehe auch den Hinweis der Theologischen Fakultät der HU, in englischer Sprache, die schön in einigen Worten auch die menschlichen Qualitäten Wilhelm Gräbs deutlich machen. LINK.

Copyright: Christian Modehn.

Benedikt XVI. und Leonardo Boff: “Ein Papst der vergangenen europäischen Christenheit, 
mit ihrem Pomp und ihrem politisch-religiösen Machtanspruch”. Ein Beitrag von Leonardo Boff.

Von Leonardo Boff, Brasilien. Am 5. Januar 2023.

Ein neuer Text, von Norbert Arntz, Kleve, übersetzt.

(Zur Erinnerung: Der Brasilianer Leonardo Boff (Geb. 1938) ist einer der wegweisenden, international hoch geschätzten katholischen Befreiungstheologen, er wurde von Kardinal Ratzinger als Chef der vatikanischen Glaubensbehörde zuerst 1985, dann 1991 von Kardinal Ratinger ausgegrenzt und mit Rede -und Schreibverbot bestraft. Ins Abseits des Vergessens konnten ihn Ratzinger und auch Papst Joahnnes Paul II. nicht drängen, im Gegenteil: Als offiziell von Rom Diskriminierter, als Ketzer, entfaltet er eine große kreative Theologie und Religionsphilosopie. Christian Modehn.)

“Jedes Mal, wenn ein Papst stirbt, ist die gesamte weltweite kirchliche Gemeinschaft und die Weltgemeinschaft bewegt, weil sie in ihm den sieht, der im christlichen Glauben bestärkt und die Einheit zwischen den verschiedenen Ortskirchen gewährleistet. Das Leben und die Taten eines Papstes können auf vielfältige Weise interpretiert werden. Ich werde eine Interpretation aus Brasilien (Lateinamerika) anbieten, die wahrscheinlich unvollständig ist.

Es ist wichtig zu wissen, dass nur 23,18 % der Katholiken in Europa und 62 % in Lateinamerika leben, die übrigen in Afrika und Asien. Die katholische Kirche ist eine Kirche der zweiten und dritten Welt. Künftige Päpste werden wahrscheinlich aus diesen Kirchen kommen, voller Vitalität und mit neuen Möglichkeiten, die christliche Botschaft in nicht-westlichen Kulturen zu verkörpern.
Wenn man sich auf Benedikt XVI. bezieht, muss man zwischen dem Theologen Joseph Ratzinger und dem Papst Benedikt XVI. unterscheiden.

Der Theologe Joseph Alois Ratzinger war ein typischer mitteleuropäischer Intellektueller und Theologe, brillant und gelehrt. Er war kein kreativer Geist, konnte aber hervorragend die offizielle Theologie erklären. Das wurde besonders in den verschiedenen öffentlichen Dialogen deutlich, die er mit Atheisten und Agnostikern führte.
Er entwickelte keine neuen Gesichtspunkte, sondern vermittelte die traditionellen Ansichten in einer anderen Sprache, die sich vor allem auf den heiligen Augustinus und den heiligen Bonaventura stützte. Ein wenig neu war vielleicht seine Vorstellung von der Kirche als einer kleinen, sehr treuen, heiligmäßigen Gruppe, die das Ganze „repräsentiert“. Für ihn war die Zahl der Gläubigen nicht entscheidend. Die kleine, zutiefst spirituelle Gruppe, die stellvertretend für alle da ist, genügte. Das führte dazu, dass sich in dieser Gruppe von Reinen und Heiligen auch Pädophile und in Finanzskandale verwickelte Personen befanden. Damit zerschlug sich seine Repräsentationsidee.

Benedikt XVI. träumte von einer Re-Christianisierung Europas unter der Führung der katholischen Kirche. Dieser Traum aber galt als unrealistisch, weil das heutige Europa mit seinen verschiedenen Revolutionen und der Einführung demokratischer Werte nicht mehr der Vorstellung des Mittelalters mit seiner Synthese von Glaube und Vernunft entspricht. Sein Ideal fand keine Resonanz, weil es seltsam aus der Zeit gefallen schien.

Eine andere eigenartige Position, die zum Gegenstand endloser Polemik mit mir wurde und breite Resonanz in der Kirche hervorrief, war die Behauptung, dass die „allein die katholische Kirche die Kirche Christi“ sei. Die Debatten während des Konzils und der ökumenische Geist hatten das Wort “ist” durch das Wort “besteht in” verändert. Damit wurde der Weg frei für die Vorstellung, dass die Kirche Christi auch in anderen Kirchen „bestehen“ konnte. Ratzinger dagegen behauptete stets, das „besteht in“ sei nur ein Synonym für das „ist“. Das wurde jedoch durch eine detaillierte Erforschung der theologischen Akten des Konzils nicht bestätigt. Aber er bestand weiterhin auf seiner These. Ferner behauptete er, dass die anderen Kirchen keine Kirchen seien, sondern nur über kirchliche Elemente verfügten.
Er ging sogar so weit, mehrfach zu behaupten, man habe meine Position unter den Theologen als Gemeingut verbreitet, so dass sich der Papst zu weiterer Kritik an mir veranlasst sah. Allerdings geriet er zunehmend in die Isolation, denn er hatte die anderen christlichen Kirchen wie die Lutheraner, Baptisten, Presbyterianer und weitere schwer enttäuscht dadurch, dass er die Türen zum ökumenischen Dialog verschloss.

Er verstand die Kirche als eine Art Festung gegen die Irrtümer der Moderne und machte den rechten Glauben zum entscheidenden Bezugspunkt, der stets an die Wahrheit gebunden sei (sein tonus firmus). Obwohl man ihn persönlich als nüchtern und höflich charakterisieren kann, war er als Präfekt der Glaubenskongregation äußerst hart und unnachgiebig. Etwa hundert Theologinnen und Theologen, darunter einige der bedeutendsten, wurden entweder verurteilt und verloren ihren Lehrstuhl, oder ihnen wurde verboten, Theologie zu lehren bzw. theologische Texte zu veröffentlichen, bzw. ihnen wurde, wie in meinem Fall, „ein Schweigegebot“ auferlegt. Dazu gehören in Europa bekannte Namen wie Hans Küng, Edward Schillebeeckx, Jacques Dupuis, Bernhard Häring, José Maria Castillo und andere. In Lateinamerika sind es der Begründer der Befreiungstheologie, der Peruaner Gustavo Gutiérrez, der spanisch-lateinamerikanische Theologe Jon Sobrino, die Theologin Ivone Gebara, die man mit Zensur belegte, sowie der Autor dieser Zeilen. In den Vereinigten Staaten gab es weitere, wie Charles Curran und Roger Haight. Sogar die Bücher des verstorbenen indischen Theologen Pater Anthony de Mello wurden verboten, ebenso wie die von Tissa Balasurya aus Sri Lanka, der exkommuniziert wurde.
Wir Theologinnen und Theologen Lateinamerikas haben nie ganz verstanden, warum er die auf 53 Bände angelegte Sammlung „Theologie und Befreiung“ verbot. Dutzende Theologen waren daran beteiligt (etwa 26 Bände wurden veröffentlicht). Das Ziel dieser Text-Sammlung war es, Seminare, kirchliche Basisgemeinschaften und christliche Gruppen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, zu unterstützen. Zum ersten Mal hatte man hier außerhalb Europas ein großes theologisches Werk zustande gebracht, das weltweite Resonanz fand. Doch das Projekt wurde sehr bald abgebrochen. Der Theologe Joseph Ratzinger erwies sich als Feind der Freunde der Armen. Das wird in die Theologiegeschichte eingehen.
Viele Theologinnen und Theologen behaupten, er sei vom Marxismus besessen gewesen, obwohl dieser in der Sowjetunion gescheitert war. Er veröffentlichte ein Dokument über die Befreiungstheologie, Libertatis nuntius (1984), voller Warnungen, aber ohne ausdrückliche Verurteilung. Ein späteres Dokument, Libertatis conscientia (1986), hebt zwar mehr die positiven Elemente hervor, allerdings mit erheblichen Einschränkungen.

Wir können sagen, dass er den Markenkern dieser Theologie nie verstanden hat: die „Option für die Armen gegen ihre Armut und für ihre Befreiung“. Sie machte die Armen zu Protagonisten ihrer Befreiung statt zu bloßen Empfängern von Wohltätigkeit und Paternalismus. Das eben war die Auffassung der Tradition und die von Papst Benedikt XVI. Er hatte den Verdacht, dass sich in diesem Protagonismus der historischen Macht der Armen der Marxismus verbarg.
Als Papst leitete Benedikt XVI. die „Rückkehr zur strengen Disziplin“ ein, mit einer eindeutig restaurativen und konservativen Tendenz, bis hin zur Wiedereinführung der Messe in Latein und mit dem Rücken zum Volk. In der Kirche selbst sorgte er für allgemeines Erstaunen, als er im Jahr 2000 das Dokument „Dominus Iesus“ veröffentlichte. Darin bekräftigte er die alte, mittelalterliche, vom Zweiten Vatikanischen Konzil beendete Lehre, dass es „Außerhalb der katholischen Kirche kein Heil“ gebe. Nichtchristen waren in großer Gefahr. Erneut verweigerte er den anderen Kirchen die Bezeichnung „Kirche“, sie seien nur kirchliche Gemeinschaften. Das rief allgemein Irritationen hervor. Bei all seiner Scharfsinnigkeit polemisierte er mit Muslimen, Evangelikalen, Frauen und der fundamentalistischen Gruppe, die gegen das Zweite Vatikanum war.

Seine Art, die Kirche zu führen, hatte nicht das Charisma, das Papst Johannes Paul II. so stark auszeichnete. Er war mehr von Rechtgläubigkeit und wachsamem Eifer für die Glaubenswahrheiten geprägt als von Weltoffenheit und Zärtlichkeit für die einfachen Christen, wie es Papst Franziskus deutlich zeigt.
Er war ein echter Repräsentant der alten europäischen Christenheit mit ihrem Prunk und ihrer politisch-religiösen Macht. Aus der Perspektive der neuen Phase der Planetarisierung hat sich die auf so vielen Gebieten reiche europäische Kultur in sich selbst verschlossen. Nur selten hat sie sich als offen gegenüber anderen Kulturen erwiesen wie z.B. für die alten Kulturen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Das wurde im Prozess der Evangelisierung bewiesen, den man als Okzidentalisierung des Glaubens betrieb. Man hat sich nie von einer gewissen Arroganz befreit, der Beste zu sein, und mit diesem Anspruch die ganze Welt kolonisiert. Diese Tendenz ist immer noch nicht ganz überwunden.
Trotz aller Begrenzungen wird er aufgrund seiner persönlichen Tugenden und seiner Demut, mit der er auf das Papstamt verzichtet hat, als er die Grenze seiner Kräfte verspürte, gewiss zu den Seliggepriesenen zu zählen sein.”

Quelle: https://leonardoboff.org/2023/01/05/benedicto-xvi-un-papa-de-la-vieja-cristiandad/
Übersetzung aus dem Spanischen: Norbert Arntz, Kleve

Kritische Stimmen zu Benedikt XVI./Ratzinger: Wird er von allen nur noch gelobt und gepriesen? Gibt es noch vernünftige Kritik?

Hinweise von Christian Modehn, begonnen am 4.1.2022.

Das Motto: “Ratzinger hätte besser nicht Papst werden sollen”, sagt der Jesuit und Vatikan/Papst Kenner Pater von Gemmingen.

Hier werden einige wichtige Texte publiziert,  von Theologen geschrieben anläßlich des Todes von Papst Benedikt XVI.

Erstens: Zur Einstimmung:

Alle oder fast alle so genannten Prominenten, Kardinäle, Bischöfe und andere KLeriker loben und preisen jetzt Benedikt XVI./Joseph Ratzinger. Der Klerus ist bekanntlich zur totalen Konformatität erzogen und verpflichtet, man betrachte nur, wie alle diese Herren bei ihren Messfeiern, etwa am 5.1.2023 auf dem Petersplatz, dieselben Gewänder tragen: Alle sind gleich, alle sind eins in ihrer Konformität.

Eine brausende Symphonie der Lobeshymnen auf Benedikt/Ratzinger wird angestimmt, auch von Leuten, führenden Leuten, wie Politikern, die wahrscheinlich keine einzige Zeile dieses angeblichen “Mozart der Theologie” gelesen haben.

Fast alle übertreiben es in ihrer blinden, aber diplomatisch vielleicht klugen Treue zu dem alten, aber in dieser Allgemeinheit dummen Spruch: “Über Tote soll nur Gutes gesagt werden”.

Nein!  Wenn Leute (auch Päpste) viel Unsinn gemacht haben, den sie bei ihrer Bildung nicht hätten machen dürfen, dann gilt ihnen die Kritik. Selbstverständlich auch Benedikt XVI./Ratzinger. Sollen wir etwa Papst Alexander VI. oder Leo X. oder Gregor XVI. usw. nicht kritisieren?

Wir sind seit dem 31.12.2022 auf der Suche nach kritischen Stimmen zu dem nun schon jetzt fast heilig gesprochenen Benedikt XVI. bzw. dem, wie er von sich sagte, bayerischen Voralpenländler und vor allem langjährigem Büro-Leiter der Obersten Glaubensbehörde im Vatikan Joseph Ratzinger. Wir sind gespannt, ob sich einige wenige kritische Stimmen sammeln lassen.

Und man wird sich auch endlich fragen müssen: Was hat Benedikt XVI/Ratzinger eigentlich “empirisch,  nachweislich” für den Weltfrieden getan? Waren es nur kluge Worte, etwa im Dialog mit Habermas? Was hat er als oberster Chef dieser weltweiten Organisation “katholische Kirche” wirklich für die Gerechtigkeit in der Welt getan? Man wird prüfen, vielleicht war seine Leistung außer großen Worten nicht so nennenswert, Ratunger, ein Mann der Worte also und als Papst Liebhaber der alten klerikalen, päpstlichen Klamotten…

Zweitens: Der Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen.

Wir finden es erstaunlich und anerkenntswert, dass der deutsche Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen (Jahrgang 1936), von 1982 – 2009 Leiter des Deutsch-sprachigen Programms von RADIO VATICAN, den Mut hat, öffentlich zwar vorsichtig kritische Hinweise zu Papst Benedikt zu äußern. Und zwar auf der offiziellen website des Jesuitenordens in Deutschland. Pater von Gemmingen kennt wie kaum ein anderer auch die Verhältnisse am päpstlichen Hof, der Kurie.

Bevor dieser Beitrag vielleicht auf gewissen “Druck” hin verschwindet, bieten wir einen Link und erlauben uns, den entscheidenden Teil der Ausführungen Pater von Gemmingens SJ zu zitieren.

Ob Erzbischof Gänswein, der sich als enger Freund und Sekretär Ratzingers die Interpretationshoheit über Ratzinger aneignen wird, mit Pater Gemmingens Ausführungen einverstanden ist? Sicher nicht. Gänswein wird demnächst ein Buch “authentischer Erinnerungen” veröffentlichen und gegen Papst Franziskus polemisieren…. Vielleicht wird der Jesuit Pater von Gemmingen als “Nestbeschmutzer” eingestuft, die übliche Masche von Herrschaften, auch im Vatikan, mit Kritik “fertig zu werden”. Der Text Pater von Gemmingens, Link.

Der  behutsam kritische Teil der Ausführungen Pater von Gemmingens, also eines Zeitzeugen, der viele Jahre im Vatikan lebte und auch Ratzinger/Benedikt direkt erlebte. Ein historisches Dokument also:

“Zunächst möchte ich die Grenzen Benedikts benennen:
Er hätte besser nicht Papst werden sollen, denn als Papst musste er eben „führen“, gegen Widerstände ankämpfen, Personal- und Sachentscheidungen treffen. Und hier tat er sich sehr schwer. Er litt mehr als sein Vorgänger unter Entscheidungen, die er fällen musste, und hing wohl auch ab von weniger kompetenten Beratern. Hier zeigte sich auch seine Ängstlichkeit. Er hatte Angst, etwas falsch zu machen. Schon das Bischofsamt war eigentlich nicht seine Sache. Er wollte sicher nicht Papst werden und wusste auch, dass dies nicht seinen Fähigkeiten entsprach.
Seine nicht sehr ausgeprägte Menschenkenntnis zeigte sich auch in unguten Personalentscheidungen. Er ernannte Personen für Ämter aufgrund des Vertrauens in sie und nicht auf Grund von deren Qualifizierungen.
Er schrieb seine großen Reden selbst und ließ sie vermutlich nicht von Fachleuten gegenlesen. Kritische Gegenleser hätten ihn auf Passagen hingewiesen, die später von den Medien zerpflückt wurden und zu groben Fehlinterpretationen führten. Er dachte „geradeaus“ und kam nicht auf die Idee, dass man gewisse seiner Aussagen auch in gegensätzlichem Sinne verstehen konnte. Beispiele: Er sprach von notwendiger „Entweltlichung der Kirche“ ohne es genauer zu erklären. Es entstanden wilde Spekulationen über seine Gedanken. Er zitierte Kritik an Mohammed aus dem Munde eines byzantinischen Kaisers. Viele Muslime verstanden es als seine persönliche Kritik an Mohammed, was eine Falschinterpretation seiner Aussage war. Hätten kritische Gegenleser seine Rede vorher gelesen, hätten sie vermutlich auf die wahrscheinliche Falschinterpretation hingewiesen. Die Schwäche von Papst Benedikt in der Rolle als Papst bestand also m.E. darin, dass er wie in einer Vorlesung vom verständnisvollen Mitdenken der Studenten ausging und auf deren kritische Fragen eingehen konnte.
Sein scharfes Urteil in Sachfragen wurde interpretiert als Härte gegen Menschen.”

Die weiteren Ausführungen Pater von Gemmingens sind diskutabel: Denn es ist sehr die Frage: Ob die Vernunft, von der Ratzinger sprach, nicht eher die mittelalterliche “katholische Vernunft” innerhalb der katholischer Theologie ist, eine Vernunft also, die nicht dem Niveau der Vernuftdebatte der Moderne und des 20. Jahrhundert entspricht. Und mit dieser mittelalterlich – klerikalen Vernunft wird man heute nur einige Eingeweihte, Kleriker, erreichen.

 

DRITTENS:  LEONARDO BOFF, weltweit bekannter brasilianischer Befreiungstheologe, zum Tod Benedikt XVI.: LINK

Den Text übersetzte Norbert Arntz, bester Kenner der Befreiungstheologie und Buchautor: “Der Katakombenpakt”, Topos Taschenbücher 2015 und Autor vieler Zeitschriftenbeiträge, siehe etwa: “Stimmen der Zeit” 2015: LINK

 

VIERTENS: URS EIGENMANN, katholischer Theologe in der Schweiz, Lateinamerika-Spezialist und Buchautor, u.a. zu Dom Helder Camara, LINK

 

FÜNFTENS: Der Jesuitenpater THOMAS REESE,  USA, Theologe und Journalist, LINK. Reeses Erinnerungen an Ratzinger hier in voller Länge dokumentiert, die Übersetzung besorgte wieder Norbert Arntz, Kleve.

Thomas Reese SJ:
Meine Begegnungen mit Kardinal Ratzinger und Benedikt XVI.
Quelle: https://www.ihu.unisinos.br/categorias/625170-meus-encontros-com-joseph-ratzinger-e-o-papa-
Bento-xvi)

Ich lernte Joseph Ratzinger im Juni 1994 kennen, als er Kardinalpräfekt der Kongregation für die
Glaubenslehre war. Nein, ich wurde nicht vom Großinquisitor verhört. Das war lange, bevor ich als
Chefredakteur der Zeitschrift America Ärger mit dem Vatikan bekam. Ich war in Rom, um ihn und
andere Kirchenvertreter für mein Buch Inside the Vatican: The Politics and Organization of the
Catholic Church zu interviewen.
Fast hätte ich das Interview verpasst. Kardinal Ratzinger war am Tag unseres Treffens krank. Als ich
ankam, wurde ich gefragt, ob ich mit dem Sekretär der Kongregation sprechen wolle. Ich stimmte zu,
weil ich dachte, das sei besser als nichts. Als ich zu ihm geführt wurde, hatte ich noch kein Wort
gesagt, Da überfiel mich der Sekretär, Bischof Alberto Bovone, mit Fragen wie: “Wer sind Sie?” “Was
machen Sie hier?” “Ich werde entscheiden, ob Sie Kardinal Ratzinger sehen können.”
“Aber der Kardinal hat bereits zugestimmt, mich zu empfangen”, stammelte ich. Das bedeutete ihm
nichts; er verlangte eine Liste von Fragen, die ich stellen würde. Er beauftragte dann einen jungen
Dominikaner, mich zu befragen.
Dass Jesuiten von Dominikanern, die für die Inquisition arbeiten, verhört werden, hat eine lange und
unglückliche Geschichte. Andererseits kamen uns auch die Dominikaner zu Hilfe. Als Lorenzo Ricci,
der Generalobere der Jesuiten, 1775 nach seiner Verhaftung durch den Papst in der Engelsburg in
Rom starb, war der Generalobere der Dominikaner der einzige, der bereit war, seiner Beerdigung
vorzustehen. Diese Tradition hat sich bis heute gehalten.
Auf jeden Fall wurde ich dem Dominikaner übergeben, der bereits auf meiner Seite zu sein schien.
Während meines Verhörs durch Bovone schnitt er Grimassen und rollte hinter seinem Schreibtisch
mit den Augen. Anstatt mich zu verhören, riet er mir, was ich tun sollte. “Schreiben Sie einen Brief an
den Kardinal. Erklären Sie, dass Sie Ende der Woche abreisen und ihn gerne für 15 Minuten treffen
würden.“
Sobald ich wieder in meinem Zimmer war, schrieb ich den Brief, faxte ihn an die Kongregation und
vereinbarte einen neuen Termin. Ratzinger willigte ein, mich am Nachmittag zu treffen, wenn die
Büros des Vatikans normalerweise geschlossen sind. Das Gespräch dauerte über eine Stunde.
Ich habe viel über Ratzinger gelernt, bevor das Interview überhaupt begonnen hatte. Er war
freundlich und bereit, alles zu tun, um einem jungen Schüler zu helfen, auch wenn es ihm nicht gut
ging.
Andererseits zeigt die Tatsache, dass Ratzinger einen Tyrannen zu seiner Nummer 2 gemacht hat,
entweder seine Blindheit oder eine ungesunde Abhängigkeit von Leuten, die zwar loyal, aber für ihre
Aufgaben nicht geeignet schienen. Weder als Präfekt noch als Papst war er gut darin, seine
Untergebenen auszuwählen.
Als wir uns für das Interview zusammensetzten, fragte Ratzinger, ob ich es auf Deutsch oder
Italienisch führen wolle. Mit Panik in der Stimme sagte ich: “Englisch wäre viel besser”. Er stimmte zu
und sagte: “Mein Englisch ist sehr begrenzt”. Eigentlich war es ausgezeichnet. Nur einmal während
des Gesprächs hatte er Schwierigkeiten, ein Wort auszusprechen.
Er erzählte mir, dass er anfangs unschlüssig war, ob er das Amt des Kongregationspräsidenten
annehmen sollte. Papst Johannes Paul II. musste ihn dreimal fragen, bevor er Ja sagte.

“Gebt mir Zeit, Heiliger Vater”, sagte er zu Johannes Paul. “Ich bin ein Diözesanbischof, ich muss in
meiner Diözese sein”. Schließlich willigte er 1982 ein, nach Rom zu kommen.
In unserem Gespräch sprach er davon, den Dialog zwischen zwischen Theologen und seinem
Dikasterium zu intensivieren, aber die Theologen, die ihre Stelle verloren oder von ihm zum
Schweigen gebracht wurden, haben davon nichts erfahren. Er war verärgert über die offensive
Sprache der Angriffe auf sein Dikasterium, auch wenn er über die Situation lachen konnte.
(Daran hätte ich mich Jahre später erinnern sollen, bevor ich in einem Leitartikel in Amerika
dummerweise auf die “inquisitorischen” Verfahren seiner Kongregation hinwies).
Das Auffälligste an dem Interview war sein Eingeständnis: “Ich habe kein Charisma, um mit
strukturellen Problemen umzugehen.”
Mit anderen Worten: Ratzinger war im Grunde ein Gelehrter, kein Manager, aber er würde das
Oberhaupt einer Milliardenorganisation mit einer hierarchischen Struktur und einer komplexen
Bürokratie in Rom werden.
1998, nach der Veröffentlichung meines Buches, wurde ich Chefredakteur von „America“, einer
Zeitschrift, die 1909 erstmals von den Jesuiten herausgegeben wurde. Mein Ziel war es, daraus “eine
Zeitschrift für denkende Katholiken und für diejenigen, die wissen wollen, was Katholiken denken” zu
machen.
Obwohl ich in den Leitartikeln fast immer darauf achtete, die Linie des Vatikans beizubehalten,
dachte ich, dass ich im Meinungsteil des Magazins alternative Ansichten veröffentlichen könnte,
wenn ich darauf bestehen würde, dass diese Artikel nicht unbedingt die Ansichten des Magazins
wiedergeben. Schließlich waren wir ein Meinungsmagazin.
Während meiner siebenjährigen Tätigkeit als Redakteur hat die Glaubenskongregation wichtige
Dokumente veröffentlicht, zu denen ich von einschlägigen Wissenschaftlern Kommentare erbat. In
der Regel lobten sie die Teile, die ihnen gefielen, und kritisierten die Teile, die ihnen nicht gefielen.
Ich war immer gerne bereit, kritische Reaktionen auf diese Artikel zu veröffentlichen.
Ich veröffentlichte auch Artikel von vielen Bischöfen und Kardinälen, darunter der damalige
Erzbischof Raymond Burke, den ich einlud zu erklären, warum die Kirche katholischen Politikern, die
für die Abtreibung sind, die Kommunion verweigern sollte. Ich habe den Chicagoer Kardinal Francis
George, einen prominenten Konservativen, ein halbes Dutzend Mal gebeten, etwas für uns zu
schreiben, aber er hat immer abgelehnt.
Ein Höhepunkt der Zeitschrift als Dialogforum war ein Artikel von Kardinal Walter Kasper, dem Leiter
der Ökumeneabteilung des Vatikans, der die Ekklesiologie von Kardinal Ratzinger kritisierte. Als der
Artikel in Druck ging, schickte ich eine Kopie an Ratzinger und bat ihn um eine Stellungnahme.
Zunächst lehnte er ab, doch dann änderte er seine Meinung und schickte eine Antwort auf Deutsch,
die wir übersetzt und veröffentlicht haben.
Wir waren hocherfreut, dass zwei prominente Kardinäle auf den Seiten von „America“ über ein
wichtiges Thema debattierten, aber dann erfuhr ich, dass Kardinal George sich über den Austausch
beschwerte und den Staatssekretär des Vatikans bat, die Kardinäle anzuweisen, nicht in „America“ zu
debattieren, da dies die Gläubigen skandalisiere.
Trotz meiner Versuche, fair zu sein, war klar, dass weder Johannes Paul II. noch Kardinal Ratzinger ein
Meinungsmagazin wollten, wenn es nicht ihre Ansichten widerspiegelte. Nach zweieinhalb Jahren als
Redakteur erfuhr ich vom Generaloberen der Jesuiten, Peter-Hans Kolvenbach, dass der Vatikan mit

einem Artikel über AIDS und Kondome, den der Jesuitentheologe James Keenan und der Jesuitenarzt
Jon Fuller geschrieben hatten, nicht einverstanden war.
Ich wollte gerne eine Gegendarstellung von jemandem aus dem Vatikan veröffentlichen, aber ich
habe von der Kongregation nie direkt etwas erhalten. Die Kongregation hat mit mir immer über
meine jesuitischen Vorgesetzten kommuniziert.
Im Juni 2001 wurde mir mitgeteilt, dass die Kongregation die Art und Weise, wie Pater Reese den
Heiligen Stuhl und insbesondere die Kongregation kritisierte, als “aggressiv und beleidigend”
empfand. Sie stellten insbesondere einen Leitartikel in Frage, den wir zum Thema
“Rechtsstaatlichkeit in der Kirche” veröffentlicht hatten (9. April 2001). Man hat uns vorgeworfen,
wir seien antihierarchisch.
Ende Februar 2002 sagte Pater Kolvenbach, dass die Glaubenskongregation beschlossen habe, “auf
Ersuchen der amerikanischen Bischöfe und des Nuntius” eine Kommission von kirchlichen Zensoren
für „America“ einzusetzen. Bei den Zensoren würde es sich um drei amerikanische Bischöfe handeln.
Das war nicht nur eine schlechte Idee, sondern auch völlig unpraktisch, da es sich bei der Zeitschrift
um eine Wochenzeitschrift handelt.
Im April erhielt ich eine Liste von in „America“ veröffentlichten Artikeln, die der Kongregation nicht
gefielen. Dazu gehörten eine Besprechung des Buches des Jesuitenhistorikers John O’Malley über
„Päpstliche Sünde“, der Artikel von Keenan und Fuller, ein Artikel des Jesuiten James Martin über
homosexuelle Priester und verschiedene Artikel über das Dokument „Dominus Iesus“ von Francis X.
Clooney, Michael A. Fahey, Peter Chirico und Francis A. Sullivan.
Ratzinger schien ein feines Gespür zu haben, sobald es um Dokumente ging, die aus seiner
Kongregation stammten.
Nur zwei Leitartikel wurden erwähnt – einer über Dominus Iesus (28. Oktober 2000) und ein weiterer
über die “Abtreibungspille” RU-486 (14. Oktober 2000). Wir verurteilten die Abtreibungspille, wiesen
aber darauf hin, dass es vielleicht an der Zeit sei, die Lehre der Kirche zur Geburtenkontrolle zu
überdenken, um die Zahl der Abtreibungen zu verringern.
Interessanterweise hat die Kongregation die ausführliche und unverblümte Berichterstattung über
die Krise des sexuellen Mißbrauchs in den USA nie erwähnt, obwohl ich wusste, dass einige
amerikanische Bischöfe dies nicht gut fanden. Ratzinger war zwar nicht perfekt, aber in dieser Frage
besser als jeder andere in Rom.
Niemand konnte mir sagen, welche US-Bischöfe die Zensurmaßnahme beantragt hatten. Ich wusste,
dass dieses Thema nie auf einer Tagung der Katholischen Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten
zur Sprache gekommen war. Auch im Verwaltungsausschuss der Katholischen Bischofskonferenz der
Vereinigten Staaten wurde das Thema nicht erörtert, so meine Quellen, dazu gehörte auch Erzbischof
Thomas Kelly, der zu dieser Zeit Mitglied des Ausschusses war.
Als ich Erzbischof Donald Trautman, den Vorsitzenden der Glaubenskommission der US-Bischöfe,
befragte, war er wütend darüber, dass ein Zensurgremium eingesetzt wurde, ohne sein Komitee zu
konsultieren. Er hatte vor, sich energisch dagegen zu wehren.
Auch der US-amerikanische Erzbischof John Foley, Leiter einer der Kommunikationsabteilungen des
Vatikans, wurde nicht konsultiert. Er sagte, wenn man ihn fragen würde, würde er sagen, dass es eine
schlechte Idee sei. Er bezeichnete sich scherzhaft als den “linken Flügel der römischen Kurie”.

Ich habe die Erzbischöfe Kelly, John Quinn und Daniel Pilarczyk um Hilfe gebeten, aber sie sagten alle,
dass Rom ihnen nicht vertraue und ihre Unterstützung nichts nützen würde. Quinn und Pilarczyk
waren Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten und Kelly war
Generalsekretär der Konferenz und Mitarbeiter der päpstlichen Nuntiatur in Washington.
Ich wandte mich an den Jesuiten-Kardinal Avery Dulles, der ein Zensurgremium für eine schlechte
Idee hielt. Er versprach, bei Ratzinger gut von mir zu sprechen. “Sie veröffentlichen ja mich”, sagte
der sehr orthodoxe Kardinal.
Irgendwann vor Ende Juli 2003 traf P. Kolvenbach mit Ratzinger zusammen und konnte ihn davon
überzeugen, kein Zensurgremium zu bestallen. Kolvenbach teilte mir mit, dass die Kongregation
abwarten werde, wie „America“ auf das bevorstehende Dokument der Glaubenskongregation zur
Homo-Ehe reagieren werde. Ich bat den stellvertretenden Redakteur James Martin, der ausführlich
über Schwule in der Kirche geschrieben hatte, nichts über das Dokument zu sagen. Ich wollte ihn und
die Zeitschrift schützen. Er stimmte zu.
Unser erster Artikel zu diesem Thema wurde am 7. Juni 2004 von Monsignore Robert Sokolowski
veröffentlicht, einem Philosophen an der Katholischen Universität von Amerika, der sich entschieden
gegen homosexuellen Sex und die Homo-Ehe aussprach. Ich musste ihn davon überzeugen, den
schwulen Sex nicht mit dem Sex mit Tieren zu vergleichen.
Sein Artikel löste erwartungsgemäß heftige Reaktionen aus, eine davon kam von Stephen Pope,
einem Theologieprofessor am Boston College. Obwohl ich Pope dazu brachte, den Artikel
abzuschwächen, und obwohl ich Sokolowski erlaubte, in derselben Ausgabe auf Pope zu antworten,
wusste ich, dass dies der letzte Nagel zu meinem Sarg sein könnte.
Obwohl ich mich nie zu diesem Thema geäußert oder gar dazu etwas veröffentlicht hatte, war klar,
dass bereits die Bereitschaft, einige Themen in „America“ zu diskutieren, mehr war, als Ratzinger
tolerieren könnte.
Fast unmittelbar nach der Veröffentlichung der Ausgabe vom 6. Dezember 2004 erhielt mein
amerikanischer Vorgesetzter Beschwerden vom päpstlichen Nuntius in Washington. Er beschwerte
sich auch über einen Artikel zu Politikern, Abtreibung und Kommunion des US-
Kongressabgeordneten Dave Obey, dem Burke die Kommunion verweigert hatte. Es wurde
anerkannt, dass wir Artikel über beide Seiten des “Hostienkriegs” veröffentlicht haben.
Im Laufe des Jahres 2005 konzentrierte sich die Welt auf die Krankheit und den Tod von Johannes
Paul II. und auf das Konklave, das Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. wählte. Während dieser Zeit
arbeitete ich mit der Presse zusammen und erläuterte und kommentierte die Geschehnisse.
Vor dem Konklave, bei einem vertraulichen Abendessen mit einigen Journalisten in Rom, wurde ich
gefragt: “Wie würden Sie reagieren, wenn Ratzinger zum Papst gewählt würde?” Ich antwortete:
“Wie würden Sie sich fühlen, wenn Rupert Murdoch Ihre Zeitung übernehmen würde?”
Am Tag der Wahl Ratzingers hatte ich bereits zugesagt, in der PBS Newshour aufzutreten. In der
Sendung habe ich unverblümt gesagt, dass das Ergebnis einigen Leuten gefallen wird, anderen nicht.
Danach war meine Antwort auf Presseanfragen “kein Kommentar”, weil ich seine Wahl für eine
Katastrophe hielt, aber als Jesuit konnte ich das nicht sagen.
Als ich am 19. April 2005 die Bekanntgabe der Wahl Ratzingers auf dem Petersplatz hörte, wusste ich,
dass meine Amtszeit als Herausgeber von „America“ beendet war. Zum Wohle der Zeitschrift und der
Jesuiten musste ich gehen. Außerdem hatte ich nach sieben Jahren, in denen ich über die Schulter
geschaut hatte, genug davon.

Ich gab keine Interviews mehr und verließ Rom.
Als ich nach New York zurückkehrte, wollten mich die anderen Jesuiten der Zeitschrift nicht kündigen
lassen. Ein paar Tage später traf ich mich mit meinem Vorgesetzten, dem Präsidenten der
Jesuitenkonferenz, und erfuhr, dass meine Zeit als Redakteur vorbei war. Erst dann erfuhr ich, dass
Ratzinger im März dem Generaloberen der Jesuiten gesagt hatte, ich müsse gehen. Aus
verschiedenen Gründen konnten sie mir das nicht sagen. Also habe ich gekündigt.
Meine jesuitischen Vorgesetzten haben meine Arbeit immer sehr unterstützt, aber ich wusste, dass
sie mich letztlich nicht schützen konnten, wenn ich nicht bereit war, meine Werte als Redakteur zu
kompromittieren. Sie waren nicht in der Lage, die zahlreichen Jesuitentheologen zu schützen, die von
der Glaubenskongregation diszipliniert wurden.
Als die Nachricht in der Presse erschien, wurde ich als das erste Opfer von Benedikt XVI. dargestellt;
obwohl ich in Wahrheit das letzte Opfer von Kardinal Ratzinger. Da ich den Medien gut bekannt war
und sie mich oft als Quelle nutzten, war die Berichterstattung über den neuen Papst umfangreich
und negativ.
Die Berichterstattung war so schlecht, dass der Vatikan die geplante Absetzung des jesuitischen
Redakteurs der deutschen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ fallen ließ. Sie ließen ihn sein Mandat als
Herausgeber erfüllen.
Wenn ich ein Einzelfall wäre, wäre meine Geschichte zwar interessant, aber nicht wichtig für die
Beurteilung des Erbes von Joseph Ratzinger. Leider ist mein Fall nur eines von Hunderten von
Beispielen für die Unterdrückung freier Recherchen durch Reporter und Theologen während der
Amtszeiten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI.
Einige Monate vor meinem Rücktritt erzählte uns Jacques Dupuis, ein angesehener Theologe, der von
Ratzinger diszipliniert wurde, die Geschichte seiner eigenen Begegnung. Nachdem die Kongregation
eines seiner Bücher verurteilt hatte, verfasste der alte (und kranke) Theologe eine 200-seitige
Antwort. Als er sich mit Ratzinger und der Glaubenskongregation traf, erzählte er der Redaktion von
„America“, überraschten sie ihn mit der Frage nach seinem Text. Dann verwies er sie auf das
Dokument auf dem Tisch vor ihnen, an dem er monatelang gearbeitet hatte. Da spotteten sie: “Du
glaubst, dass wir das lesen werden, oder?” Dupuis starb kurz nach unserem Treffen.
Ob ich mit meiner Meinung richtig oder falsch lag, ist irrelevant.

Entscheidend ist, dass nach dem
Zweiten Vatikanischen Konzil die offene Diskussion von Ratzinger unter Papst Johannes Paul II.
unterdrückt wurde. Wer mit dem Vatikan nicht einverstanden war, wurde zum Schweigen gebracht.
Ohne ein offenes Gespräch kann sich die Theologie jedoch nicht entwickeln und können keine
Reformen durchgeführt werden. Ohne eine offene Debatte kann die Kirche keine Wege finden, das
Evangelium so zu verkünden, dass es für die Menschen des 21. Jahrhunderts verständlich ist.
Das Pontifikat von Papst Franziskus hat die Fenster der Kirche wieder geöffnet, um die frische Brise
des Geistes hereinzulassen. Gespräche und Debatten sind wieder möglich, selbst wenn man mit dem
Papst nicht einverstanden ist. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern bringt Franziskus seine Kritiker
nicht zum Schweigen. Für viele in der Kirche wird der Wandel nicht schnell genug gehen, aber es ist
wichtig, dass Gespräche stattfinden können, um sich auf die Reform vorzubereiten.
Übersetzung aus dem Portugiesischen: Norbert Arntz, Kleve

SECHSTENS: BISCHOF PETER KOHLGRAF, Mainz.

“Auch ein großer Theologe und Papst hat Fehler”
Kritisches, aber vorsichtig-diplomatisch formuliert zu Benedikt XVI.  Von Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz, dort gesprochen am 6.1.2023:
„Angesichts mancher Themen, die noch vor seiner Bestattung im Raum standen, auch seine mögliche Heiligsprechung, würde ich zur Ruhe ermutigen”, sagte Bischof Kohlgraf laut Manuskript in seiner Predigt und fügte hinzu: “Es gehörte immer zum kirchlichen guten Stil, sich mit abschließenden Bewertungen eines Lebens Zeit zu lassen.”
Sicher seien viele Bilder, die sich die Öffentlichkeit von Benedikt gemacht habe, seiner “komplexen Persönlichkeit” nicht gerecht geworden. Er habe aber auch durch manche Positionen provoziert. Es gehöre “zur Wahrheit, dass sich viele Menschen auch durch ihn verstört fühlten”, sagte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf.
Es gebe auch Menschen aus dem Umfeld Benedikts, die diesem eine mangelnde Menschenkenntnis unterstellen würden. “Ja, auch ein großer Theologe, Bischof und Papst hat Fehler, und sie sind in das Ganze einzuordnen, auch dafür braucht es Zeit und Abstand, und es braucht Menschen, die sich dieser Bewertung annehmen ohne ein theologisches oder kirchenpolitisches Eigeninteresse”, sagte Bischof Kohlgraf.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin,  www religionsphilosophischer-salon.de

Das geistliche Testament von Benedikt XVI., bestimmt von Angst, Polemik und Scheinheiligkeit.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 2.1.2023.

1.
Am 31.12.2022 hat der Vatikan das „Geistliche Testament“ des EX-Papstes Benedikt XVI. veröffentlicht. Also eine Art theologischen „Schlüsseltext“ Ratzingers, ein Vermächtnis, das bleiben soll, d.h. an das sich die geistlichen Erben, also die Katholiken, bitte halten sollten.

2. Die Bayern und die anderen Deutschen sollen den katholischen Glauben bewahren.
Alle einzelnen Aussagen werden hoffentlich von kritischen Theologen geprüft und detailliert bewertet.
Eine erste Übersicht:
Das Testament hat Joseph Ratzinger am 29. August 2006 verfasst, also mehr als ein Jahr nach seiner Wahl zum Papst am 19.4.2005.
Die Sprache des Testaments ist bestimmt vom Beschwören der Dankbarkeit und Güte, des Verzeihens und der Liebe zu den Eltern, zu den Landsleuten, den Freunden. Aber ganz deutlich wird auch die Angst vor „Verwirrung der Gläubigen“ ausgesprochen. Die alte, typische Angst Ratzingers/Benedikt XVI. vor der Moderne kommt da wieder deutlich zum Vorschein: „Lasst euch nicht vom Glauben abbringen“ heißt es wörtlich im Blick auf die lieben Landsleute! „Steht fest im Glauben“ sagt er allen Katholiken. Worte, die man jetzt bei der Diskussion über den „Synodalen Weg“ noch wiederholen  wird….

3. Bald ein heiliger Joseph Ratzinger?
Das Testament könnte bald auch eine theologische Grundlage sein für die jetzt schon von verschiedener, maßgeblicher Seite geforderte Heiligsprechung Benedikt XVI. Man könnte diese Heiligsprechung als kritischer Theologe auch als Drohung verstehen! „Heiliger Joseph Ratzinger, bitte für uns“, so werden hoffentlich nicht alle Katholiken beten wollen. Einen Heiligen nannte ihn – unüberlegt, übereilt?? – bereits am 18.12. 2022 Papst Franziskus, eine Heiligsprechung sozusagen ante mortem, völlig ungewöhnlich! (Quelle: https://www.derstandard.de/.) Und Erzbischof Gänswein, der enge Freund und Privatsekretär, sprach post mortem Benedikts bereits von einer „plötzlich“ geschehenden Heiligsprechung (Quelle: https://www.domradio.de/artikel/gaenswein-haelt-santo-subito-fuer-benedikt-xvi-fuer-moeglich).
Dann wäre also DIE Symbolfigur des offiziellen konservativen/reaktionären Katholizismus heiliges Vorbild und himmlischer Fürsprecher. Benedikts Grab sollte dann besser neben dem Gründer des Opus Dei sich befinden, auch er ein „ultra schnell Heiliggesprochener“…

4. Polemik gegen freie theologische Wissenschaft
„Lasst euch nicht verwirren“, heißt es weiter an entscheidender Stelle im „Geistlichen Testament“. Wieder diese Urangst Ratzingers vor dem Bösen, dem alles verwirrenden Teufel, an den der „große Theologe“ glaubte.
Aber, das zeigt auch der Text, konkret hat Benedikt XVI./Ratzinger große Angst vor der modernen theologischen Forschung: Die entscheidende Stelle im Testament heißt:
„Seit 60 Jahren begleite ich nun den Weg der Theologie, besonders auch der Bibelwissenschaften, und habe mit den wechselnden Generationen unerschütterlich scheinende Thesen zusammenbrechen sehen, die sich als bloße Hypothesen erwiesen: die liberale Generation (Harnack, Jülicher usw.), die existenzialistische Generation (Bultmann usw.), die marxistische Generation“.

5. Scheinheilig: Er habe die Theologie “BEGLEITET”
Man müsste bald jedes Wort dieses Textes voller Verachtung für die moderne Theologie analysieren. Werden das die katholischen Theologen tun?
Nur so viel, um der Klarheit und Wahrheit willen:
Ratzinger hat den Weg der Theologie nicht, wie er schreibt, „begleitet“, Begleiten ist ein freundliches, dialogisches Miteinander. Dazu war Ratzinger/Benedikt nur mit seinen Schülern und Getreuen in der Lage. Sonst hat er anders denkende Theologen bestraft, ausgegrenzt, im Leben gestört und verstört. Er war als Büro-Chef der Glaubensbehörde wirklich ein Panzer Kardinal, wie man in Frankreich sagte. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff sagte 2010: „Während seiner mehr als zwanzigjährigen Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als hundert Theologen verurteilt. Die Befreiungstheologie hat er nie verstanden, viele Bischofskonferenzen unterzog er einer strengen Kontrolle.“(Quelle:Süddeutsche Zeitung 18.4.2010)
Ratzinger hat den Weg der (katholischen) Theologie total bestimmt. Dann scheinheilig von „Begleiten“ zu sprechen, ist wieder diese bekannte sanfte, verschleiernde Herrschaftssprache. Begleiten: Was für ein Euphemismus, was für eine Lüge.
Dann sind auch kaum erträglich die Behauptungen, er hätte auch die Bibelwissenschaften begleitet. Nein, von der umfassenden historisch-kritischen Bibelwissenschaft, die als Theologie-Wissenschaft selbstverständlich unabhängig von der Kirchenführung forscht, wollte Ratzinger/Benedikt XVI. nicht viel wissen. Benedikt XVI. hat zwar Bücher über das Leben Jesu Christi geschrieben, aber dies sind fromme Meditationen, die dem Standard der Bibelwissenschaft nicht entsprechen, das ist allgemeine Überzeugung der tatsächlichen Bibel-Wissenschaftler an den Universitäten.
Die von Benedikt kritisierten liberalen Theologen haben weitgehend eben keine Hypothesen veröffentlicht, wie er behauptet, sondern den Boden bereitet für eine Bibelwissenschaft, die den Namen verdient. Und was wäre denn schlimm, wenn Wissenschaftler Hypothesen schreiben? Ist das nicht ihr Beruf? Aber Ratzinger/Benedikt XVI. liebte nur die totale eingemauerte Sicherheit. Auch „der Marxismus“ wird selbstverständlich von ihm pauschal abgelehnt, auch er gehöre zu einem Gewirr der Hypothesen meint der Testament-Schreiber. Er denkt wohl an Befreiungstheologen, wie etwa Leonardo Boff aus Brasilien, den Ratzinger verurteilte. Boff wie andere bedienten sich der Gesellschaftsanalyse von Marx, ohne den Marxismus -Leninismus auch nur entfernt hochzuschätzen. Aber das sah der bayerische Theologe Ratzinger nicht so. Er hielt sich lieber an Reagans Wahn des „Antikommunismus“, und schickte seinen Freund Papst Johannes Paul II. zum offiziellen Besuch des Diktators und Massenmörders General Pinochet nach Chile…

6. DIE eine theologische Vernunft gibt es nicht.
Nach dieser erwartbaren Verurteilung der Suche nach Erkenntnis in Theologien und Sozialwissenschaften (dort werden bekanntlich Denkansätze von Marx heute rezipiert), schließt der Testament-Schreiber mit seiner Grundüberzeugung: DIE Vernunft des Glaubens tritt nun hervor! Als gäbe es nur eine einzige Vernunft im Glauben. Aber Ratzinger/Benedikt XVI. glaubte immer, dass DIE EINE offizielle vatikanische Klerus-Vernunft DIE christliche Vernunft schlechthin ist. Eigentlich eine These, die kein ernstzunehmender Theologe und Philosoph verteidigen kann. Diese letzten Sätze zeigen, wie begrenzt schon das Denken dieses Papstes im Jahr 2006 war!

7. Der starke Leib Christi.
Die „Mängel der Kirche“ werden ultrakurz angesprochen, aber sind es Mängel der Kirchenleitung, des Klerus, oder Mängel von wem? Das wird verschwiegen. Nur das mutige Bekenntnis wird vorgebracht: „Die (katholische) Kirche ist der Leib Jesu Christi.“ Nur sie, oder auch die evangelische Kirche? Dazu schweigt das Testament! Ratzinger hielt ja bekanntlich die evangelischen Kirchen für “Gemeinschaften”, nicht für Kirchen.
Das 2. Vatikanische Konzil (1962-65) sprach eher vom „wandernden Volk Gottes in der Geschichte“, also von einer Gemeinschaft der Suchenden und Fragenden, aber davon spricht der Testament-Schreiber nicht. Ein Leib hat ein Haupt, und dieses Haupt ist nicht nur Christus, sondern eben der alles bestimmende Papst.

8.  Putin hat “absolut ausnahmsweise” einmal recht. Peinlich ist sein Beileid zum Tod Benedikt XVI. trotzdem!
Es ist schon so, dass “absolut ausnahmsweise (!!)” einmal Putin recht hat, wenn er zum Tod von Papst Benedikt XVI. schreibt: „Benedikt XVI. war ein überzeugter Verteidiger traditioneller christlicher Werte“ (Tagesspiegel, 2.1.2023, Seite 5). Der Kriegsherr und Diktator Putin kondoliert zum Tod von Papst Benedikt: Eine Friedensbotschaft ist das wohl nicht. Aber Putins Worte hätte Patriarch Kyrill von Moskau nicht besser sagen können, ist doch auch er, wie er sagt, „ein Verteidiger traditioneller christlicher Werte“… Eine ökumenische Gemeinschaft also der “Verteidger traditioneller Werte”…

Putin hat leider ausnahmsweise recht: Benedikt XVI. war durch und durch selbst traditionell: Er hat den Klerus als absoluten Mittelpunkt der Kirche gesehen; er hat die völlige Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche verhindert; er war ein Feind der Segnung von Partnerschaften und Ehen Homosexueller; er hat alles getan, um Schwangerschaftsabbrüche per Gesetz zu verhindern; er war gegen die Selbstbestimmung des einzelnen im Fall schwerer Krankheit (Euthanasie); er hat Demokratie als Lebensform und Strukturprinzip der Kirche abgelehnt; er hat die Menschenrechtserklärung der UNO nicht unterschrieben; er wollte AIDS mit Gebeten und Keuschheitsgelübden besiegen und so weiter. Ratzinger/Benedikt XVI. war entschieden antimodern.
Putin hat also leider recht. Ratzinger war ein „überzeugter Verteidiger traditioneller christlicher Werte“. Er war wohl auch ein etwas verkappter Traditionalist. Sonst hätte er sich nicht so liebevoll um die Versöhnung mit den traditionalistischen und oft antisemitischen Pius-Brüdern bemüht. LINK. Das alles wurde auch in den Texten des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons dokumentiert! LINK.

9. Lassen wir ihn ruhen… es gibt Dringenderes.
Lassen wir diesen Papst als Traditionalisten also ruhen, verzeihen wir ihm seine hübschen roten Schuhchen, sein Winterumhang, die Mozetta, die mit Hermelinpelz umrandet ist, seine Privilegien, sein Residieren im Palast, so “passend” für den Nachfolger des armen Jesus von Nazareth…
Soll er die Katholiken und die Welt doch bloß post mortem in Ruhe lassen… Wird er aber nicht, dafür sind seine ebenso traditionalistischen Freunde unter den Kardinälen längst am „Start“.

10. Ein Testament, das von Geld spricht
Testamente enthalten üblicherweise auch Hinweise zum Vermögen, also zum Finanziellen. Vom Geld aber wird in diesem Testament geschwiegen. Es nennt sich ja auch nur ein „geistliches“ Testament. Aber so ein bißchen Geld wird doch ein Ex-Papst noch gehabt haben, bekanntlich hat Papst Franziskus oft aus seinem Privat-Vermögen für Arme gespendet. Kardinal Marx von München hat kürzlich ganz  locker 500.000 Euro (sic) aus seinem Privatvermögen in eine soziale Stiftung gegeben. Seien wir also gespannt auf eine weitere Eröffnung eines Ratzinger Testaments, das auch vom Geld spricht. Aber bitte keine hohen Erwartungen: Über privates Geld wird von Kardinälen im Vatikan (und anderswo) eher nicht gesprochen.

11.
Das „geistliche Testament“ Benedikt XVI.: LINK:

12.

Kritische Stimmen zu Benedikt XVI./Joseph Ratzinger: LINK

Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff wurde von Kardinal Ratzinger ausgegrenzt und bestraft, er ist einer der kreativen katholischen Theologen geblieben. was sagt Leonardo Boff zum Tod Benedikt XVI:? LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, ist gestorben (31.12.2022): Der selbsternannte „Mitarbeiter der Wahrheit“ belehrt die Welt und die Kirche nicht mehr.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 31.12.2022.

Zum “geistlichen Testament” Benedikt XVI.,  am 31.12.2022 im Vatikan veröffentlicht: LINK

Ratzinger verstand sich als Kardinal wie als Papst als oberste kirchliche “Reinigungskraft” (von “Säuberung” sprach er klugerweise nicht). LINK

Der konservative Ratzinger war mit dem theologisch sozusagen noch konservativeren Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) befreundet, das sagte Ratzinger 1977. LINK

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer auch Religionskritik. Deren Maßstab ist keine dogmatische Kirchenlehre, sondern die sich selbst reflektierende kritische Vernunft, verpflichtet den universal geltenden Menschenrechten. Religionskritik ist immer auch Kirchen-Kritik. Sie ist deutlicher und präziser als die katholische Theologie, weil diese Theologie immer noch abhängig ist von der Hierarchie.

1. Was bleibt von Papst Benedikt XVI.?
Die Frage ist zentral und entscheidend: Was hat der „große“ Theologieprofessor Joseph Ratzinger, Erzbischof, Kardinal, Chef der obersten Glaubensbehörde, enger Freund und ständiger theologischer Berater von Papst Johannes Paul II, dann als Papst Benedikt XVI., bewirkt? Hat er vielleicht sogar eine weltpolitische Bedeutung? Welche Impulse für die christliche Welt hat er gesetzt? Auf welchen Weg hat er die katholische Kirche geführt?

Man vergesse nicht, de facto hat Joseph Ratzinger, seit 1982 im Vatikan, die katholische Kirche geprägt, beherrscht, bestimmt, förmlich als “theologischer Zweit-Papst” an der ständigen Seite von Papst Johannes Paul II.  Ratzinger war seit 1982 als Kardinal Büro-Chef der alles entscheidenden vatikanischen Glaubensbehörde. Ratzinger hat also den Weg der römischen Kirche viele Jahre, seit 1982, bestimmt, und nicht erst seit 2005, dem Jahr seiner Wahl zum Papst.

Die vielen Bücher und Vorträge Ratzingers werden (nur) den Kreis konservativer Theologen erfreuen. Diese Texte sind Ausdruck einer eurozentrischen, ganz auf die Bewahrung des “traditionell Römisch-Katholischen” gerichteten Theologie. Theologie als freie und unabhängige Wissenschaft gab es für Ratzinger/Benedikt XVI. nicht.

2. Benedikt XVI. wollte die klerikale Macht: „Klerus zuerst“
Diese Frage ist die entscheidende Frage: Benedikt XVI., als der Theologe Joseph Ratzinger, hat die katholische Kirche immer als Klerus-Herrschaft verstanden und verteidigt: „Der Klerus zuerst“ war seine Devise, auch bei allen seinen Vertuschungen sexuellen Missbrauchs durch Priester. Von denen er wusste, LINK, die Tatsache aber lange leugnete….Die hierarchische Struktur der Klerus-Kirche war ihm heilig, er glaube das wirklich: Diese klerikale Männerhierarchie ist tatsächlich von Gott selbst so gewollt.
Diese Überzeugung würde jeder nachdenkliche Mensch fundamentalistisch nennen: Darf man es Wahn nennen: „Gott selbst will diesen (angeblich zölibatären) Klerus“. Benedikt XVI. als Theologe Joseph Ratzinger, liebte diese Welt der Männer, d.h. der Kardinäle, Bischöfe etc., diese Bevorzugten und Gott-Erwählten, die in ihrer Herrschaft aber von keinem untergeordneten Laien gewählt wurden, sondern sich selbst wählten, ernannten, hofierten, bekämpften und jetzt wieder bekämpfen.

Ergänzung am 13.1.2023: Siehe das neue international verbreitete Buch von dem Liebling Ratzingers/Benedikt XVI. Erzbischof Georg Gänswein, der bescheidene Titel “Nichts als die Wahrheit”. So wird auch dieser “päpstliche Hof” (angeblich von Gott selbst so gewollt) wie schon der britische Hof zum Dauer – Thema der Klatschpresse… Und der Glaube geht dabei verloren. Klatsch und Tratsch der Hierarchie werden wichtiger als der einfache humane und solidarische Glaube im Sinne Jesu von Nazareth.

Benedikt XVI. als Kardinal hatte sich das Motto ausgesucht: Cooperatores veritatis: Mitarbeiter DER Wahrheit. Nicht etwa: Mitarbeiter Jesu Christi. Nein, es musste schon DIE Wahrheit sein, die er und nur er förmlich internalisiert hatte (um nicht zu sagen durch das exzessive Studium der Bücher seines Lieblings-Theologen Augustinus „gefressen“ hatte).

3. Was und wen Benedikt XVI. /Joseph Ratzinger/ ausgelöscht hat
Vernichtet hat er zusammen mit Johannes Paul II.weite Bereiche der Befreiungstheologien, vernichtet hat er viele kritische katholische TheologInnen; vernichtet hat er mit seiner Wahrheit die Zuversicht der katholischen Frauen, gleichwertige TeilhaberInnen in den Ämtern der Kirche zu werden; vernichtet hat er jegliche ökumenische Zukunft als Feier des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken und Protestanten. Vernichtet er hat die kritischen Basisgemeinden Lateinamerikas, hingegen die neuen geistlichen theologisch sehr konservativen Bewegungen (Neokatechumenale, Opus Dei, Legionäre Christi, Charismatiker usw.) hat er unterstützt.
Nur den reaktionären orthodoxen Popen und Exarchen und Patriarchen war er sehr wohl gesonnen, diese eher nationalistischen und reaktionären Kirchenführer wollte er mit Rom versöhnen. Gott sei Dank gelang ihm das nicht, sonst wäre jetzt vielleicht der Putin-Ideologe und Kriegstreiber Patriarch Kyrill I. ständiger Berater auch im Vatikan.

Die Liste der theologischen Irrtümer dieses Papstes Benedikt XVI: alias Joseph Ratzinger ist lang. Das meiste ist längst gesagt worden, auch auf dieser website.

4. Vernünftig war sein Rücktritt als Papst (aber er hätte gar nicht zum Papst erst gewählt werden sollen)
Gelobt werden muss als seine vernünftige Tat der Rücktritt als Papst im Jahr 2013. Aber der Emeritus zog sich nicht als Eremit in die schönen Dörfer Oberbayerns zurück, sondern er wohnte als eine immer wieder von reaktionären Klerikern hofierte päpstliche Autorität dicht im Vatikan als Nachbar von Papst Franziskus. Das Wort „Gegenpapst“ wagte kaum jemand auszusprechen.

5. Bleibt der Katholizismus klerikal, antidemokratisch, Frauen ausgrenzend usw.?
Ist der Katholizismus denn nun – unter dem angeblich progressiven Papst Franziskus – etwas weniger klerikalisiert, ist er menschlicher, jesuanischer, geschwisterlicher geworden? Haben die Herren im Klerus ihre totale Macht über die Kirche abgelegt? Leider nein.
Die Herren glauben offenbar allen Ernstes nach wie vor: Der liebe Gott im Himmel hat die römische Kirche, so wie sie ist, gewollt. Und kein protestantischer Theologe schreit laut auf und ruft nach Rom oder Limburg oder Köln usw…: Liebe Brüder, kommt zur kritischen Vernunft! Ihr braucht einen zweiten Luther!
Und man bedenke weiter: Diese totale Klerus-Fixierung der Kirchenführung, auch die explizite Ablehnung von Demokratie als Gestaltungsprinzip der Kirche, haben zu der Austrittswelle aus der Kirche entschieden beigetragen. Der Klerus vertreibt die katholisch Glaubenden aus der Kirche, das ist eine Tatsache.
Die Bilanz der Regierung von Papst Benedikt XVI. fällt also, wenn man ehrlich ist und kritisch, sehr negativ aus, oder positiv, wenn man sich an der Schwächung der römischen Kirche wegen Mitgliederschwund erfreut…

6. Das große Bestattungs-Spektakel, life übertragen in alle Welt, die deswegen so traurig erscheinen muss.
Die Trauer über den Tod von Joseph Ratzinger sollte also sehr begrenzt sein.
Aber man ahnt schon, welch ein Aufwand wieder betrieben wird, um Benedikt/Ratzinger mit allem klerikalen Pomp zu verabschieden. Die Flugzeuge aus aller Welt werden überfüllt nach Rom einfliegen, warme Worte, unkritisch, werden gesprochen.

So werden einige nachdenkliche Theologen und Philosophen vor allem über diesen klerikalen Zustand der römischen Kirche trauern.  Aber die große weite Welt der politischen und religiösen Repräsentanten wird noch einmal Tage lang, einige Frauen sicher mit Pleureusen, den „deutschen Papst“ noch einmal – und sich selbst – feiern. Kritische Stimmen zu Benedikt XVI./Ratzinger LINK

LINKS:
“Papst Benedikt XVI./Ratzinger/ ist politisch rechtslastig”: LINK

Benedikt XVI. ist politisch “rechtslastig” – Religionskritische Perspektiven zu Joseph Ratzinger

Dieser Papst versteht sich oberste theologische Reinigungskraft: LINK

Ratzinger/Ex-Papst Benedikt: Die gescheiterte oberste Reinigungskraft

Kardinal Sarah, Liebling von Papst Benedikt XVI.

Kardinal Sarah: Über den Liebling von EX-Papst Benedikt

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Christen und Kirchen in der Minderheit: Neueste Entwicklungen in den Niederlanden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.12.2022.

Die Kirchenführer in Deutschland jammern jetzt wieder über die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen.
Es könnte hilfreich sein, einmal über die Grenze, in die Niederlande, zu schauen…

Der Abschied so vieler EuropäerInnen von ihrer Kirchenbindung kann durchaus als ein kultureller Bruch bezeichnet werden. Mit dem Abschied von den Kirchen verändern sich auch die Vorstellungen von Werten, vom Lebensganzen, vom Sinn des Lebens…Das Thema ist also alles andere als bloß „kirchenintern“.

In den Niederlanden, bis ca. 1960 tatsächlich weltweit bekannt als Inbegriff eines sehr lebendigen vielfältigen kirchlichen Landes, sind 2021 nur noch 32 % der Bewohner Mitglieder einer christlichen Kirche.
Holland gilt als ein säkulares Land förmlich als ein Beispiel für das, was andere Länder sehr bald „erwartet“.

Eine Frage bleibt hingegen: Sind alle, die sich „nicht-kirchlich“ nennen, auch Atheisten? Ich vermute die Antwort heißt Nein. Auch dazu gibt es differenzierte Studien. Allgemein-theologisch gesagt: Irgendeinen Gott verehren die (meisten) Menschen immer…Aber dieses Thema führt über einen religionssoziologischen Hinweis hinaus.

1. “Entkirchlichung”
Seit 1970 verabschieden sich Niederländer systematisch und stetig von ihren Kirchen. Das ist alles seit Jahren bestens dokumentiert. Die „Entkirchlichung“, wie man dort sagt, hat eine längere Tradition. Über die Ursachen wurde vielfach geforscht. Jetzt liegen wieder neueste Statistiken vor: Tatsache ist: Die Kirchen repräsentieren eine Minderheit in der Bevölkerung, bei der Altersstruktur der Kirchenmitglieder werden Kirchen sogar allmählich zur sehr kleinen Minderheit…Das Verschwinden von Kirchengebäuden als explizit „religiösen Gebäuden“ aus dem Leben der Städte, Kleinstädte und Dörfer ist in den Niederlanden ganz offensichtlich, viele hundert Kirchengebäude wurden dort abgerissen, verkauft, umgewandelt etc. Der Kommerz bzw. der „Sparzwang“ der Kirchenführung, haben insofern auch das bislang bestimmende Bild westeuropäischer Städte, zu der eben auch Kirchengebäude gehörten, ausgelöscht. Manche Niederländer bedauern das vielleicht allzu schnelle Abreissen von Kirchengebäuden seit 1960.

Zur Erinnerung: Katholische Kirchenführung für die “Austritte” verantwortlich.
Bis 1960 waren die Niederlande ein geradezu extrem kirchliches Land, bezogen auch auf deutsche Verhältnisse, mit vielfältigsten Formen protestantischen Lebens. Und mit einem, wie man in klerikalen Kreisen damals sagte, „äußerst blühendem katholischen Leben“.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1960, die das Individuum in seine umfassende Freiheiten führte, begann der systematische Abschied von der traditionellen Kirchenbindung. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Québec in Kanada eine ähnliche Entwicklung statt. Heute ist die einst „absolut katholische Provinz Québec“ absolut säkular…
Im niederländischen Katholizismus führte die Personalpolitik des Vatikans (Ernennung reaktionärer Bischöfe, etwa: Simonis, Gijsen etc.) zu einem systematischen Abschied von der katholischen Kirche: Sie wurde und wird zurecht als autoritäre, explizit anti-demokratische Organisation wahrgenommen.

Römisch-Katholischsein und Niederländischsein passt nicht zusammen. Progressive katholische Organisationen (die „8. Mei-Bewegung“) sind verschwunden oder sind von der rigiden katholischen Haltung zum Verschwinden gebracht worden. Die Klöster sind in den Niederlanden fast ganz verschwunden. Die Provinz des Dominikaner-Ordens, bis vor 40 Jahren ebenfalls „blühend“, hat noch vier kleine Klöster. Bei den noch etwa 15 holländischen Augustinern ist niemand unter 70 Jahren…. Das Ordensleben – auch der Frauen – stirbt aus. Da und dort versuchen Laien, die alten (klerikalen) Ordenstraditionen auf neue Art fortzuführen.
Es sind Theologen und Religionssoziologen, die die Schuld an dem systematischen Verschwinden des holländischen Katholizismus dem Vatikan, allen voran dem dogmatisch-strengen polnischen Papst Johannes Paul II., geben. Mit anderen Worten: Wie überall, ist die rigide katholische klerikale Kirchenführung auch verantwortlich für diese „Entkirchlichung“. Und das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache!

2. 18 % der Bevölkerung nennen sich katholisch, 14 % protestantisch.
Das „Centraal Bureau voor Statistiek“ (CBS), also das statistische Zentralbüro, hat nun die aktuelle Entwicklung für die Niederlande veröffentlicht (Siehe auch: https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2022/51/bijna-6-op-de-10-nederlanders-behoren-niet-tot-religieuze-groep).
Vor allem bei den Katholiken ist der Abschied von der Kircheninstitution besonders deutlich: Im Jahr 2010 nannten sich noch 27 Prozent der Niederländer Römisch – katholisch; 2021 sind es nur nicht 18 Prozent. Zu den protestantischen Kirchen bekannten sich 2010 18 Prozent, 2022 noch 14 Prozent der Bevölkerung. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur: Bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt der Anteil der Gläubigen 28 Prozent; bei den über 75 Jährigen noch 65 Prozent. Die Kirchen sind also, etwas überspitzt gesagt, nicht nur „Senioren-Organisationen“, sondern letztlich auch langsam aussterbende Gemeinschaften.
Etwa 4,5 % der Bewohner der Niederlande sind mit muslimischen Gemeinden verbunden. Angesichts dieser eher überschaubaren Zahl der Muslime bleibt es fast unverständlich, wie jetzt rechtsextreme Parteien in Holland ihren Hass auf „die MuslimInnen“ und „die Fremden“ in die Öffentlichkeit tragen.

3.
Das ist die Tatsache: im Jahr 2021 nennen sich noch 32 Prozent der Niederländer kirchlich gebunden. Eine Ziffer, die sich etwa an das traditionell nicht-bzw. antikirchliche Tschechien, vor allem Böhmen, annähert, aber noch längst nicht an die entsprechenden Zahlen im Osten Deutschlands, in den so genannten neuen Bundesländern,

4. Leere Kirchen am Sonntag.
Auch die Teilnahme an den Gottesdiensten am Sonntag ist in den Niederlanden sehr schwach: 2021 nahmen 13 Prozent der Kirchenmitglieder wenigstens einmal im Monat an den Gottesdiensten teil, 2010 waren es noch 18 Prozent. Besonders gering ist die regelmäßige Teilnahme an der Messe bei den Katholiken, bei den Protestanten nehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder an den Sonntagsgottesdiensten teil, heißt es in der Studie vom CBS.

5. Auf der Suche nach einer Zukunft.
Beobachter haben den Eindruck, dass viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder und ihre Pastoren (der protestantischen Kirchen) nicht unbedingt in Depressionen fallen, sondern eher nach neuen Konzepten suchen und eine neue kirchliche Praxis probieren. Allerdings ist der Mangel an Pastoren in der großen „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) deutlich zu spüren, das führt zu einem Zusammenschluss verschiedener Gemeinden. Andererseits gibt es Pläne und schon erste Erfahrungen, Gemeindemitglieder, die nicht eine umfassende theologische Ausbildung haben, mit bestimmten Aktivitäten der Gemeinde-Liturgien zu betrauen, etwa in der Gestaltung und Leitung von Trauerfeiern und Bestattungen. Es werden, dem Vorbild der Anglikanischen Kirche folgend, auch Kurse angeboten für Männer und Frauen, die sich neben ihrem (weltlichen) Beruf als Teilzeitstudenten auf den Pastorenberuf vorbereiten. Diese Kurse werden an der „Protestantse Theologische Universiteit“ (in Amsterdam und Groningen) angeboten.

6.
Weil viele Gemeinden und kirchliche Hilfsorganisationen immer noch umfassende soziale Hilfe leisten (Flüchtlingshilfe, Essensausgabe für Arme etc.), haben staatliche Instanzen schon jetzt ihre Sorgen geäußert, was denn an Hilfeleistungen der Kirchen noch möglich bleibt, wenn sie immer mehr zur Minderheit werden.

7. Die freisinnge Kirche der “Remonstranten”
Unter der Vielfalt protestantischer Kirchen in den Niederlanden ist die kleine Kirche der Remonstranten, theologisch gesehen, eine ganz besondere, manche sagen theologisch eine einmalige Kirche in der weiten Ökumene: Die Remonstranten, offizieller Name „Remonstrantische Bruderschaft“, sind die einzige offiziell christliche freisinnige Kirche: Das heißt: Sie halten nicht viel von traditionellen dogmatischen Bindungen, sie versuchen eine neue zeitgemäße Sprache für alte Begriffe, sie eine christlich-humanistische Kirche, die jedem Mitglied die Formulierung des eigenen Glaubensbekenntnisses überlässt.
Die Remonstranten waren niemals eine zahlenmäßig starke Kirche. Jetzt haben sie ca. 5.000 Mitglieder bzw. „Freunde der Remonstranten“, dabei handelt es sich um Menschen, die noch einer anderen Kirche angehören, aber gern im Geist der christlich-humanistischen Remonstranten leben wollen. Auch diese Möglichkeit einer „doppelten Kirchenmitgiedschaft“ ist wohl einmalig in der weiten Ökumene. Aber selbst diese theologisch liberale Kirche hat viel Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen, obwohl sie eigene Projekte des Dialogs mit religiös Interessierten oder auch Religiös-Nicht-Interessierten anbietet.

8. Freie ökumenische “Basis-Gemeinden”
In den 1970ger Jahren bildeten sich in ganz Holland „freie ökumenische (Basis)-Gemeinden, man denke an die „Ekklesia“ in Amsterdam, die von dem Theologen und Poeten (und ehemaligen Jesuiten) Huub Oosterhuis in Amsterdam gegründet wurde oder an die Dominicus-Gemeinde in Amsterdam oder die Basis-Gemeinde „de Duif“, ebenfalls in Amsterdam. Diese freien ökumenischen und alles andere als fundamentalistischen Gemeinden haben sich von den Bindungen an einen Bischof gelöst, sie haben ihre Kirchengebäude gekauft (wie die Dominicus-Gemeinde) … und sie gehen ihren eigenen, unabhängigen Weg in der immer noch bunten Kirchenszene der Niederlande. Aber auch diese freien ökumenischen Gemeinden, die einige Leute (naiv?) für ein Vorbild hielten auch für Deutschland, haben Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen.
Huub Oosterhuis, der Theologe und Poet, hat durch seine Poesie, seine vielen Lieder, Gedichte, Reflexionen, sicher dazu beigetragen, dass viele Gottesdienste in Holland ein beträchtliches poetisches und theologisches Niveau haben. Die Bedeutung der Poesie (und biblisch inspirierten Theologie) Oosterhuis` ist kaum zu überschätzen, selbst wenn der klerikale Katholizismus immer wieder gegen Oosterhuis polemisierte.

9. Die Zukunft?

Wie es mit dem christlichen Glauben und den Kirchen in Zukunft weitergeht, in den Niederlanden wie in West-Europa, ist völlig offen.

Möglich ist, dass sich ein christlicher Glaube bildet, der sich von allem dogmatischen Starrsinn und moralischen engen, Frauen-feindlichen Lehren befreit hat und einige zentrale Aspekte der Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth lebt, in kleinen Basis-Gruppen, auch politisch natürlich im Sinne umfassender Gerechtigkeit.

Aber dass im Ernst noch viele intellektuell wache Menschen diesem rigiden klerikalen katholischen Männer-System, bewusst und stolz anti-demokratisch, anhängen, ist äußerst unwahrscheinlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.