Tag der Menschenrechte: Jeder Mensch ist heilig

Für den “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ist es selbstverständlich, an den heutigen “Tag der Menschenrechte” (10. Dezember 2013) zu erinnern und ohne alles Pathos zu betonen: Es gibt wohl kein dringenderes Thema, auch philosophisch kein dringenderes Thema, als die Menschenrechte und den Kampf, dass alle Menschen endlich als Menschen respektiert werden, dass also die Menschenrechte für alle gelten und nicht nur für eine Minderheit, die sich als “Elite” fühlt und Sonderrechte beansprucht.
Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon schon oft dieses Thema besprochen und diskutiert.
Heute nur zwei wichtige Hinweise:
ERSTENS: Professor Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin,hat in einem Interview kürzlich auf die uns besonders interessierenden Verbindungen von Menscherechten und Religiosität hingewiesen. Wir bieten noch einmal einen Auszug.
ZWEITENS: Es haben sich einige NGOs zusammengeschlossen und eine Studie publiziert, die Menschen­rechts­ver­letz­ungen durch große eruopäische/amerikanische Konzerne und Banken dokumentiert. Unser Philosophischer Salon ist den Traditionen der philosophischen Aufklärung verpfichtet. Deswegen ist auch Kritik am herrschenden System eine Selbstverständlichkeit.
DRITTENS bieten wir ein Zitat des Befreiungstheologen, Kardinal Evaristo Arns, Sao Paulo, Brasilien.

ERSTENS: Aus einem Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb:
Die Erklärung der Menschenrechte ist aus keiner der konkreten Religionen hervorgegangen, auch aus dem Christentum und seinen Kirchen nicht. Ihr Ausgangspunkt waren Erfahrungen von Verletzung und Leid, die Erfahrung ihrer brutalen Nichtanerkennung, „Akte der Barbarei“, wie es in der Präambel der UN-Charta von 1948 heißt. Hervorgegangen sind die Menschenrechte aus dem Aufschrei derer, denen durch totalitäre Regime ihr Lebensrecht verweigert wurde, die aus rassischen, völkischen, politischen und religiösen Gründen gequält, gefoltert und ermordet wurden. Die Erfahrung der humanitären Katastrophe des Holocaust und 2. Weltkriegs, die darin lag, erkennen zu müssen, dass Menschen die Bedingungen verletzen oder gar zerstören können, ohne die der Mensch als Mensch nicht zu existieren vermag, war der entscheidende Auslöser. Die Menschenrechte sind auch heute die wichtigste Appelationsinstanz, wenn der Schrei von Menschen über ihre eklatante Verletzung in den Blick der Öffentlichkeit rückt

Frage: Gibt es denn wie sonst bei den konkreten Religionen auch eine Spiritualität der Menschenrechte?

Viele Menschen rund um den Globus verstehen sich nicht mehr als Gläubige im Sinne der konkreten Religionen. Sehr wohl aber verstehen sie sich als spirituell, genau in dem Sinne, dass sie den unendlichen Wert eines jeden Menschenlebens achten wollen. Oft geht ihre heilige Ehrfurcht vor dem Leben noch über das menschliche Leben hinaus und erstreckt sich auf alles Lebendige. Das hat vielfältige spirituelle Praktiken zur Folge, bis hin zur Umstellung von Ernährungsgewohnheiten und anderen Fragen des Lebensstils. Ja, es gibt weltweit eine Spiritualität der Menschenrechte, eine universale Religion der Humanität und der Ehrfurcht vor dem Leben. Zur weiteren Lektüre klicken Sie bitte HIER.
Der Beitrag von Wilhelm Gräb gehört zu einer Reihe von Interviews, die unter dem Motto “Fundamental vernünftig” auf dieser website publiziert werden. Sie bieten Impulse, für eine Spiritualität und Religiosität einzutreten, (selbstverständlich auch innerhalb der Kirchen), die die freie Einsicht, die kritische Frage und das individuelle religiöse Erleben des einzelnen voll respektiert.

ZWEITENS:
Es gibt „dirty profits“ von 26 Unternehmen unterschiedlicher Branchen und 19 Finanzinstitute, die wegen heftiger Verstöße gegen die Menschenrechte (und den Umweltschutz) sehr übel auffallen. Wenn diese Unternehmen Milliardengewinne machen, dann beruhen diese immer auch auf Menschen­rechts­ver­letz­ungen, Korruption, Ausbeutung und Umweltzerstörung. Mehrere NGOs haben am Montag, 9.12. 2013, eine Studie vorgestellt, in der sie diese Verbrechen dokmentieren: „Dirty profits 2“ ist der Titel. Zur Lektüre klicken Sie hier.
Zur allgemeinen Information über die NGOs, die die Studie erstellt haben, klicken Sie bitte hier.

DRITTENS:
Kardinal Evaristo Arns aus dem Franziskaner Orden ist einer der mutigen Verteidiger der Menschenrechte in Brasilien. Er hat auch den Befreiungstheologen Leonardo Boff unterstützt. Kardinal Arns wurde von Papst Johannes Paul II. immer wieder in seinen Aktivitäten eingeschränkt und bestraft, weil er zusammen mit Kardinal Ratzinger meinte, Befreiungstheologie sei ein Schaden für die angeblich ewige, erstarrte und dogmatisch verfestigte römische Kirchenlehre…
Hier also das Zitat von Kardinal Arns aus einem Interview mit Christian Modehn(der Originalton liegt vor).

Die Menschenrechte sind der Kern des Evangeliums. Also sie kommen aus dem Herzen des Evangeliums heraus. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen zu retten, also dass er Mensch werde, dass er Mensch bleiben kann, dass er wirklich alle seine Möglichkeiten als Mensch verwirklichen kann für die anderen. Und wenn er das nicht kann, dann ist Christus umsonst auf die Welt gekommen und Gott hat den Menschen umsonst geschaffen”.

copyright:Christian Modehn

Edvard Munch: Der Angst ins Gesicht sehen. Eine Ausstellung in Berlin.

Edvard Munch: Seine Ängste, seine Sehnsucht, seine Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.9.2023.
1.
Die „Berlinische Galerie“ (Alte Jakob Str. 124 in Kreuzberg) bietet jetzt eine umfassende und herausragende Ausstellung über die Berliner Jahre des norwegischen Künstlers Edvard Munch (1863-1944). Die Ausstellung ist bis zum 22.1.2024 zu sehen. Sie hat den Titel „Edvard Munch. Zauber des Nordens“. Ob die Betrachter der Kunst von Edvard Munch „verzaubert“ und in den Norden entrückt werden, ist sehr die Frage. Munchs Kunst ist für viele seiner Betrachter alles andere als vom „Zauber“ im Sinne des Zauberhaften und Wunderbaren bestimmt. Munch zeigt uns in seiner Malerei sich selbst, seine seelischen Leiden, sein Gefühl des Ausgegrenztseins, und diese Darstellungen sind eine anspruchsvolle Kunst, die in das tiefe seelische Leiden „der“ Menschen im allgemeinen hineinführt und keinerlei Zaubersprüche bereit hält.

2.
Munch stellte 1892 zum ersten Mal in Berlin seine Arbeiten aus, sie wurden von maßgeblichen Kreisen in Berlin als Skandal empfunden, die Ausstellung wurde nach wenigen Tagen abgebrochen. So wurde immerhin Öffentlichkeit erzeugt, über die Munch sich durchaus freute. Der Berliner Künstler Walter Leistikow setzte sich, wenn auch unter einem Pseudonym, für Munch ein.
Munch blieb in Berlin, er arbeitete in der Lützowstr. 82. Im Jahr 1893 kann er in Berlin dann doch einige seiner – in heutiger Sicht – Hauptwerke ausstellen, wie „Schrei“ , „Madonna“, „Die Stimme“. 1909 kehrte Munch nach Norwegen zurück, er war von einer ungeheuerlichen Schaffenskraft, rastlos tätig, alle seine Werke vermachte er der Stadt Oslo.

3.
Uns interessieren hier besonders (religions-)philosophische Aspekte im Leben und Werk Edvard Munchs. Traumatische Erfahrungen schon in der Jugend waren prägend, er spricht von seelischer Krankheit, Tendenz zum Wahnsinn, es gibt heftige Problem mit Alkoholismus, und in jungen Jahren ein Leben „à la bohème, wie man damals sagte, heute würde man eher von einer Sucht sich zu vergnügen sprechen. „Krankheit, Wahnsinn und Tod waren die Engel, die meine Wiege umgeben haben und die mich mein ganzes Leben begleitet haben“.

4.
Edvard Munch wurde in einer streng religiösen, evangelischen Familie groß, das neu geborenenKind wurde, wie man sagte, „notgetauft“, aus Angst, es könne sterben, ohne rituell durch die Taufe von der Erbsünde befreit zu sein. Ohne durch die Taufe droht selbst den Neugeborenen nach ihrem plötzlichen Tod eine Art Hölle, das behauptet die Angst machende Dogmatik der Kirche. Die Mutter stirbt früh an Tuberkulose, sie hat einen Abschiedsbrief geschrieben, aus dem immer wieder den Kindern vorgelesen wird mit den schauerlichen Kommentaren: „Mutti hört im Himmel zu und beobachtet uns“.
Edvard Munch wächst in einem Christentum auf, in dem das ganze Leben von Angst zerfressen ist. Er selbst bleibt sein Leben lang davon seelisch belastet. Das entscheidende Mittel, die Angst zu bearbeiten, ist für ihn die Kunst. “Ebenso musste er den Tod malen, um persönliche böse Erinnerungen loszuwerden”, schreibt Ragna Stang in ihrem großen Buch “Edvard Munch – der Mensch und der Künstler” (1979, Königstein im Taunus, S. 121). Andererseits: Wer einen krankmachenden christlichen Glauben studieren und kritisieren möchte, wende sich bitte an Edvard Munch.

5.
Aber wieder einmal ist es auch die Krankheit, die sehend macht, die Dinge spürt, die angeblich Immer-Gesunde in ihrem Fitness – Wahn gar nicht entdecken. „Ich ging die Straße hinunter, als die Sonne unterging. Und sich der Himmel plötzlich blutrot färbte. Ich blieb stehen, lehnte mich todmüde an das Geländer… und ich fühlte, dass ein unendlicher Schrei durch die Natur ging.“ Der Freund Munchs, der Dichter August Strindberg, meint: Der Maler hörte den Schrei der Natur, „und des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“.
Den Schrei als akustische Äußerung malen, das ist wohl (nur?) Munch gelungen!
Viermal hat Munch das Motiv „Der Schrei“ gemalt, inzwischen längst eine Ikone, weltweit verbreitet, wie ein Kultbild verehrt und als Massenware jetzt missbraucht. Ein ziemlich verrückt-kapitalistischer letzter Schrei ist die Tatsache, dass ein „Schrei“ von Edvard Munch im Mai 2012 für 120 Millionen Dollar von einem Milliardär ersteigert wurde. Dieser „Schrei“ schreit jetzt einsam in einem gepanzerten Keller einer Villa, oder?

6.
Bekannt sind die fünf um 1894 entstandenen Gemälde, die unter dem Titel „Madonna“ beachtet werden. Diese Madonna, wenn sie denn auch auf Maria, die Mutter Jesu, bezogen werden kann, könnte dann auch als eine Pietà interpretiert werden; sie ist vom Leiden, vom Tod, gezeichnet, hat dabei aber auch eine extrem erotische Ausstrahlung bewahrt. Auch die Madonna der Renaissance hat in ihrer blühenden Leiblichkeit erotische Züge. „Liebendes Weib“ nannte Munch diese Madonna, vielleicht ein Titel, der die Spannung zwischen Hingabe bis zum Tod andeuten will. Manche deuteten die“Madonna“ als Prostituierte, nackt und mit roter Baskenmütze, dem Erkennungszeichen der Prostituierten von Paris, wo Munch 1890 und danach eine Zeit lebte.

7.
Die Arbeiten, die rund um den „Schrei“ geschaffen wurden, zeigen auch einsame Menschen, in tiefster Not der Verzweiflung, im Geworfensein in eine völlig fremde, bedrohliche Welt. Gibt es Gemälde, die treffender die seelische Situation moderner Menschen deutlich machen? Man denke etwa auch an das Gemälde „Der Tod im Krankenzimmer“ von 1893.

8.
Munchs seelisches eigenes Erleben und Erschaudern und deren Darstellung in seiner Kunst bleibt inspirierend bis heute, es darf angesichts der vielen Reproduktionen nicht banalisiert werden. Sein Freund Janes Thiis hielt Munch für einen metaphysisch begabten Menschen: “Er gab in seiner Kunst Ausdruck vom Wunder des Lebens“. Munch selbst bekannte: „Gott ist in uns und wir leben innerhalb von Gott, einem ursprünglichen und originalen Licht von überall her“. Und Munch betonte: “Aus allen (meinen) Reden wird man sehen, dass ich ein Zweifler bin, aber niemals die Religion verleugne oder verspotte” (S, 123 in dem genannten Buch von Ranga Stang).
Diese alle Dogmen des Christlichen bzw. Kirchlichen überwindende, sagen wir: mystische oder „pantheistische“ Spiritualität zeigt sich in Munchs Werken. Sie ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, auch in den Bildern der Verzweiflung.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Vorhof der Völker, Gespräche mit Atheisten in Berlin

In der religiösen Wüste Berlins
Die katholische Kirche suchte das Gespräch mit Atheisten. Doch so richtig erfolgreich war das Unternehmen nicht
Von Christian Modehn
Veröffentlicht in PUBLIK FORUM am 6. 12.2013

Ihre Bücher wurden wie Gift hinter dicken Schranktüren verschlossen, die Autoren verfolgt, gequält, verbrannt: Atheisten hatten in den vergangenen Jahrhunderten keine Chancen in einer katholisch dominierten Kultur. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts begnügt sich die römische Kirche damit, die Gottlosen mit den Waffen der Polemik zu bekämpfen.

»Nun aber ist der Kalte Krieg zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen vorbei«, sagt jetzt Berlins Kardinal Rainer Woelki. Er darf das sagen, weil der Vatikan selbst seit drei Jahren offiziell Atheisten zum Gespräch einlädt – »auf Augenhöhe«, wie der zuständige Kardinal Gianfranco Ravasi betont. Er ist der »Kulturminister« des päpstlichen Staates. Unter Benedikt XVI. wurde diese anspruchsvolle Dialog-Initiative ins Leben gerufen. »Vorhof der Völker« wird sie genannt. In Paris, Palermo, Stockholm und Tirana fanden diese Dialoge bisher statt.

In Berlin wurden kürzlich erneut einige »Vorhöfe« eröffnet: der Festsaal des Roten Rathauses, das Deutsche Theater, das Bode-Museum oder ein Hörsaal der Klinik Charité. Dort trafen sich Christen mit Menschen, die sich als Ungläubige verstehen.

Einst baten fromme Juden ihre heidnischen Mitbürger auf den Tempelvorplatz zum Disput. Das Heiligtum selbst blieb ihnen verschlossen. Ob die Erinnerung daran heute hilfreich ist, bleibt fraglich. Schließlich lädt man verfeindete Nachbarn, mit denen man wieder ins Gespräch kommen möchte, direkt ins eigene Haus ein und speist sie nicht auf der Terrasse ab. Auf einem »Vorhof« fühlen sich Gäste doch eher brüskiert.

So war das Interesse der Berliner Atheisten an den Veranstaltungen auch eher gering. Wer outet sich schon gerne als Ungläubiger? In Berlin nennen sich mehr als sechzig Prozent der Bewohner konfessionslos. Unter ihnen sind sicher viele Atheisten. Daran wohl hat Kardinal Ravasi gedacht, als er zu Beginn betonte: »In religiösen Dingen ist Berlin eine Wüste.« Will er die Wüste nun zum Blühen bringen, fragen sich nicht wenige Atheisten. Und sollen wir die neuen Oasen kirchlichen Glaubens etwa begründen helfen?
Irritationen gab es also von Anfang an. So meldete sich auf dem »Vorhof« kein einstiger DDR-Bürger atheistischen Bekenntnisses zu Wort und auch kein an Gott verzweifelnder Hartz-IV-Empfänger aus Neukölln. Auch der Humanistische Verband Deutschlands, der mehr als 16 000 atheistische Mitglieder hat, oder die entschieden kirchenkritische Giordano Bruno Stiftung waren auf den Podien nicht vertreten. Haben Kirchenvertreter Angst vor diesen Kreisen?

Auf einem der Podien sprach der bekennende »fromme Atheist« Herbert Schnädelbach, ein Philosoph. Er fand sehr persönliche Worte angesichts tiefer existenzieller Verunsicherungen: »Ich kann mir vorstellen, dass man unglaublich dankbar ist, wenn etwas gut gegangen ist. Man möchte sich bei jemandem bedanken. Aber man weiß nicht, bei wem. Oder man möchte sich beklagen. Aber da ist für mich niemand. Das ist der Punkt, der mich zu dem macht, was ich einen frommen Atheisten genannt habe.« Wichtiger war ihm allerdings, entschieden an die inzwischen allgemein akzeptierte Erkenntnis Immanuel Kants zu erinnern: »Eine allen gemeinsame Moral kann sich nur aus der Vernunft entwickeln und nicht aus religiösen Traditionen.« Bei dem bekannten katholischen Religionssoziologen Hans Joas fand er dafür volle Zustimmung: »Die Kirche ist keine Agentur für Moral.«

Insgesamt erinnerten die Dispute an Veranstaltungen katholischer Akademien. Debattiert wurde über Fragen der Anthropotechnik oder über die künstlerische Freiheit im Blick auf Gotteslästerungen. Nette Themen, aber nichts Neues. Traurig vor allem, dass das Publikum nicht in das Gespräch einbezogen wurde. Die Gäste auf dem »Vorhof« hatten zu schweigen. Überhaupt nicht klar ist, wie solche »hochkarätigen« Themen eine Verständigung, gar die »Versöhnung« von Glaubenden und NichtGlaubenden bewirken sollen.

Schon die Fixierung des Vorhabens auf »den« Glaubenden und »den« Atheisten ist problematisch. Es gibt ja auch den sich gelegentlich gottlos fühlenden Glaubenden. Und es gibt auch den spirituellen Atheisten, der das Erhaben-Transzendente in der Kunst erlebt, ohne an einen persönlichen Gott zu glauben. Wäre diese Erkenntnis die Ausgangsbasis des Gesprächs, dann könnten Christen wie Atheisten erkennen: Wir sind Verwandte, deuten nur unser Leben unterschiedlich. Uns verbindet das Humanum, die Sorge um uns selbst und das bedrohte Menschsein. Diese gemeinsame Basis gilt es zu pflegen. Dogmen und Philosophien, seien sie theistisch oder nicht, sind dann zweitrangig.

Zu einer solchen Haltung ist die katholische Kirche von ihrer eigenen Lehre allerdings (noch) nicht in der Lage. Sie schwankt unentschieden hin und her zwischen höflich-diplomatischer Toleranz und der alten missionarisch-rechthaberischen Position.

Traurig auch, dass der »Vorhof der Völker« in Berlin ohne die protestantische Kirche meinte auskommen zu können. Wenn ein Atheist die Taufe »begehrt«, dann bitte doch die katholische! So lautet wohl insgeheim die Parole. Dabei könnte doch angesichts atheistischer Glaubenshaltungen eine einzige christliche, also überkonfessionelle Theologie entstehen. Eine Theologie, die von altem dogmatischem Schrott befreit ist und vor allem fragt: Was ist menschliches Leben und Lieben?

Jedoch zu solchen Fragen fehlt es dem »Vorhof der Völker« am erforderlichen Mut. Er ist, mit Verlaub, zu klerikal, was angesichts seiner vatikanischen Herkunft kein Wunder ist. Das ließe sich aber, Impulsen des neuen Apostolischen Schreibens von Papst Franziskus folgend, ändern: Nur eine auch theologisch arme, auf Grundfragen konzentrierte Theologie hat Chancen, bei Atheisten, Agnostikern, Konfessionslosen gehört zu werden. Dann geht es um Fragen wie: Verhindert unsere auf Konsum und Wachstum ausgerichtete Kultur nicht jede Form von Spiritualität? Drängt diese Kultur oder eher Unkultur uns nicht den neuen Gott, das Geld, förmlich auf? Ist der gemeinsame Glaube von religiösen und nichtreligiösen Menschen nicht längst der »Glaube« an die absolute Macht des Geldes und des Kapitals?

Über solche Fragen aber lässt sich besser in kleinen Gruppen sprechen, in den (Nebenzimmern von) Bars und Restaurants, in Galerien und privaten Salons. Für eine solche Basis-Kultur interessieren sich die Menschen, gerade auch jüngere. Dabei sollte man sich in der Tat ein Bonmot von Oscar Wilde zu Herzen nehmen, das immerhin Kardinal Gianfranco Ravasi zitierte: »Die richtigen Antworten geben, das können viele. Aber um die richtigen Fragen zu stellen, muss man ein Genie sein.«

Die Hoffnung von Weihnachten. Ein Interview mit dem Publizisten Frank Kürschner–Pelkmann, Hamburg

Die Hoffnung von Weihnachten
Brücken bauen zwischen “naivem” Kinderglauben und existenziellen religiösen Fragen
Ein Interview mit dem Publizisten Frank Kürschner – Pelkmann, Hamburg
Die Fragen stellte Christian Modehn

—Zur website von Frank Kürschner-Pelkmann klicken Sie bitte hier

Herr Kürschner-Pelkmann, Sie haben eines der umfangreichsten und gründlichsten Bücher über Weihnachten publiziert. Wie sind Sie denn auf dieses Projekt gekommen? Gibt es bei Ihnen auch biographisch eine Art Begeisterung für Weihnachten?

Meine Beschäftigung mit Weihnachten entstand nicht nur aus Begeisterung, aber doch einem großen Bedürfnis, meine sehr widersprüchlichen Weihnachtserfahrungen zu reflektieren. Gern erinnere ich mich an die Weihnachtsgottesdienste in einer festlich mit Kerzen erleuchteten Schlosskirche und an die friedliche Stimmung des Weihnachtsfestes in meiner Kindheit in den 1950er Jahren. Aber spätestens nach der Konfirmation kamen die Zweifel, ob die Weihnachtsgeschichte nur ein – wenn auch sehr schönes – Märchen ist. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich dann versucht, die schönen Geschichten der Bibel und die Vernunft in einem persönlichen Glauben zu verbinden. Dabei habe ich gemerkt, welche zentrale Rolle hierfür die Weihnachtsgeschichte hat.

In meiner Beschäftigung mit diesem Thema habe ich vor allem gelernt, dass ich die tiefere Wahrheit der biblischen Überlieferung nur dann erkennen kann, wenn ich sie als Glaubensgeschichten und nicht als die Darstellung historischer Ereignisse verstehe. Abstrakt wissen das die meisten Pastorinnen und Pastoren, aber häufig predigen sie – und das gerade am Heiligen Abend – so, als hätte sich eine Geschichte in Bethlehem genau so zugetragen, wie sie aufgeschrieben wurde. Aber gerade wenn ich mich nicht daran klammere, dass das Jesuskind im Jahre 0 in einem Stall in Bethlehem geboren wurde und bald darauf Hirten und Könige vorbeikamen, sondern versuche zu verstehen, was uns die Evangelisten mit diesen Geschichten über Jesus und seine Botschaft sagen wollten, wird für mich die Weihnachtsbotschaft zu einer Botschaft der Freude, des Friedens und der Gerechtigkeit. Inzwischen kann ich mich wieder uneingeschränkt auf dieses Fest freuen.

Haben Sie eine intensive Erinnerung an ein bestimmtes Weihnachtsfest? Sie sind ja als Journalist auch in der Welt viel unterwegs gewesen.

Da fällt mir spontan ein Weihnachtsfest auf der Insel Madeira ein. Meine Frau und ich machten einen Wanderurlaub, und unsere Gruppe wohnte in einem kleinen Hotel, in dem außer uns nur noch wenige Gäste übernachteten. Am Weihnachtsabend genossen wir alle im Restaurant ein köstliches Festessen. Es war noch nicht beendet, da stimmte eine Gesangslehrerin in unserer Gruppe gefühlvoll ein Weihnachtslied an, und unsere ganze Gruppe stimmte ein. Ein deutsches Ehepaar, das offenbar vor Weihnachten hatte flüchten wollen, sprang mit allen Anzeichen des Entsetzens auf und lief aus dem Restaurant.

Weihnachten zu entkommen ist eben gar nicht so einfach. Und eigentlich ist es das gerade auf Madeira nicht, wo zur Weihnachtszeit überall Krippen und Weihnachtsschmuck zu sehen sind. Die bunten Krippen werden von Touristen oft als Folklore “abgebucht”, aber wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass er zeigt, wie der Glaube im Alltag der Menschen zu Hause ist. Dass die Krippendarstellungen durch Landschaften, Gebäude und Kleidung Madeiras abbilden, macht deutlich, dass die 2.000 Jahre alte Geschichte von der Geburt des Kindes von den Einheimischen immer neu als Ereignis mitten in ihrem eigenen Leben erfahren wird. Und ebenso ist es in vielen Ländern der Welt. Es freut mich immer wieder, wenn solche lokalen Weihnachtstraditionen gegen die weltweiten Eroberungszüge des Weihnachtsmanns verteidigt werden, denn dieser Mann mit rotem Mantel und Rauschebart ist zum Symbol der globalen Expansion eines total kommerzialisierten Weihnachten verkommen.

Können Sie, können wir eher kritisch nachdenkliche Menschen in Westeuropa, heute überhaupt hier noch Weihnachten als religiöses Fest feiern? Hat der Kommerz, der Rummel, nicht alles längst verdeckt?

Es gibt eine Welt jenseits der totalen Kommerzialisierung – und es gibt auch ein Weihnachtsfest jenseits des Kommerzes. Vielleicht können sich kleinere Kinder und ältere Erwachsene noch am stärksten der Vermarktung des Festes entziehen. Viele Kinder lassen sich noch unbefangen anrühren von der Geschichte von dem neugeborenen Kind, das in einer kalten Nacht in einer Krippe liegt, umsorgt von seinen Eltern und bald schon verfolgt von einem bösen König. Und viele ältere Menschen wenden sich von einem totalen Verkaufsrummel ab, schon weil er ihnen zu laut ist. Schade ist, dass in vielen Weihnachtsgottesdiensten keine Brücken gebaut werden zwischen “naivem” Kinderglauben und den existenziellen religiösen Fragen vieler Erwachsener und gerade älterer Menschen. Recht verstanden – und das heißt, nicht wortwörtlich verstanden – kann die biblische Weihnachtsgeschichte uns einen neuen Zugang zum Glauben eröffnen, zu dem woher, wofür und wohin des menschlichen Lebens.

Sehr viele Menschen nehmen gerade und oft sogar ausschließlich zu Weihnachten an Gottesdiensten teil. Äußert sich da vielleicht eine tiefe Sehnsucht nach einem Abtauchen ins Kindliche, ins Naive, ins Heile und Friedliche? Das wäre ja auch prinzipiell ein respektables Verhalten?

Ich bin gegen eine Zertrümmerung der sehnsuchts- und hoffnungsvollen Weihnachtsstimmung. Da habe ich viel von dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff gelernt. Zum christlichen Glauben gehört für ihn die tief empfundene Hoffnung auf eine andere friedlichere und heilere Welt. Wo “alternativlos” zu einem zentralen Begriff im politischen Diskurs geworden ist, hat diese Hoffnung etwas geradezu Subversives. Das hat zum Beispiel auch die Schriftstellerin Astrid Lindgren in ihren Geschichten beeindruckend dargestellt. Die Weihnachtsfeste in Bullerbü sind keine verkitschte Idylle, sondern gerade auf dem Hintergrund des oft problembeladenen Lebens der Schriftstellerin die Verteidigung der Hoffnung auf ein ganz anderes Zusammenleben der Menschen. Astrid Lindgren hat die soziale Realität in ihren Geschichten und auch in ihrem vielfältigen Engagement in der schwedischen Gesellschaft nicht ausgeklammert, aber sie hat eben auch die Hoffnung auf eine andere Welt wach gehalten, eine wirklich weihnachtliche Hoffnung.

Weihnachten wird auch von nichtreligiösen Menschen gefeiert, sogar in Japan feiern Menschen Weihnachten, dabei wissen sie oft gar nicht, was das Fest bedeutet. Was wäre dringende Aufgabe der Kirchen, neu und einfach und klar den Menschen zu erklären: Mit diesem Jesus von Nazareth ist etwas Besonderes geschehen, ein Grund zur Freude. Was wäre in Ihrer Sicht dieses Besondere, dieser Grund zur Freude?

Es stimmt, dass die Kirchen die besondere Bedeutung von Weihnachten neu erklären sollten. Aber die Probleme beginnen schon damit, dass viele Theologen und besonders Theologieprofessoren ein ambivalentes Verhältnis zum Weihnachtsfest haben. Dabei geht es nicht nur um die Kommerzialisierung, sondern auch darum, dass Weihnachten ein fröhliches Fest ist. Das macht Weihnachten für “ernsthafte” Theologen zu einem Fest zweiter Ordnung. Das Kreuz und damit Ostern stehen im Zentrum, nicht die Krippe. Als die frühere Hamburger Bischöfin Maria Jepsen anregte, die Krippe stärker in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens zu stellen, erntete sie wütende und böswillige Reaktionen in konservativen Theologenkreisen. Ich hoffe auf eine Kirche, die die Freude des Neuanfangs und die Verheißung von Frieden und Wohlergehen für alle stärker in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung und ihrer Darstellungen des Weihnachtsfestes stellt. Bei Lukas verkünden die Engel den Hirten eine große Freude. Es ist die Freude darüber, dass mit Jesus mitten in einer Zeit der Gewalt und Ausbeutung ein Mensch auf die Welt gekommen ist, der den Menschen neue Hoffnung und Orientierung für ein geschwisterliches und gottgefälliges Leben gibt. Und diese umfassende Freude, hoffe ich, wird das Weihnachtsfest wieder stärker prägen. Dann wird es auch zu einem einladenden Fest für nichtreligiöse Menschen.

Copyright: Frank Kürschner-Pelkmann

Der Abdruck des Interviews ist erlaubt, wenn die Quellenangabe erfolgt: Religionsphilosophischer Salon Berlin mit den Hinweisen auf das Buch.

Frank Kürschner-Pelkmann: Von Herodes bis Hoppenstedt. Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte. Verlag Tredition, 2012, 696 Seiten; 36,80 Euro.

Vorhof der Völker – ein Dialog mit Atheisten? Nun auch in Berlin

Der “Vorhof der Völker” – in Paris (2011) und jetzt auch in Berlin:
Zum Dialog mit “Heiden” und Atheisten
Von Christian Modehn und dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin

Zum aktuellen Bericht über den “Vorhof der Völker” in Berlin vom 26. bis 28. November 2013 klicken Sie bitte HIER.

Ende November 2012 (!) hat der Religionsphilosophische Salon Berlin einen Beitrag publiziert zum Vorhaben “Vorhof der Völker” in Berlin. Dabei geht es um einen Dialog zwischen Katholiken (!, Ökumene findet da offenbar nicht statt), vor allem zwischen Kardinälen, Prälaten und Theologie-Professoren und so genannten Atheisten, ebenfalls oft Professoren. Wir haben damals an die ähnliche Veranstaltung in Paris im Jahre 2011 erinnert.
Aus aktuellem Anlaß bieten wir nun aufgrund vielfältiger Anfragen noch einmal diese Beiträge.
Denn vom 26. bis 28. November 2013 findet die Veranstaltung “Vorhof der Völker” in Berlin statt; diese “Vorplätze”, also die offenen Räume, das meint ja “Vorhof”, sind nun – merkwürdigerweise – das Berliner Rathaus (mit dem Bürgermeister als politischem Schutzpatron und offenbar Mitfinanzier), die Charité und das Bodemuseum…Sogar in den abgeschlossenen Räumen der “Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft” findet ein Vorhof statt. Sind das alles wirkliche “Vorhöfe”, also eine Art offene und allgemein zugängliche AGORA? Wir wagen das zu bezweifeln und fragen: Vor wem haben diese Katholiken Angst, wirklich auf einem Vorhof, auf einer Agora, mit den Tausenden von Atheisten und Skeptikern Berlins in Kontakt zu kommmen und einen Dialog in “Augenhöhe” also Gleichberechtigung, zu führen? In Berlin sind bekanntlich etwa eine Million Menschen “konfessionsfrei”. Und wie viele “Atheisten”, Skeptiker, Agnostiker usw. es in den Kirchen selbst gibt, ist noch einmal die Frage. Warum also dieser Rückzug in abgeschlossene, hohe Mauern? Und wer wird später die Millionen Euro bedauern, die solch ein Unternehmen gekostet hat?
In Paris hieß im Jahre 2011 die Veranstaltung “Au parvis de gentils”, also auf dem “Vorplatz der Heiden” authentisch und wörtlich übersetzt. Aus den “Heiden” wurden nun schlicht die “Völker”…Und die Völker in Berlin werden von dem Chef des Unternehmens, Kardinal Ravasi, vorweg als ziemlich säkular und leider nicht katholisch beschrieben.

Im November 2011 publiziert:
In Berlin, so berichtet “Christ und Welt”, die Beilage zur Wochenzeitung Die Zeit, am 22. 11. 2011, soll im kommenden Jahr ein Dialog mit Atheisten stattfinden, organisiert von einer vatikanischen Kultur – Behörde. Diese Initiative bezieht sich auf eine Veranstaltung, die schon im Frühjahr 2011 in Paris stattfand, unter dem Titel: “au parvis des gentils”, wörtlich und korrekt aus dem mittelalterlichen Latein übersetzt, “Auf dem Vorplatz der Heiden”. “Les gentils”, sind die Heiden, siehe Thomas von Aquin “Summa contra gentiles”. Im Rheinischen Merkur wird berichtet, wie die päpstlichen und sonstigen Veranstalter daraus den weniger belasteten Titel “Vorhof der Völker” gemacht haben.

Wir dokumentieren hier einen Beitrag aus der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, der anläßlich der mit einem Riesen – Aufwand gestalteten Veranstaltung in Paris 2011 geschrieben wurde. Dieser sogen. Dialog war, so einhellig die große, die “nicht – klerikale Presse”, ein ziemliches Fiasko, für das sich kaum ein normaler “Heide” oder Atheist in Paris interessierte. Eher waren es die charismatisch-missionarischen Katholiken aus fundamentalistischen Bewegungen, die da – meist vergeblich – auf atheistisch-heidnische Gesprächspartner warteten.. .auf dem Vorplatz der Heiden, nämlich auf dem parvis de Notre Dame, dem Vorpöatz der Kathedrale, im Herzen der angeblich gottlosen Metropole PARIS…

Auf dem Vorhof der Heiden
Wenn der Vatikan mit Atheisten sprechen will
Von Christian Modehn, am 4.4.2011
Diesem Beitrag liegt ein Artikel für PUBLIK FORUM zugrunde.

Papst Benedikt gibt sich dialogfreundlich. Er hat kürzlich in Paris Atheisten drei Tage lang zum Gespräch mit Theologen eingeladen. Zu den Organisatoren gehören Mitarbeiter des „Päpstlichen Rates für die Kultur“, wichtigster Manager ist Pater Laurent Mazas von der äußerst konservativen „neuen geistlichen Gemeinschaft“ der Johannesbrüder. Die Tagungsorte hatten den Charme des Exklusiven, wie die UNESCO oder das akademische „Institut de France“. Aber organisierte Atheisten, wie die Freidenker, blieben fern. Selbst der spirituell interessierte Atheist und Buchautor André Comte – Sponville zeigte kein Interesse. Der populäre, aber deutlich antiklerikale Philosoph Michel Onfray wurde erst gar nicht eingeladen. So umkreisten denn 45 Wissenschaftler, darunter 5 Frauen, eher abstrakte Themen, wie das „Universale und Individuelle“ oder die „gerechte Ökonomie“. Sie lieferten Beiträge, deren Bedeutung über die Veröffentlichung in Sammelbänden kaum hinausgeht. Beachtlich waren die Ausführungen der international bekannten Philosophen Julia Kristeva und Fabrice Hadjadj, die erneut ihr spirituelles Interesse bekundeten. Nur am Ende der dreitägigen Veranstaltung wollte sich der elitäre Zirkel dem Dialog zwischen glaubenden und nichtglaubenden Menschen „an der Basis“ öffnen: Vor der Kathedrale Notre Dame sollten sie debattieren, während innen Brüder von Taizé meditative Gesänge darboten. Aber zu dieser „populär“ gemeinten Veranstaltung kamen anstelle der 25.000 erwarteten Besuchern nur einige tausend, darunter waren äußerst wenige, die sich als Atheisten outeten. Diese Abendveranstaltung ist ein Flop, berichtet die halboffizielle katholische Tageszeitung La Croix. Und das war insgesamt vorauszusehen, denn das Projekt stand unter einem antiquierten Motto: Dialog auf dem „Vorplatz der Heiden“. Welcher Atheist sieht sich denn auch als ein „Heide“, der an viele Götter glaubt? Und was soll der Begriff Vorplatz? Warum laden die Katholiken ihre ungläubigen Mitbürger nicht zu sich „nach Hause“, also in eine Kirche, ein, sondern lassen sie auf dem „Vorplatz“ stehen? Werden Atheisten etwa als Taufbewerber gesehen, die wie in der Urkirche keinen Zutritt ins Heiligtum haben?
Das neue päpstliche Dialog Projekt rechnet mit festen Identitäten: Hier der Gläubige, dort der Ungläubige. Aber sind die heutigen kirchenfernen Menschen überhaupt „Atheisten“ ? Sind sie nicht eher Skeptiker, Suchende, Zweifler? Und aktuelle Umfragen zeigen, dass etwa 30 Prozent der französischen Kirchenmitglieder nicht an Gott glauben. Kann der klassische Gottesbegriff von Theologen wie eine fixe und bekannte Größe in die Debatte geworfen“ werden?
Der Vatikan hat mit diesem um äußeren Glanz bemühten Projekt gezeigt, dass er das Wort Dialog nicht ernst nimmt. Denn Dialog meint Lernbereitschaft aller Beteiligten; auch Glaubende, auch Theologen haben von Atheisten zu lernen.
Trotz dieser blamablen Dialoginitiative ist der Vatikan entschlossen, bald Atheisten in Prag und Tirana auf den Vorhof der Heiden zu laden. Dabei fehlen schon jetzt 600.000 Euro allein zur Finanzierung der Pariser „Dialoge“.

Zum Dialog “Christen und Atheisten, was sie von einander LERNEN können”, veranstaltet vom Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 21. 11. 2013 klicken Sie bitte hier.

COPYRIGHT: CHRISTIAN MODEHN.

Religiöse und Nicht-Religiöse lernen von einander? Ein Projekt des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons

Christen und Atheisten:
Was sie von einander lernen können
Rückblick auf eine Veranstaltung des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons und der Urania in Berlin am 21. 11. 20213.
Anlässlich des Welttages der Philosophie
Einige Hinweise
Von Christian Modehn

Eines der Projekte des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons heißt „Christen und Atheisten im Dialog“. Man könnte auch sagen: „Religiöse Menschen und Nicht-Religiöse Menschen im Dialog“. Diese Projekt geht auch nach der Veranstaltung am 23. 11. 2013 in der Urania Berlin weiter.
Es freut uns sehr, dass auf unsere Anregung hin tatsächlich etwa 70 TeilnehmerInnen mehr als 2 Stunden in der Urania dabei waren, durchaus auch etliche jüngere Menschen. Auf dem Podium diskutierten Prof. Michael Bongardt (Vizepräsident der FU) und Prof. Lutz von Werder (Initiator philos. Cafés) unter der Moderation von Dr. Ingolf Ebel, Urania.
Das beträchtliche Interesse der TeilnehmerInnen verstehen wir als Hinweis, dass die gemeinsame Suche und das gemeinsame Fragen nach dem grundlegenden Sinn, ob man es nun Gott, das Göttliche, das Weltliche, das Diesseits usw. nennt, nach wie vor sehr wichtig und lebensmäßig geradezu dringend ist. Die TeilnehmerInnen hatten verstanden, dass es die philosophische Basis des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons ist, keinerlei Besserwisserei, keine Dogmatik, keine Ausgrenzung irgendeiner Position oder gar Abwertung („Diese Menschen sind ja bloß Atheisten“) zuzulassen. In den großen Kirchen etwa ist diese Haltung der Gleichberechtigung kaum zu finden. Eher kleine liberal-theologische und freisinnige Kirchen vertreten diese Position. Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon bedeutet diese offene Haltung, dass auch wir eigene philosophische Haltungen und Überzeugung haben, die aber selbstverständlich korrigierbar und wandelbar sind. Erkenntnis und Selbsterkenntnis kommen ja bekanntlich an kein Ende. Nur Fundamentalisten behaupten das (mit Gewalt).

Inhaltlich scheinen diese Fragen weiterer Beachtung wert, die jetzt mal thesenmäßig vorgestellt werden:
Mitten im Leben stellen sich für viele Menschen die Fragen nach dem Grundlegenden und Ganzen ihres Lebens selbst. Dieses eigene Leben, also dieses Geworfensein in diese konkrete Existenz, entspricht ja nicht meiner autonomen Wahl. Vielleicht wäre ich viel lieber in Amsterdam geboren worden… Und auch das eigene Ende, der Tod als Datum und Ort, entzieht sich mitten im Leben meiner Kenntnis und meinem Zugriff. Ich kann meinem Leben zwar ein Ende setzen, aber ob dann definitiv Schluss ist oder ob es weitere Formen des (geistigen) Seins meiner selbst gibt, ist völlig offen, im Sinne des exakten Wissens.
In der Akzeptanz meines Geworfenseins in dieses konkrete Leben und in der Annahme meines unbekannten Todes und völlig unbeweisbaren „Lebens oder Nichtlebens“ nach dem Ende, liegt die größte philosophische Herausforderung. Aber sie ist keine Spielerei, keine überflüssige Frage, kein Luxus. Sondern „immer schon“ nehmen wir bewusst, meistens aber unbewusst auf diese Frage Stellung. Naturwissenschaften haben ganz andere Themen, sie haben zu den genannten Fragen als Naturwissenschaften nichts zu sagen. Religiöse Menschen als religiöse Menschen belehren ja auch nicht Physiker in ihrer Forschung mit der Bibel oder dem Koran in der Hand. Sie sollten es jedenfalls nicht tun! Und dafür sollten sich religiöse Menschen einsetzen.

Diese religiöse Stellungnahme bezieht sich auf das vorgestellte Ganzsein meines Lebens, also auf die Momente von Geburt und Tod, damit beziehe ich mich auf zwei Wirklichkeiten, die ihrerseits im Dunkeln liegen: Warum wurde ich hier geboren, was war vorher, bin ich eine Schöpfung, nur ein „Geworfenes“ und am Ende.
Also ich kann mein eigenes Dasein als gedachte Ganzheit (zwischen Geburt und Tod) gar nicht in den Griff klärender und wissenschaftlich beweisbarer Begriffe bringen. Das heißt: Ich bin kein fassbares Ganzes, ich bin insofern mir selbst nicht und niemals völlig durchschaut.
Ich bin auch nicht als Geworfener völlig autonom. Ich bin innerhalb der Grenzen meiner eigenen unbekannten Grenzen also nur begrenzt autonom. Jeglicher Überschwang im Autonomie Stolz ist also problematisch. Das schließt ja nicht aus, alle Energie einzusetzen für die Förderung der (nun einmal begrenzten) Autonomie.

Das mir selbst wesentlich unbekannte eigene Dasein (in der oben beschriebenen Weise) führt zur religiösen oder nicht religiösen Antwort als Entscheidung: Ich kann überzeugt sein: Mein mir selbst unbekanntes Dasein ist von einem „Grund“ getragen, also ich bewege ich mich in einer allen Menschen wohlwollenden Sphäre, die ich auch im Leben als wohltuend, inspirierend, Sinn stiftend, heilsam erlebe, als göttlichen Funken, wie die Mystiker sagen. Oder ich bin überzeugt: Nein, da ist nichts weiter. Ich freue mich meines Lebens jetzt. Das ist alles. Diese natürlich respektable Haltung kann man Atheismus nennen.
Wenn es einen Dialog gibt zwischen Glaubenden und Nichtreligiösen, dann könnte nicht das besserwisserische Argument im Mittelpunkt eines ruhigen Dialogs stehen, sondern der Austausch: Wie bist du zu deiner Überzeugung gekommen? Welches orientierende Licht bietet dir deine Überzeugung? Ist diese Überzeugung eine Kraft, in der Gesellschaft mit anderen für eine gerechtere Gesellschaft zu handeln? Ist aus dieser Haltung eine Kritik möglich an den vielen neuen Göttern und Götzen, die uns von den ökonomisch und politisch Herschenden aufgedrückt werden? Es geht also im Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden um die Weitung und Klärung des Humanum. Und um die ständige Kritik und Überwindung der Götter und Götzen.

Also noch mal zusammengefasst:
Glaube wie Atheismus sind als frei gewählte Überzeugungen eben Glaubenshaltungen, die also immer Entscheidung sind. Wenn sich beide, also Glaubende und Atheisten, auf einer Ebene der Existenz begegnen, haben sie die Basis gemeinsam, das Ausgesetztsein gegenüber dem Umgreifenden.

Copyright: Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon.

Papst Franziskus zeigt einige Knochen, die Reliquien, des heiligen Petrus.

Die angeblichen Knochen des Heiligen Petrus (Reliquien) können nun in Rom verehrt werden
Was Papst Franziskus so alles vorhat
von Christian Modehn

Zum ersten Mal in der Geschichte der katholischen Kirche werden die Überbleibsel, die Knochen oder die “Gebeine”, des heiligen Petrus öffentlich ausgestellt, am Sonntag, dem 24. 11. 2013, ist es soweit: So hat es Papst Franziskus angeordnet. Dabei wird die Frage wieder aktuell: Sind die Knochen wirklich echt? Kann das jemand entscheiden? Oder ist die Knochenverehrung überhaupt viel wichtiger als die “Authentizität” er Gebeine?
Petrus, der Fischer, einer der Zwölf Apostel, (Ultra – Kurzbiographie: Analphabet, verheiratet) soll der erste Pontifex Maximus gewesen sein. Also ein Vorgänger der Päpste und der einst oft korrupten Kirchenfürsten (Medici und Co.), also der Herren der Kirche, die heute im Vatikan mit ihrem Hof (Curie!) residieren. Und er soll in Rom gestorben sein als Märtyrer, Genaus weiß man nicht…
Nun gab es 1942 bei Bauarbeiten in den sogenannten Heiligen Grotten einen Fund, den man zuerst für Hundeknochen hielt, aber in einem Karton dann doch aufbewahrte. Dann wurden diese staubigen Reste einem sehr alten Herrn zugeschrieben, aus der Zeit um das Jahr 60, meinte man später. In diesen Jahren, Genaues weiß man nicht, soll sich der Fischer Petrus, nun Papst, in Rom aufgehalten haben. Angeblich soll es sogar Übereinstimmungen geben im Gewebe dieser Knochenreste mit einer schon vorhandenen Reliquie des ersten Papstes, die in der Kirche San Giovanni im Lateran bereits verehet wird.
Nun also sollen die Knochen aus dem Schuhkarten von 1942 der katholischen Öffentlichkeit zur Verehrung und Erbauung vorgeführt werden. Das hat Papst Franziskus beschlossen, so berichtet die Presse, etwa der Spiegel, am 22.11. 2013. Mit dieser Knochenpräsentation soll auch das “Jahr des Glaubens” abgeschlossen werden (und fromme, zahlungskräftige Pilger in die Heilige Stadt gelockt werden). Bei der Gelegenheit, nur nebenbei, fragt man sich, wie progressiv im theologischen Denken der angeblich so progressive Papst Franziskus wirklich ist. Offenbar muss er mit solchen Maßnahmen der Knochenverehrung hefige reaktionär – fromme und abergläubische Kreise bedienen und beruhigen?
Wir haben schon mehrfach als religionskritischer Salon auf den Reliquienkult hingewiesen. Aus aktuellem Anlaß bieten wir noch einmal die Lektüre eines Beitrags an zur kritischen Erbauung und zur Einstimmung auf die Frage: Was hat die römische Kirche bis heute tatsächlich von der Reformation gelernt? Luther war bekanntlich, theologisch wohl sehr zu recht, gegen die Verehrung von Knochen und alten Kleidern und Röcken. Das wäre ein hübsches Thema im Umfeld von 2017.Wird man so viel Mut haben, das Thema aufzugreifen, vielleicht passenderweise gleich mit einer Diskussion über den immer noch praktizierten Ablass…

Schon vor kurzem auf die Verehrung heiliger Kleider hingewiesen:
Anläßlich der Wallfahrten zum sogen. Heiligen Rock in Trier baten einige Leser um einen eher kulturellen – religionsgeschichtlichen Zugang zum Thema Reliquien.

Wir weisen vorweg auf eine heute wenig beachtete Entwicklung rund um den Kult des “Heiligen Rock” hin: Im Jahr 1844 gab es eine gr0ße Wallfahrt zum “Heiligen Rock” nach Trier mit einer halben Million Pilger. Gegen die dort offenkundige  Veräußerlichung des Glaubens protestierte Johannes Ronge, ein ursprünglich römisch – katholischer Priester, der ein Jahr zuvor wegen seiner Kirchenkritik suspendiert wurde. Ronge kritisierte 1844 den Kult um dieses Stück Stoff als “Götzenfest”, was ihm vierlerlei Anfeindungen und Verfolgungen einbrachte. Ronge stand dann lange Jahre an der Spitze der “Deutsch – katholischen Kirche”, die viele tausend Mitglieder zählte, sozial sehr aktiv war, dogmatisch aber freisinnig blieb.
Tomas Halik, der berühmte Prager katholische Theologe, hat übrigens in Trier einen denkwürdigen Vortrag zum Thema Kleiderverehrung gehalten….

Wir bieten zum Nachlesen – in der Form einer für Hörfunkzwecke üblichen Gestalt – den Beitrag, der im Kulturradio des RBB gesendet wurde. Der Beitrag bietet u.a. O TÖNE des Spezialisten Prof. Arnold Angenendt.

GOTT UND DIE WELT, Sendedatum:         21.11.2004

Etwas, das bleibt – alte und neue Reliquien

Eine Sendung von Christian Modehn

 

1. SPR.: Berichterstatter

2.  Zitator und Übersetzer

26 O TON Zuspielungen, u.a. von Prof. Arnold Angenendt, Historiker

Mittelalterliche Musik

O TON,

Ich denke es gibt sehr viele Leute, die eine Locke von ihrem Kind in der Brieftasche mit sich herumtragen oder den ersten Milchzahn und dergleichen.

O TON,

In der Vitrine befinden sich einige Gegenstände, derer Theresa sich bedient hat.  ein Tonbecher, Holzlöffel, ein Wasserkrug, ein Brotkorb….

O TON

In den Gebeinen steckt die Kraft der von Gott geheiligten Seele im Himmel. Wenn man die Gebeine anrührt, dann holt man die Kraft in sich hinein.

Musik 

Etwas, das bleibt  – alte und neue Reliquien

Eine Sendung von Christian Modehn

O TON:  0 45″.

“Es war ja schließlich unser einziger Sohn, der verstorben ist. Und wir haben ihn bis zum Schluss gepflegt. Ich habe zuhause in der Wohnung eine Gedenkecke aufgebaut. Und zwar er war Hobbybastler, Modell-Bahner. Und ich habe einige Modellsachen, die er selber gebaut hat, dort hin gestellt. Dann habe ich von ihm in dieser Ecke Bilder stehen; ich habe seine gesamten CDs. Und  dann habe ich einige Sachen zuhause, die er bei der Bundeswehr getragen hat. Er war bei der Luftwaffe und noch von German Airforce. Also, das sind Sachen, die ich zuhause habe.

1. SPR.:

Für Friedrich Pagel ist Erinnerung mehr als ein stilles Ge-Denken. Er will von seinem verstorbenen Sohn etwas sehen, er möchte etwas von ihm greifen, spüren, riechen. Nur so kann der Verstorbene lebendig bleiben. Der kleine Hausaltar ist der Mittelpunkt der Wohnung. Wenn Friedrich Pagel auf die Fotos schaut und die Kleidungsstücke berührt, dann weiß er: Peter, sein Sohn, ist ganz nahe:

O TON, 0 50″.

Und ich muss ganz ehrlich gestehen: Meine Frau ist sehr schwer krank. Ich hab ein schweres Los zu Haus aufgrund der Erkrankung meiner Frau. Und manches Mal stehe ich vor dem Bild von unserem Sohn, und rede mit ihm. Und dann unterhalten wir beide uns. Ich habe folgendes gehabt: Aufgrund der Erkrankung von meiner Frau  ging es mir auch nicht so gut, also da hatte ich innerlich das Gefühl gehabt: Jetzt machst du Schluss. Ich wollte Schluss machen. Und in dem Moment, wo ich diesen Entschluss hatte: Da habe ich in Gedanken meinen Sohn vor mir gesehen, und da hat er  gesagt: Mach es nicht, die Mutter braucht dich.

1.SPR.:
Lebende sind mit den Toten verbunden: Eine Weisheit, die schon den Menschen in sehr alter Zeit, etwa in Ägypten, vertraut war. Für die Mehrheit der Menschen, gleich welcher Religion und Weltanschauung, ist eines klar:   Der Geist strebt über das Irdische hinaus; er reicht ins Unendliche hinein, in den Bereich, wo die Toten gut aufgehoben sind. Es muss also nicht Ausdruck magischen Denkens sein, wenn sich auch heute Menschen mit “ihren” Verstorbenen innig verbunden fühlen. Nicht nur auf dem Friedhof. Sie wollen zum Beispiel Urnengefäße mit der Asche ihrer Lieben bei sich zu Hause bewahren und pflegen. Zahlreiche Bestatter werden immer wieder mit diesem Wunsch konfrontiert. Wolfgang Litzenroth ist Geschäftsführer im Großhamburger Bestattungsinstitut GBI:

O TON, 0 38″.

Grundsätzlich ist das aus meiner persönlichen Sicht etwas, was ich befürworte.  Wenn jemand im Umgang in dieser Form mit den Verstorbenen, mit der Asche, einen persönlichen Weg glaubt zu finden, Trauer zu bewältigen, finde ich es richtig. Ich stelle mir den Fall, wo die Kinder beispielsweise durch berufliche Mobilität über ganz Deutschland oder wohin auch immer verstreut sind, hätte man theoretisch die Chance, die Urne mitzunehmen. Was man nicht unbedingt machen muss, aber die Möglichkeit wäre gegeben. Wer glaubt auf diesem Wege individuell so umzugehen zu wollen, der soll es tun dürfen.

1. SPR.:
Auch wenn es bislang nicht erlaubt ist, eine Urne mit der Asche eines Angehörigen zuhause aufzustellen:  Die Sehnsucht nach irgendeiner  körperlichen Nähe zu Verstorbenen, und sei es nur zu einem Kleiderfetzen, ist ungebrochen.Und: immer mehr Menschen wollen heute auch von den Lebenden, den heimlichen Geliebten z.B., dem besonders nahestehenden Verwandten oder dem angebeteten Star  persönliche Gegenstände bei sich haben und besitzen. Ein neues Thema auch für Kulturwissenschaftler, betont Jörg Richter, Museums-Kurator in Halberstadt:

O TON, 0 45″.

Das Versteigern von Kleidungsstücken berühmter Sänger, von Rockgruppen. Das Werfen von T-Shirts von Fußballstars in die Menge, das Weitergeben von Haarlocken. Ich denke es gibt sehr viele Leute, die eine Locke von ihrem Kind in der Brieftasche mit sich herumtragen oder den ersten Milchzahn und dergleichen. Das ist wieder so ein Punkt, wo die Erinnerung allein nicht reicht. Ich möchte ein Dinge haben von einem Idol. Und mir genügt nicht, von diesem Idol zu wissen oder von ihm zu lesen. Sondern ich möchte das Idol wirklich vertreten haben durch eine Sache.

1. SPR.:

So werde ich selbst durch die materielle Gegenwart des anderen bestärkt und erbaut, könnte man fortfahren…Und vor allem: Ich werte mich selbst auf, wenn ich wertvolle Gegenstände meines angebeteten Idols in der Wohnung habe. Und ich kann die Haare, die Milchzähne meiner Kinder wie  schützende Amulette erleben. Wer rechtzeitig zu sammeln beginnt und die Überreste von Berühmtheiten erwirbt, macht zudem eine gute Kapitalanlage: Der Theologe und Historiker Professor Arnold Angenendt erinnert sich an eine Begegnung mit dem Künstler Joseph Beuys:

O TON, 0 21″.

Ich war mal in Kassel bei der Dokumenta. Und da hat Beuys einen Box-Kampf gemacht, natürlich nur zur Show, und anschliessend wurden die Box Handhandschuhe verkauft. Die lagen bei 50 Mark. Hätte ich da geschrieen: “Hier!” – Ich hätte heute eine Reliquie von unendlichem Wert.

1. SPR.:
Die bekannte Photo-Galerie “Camera-Work”  in Berlin-Charlottenburg  präsentierte kürzlich eine Ausstellung über John F.Kennedy und Jackie . Die Besucher wurden schon draußen, im Hofdurchgang in die Welt des immer noch hoch verehrten amerikanischen Präsidenten eingestimmt:

O TON, ATMO,

1. SPR.:
Die vielen Schwarz-Weiss-Fotos von der Kindheit bis zur Ermordung John F. Kennedys fanden eine leibliche, eine materielle Ergänzung: Denn zu bewundern waren auch ein alter Lederkoffer, an dem die Spuren der vielen Reisen noch deutlich sichtbar sind sowie Briefe, Postkarten, Unterschriften. Auch ein schwarzer Hut aus persischem Lammfell, ein Lieblingsstück von Jackie Kennedy , stand in einer Vitrine – Reliquien einer Großmacht-Dynastie. Weil der Begriff “Reliquien” auf religiöse Vorbilder, auf Heilige, festgelegt ist, sprechen Kulturwissenschaftler   und Auktionshäuser eher von “Memorabilien”, von weltlichen Erinnerungsstücken. Loredana Nemes ist Mitarbeiterin bei “Camera-Work”:

O TON, 0 54″.

All diese Fülle von Fotografien wird ergänzt von den Memorabilien, den persönlichen Objekten von John F Kennedy und Jackie, die Einblick in private Bereiche geben, wie die Kleidung von Jackie, die Mode. Dann aber auch Politisches vom Wahlkampf, die Aktentasche, die sehr viel für John F Kennedy bedeutet hat, die er bis zum letzten Tag dabei hatte. Es aktiviert alle Sinne: Man kann sie riechen, das Alter ist zu sehen und zu riechen. Man kann sie anfassen. Es sind moderne Reliquien, denn sie weisen auf Augenblicke hin, die vergangen sind, deren Form aber aktiviert werden kann.

1. SPR.:
Aber die Faszination hat ihren Preis: Grosse Auktionshäuser wie Sotheby’s haben längst Memorabilien im Programm,  etwa die Gitarre von Jimmy Hendrix. Auch das Leichtuch von Eva bzw. “Evita”  Peron fand einen potenten Käufer: Für 130.000 Euro hängt die letzte Hülle der  argentinischen Staatsfrau  jetzt in der Wohnstube irgendeines deutschen Millionärs!  Bescheiden hatte das Geschäft begonnen – im Jahr 1988 war  der Frisier-Mantel von Kaiserin Sissi noch für ganze 5000 Mark zu haben.  Für Stücke von John F Kennedy werden hingegen astronomische Summen geboten.

Die Leidenschaft des Sammelns ist offenbar wie jede andere Leidenschaft von der Vernunft nicht zu zügeln. Denn niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass das ersteigerte Objekt, die Memorabilie, wirklich von dem verehrten Star selbst stammt. Im Falle Kennedys sind die Käufer vor allem auf die Zuverlässigkeit der Privatsekretärin des ermordeten Präsidenten verwiesen: Auf Evelyn Lincoln. Lorena Nemes:

O TON, 0 27″.

Gewiss können auch alle diese Papiere, die Zettel zum Beispiel auf denen J.F. Kennedy seine Unterschrift übt, um beste Weihnachtsgrüsse zu übersenden. All das kann gefälscht sein. ( Da war) In Evenlyn Lincolns Besitz haben sich viele dieser Objekte befunden, und man muss denke an einer Stelle anfangen zu glauben, sonst ist es schwer, in diese Bereiche einzutauchen.

 

O TON, Lied aus Frühmittelalter zu Ehren der Märytrer.

1. SPR.:
Auf den Glauben kommt es an… Schon im Mittelalter, als der Handel mit Reliquien florierte, beruhigten die französischen Bischöfe ihre besorgten Gläubigen:

Zitator:
Selbst wenn die verehrten Reliquien, etwa der Knochen des Heiligen Martin oder der Stofffetzen aus der Kutte des Heiligen Franziskus, nicht echt sein sollten: Ihr Gläubigen könnt auch diese mutmasslich unechten Reliquien verehren. Denn die Verehrung der Heiligen fördert allemal eure Frömmigkeit!

Lied aus Frühmittelalter zu Ehren der Märytrer.

1. SPR.:
Mit  Gesängen wie diesem forderten mittelalterliche Mönche zur Verehrung der Märtyrer auf. Die Geschichte der Verehrung und der Suche nach christlichen Reliquien beginnt allerdings noch viel früher:   Im Jahre 167 begannen die ersten Christen, Reste und Überbleibsel des hochverehrten Heiligen Polykarp zu sammeln;  sie wurden wie “Edelsteine verehrt”, heisst es in einem Brief aus dieser Zeit. Seit dem 2. Jahrhundert gibt es also den christlichen Reliquienkult, er hat im Hochmittelalter seine Blüte erlebt; bis heute prägt er die Frömmigkeit der katholischen Kirche. Die Knochen der Heiligen, vor allem der Märtyrer, zu berühren – das war für das ewige Seelenheil genauso wichtig wie die regelmässige Teilnahme an den Sakramenten. Der Theologe und Historiker Professor Arnold Angenendt aus Münster ist Deutschlands “Reliquien-Spezialist”:

O TON, 0 23″

In den Gebeinen steckt die Kraft der von Gott geheiligten Seele im Himmel. Wenn man die Gebeine anrührt, dann holt man die Kraft in sich hinein. Das ist das theologische Konstrukt. Das ist gar nicht ur- christlich, das irgendwann da, das ist menschlich sehr gut verständlich. Aber eine Sonderform dessen, was allgemein unter Menschen mit Reliquien ist.

1. SPR.:
Die Christen haben den Kult der Reliquien weltweit gefördert und einen florierenden Handel mit den heiligen Überresten entwickelt: Bis zum 10. Jahrhundert wurde nur der unversehrte Leichnam verehrt, danach begann  die konsequente Zerstückelung der toten Gebeine. Jede Kirche, die etwas auf sich hielt, wollte im Besitz einer Reliquie sein. Mangels Masse an heiligen Skeletten blieb also nur die Zerlegung.  Von Bischof Bernward von Hildesheim wird berichtet, wie er im Jahr 996  bei einem Besuch in Rom einfach den Sarkophag des Heiligen Timotheus öffnete und in aller Eile einen Arm des Heiligen heraus brach. Er folgte damit allerdings nur der Tradition anderer Bischöfe, die vor allem in den römischen Katakomben Leichenteile plünderten und raubten. Seit dem 11. Jahrhundert werden mit grosser Selbstverständlichkeit die Häupter der Heiligen abgetrennt, Beine abgehackt oder bloss  Füsse und Hände: Der angesehene Theologe Thomas von Aquin wollte unbedingt einige Zähne der geistvollen Nonne Liutgard von Tongern besitzen: 16 Zähne wurden nach deren Tod herausgebrochen und dem Theologen zur Verehrung übergeben. Später wurde Liutgard heilig gesprochen.

Mittelalterliche geistliche Musik, darüber

Zitator:

Selbst in noch kleinen körperlichen Bruchstücken ist der Heilige GANZ anwesend.

1. SPR.:

So rechtfertigten die Bischöfe ihre Praxis der Leichenzerstückelung:  Schwierig wurde es nur, wenn jemand  wagte, in diesem Zusammenhang an ein Grund-Dogma, nämlich die leibliche Auferstehung eines jeden Christen, zu erinnern: Dennn wie finden die vielen in alle Welt verteilten Körperteile im Moment der Auferstehung zueinander? Eine Frage, die leider unbeantwortet blieb. Aber das störte die Reliquien-Euphorie keineswegs im Zuge der  Kreuzzüge ergoß sich ein wahrer Strom von Reliquien aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa. Seit dem 16. Jahrhundert kursierte landauf, landab der Scherz:

Zitator:
Es gibt so viele Splitter vom Kreuze Christi, dass man damit ein grosses Segelboot bauen könnte.

1. SPR.:
Mühsam war es, Reliquien von Maria, der Mutter Jesu, zu finden: Nach dem Glauben der Katholiken wurde sie ja leiblich in den Himmel aufgenommen. Der katholische Theologe und Historiker Arnold Angenendt schreibt:

Zitator:
Weil es also keine eigentlichen Körper-Reliquien gab, musste man sich mit Haaren, Zähnen und Nägeln Mariens begnügen. Sogar angebliche Muttermilch Mariens wurde verehrt. Gleich in vier verschiedenen Kirchen Europass wurde ihr Hemd und ihr Gürtel den Gläubigen dargeboten.
Die Reliquien bedeutender Heiliger galten als das größte Schmuckstück einer Stadt: Wallfahrten wurden organisiert, Herbergen errichtet,  und das Geschäft mit frommen Andenken, den Devotionalien,  florierte. Auch  Halberstadt – im heute gar nicht mehr so frommen Land Sachsen-Anhalt – profitierte von den Besuchen der Reliquien-Freunde. Im dortigen Domschatz gibt es zahlreiche heilige Überbleibsel, die in “Reliquiaren”, in eigens gestalteten Kästen, aufbewahrt werden: Jörg Richter ist dort Kustos:

O TON, 0 57″.

Diese Reliquiare wurden spätestens seit dem 15. Jahrhundert in einem grossen Schrank auf dem Hauptaltar des Doms aufbewahrt. Dieser Schrank war die längste Zeit des Jahres geschlossen. An wenigen hohen Feiertagen im Jahr wurde dieser Schrank dann geöffnet. Die Reliquiare heraus genommen, dem Volk gezeigt. Teilweise wurden die Reliquiare auch durch die Stadt getragen noch zu anderen markanten Punkten oder in andere Kirchen hinein. Das ist also wirklich noch bis in die Neuzeit gepflegt worden, diese Praxis. Weil es neben den katholischen Domherren immer weiter einen katholischen Bevölkerungsanteil hier in Halberstadt gegeben hat.

ATMO in LISIEUX

1. SPR.:
Nach Turin zieht es die frommen Toursiten bis heute wegen des “Leichtuches Jesu”, wegen des “Heiligen Rocks” pilgern sie nach  Trier. Auch nach Lisieux in der Normandie strömen alljährlich 800.000 Wallfahrer. Sie verehren die Heilige Thérèse, die als junge Ordensfrau hier im Jahre 1897 starb und schon 1925 heiliggesprochen wurde. Sie gilt als die Mystikerin für das 20. Jahrhundert. Auch auf Deutsch werden den Pilgern die Reliquien in den Vitrinen erläutert:

O TON, 0 22″.

Am 10. Januar 1889,  vor der Einkleidung mit dem Habit des Karmels, trug sie ein weisses Kleid und diese Schuhe. Die Stola des Priesters ist aus dem Stoff ihres Kleides gefertigt. Nach dem Brauch des Karmels wurden Theresa die Haare geschnitten, und,  wie es manches mal geschah, aufbewahrt.

1. SPR.:

Reliquien gibt es in unterschiedlichen Bedeutungs-Graden: Am wertvollsten sind die Körper-Reliquien, Knochen zumeist. Gegenstände, die ein Heiliger irgendwann einmal anfasste, gelten als die eher zweitklassigen “Berührungsreliquien”:

O TON,  033″. 

Um Bilder zu malen, hat Theresa die Palette und den Malkasten benutzt, die auf dem Tisch stehen. Das kleine Gemälde in der Vitrine ist von Theresas gemalt worden, die sich von einem Bild inspirieren liess, das sie in ihrer Zelle hatte.

O TON, Musik zu Therese von Lisieux

1. SPR.:
Ein Lied, das zu Ehren der heiligen Nonne Thérèse von Lisieux weltweit verbreitet wird. Teile ihres toten Körpers werden seit 50 Jahren immer wieder auf Tournee geschickt: Von Russland über Indien, von Brasilien bis nach Deutschland wurden Reliquien der Nonne transportiert, damit die Frommen direkten Zugang zur Heiligen haben. Direktor des Pilgerzentrums in Lisieux ist Prälat Bernard Lagoutte

O TON, 0 39″

Zitator.:

Die Reliquien von Theresa gehen in die ganze Welt. Und das ist eine einmalige Erfahrung. Gerade heute landen die Reliquien auf dem Pariser Flughafen Roissy; sie kommen gerade aus Kolumbien zurück. In Kolumbien ist Theresa in die eher friedlichen Regionen gegangen, aber auch in die gefährlichen Gebiete. Wir haben Berichte, dass auch Guerilleros zu den Reliquien Theresas gekommen sind, um sie zu verehren. Also das ist schon erstaunlich: Eine bescheidene fromme Frau, im Alter von 24 Jahren gestorben. kann noch immer eine Inspiration sein zur Liebe, zur Solidarität und zur Friedensstiftung.

1. SPR.:
In Afrika haben selbst katholische Bischöfe ihre Probleme mit den herum-reisenden Reliquien. Ihr Argument:  die Knochenreste könnten bei den neugetauften Christen wieder die alten, die heidnischen und magischen Vorstellungen wachrufen. Prälat Lagoutte aus Lisieux  wurde  kürzlich in Westafrika damit konfrontiert – doch er berichtet, er habe dort andere Erfahrungen gemacht:

O TON, 0 42″.

Die Leute sind gekommen, um die Reliquien zu berühren. Sehr schnell verliert man dabei eine magische Mentalität. Es ist im Letzten das Herz von Theresa, das berührt: Es ist nicht eine physische Masse, nicht der Knochen rührt uns an. In Afrika ist das allerdingsso. In diesem Jahr waren die Reliquien in Benin. In einem Dorf kamen die Leute, um die Reliquien zu berühren: Der Bischof hatte seine Bedenken. Tatsächlich ist es aber anders: Nicht die Knochen interessieren, sondern Theresa spricht in ihrer Seele zu uns.

O TON, frühmittelalterl. Gesang

1. SPR.:
Angesichts des Reliquienkultes ist es gar keine Frage: Das Mittelalter lebt in der Katholischen Kirche ungebrochen fort. Erst vor wenigen Tagen hat z.B. Papst Johannes Paul II. voller Stolz verkündet, dass er in seiner Privatkapelle die Urne mit den sterblichen Überresten des Heiligen Augustinus aufstellen will: Die Knochenreste des grossen Kirchenlehrers aus dem 4. Jahrhundert werden mit einer eigens gecharterten Militärmaschine vom alten Standort Pavia direkt in die Heilige Stadt geflogen. Wer Reliquien sucht, muss allerdings weder nach Rom,  noch nach Trier oder zum Kölner Dom reisen: Sie sind unter jedem Altar in jedem grösseren katholischen Gotteshaus zu finden. Das habe seinen guten Grund, erläutert Prälat Ewald Nacke von der Päpstlichen Nuntiatur in Berlin:

O TON, 0 40″.

In der Apokalypse gibt es eine Stelle, an der es heisst: dass die Seelen der Märtyrer eintreten für die Kirche, für die Gemeinde. Unter dem Altar, wo jetzt das Opfer Christi gefeiert wird, da sind sie gegenwärtig. Und von da aus diese Verbindung. Das ist nicht zwingend, aber so eine uralte Tradition, von Anfang praktisch. Und das wird auch hier dann fortgesetzt. Das schließt nicht aus, dass auch an einer anderen Stelle die Eucharistie gefeiert werden kann. Nur da, wo ein fester Altar da ist, sind auch Reliquien von Heiligen, besonders von Märtyrern.

1. SPR.:
In der privaten Hauskapelle der Nuntiatur in Berlin-Kreuzberg gibt es neben zwei Überbleibseln römischer Märtyrer auch eine ganz besonders wertvolle Reliquie:

O TON, 0 19″.

Die dritte Reliquie, die wir hier haben, ist eine Reliquie des Heiligen Bonitatius, des ersten Apostels Deutschlands, vor 1250 Jahren war sein Todesjahr. Und er soll deutlich machen, dass wir für dieses Land hier arbeiten und tätig sind.

1. SPR.:
Die Echtheit einer Reliquie wurde früher durch die sogenannte Feuerprobe erwiesen: Authentische Reliquien widersetzten sich der Feuersbrunst und gingen unversehrt aus den Flammen hervor. Bei den Knochenresten des Heiligen Bonifatius ist diese Feuerprobe allerdings überflüssig:

O TON, 0 17″.

Die Authentizität steht nicht in Frage. Der Leichnam des Heiligen Bonifatius wurde nach seiner Ermordung zurückgebracht in das Kloster Fulda, das er sich als Ort seines Begräbnisses gewünscht hat. Und die Authentizität steht nicht Frage.

1. SPR.:
Weltweit werden ständig neue katholische Kirchen gebaut, schliesslich sollen die mehr als eine Milliarde Katholiken geistlich versorgt werden. Werden die  Reliquien also nicht irgendwann knapp? Weit gefehlt, erwidert Prälat Ewald Nacke:

O TON, 0 17″.

Es gibt ja immer auch Heilige, die neu heilig gesprochen werden. Und auch von ihnen gibt es ja Reliquien. Es gibt etwa Reliquien von Mutter Theresa, zum Beispiel Tropfen Blut, die auf einem Kleidungsstück dann erhalten sind.

O TON, aktuelle Kirchenmusik aus Lateinamerika

1. SPR.:

Es gibt heute auch einen politisch gefärbten Reliquienkult: Er steht im Dienst der Befreiung der Armen! Wenn Katholiken in El Salvador ihre Kirchenlieder singen, denken sie an Erzbischof Oscar Roméro oder den Jesuitenpater Ignacio Ellacuría: Sie wurden von den Militärs erschossen, weil sie sich für die liberación, die politische Befreiung, einsetzten. Von diesen Vorbildern werden auch Reliquien bewahrt und verehrt, betont der Theologe Ludger Weckel aus Münster. Er hat mehrmals El Salvador besucht:

O TON,  1 12″.

Also das offensichtlichste Phänomen ist, dass es viele Orte gibt, die nach diesen  Märtyrern benannt werden, nach diesen aktuellen Märtyrern der letzten 20 30 Jahre. Es gibt  dann eine weitere Form der jährlichen Erinnerung, es gibt die Jahrestage. Der Romero Tag ist nach wie vor ein Erinnerungstag und ein Tag des Protestes gegen die Ungerechtigkeit. Ich denke, das ist so die Form der offensichtlichen Erinnerung. Die Bücher und die Handschriften werden dann an speziellen Orten aufbewahrt, zum Beispiel  gibt es ein kleines Museum in der Jesuiten Universität in San Salvador, wo Gegenstände der ermordeten Jesuiten aufbewahrt werden, auch Gegenstände Romeros. Es gibt kaum ein katholisches Haus, und die Mehrheit ist immer noch katholisch, die Hütten mögen noch so klein sei, es gibt überall ein Bild von Romero oder einen Spruch, einen Satz von Romero.

1. SPR.:

Wahrscheinlich ist die Verehrung stofflicher Überreste so tief in die Seelen vieler Menschen eingeschrieben, dass der Kult der Reliquien noch lange fortbestehen wird. Für viele protestantisch geprägte Theologen aber ist klar: Die Verehrung von heiligen Knochen ist Ausdruck einer veräusserlichten Form des Glaubens: Nicht die heiligen Gebeine sollen verehrt werden, sondern einzig und allein Gott, der Unendliche und Unsichtbare. In einer eher modernen katholischen Theologie zeichnet sich heute hingegen ein typisches und sanftes “Ja-Aber”  den Reliquienkulten gegenüber ab. Professor Arnold Angenendt:

O TON, 0 40″

Die grosse Versuchung etwa aller Sachen-Orientierten Religionen besteht in Folgendem: Ich nehme die Sache und bin geheilt.. Ich berühre den Heiligen Knochen, und brauche  anschliessend nichts mehr zu tun. Ich hab das Himmelreich sicher. Das ist das Problem, dagegen hat sich die Reformation immens und mit Recht gewendet. Die Aufklärer haben das dann lächerlich gemacht, die Naturwissenschaftler haben gesagt: “Da steckt doch keine Seel drin, keine heilige Kraft, tot ist tot.” Das löst das Problem ja auch nicht.  Solange eine Reliquie dann dazu führt, dass man die Erinnerung an eine Person wach hält, dann wird einem diese Person noch mal wieder mehr deutlich. Nur so ist das eine gute Reliquie.

copyright: christian modehn