Konfessionen, Kirchen, Religionen relativieren – zugunsten einer universalen Vernunftreligion.

Warum Immanuel Kant Frieden stiften könnte … und zu einem Vorschlag des Ägyptologen Jan Assmann.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Hinweis erinnert an Erkenntnisse der Philosophie zur Überwindung dogmatisch – fixierter Theologien bzw. Ideologien in Kirchen und Religionen. Philosophie muss solche Erkenntnisse formulieren, verbreiten und zur Diskussion stellen, selbst wenn die Aussichten auf Erfolg, d.h. praktisch-politischen Respekt,  minimal sind. Aber: Es gibt auch Verpflichtungen vernünftigen Denkens. Daran ist festzuhalten, selbst wenn allgemein menschliche, vernünftige Erkenntnisse von (sich religiös nennenden) Terroristen nicht beachtet werden, wie etwa von der Hamas in ihrem Krieg gegen jüdische Menschen in Israel wie auch gegen muslimischen Menschen („Nicht-Hamas-Freunde“) in Gaza.

ERSTER TEIL: Allgemeine Grundsätze

1.
Die gegenwärtigen (und früheren) Kriege sind auch von Religionen bzw. Theologien motiviert und unterstützt, und mit denen haben sich oft Ideologien des Nationalismus zu einer Einheit verbunden. Es ist immer eine fundamentalistische Form religiösen Glaubens, die zu Aggression, Krieg und Auslöschung des „anderen“ (des Feindes) führt. Diese Aggressionen gegen „andere“ haben auch ihre Wurzeln in den Mythen und Erzählungen („heiligen Schriften“) der monotheistischen Religionen. Das heißt: Religionen und Konfessionen, Kirchen, die behaupten, DIE Wahrheit, also die absolute, für alle gültige Wahrheit zu besitzen, müssen schon aufgrund dieser Ideologie den anderen, den „Nichtglaubenden“ und „Anders-Glaubenden“ aggressiv gegenüber treten und sogar zur Konversion auffordern, wenn nicht zwingen, falls die „anderen“ überleben wollen. Die Missionsgeschichte etwa der Christen und Muslime bietet dafür zahllose Beispiele.

2.
Religiöser Glaube kann zu militantem Wahn, werden: Diese Ideologie (oft Theologie genannt) bezieht sich auf Worte aus den Büchern der „göttlichen Offenbarung“: Diese „Offenbarung“ – Interpretation wird aus Gründen politischer Macht ins Reale, Politische, hineingezogen, also aktuell – wortwörtlich, d.h. fundamentalistisch, verstanden. Dabei sind es Mythen, literarische Erzählungen aus uralten Zeiten, die als „Offenbarungen“ Gottes behauptet werden und nun im 21. Jahrhundert noch wegweisend sein sollen. Und dabei werden die vernünftigen Erkenntnisse der universal geltenden Menschenrechte nicht nur ignoriert, sondern verurteilt und bekämpft.

3.
In unserer pluralistischen Welt kann das Kriterium fürs Verstehen religiöser Traditionen niemals aus der dogmatischen Lehre einer Religionen oder Kirche hergeleitet werden. Deren Horizont ist viel zu begrenzt, dogmatisch und intellektuell viel zu verschlossen, um kritische Erkenntnisse für heute zu befördern. Kriterium für ein Verstehen der Religionen, auch ihrer Mythen, ihrer Erzählungen, ihrer Dogmen und Moral-Lehren, ist darum einzig die allgemeine kritische, den universalen Menschenrechten verpflichtete Vernunft. Diese Einsicht wird aber von den Religionen und Konfessionen im eigenen Interesse verdrängt und verfolgt, aber Theologen ahnen: Nur die Anerkennung eines vernünftigen Kriteriums in der Interpretation der Religionen und ihrer „heiligen Bücher“ befreit vom traditionell etablierten, fundamentalistischen Wahn, der zu Gewalt und Krieg führt.

4.
Der katholische Theologe Hans Küng hat recht, wenn er sagte: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen“. Dies ist sein Motto und Programm des Weltethos-Projektes. (vgl.“Projekt Weltethos“, 1980). Aber die Religionen müssen, um friedlich zu werden, den Prozess der Selbstkritik durchlaufen, ehe sie wirksam zu Frieden auffordern können. Die Religionen und Kirchen müssen selbst friedlich werden und tolerant, ehe sie selbst glaubhaft und wirksam Frieden stiften können. Sonst bleibt es bei den üblichen, hundertfach bekannten Dialog-Debatten prominenter religiöser Führer und den Aufrufen zu Gebeten für den Frieden. Mit dem Friedensgebet wird – etwa von Päpsten bis heute – unterstellt: Ein persönlicher Gott im Himmel hört die Gebete der Frommen und wirkt dann als Gott je nach Belieben Wunder, die den Frieden bringen. Manche fragen sich:
Wie soll sich Gott bloß entscheiden, wenn etwa im 1. Weltkrieg deutsche Katholiken für den Sieg Deutschlands, französische Katholiken für den Sieg Frankreichs beteten. Aktuellere Beispiele für ein solches nationalistisches Gebets-Verhalten gibt es es viele.

5.
Wenn die Ideologien (Theologien) der Religionen und Konfessionen so bleiben wie sie sind, also sich fundamentalistisch äußern und entsprechende gläubige Zustimmung in der jeweiligen Bevölkerung finden, kann es keinen Frieden unter den kulturell und religiös verschiedenen Menschen geben.

6.
Die entscheidende Frage also heißt: Können heutige, sich selbst absolut setzende Religionen lernen und sich neu orientieren, indem sie auf ihre vertrauten dogmatischen Bestimmungen verzichten oder diese nach Grundsätzen der allgemeinen humanen Vernunft interpretieren?

7.
Nur eine radikale Reform der Inhalte (Theologien, Ideologien) aller Religionen kann zum Frieden führen. Und Reform heißt: Radikale Reduzierung der Dogmen, historisch-kritische Lektüre der so genannten heiligen Schiften: Sie können gar nicht „Wort“ eines in die Welt reinredenden Gottes sein, sondern sie sind bunt gemischte, vielfältige, zum Teil widersprüchliche religiöse Poesie einer bestimmten Zeit.

ZWEITER TEIL: Über Immanuel Kants Vorschläge

Kant
Kant

8.
In seiner „Religionsschrift“, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, 2. Auflage schon 1794, nach dieser Ausgabe wird, wie üblich, mit „B“ versehen, zitiert), setzt sich Immanuel Kant kritisch, mit den dogmatisch bestimmten christlichen Kirchen („Kirchenglauben“, B 253) auseinander. Er zeigt, wie diese Kirchen vom abgehoben herrschenden „despotischen“ Klerus (B 277) bestimmt sind, wie die Glaubenden in ihrer religiösen Praxis zum Aberglauben und Wunderglauben geführt werden, wie dieser Kirchenglaube insgesamt die Menschen unfrei macht („in eine Beherrschung der Mitglieder der Kirche führt“ B 251).

9.
Weil die dogmatischen, von „Statuten“ (wie Kant sagt) bestimmten Kirchen die göttliche Wirklichkeit nach außen, in die „Ereignis – Geschichte“, auch in die Mythen und Erzählungen versetzen und die göttliche Idee eben nicht im Innern der allgemeinen Vernunft suchen (B 255), kommt es zum ständigen Streit und Kampf über die richtige Interpretation all dieser äußeren, angeblich göttlichen Gegebenheiten. Jede Kirchen hält sich, so Kant, „für die ein(z)ige allgemeine Kirche“ (also die allein selig machende, CM), deswegen wird „der, welcher ihren besonderen Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehasst“ (B 155, 156). Kant spricht dann weiter von Irrgläubigen und Ketzern, die als Abweichler von den jeweiligen Kirchen bestraft und ausgesondert werden.
Kant nennt diese allgemeine kirchliche Verirrung „Religionswahn“, der im Aberglauben gründet. Dieser kirchliche Aberglaube ist völlig dem „wahren, von Gott selbst (in der Offenbarung durch die Vernunft, CM) geforderten Dienst (der Nächstenliebe) entgegen“ (B 256). Es geht Kant um die Anerkennung der Erkenntnis: „Die Erfüllung aller Menschenpflichten ALS göttlicher Gebote, ist es, was das Wesentliche aller Religionen (!) ausmacht“ (B 158). „Das Lesen der heiligen Schriften oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen“ (B 161). Dies ist das „oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (ebd.) Es kommt darauf an, beim Studium des auf Geschichte und heilige Bücher fixierten Kirchenglaubens zu entdecken, „was darin eigentliche Religion (also Vernunftreligion, CM) ist“ (B 162).
Der Vernunftglaube lebt also bereits fragmentarisch in den einzelnen Religionen, wie sollte es auch anders sein, ist Religion immer auch unvollständiger und weithin unvernünftiger Ausdruck des menschlichen Geistes bzw. der Vernunft…

10.
Nebenbei: Kant erwähnt in Fußnoten auch den „Mohammedanismus“ (B 285, Fn. 1), „Er findet in den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens…“ Für den „jüdischen Glauben“ (B 186) sieht Kant die entscheidende Mitte in dessen Fixierung auf „bloß statutarische (also äußerliche, historisch gegebene Satzungen, CM) Gesetze“ (B 186).

11.
Ein Ausweg aus dem konfessionalistischen Religionswahn (den Kant zur Zeit König Friedrich Wilhelm II. in dessen Schikanen und Zensurbestimmungen erlebte,) sieht Kant in der Förderung einer allgemeinen, alle „wohldenkenden Menschen“ betreffenden „unsichtbaren Kirche“ (B 271). Diese unsichtbare, d.h. institutionell nicht wahrnehmbare, aber geistig lebendige Kirche entwickelt aus der allgemeinen Vernunft drei in der Sicht Kants evidente Grundsätze: Den Glauben an einen göttlichen Schöpfer der Welt, die Überzeugung von der Freiheit eines jeden Menschen und die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele des Menschen. Diese allgemeine, „alle Menschen betreffende Vernunftreligion muss auf Vernunft gegründet sein“ (B 163).

12.
Das Erstaunliche ist: Kant „plädiert für eine „allgemeine Weltreligion“ (B 255). Dieser Vorschlag einer allgemeinen Menschheits- Religion entspricht der Idee der „unsichtbaren Kirche“, wie Kant sagt, also der Kirche aller „Wohlgesinnten“, die eine „wahre alleinige Religion“ leben. Diese Religion wird nicht durch äußere Offenbarung vermittelt, sie „offenbart sich im Menschen durch reine Vernunft“ (B 255). „Der reine Vernunftglaube beweist sich selbst“ (B 194), er ist also für jeden Menschen evident.

13.
Aber noch besteht, sagt Kant, der fest etablierte Kirchenglaube. Deswegen vollzieht sich der Übergang zur allgemeinen Vernunftreligion langsam (B 181), die als Vernunft aber auch einen ethischen vernünftigen Staat aufbauen will. „Die wirkliche Errichtung eines ethischen Staates auf Erden als Ziel (den Kant sogar wörtlich als göttlich qualifiziert, B 181) „ist noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.).

14.
Kant zeigt sich trotz der Repressionen in Preußen zu der Zeit in seiner Religionsschrift durchaus explizit kritisch, wenn nicht polemisch gegenüber der einzelnen dogmatisch – historisch gebundenen Religionen, Konfessionen, die ja Staatsreligionen – von Königen geleitet – damals waren. Von seinem Ziel wird er nicht müde zu sprechen: „Die universale Religion des guten Lebenswandels ist das wahre Ziel des religiösen Menschen, wenn dereinst, so die Hoffnung bzw. Utopie, der Kirchenglaube überwunden ist (vgl. B 269). Erst dann wird Frieden eintreten und die Menschen mit viel weniger Entfremdung leben können…

Dritter TEIL: Moses Mendelssohn und die Vernunftreligion

15.
Immanuel Kant kannte bereits die Publikation des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) mit dem Titel „Jerusalem. Über religiöse Macht und Judentum“. Kant schrieb einen Brief an Mendelssohn am 16.8.1783, kurz nach Erscheinen des Buches. Kant ist voller Bewunderung für Mendelssohn Vorschlag. Worum geht es?
Für den Forscher der Religionsgeschichte der monotheistischen Religionen, den Ägyptologen Jan Assmann, bietet hier Moses Mendelssohn den entscheidenden Unterschied „zwischen den partikularen Religionen wie Judentum, Christentum, Islam einerseits und der allgemeinen Menschheitsreligion (mit ihren von sich aus evidenten Vernunftwahrheiten, CM) andererseits.“ Und Mendelssohn versteht diese Vernunftreligion als eine allen Menschen gemeinsame, auf ihrer gemeinsamen Teilhabe an Gottes Schöpfung beruhende Religiosität. Jeder Mensch gehört demnach zwei Religionen an. Einer bestimmten und angestammten Religion, in die er hineingeboren oder zu der er konvertiert ist, und der allgemeinen Menschheitsreligion. Diese doppelte Mitgliedschaft stiftet, wenn die Menschen sich ihrer nur bewusst werden, Anerkennung und Frieden zwischen den Religionen“ (Jan Assmann, „Totale Religion“, Wien 2016, S. 166).
ABER: Wer sorgt für einen Sieg der Vernunftreligion, wer fördert diese Menschheitsreligion, wo wird sie wie gelehrt in allen Ländern? Dies ist die entscheidende Frage, gerade jetzt.

VIERTER TEIL:  Jan Assmann und die “religio duplex”

16.
In seinem Buch „Totale Religion“ spricht Jan Assmann von der „Religio Duplex“, der doppelten religiösen Bindung, die Menschen leben sollten: Einerseits die Bindung an eine bestimmte Konfession, in der man möglicherweise als Kind erzogen wird.Und der allgemeinen Vernunftreligion, die einige wenige vernünftige religiöse Prinzipien artikuliert. Diese allgemeine Vernunft ist universal für alle Menschen und deswegen wichtiger als die Bindung an die enge, historisch-dogmatische Konfession, in der man groß geworden ist. Und Assmann erinnert auch (S. 172) an die „Goldene Regel“ („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“): „Niemand sollte sich unter Berufung auf religiöse Vorschriften bereitfinden, anderen anzutun, was er selbst sich nicht antun lassen will“, so übersetzt Assmann diese uralte, allen Religionen bekannte „Goldene Regel“ in die heutige Problematik.
Assmann weist darauf hin, dass Gandhi diese religiöse Doppelstruktur im Bewusstsein des einzelnen Frommen schätzte: „Alle konkreten Religionen zielen auf die eine, noch versteckte Religion der Wahrheit“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, S. 259). Diese Religion hat mystischen Charakter, betont Assmann, mit ausdrücklichen Bezug auf Jacob Böhme.

17.
Ein Ausweg aus den Formen des militanten religiösen Fundamentalismus könnte auch die Akzeptanz der „Ringparabel“ sein, wie sie Lessing populär gemacht hat, auch darauf weist Jan Assmann hin. Der echte Ring der drei Ringe (Religionen) ist gar nicht zu erweisen. Assmann schreibt: „Das heißt ja nicht, dass es keinen echten Ring gibt und alles nur Einbildung ist, sondern dass die Echtheit des Rings eine Sache des Glaubens und der tätigen Liebe , aber keine Sache des sicheren Besitzes ist. Es gibt die Wahrheit und es gibt Offenbarung, aber da es mehr als eine gibt, bleibt die absolute Wahrheit verborgen“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, 2015, S. 255). Und in demselben Beitrag kommt Assmann auch auf die Religion Duplex zurück: „Der Preis dieser Theologie ist die behutsame Zurücknahme des harten Offenbarungsbegriffes, d.h des absoluten Wahrheitsanspruches einer bestimmten Offenbarung, ihr Gewinn ist die Entschärfung des interreligiösen Konflikts“ (S. 258).

18.
Es ist wohl eine Niederlage der Vernunft, dass diese hier erinnerte Möglichkeit einer Kultur, also dieses Wissens von der Relativität der eigenen religiösen Bindung, aus unserer Zivilisation und aus den Köpfen der Politiker verschwunden ist … bzw. ignoriert wird, gerade weil es nationalistische Machtinteressen stört. Wir leben also in einer Welt, in der Nationalismus, Fundamentalismus, Festhalten an sozialer Ungerechtigkeit die obersten Götter sind. Kant sagt in der“ Religionsschrift“: „Der Eigennutz ist der Gott dieser Welt“ (B 243)… Insofern ist unsere Welt polytheistisch … Der Monotheismus, heute interpretiert, findet sich in der friedensstiftenden universalen Botschaft der Menschenrechte. Ihr Text sollte in den religiösen Veranstaltungen der verschiedenen Religionen genauso oft verlesen und gedeutet werden wie die Bibel des Alten und Neuen Testaments oder des Korans. Warum soll denn nur die Bibel oder der Koran als heilige Buch der Juden, Christen und Muslims gelten? Wenn schon diese Religionen von einem handelnden und „sprechenden“ Gott reden, warum soll dieser Gott nicht auch in universal geltenden vernünftigen Menschenrechten „sprechen“ und sich gerade so – für die Frommen – als der lebendige Gott erweisen? Sind nicht die Menschenrechte Ausdruck eines säkularen Monotheismus?

19.

Siehe auch das Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, + 2023) über das Thema: “Die Menschenrechte Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion?” LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Schweigen spricht. Eine philosophische Meditation.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophisch meditieren bedeutet: In der Stille eine bestimmte Form unseres Lebens im Denken zu analysieren, vielfältige Dimensionen einer bestimmten Frage zu ordnen, um zu einem tieferen Verständnis zu kommen. Damit befreien wir uns durch eigenes Denken von Üblichkeiten (Zwängen) des Alltags. Philosophieren leistet dadurch einen Beitrag zur Lebensorientierung. Das ist ihr erster Zweck. Ihn zu pflegen in dieser ver—rückten Welt, ist dringend.

2.
Schweigen wird oft noch durch Worte eingeleitet: Zum Beispiel: „Ich bin sprachlos“. Oder auch nur: „Sprachlos!“. Ein Wort, das man oft auf Todesanzeigen lesen kann.

3.
Was ist gemeint, wenn ich sage: „Mir fehlen die Worte“: „Ich kann keine Begriffe finden, die das Ereignis ausdrücken und in ein Gespräch führen können“. „Das Ereignis fällt – momentan – aus dem Horizont meines begrifflichen Denkens. Das Ereignis ist größer als mein Verstehen und Denken“.

4.
Ich verstumme also, gewissermaßen aus Unfähigkeit, in dieser Situation noch verbal zu sprechen: In der Literatur und in Alltagserfahrungen, wie in Krankheit oder im Krieg, gibt es viele Beispiele von Menschen, die für lange Zeit verstummen. Sie machen sich noch die Mühe des Überlebens, aber sie sagen kein Wort mehr. Aber ihr bloßes verstummtes Dasein spricht, hat Bedeutungen…

5.
Schweigen spricht: Das heißt: Die Haltung des Schweigens wird von anderen nicht nur wahrgenommen, sondern gedeutet, etwa: bedauert oder als Arroganz zurückgewiesen. Schweigen ist für den Schweigenden immer ein Tun des Sich – Äußerns. Schweigen ist eine Äußerung ohne Worte. Der Schweigende schreibt noch, er geht spazieren, er pflegt seinen Garten, er meditiert..

6.
Beide Möglichkeiten des Sich-Äüßerns, das verbale Sprechen wie das Schweigen, sind immer mehrdeutig: Der verbal Sprechende kann Lügen verbreiten, der Schweigende kann die Haltung seines schweigsamen Erschüttertseins nur vorspielen. Der viel Redende kann viel Unsinn sprechen. Der in Gesprächsrunden nur dasitzende Schweigende kann Nachdenklichkeit oder intellektuelle Überlegenheit nur vortäuschen. Das „authentische“ verbale Sprechen und Schweigen zeigt sich als solches erst im Rückblick. Kommunikation ist immer ein Risiko der Wahrheit.

7.
Schweigen bleibt also eine Form des Sprechens, also des Sich – Äußerns, und es steht auf einer Ebene mit dem verbalen Sprechen. Verbales Sprechen und Schweigen sind gleich viel wert.

8.
Und vor allem: Verbales Sprechen und Schweigen sind miteinander verbunden. Schweigen hat seinen Ort in der Stille, in der Ruhe, in der Einsamkeit.
Deswegen wird im Schweigen reflektiert, nicht nur über das eigene Leben und die Welt im ganzen, sondern auch über die Qualität der sprachlichen Rede, der eigenen wie der Rede der anderen.

9.
Schweigen im zeitlich begrenzten Rückzug in die Stille macht die dann folgende eigene Rede erst wertvoll. Um über das Wetter zu plaudern, braucht es nicht den Rückzug in die Stille des Schweigens. Wer aber sich selbst mitteilen will, wer versucht, Aspekte der Welterfahrung oder der Kunst oder des Lebens und Liebens auszusagen, muss vorher die Stille des Schweigens erlebt haben. Gibt es noch ein Gespür dafür, dass sich einige Menschen, Dichter, Künstler, Philosophen, Mystiker, Musiker, “aus der Erfahrung des Schweigens” äußern, sprechen?

10.
Die permanenten verbalen Äußerungen von Politikern zu „allem Möglichen“ werden deswegen so schnell vergessen, weil sie eher der Welt des Geredes als der Welt der reflektierten Argumente angehören. Demokratische Politiker plaudern zu viel und erklären zu wenig die Bedingungen des Lebens in der Demokratie. Rechtsextreme Politiker und Diktatoren lügen permanent, finden aber Dumme, die den Blödsinn glauben.
Viele der ständigen Talkshows sind oft nur Shows von Journalisten und Politikern, denen es eher um ihr Ego und ihre Karriere geht als um die Erschließung von Wahrheiten, auch von unbequemen Wahrheiten. Diese werden aus taktischen Gründen der Karriere oft verschwiegen.

11.
Ein philosophischer Vorschlag: Es sollte überhaupt nicht als peinlich gelten, wenn sich TeilnehmerInnen von Gesprächsrunden Momente des Schweigens erlauben. Also Momente, in denen möglicherweise besser nachgedacht werden kann als in dem permanenten Gerede und polemischen Aufeinander-Einreden.
Das gemeinsame Schweigen sollte jeder und jede aushalten und als Chance wahrnehmen, wieder ins eigene kritische Denken zu finden. Nichts ist störender, wenn einzelne die Stille der Pause durch verlegenes Gequatsche überbrücken wollen.

12.
Schweigeminuten, von Regierungen manchmal verordnet, heißen oft auch „Gedenkminuten“. Die Verbundenheit von Schweigen und Denken wird da einmal mehr betont, wenn auch diese offiziellen Schweigeminuten meist nur oberflächlich als „Pflichtübungen“ hingenommen werden.

13.
Aber es ist für eine Philosophie als Form der Lebensgestaltung alles andere als oberflächlich oder sogar albern, auch „Schweigeminuten“ als spirituelle Praxis den einzelnen anzuempfehlen. Aus fünf Minuten Schweigen kann dann auch eine Viertelstunde werden, in denen der einzelne in Stille dasitzt und schweigt, die vielen Gedanken vertreibt und vielleicht nur einen wichtigen Gedanken bedenkt, etwa als Beitrag für ein künftiges Gespräch.
Ohne konkrete Vorschläge bleibt alles Philosophieren als Lebenshaltung abstrakt…Ganz andere Vorschläge sind aber für Menschen notwendig, die lange Zeit allein leben und oft tagelang mit niemandem sprechen können. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die einen permanent reden, um nicht zu sagen quatschen (vor allem über die so genannten sozialen Netzwerke) und viele andere, die ins Verstummen abgedrängt sind, die Alten, die Kranken, die Flüchtlinge in ihren Notunterkünften….

14.
Schweigt Gott?

Diese Frage sollte in einem „religionsphilosophischen Salon“ nicht fehlen. Eine schwierige Frage. Wir meinen: Gott als Gott, also der Ewige, der Absolute, wie auch immer man die klassischen Gottes -„Namen“ wählt, kann gar nicht sprechen und auch nicht schweigen. Er ist weder ein Ding noch ein Mensch. Einige fromme Menschen fühlten sich aber berufen, ihre religiöse Lebenserfahrung in Büchern, Bibel, Koran, niederzuschreiben und diese ihre Texte dann als Gottes Wort auszugeben.
Aber es kann gar nicht Gott als Gott sein, der da in diesen Büchern, in diesen Texten spricht. Es sind religiöse Menschen, die da ihre immer diskutablen religiösen oder moralischen Überzeugungen mitteilen. Und ihre Äußerungen für Gottes Wort halten und so “verkaufen”. Die Macht des Klerus in allen Religionen bedient sich dieser Behauptung, “Gottes Wort” als solches zu besitzen. So entsteht in allen Religionen gewalttätiger Fundamentalismus.

15.
Wenn überhaupt eine „absolute“, eine von Menschen nicht manipulierbare Wirklichkeit  wahrnehmbar ist im Leben, also „spricht“, dann nur im Gewissen eines jeden. Dort zeigt sich ein absoluter Anruf, der vom Menschen nur mit innerer Gewalt „abzuschalten“ ist.

Was hört da jeder Mensch?: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns auch allgemeines Gesetz für alle Menschen werden kann.“
Diese einfache , schwache „Sprache“ eines Absoluten im Gewissen ist machtlos, sie überlässt sich der freien Antwort der Menschen. Und die Menschen überhören oft diese „Sprache“, ziehen das alltägliche Gerede und Geplapper vor – so meinen sie, ihren Egoismus als Grundoption ihres Lebens am besten kaschieren zu können. Das Gewissen verstummt dann irgendwann und die Unvernunft beginnt ihre – auch politische – Herrschaft.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Den heutigen Liberalismus kritisieren und überwinden.

Zu einem neuen Buch des us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Kritik am politischen und ökonomischen Liberalismus der sich heute liberal nennenden oder liberal gebenden „bürgerlich – konservativen“ Parteien in Europa wird immer deutlicher und heftiger. Diese Kritik hat aber bis jetzt keine spürbaren politischen Verbesserungen bewirkt. Die einflußreichen Unterstützer – Kreise und Wähler und Lobbyisten verteidigen mit diesen Parteien ihre Privilegien.
2.
Einige Beispiele der aktuellen Liberalismus – bzw. Neoliberalismus – Kritik der letzten Monate:
Der Publizist Heribert Prantl schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ am 8/9. Juli 2023: „Die Lohnsteuerzahler finanzieren den Sozialstaat, die Milliardäre betreiben Reichtumspflege… Die Schuldenbremse (eine Ideologie des FDP Finanzministers, CM) ist keine Bremse, sie ist ein Verbrechen… Eine wirksame Umverteilungspolitik, eine steuerliche Entreicherung der Superreichen ist daher ein Beitrag zur demokratischen Renaissance in Krisenzeiten. Das ist nicht Klassenkampf, das ist Kampf um die Demokratie.“
Und so sieht ein Aspekt der Sozialpolitik der Bundesrepublik im Jahr 2023-2024 aus: Der Mindestlohn soll im kommenden Jahr 2024 um 41 Cent steigen. 20 Prozent aller Jobs in Deutschland sind Mindestlohnjobs…
3.
Beispiele aus der europäischen Nachbarschaft: Die Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Lea Opi, schreibt in ihrem Buch „Frei“ (2022): „Ich setze Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“ (S. 329).
4.
In den Niederlanden, einst das hoch gepriesene, so tolerante und so liberale Land hat jetzt mit dem massiven Auftreten sehr rechter, durchaus extrem rechter Parteien zu tun: Wichtig ist die 2019 gegründete Partei „BBB“, auf Niederländisch „BoerBurgerBeweging“, inszeniert von der Ex-Christdemokratin (CDA) Caroline van der Plas. Der „Tagesspiegel“ schreibt am 7.8.2023 LINK TSP: https://www.tagesspiegel.de/internationales/rechtsruck-in-den-niederlanden-gewinnen-die-rechtspopulisten-die-wahl-10249210.html
„Einen wichtigen Grund für den erfolg dieser Partei BBB sieht Geert Mak, Schriftsteller, Publizist und Chronist der niederländischen Gesellschaft, in den Folgen von 13 Jahren neoliberaler Politik unter Mark Rutte, Mak betont:. „Der öffentliche Sektor litt unter dem langjährigen rechts-liberalen (VVD)Ministerpräsident Rutte. 25 Prozent der Schüler haben Leseprobleme, es ist keine Polizei mehr auf der Straße zu sehen, ein Gefühl von Unsicherheit machte sich breit.“ Das sieht der Soziologe Oudenampsen ähnlich und ergänzt: „Der Staat hat seine Aufgaben sträflich vernachlässigt, im Wohnungsbau, in der Raumordnung (das Ministerium wurde aufgelöst), in der Pflege und Jugendfürsorge. Jetzt fühlen sich die Menschen alleingelassen und ahnen so langsam, dass es einen planenden Staat geben muss.“  Bei den Provinzwahlen im Frühjahr 2023 erzielte die Partei BBB tatsächlich gleich 20 Prozent der Stimmen.
5.
Man muss sich an diese aktuellen Tatsachen erinnern, wenn man das neue Buch des in England lebenden, us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss zur Hand nimmt.Das Buch hat den durchaus provozierendenTitel „Nicht wie ein Liberaler denken“ (Suhrkamp Verlag 2023). Raymond Geuss wurde 1946 als Sohn eines Stahlarbeiters in Indiana geboren. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der University of Cambridge. Geuss hat auch in Deutschland studiert, aber seine Publikationen sind hierzulande eher unbekannt.
Dabei ist sich Geuss durchaus der Problematik des Titels seines neuen Buches bewusst: Denn „liberal“ ist zumal in den USA eine Art Inbegriff für Verteidiger der Demokratie, nicht nur unter den „Demokraten“. Dort muss man wohl gerade im Kampf gegen den Demokratiezerstörer Trump, sehr wohl liberal denken und handeln. Und wenn man – historisch denkend – die universalen, durchaus „liberalen“ Freiheitsrechte eines jeden Menschen mit den Menschenrechten in Verbindung bringt, dann muss man in Polen oder Ungarn sehr wohl für das Liberale kämpfen. Liberalismus und Rechtsstaat gehören historisch gesehen und philosophisch betrachtet eigentlich zusammen. „Eigentlich“…, aber heute gilt das nicht mehr unbedingt, wenn man die politische Ideologie der sich liberal nennenden Parteien in Europa betrachtet.
6.
Darauf weist Raimond Geuss zurecht hin: „Liberal“ ist heute (in Europa vor allem) zu einem äußerst schillernden, vieldeutigen, sehr dehnbaren Begriff geworden, der sich bestens eignet für die Verteidigung der Privilegien der ökonomisch Mächtigen, wenn nicht oft Allmächtigen. „Der Liberalismus ist ohne Frage eine amorphe und wechselnde Sammlung von Dingen mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sich zu erneuern, einen Gestaltwandel zu vollziehen und die Formulierung seiner Grundüberzeugungen zu revidieren“ (S. 27)… „Die Anziehungskraft des Liberalismus wurzelt in der Tatsache, dass er auf besonders zufrieden- stellende Weise auf tiefe menschliche Bedürfnisse antwortet und den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt“ (S. 28).
7.
Geuss urteilt, dass die Politik der sich liberal nennenden Parteien, ja die heutige Ideologie des Liberalismus bzw. Neoliberalismus „falsch“, „irrelevant und schlimmstenfalls aktiv schädlich ist“, so wörtlich auf Seite 236… „Die Finanzkrise von 2008 war eine direkte Folge liberaler Grundsätze auf das Bankensystem“, so auf S. 237. Eine Erkenntnis, die weithin von kritischen Wissenschaftlern geteilt wird. Ebenso sieht Geuss die Verantwortung für das Desaster der Klima – und Ökopolitik in der liberalen Wirtschaftspolitik. Denn diese Liberalität schätzt und pflegt den individuellen Geschmack und die Interessen des einzelnen (der Reichen) so stark, dass man sagen kann: Der Liberalismus ist dem „Unternehmertum verpflichtet“ (S. 238).
Geuss nennt dann noch einmal seine eigene Überzeugung: „Man kann sich nicht vorstellen, wie die (Öko)-Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergreifen werden“(S. 238). Über neue, schärfere Gesetze zur Verhinderung weiterer Öko – und Klima – und Armuts – Katastrophen wird allenthalben wissenschaftlich diskutiert… Aber seine offenbar sozialistische Position vertieft Geuss nicht weiter, denn er will in seinem Buch eher „eine Erzählung“ bieten, aber keine argumentative Studie (S. 238). Das Buch ist tatsächlich vor allem eine Erinnerung an seine Schulzeit in einem katholischen Gymnasium mit Internat in der Nähe von Philadelphia, USA. Geleitet wurde es von den Patres des „Schulpriester-Ordens“, sie werden auch Piaristen, zumal in Europa, genannt (S. 40f.). Raymond Geuss hatte dort das Glück, intellektuell sehr gut ausgebildete Lehrer zu haben, vor allem findet höchstes Lob der aus dem kommunistischen Ungarn geflohene Pater Béla Krigler, er war der Religionslehrer von Geuss. Ihm gelang es, gerade im Religionsunterricht den kritischen Geist der Schüler zu wecken und zu fördern. Krigler war auch philosophisch gebildet, in den USA wird seiner noch heute vielfach öffentlich gedacht.
8.
Im umfassenden Sinne ist das Buch also eine Art Autobiographie eines Philosophen, der dabei allerdings Persönliches, Familiäres oder gar Intimes gar nicht oder eher nur sehr am Rande erwähnt. Die autobiographischen Ausführungen sind also eher auch intellektuell inspirierende Erinnerungen an theologische oder philosophische Probleme, die im Laufe der Ausbildung an der katholischen Schule diskutiert wurden.
9.
Dennoch wird natürlich der Titel des Buches „Nicht wie ein Liberaler denken“ oft, allerdings eher kurz, entfaltet.
Der Philosoph Raymond Geuss erwähnt seine Kritik an den großen liberalen Denkern damals, wie Locke und John Stuart Mill. Und der heutigen, vor allem seine Kritik an John Rawl fällt heftig aus. Darin folgt er einem seiner Universitäts – Lehrer, dem Philosophen Robert Paul Wolff, er meinte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Rechtfertigung realer Ungleichheit das eigentliche Ergebnis, wenn nicht gar die Intention von Rawls Position sei“ (S. 175). Rawls liberale Philosophie sei bezogen auf eine Bevölkerung, die die reale (ökonomische) Ungleichheit absolut hochschätzt (S. 176).
Die Darstellung seiner philosophischen Lehrer ist also der zweite Hauptteil im Buch vom Geuss, er erwähnt neben Wolff noch Robert Denen Cumming und Sidney Morgenbesser, „mein wichtigster Philosophielehrer an der Universität“ (S. 31) .
Nebenbei: Auch einzelne kritische Anmerkungen bietet Geuss zu Martin Heidegger, sie sind inspirierend, etwa: Heidegger „versuchte, es anderen unmöglich zu machen, seine Vorstellungen von außen zu erfassen oder sich irgendeiner üblichen Form des kritischen Kommentars zu widmen, so dass alles, was man tun konnte, entweder in der Wiederholung dessen bestand, was Heidegger sagte, oder darin, sich rigoros von seinem Werk abzuwenden“ (S. 214). Und weiter schreibt Geuss über die Schwierigkeit der Heidegger – Interpretation: „ Das Dilemma bestand in einem papageienhaften Wiederholen oder in einer Paraphrasierung…“ (ebd).
10.
Es ist nicht gerade üblich, dass Philosophen autobiografisch orientierte Bücher schreiben, also nicht vom „dem“ Ich im allgemeinen sprechen, sondern von dem eigenen, sehr persönlichen Ich einiges mitteilen. Dies zu erleben, verbunden mit philosophischen Einsichten und Provokationen, macht den Wert des neuen Buches von Raymond Geuss aus.
Gründliche Auseinandersetzungen mit dem heutigen politischen Liberalismus bleiben natürlich ein dringendes Projekt, zumal in der Bundesrepublik heute, dort sind sehr viele BürgerInnen hinsichtlich der Sozial- und Verkehrspolitik unter der Dominanz von FDP – Politikern äußerst unzufrieden.

Raymond Geuss, Nicht wie ein Liberaler denken. Aus dem Englischen von Katrin Wördemann. Suhrkamp Verlag 2023, 267 Seiten, 28€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Remonstranten und die (Abschaffung der) Sklaverei in den Niederlanden.

Zu einer Studie des Theologen und Historikers Simon Vuyk.

Von Christian Modehn

1.
In den Niederlanden ist die Anerkennung der Schuld an der Sklaverei nun eine offizielle, eine definitive Tatsache, vom König Willem-Alexander höchstpersönlich ausgesprochen. Er hat sich am 1. Juli 2023, dem 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei durch die niederländische Regierung, für die Grausamkeit und Unmenschlichkeit durch Niederländer öffentlich entschuldigt.
Am 1. Juli 1863 hatten die Niederlande als eines der letzten Länder Europas (!) die Sklaverei offiziell abgeschafft, die Arbeit auf den Plantagen Surinams endete allerdings erst zehn Jahre später. Die Regierung der Niederlande hatte zuvor in über 200 Jahren etwa 600.000 Menschen (Schwarze) versklavt.
„Keti Koti“, „zerbrochene Ketten“ in der kreolischen Sprache, ist das neue humane Leitwort in einem Holland, das sich mit der „Aufarbeitung“ der eigenen dunklen Vergangenheit schwer tat und schwer tut.

2.
Die Kirchen in den Niederlanden haben sich zum Thema schon seit einigen Monaten geäußert. Der „Raad van Kerken in Nederland“ hat eine entsprechende ökumenische Arbeitsgruppe zusammengestellt. LINK

3.
Aus naheliegenden Gründen interessieren wir uns besonders für die Frage: Wie sieht es mit dem Protest der Remonstranten gegen die Sklaverei aus?
Zu dem Thema hat jetzt der remonstrantische Theologe Prof. Simon Vuyk in der Monats-Zeitschriften ADREM (Juli 2023) einen kurzen, aber erhellenden Beitrag verfasst. Hier nur einige wesentliche Erkenntnisse des Theologen und Historikers Simon Vuyk:

4.
Am 24.9.1794 wurde in der Remonstranten Kirche von Delft eine aus Surinam stammende Sklavin getauft, sie erhielt den Namen Maria Zara Johanna. Damals ein Ereignis für die ganze Stadt. Diese Taufe fand gegen den Willen der Besitzer der Sklavin statt, aber sie war nun in den Niederlanden angekommen, und somit ein freier Mensch. „Unterstützte die Gemeinde die Frau nach der Taufe oder blieb sie sogar abhängig von ihrem früheren Eigentümer? Das wissen wir nicht“, hießt die ernüchternde Aussage von Simon Vuyk.

5.
Ebenso ernüchternd die weitere Aussage: „Die Niederlande kannten keine organisierte Bewegung gegen den Sklavenhandel und die Sklaverei, trotz des großen Anteils unseres Landes an diesem schrecklichen Unternehmen“. In einer Studie über „Rotterdam in slavernij“ von Alex van Stipriaan (2020) finden sich unter den Anhängern (Profiteuren) wie auch den Gegnern der Sklaverei auch Remonstranten. Diese Situation ist wohl typisch für ein (gehobenes) Bürgertum, das am eigenen Wohlstand und „Gewinn“ (wie Vuyk schreibt) interessiert ist.

6.
Aber es gab einige große Leistungen von einigen Remonstranten gegen die Sklaverei: Hervorzuheben ist der Remonstrant und Pastor in Utrecht, Jan Konijnenburg (1758-1831), er gründete Zeitschriften, in denen er seinen Protest gegen die Sklaverei öffentlich machte. Er war so großzügig, „goed liberaal“, „gut liberal“, schreibt Vuyk offenbar etwas ironisch, um auch einen Verteidiger der Sklaverei in seinem Blatt Platz zu Wort zu kommen zu lassen. Aber des Pastors Widerstand gegen die Sklaverei war sehr deutlich! Das hat der Autor Simon Vuyk in seiner Studie „Vision van Vrijheid“, Hilversum 2013, im Detail nachgewiesen.

7.
Aber die meisten anderen Pastoren der Remonstranten (und die Gemeindemitglieder) folgten NICHT dem deutlichen Engagement von Jan Konijnenburg, schreibt Simon Juyk in ADREM. Nur einzelne Stimmen wie die des Dichters Hendrik Tollens (1780-1856) oder des Pastors Martinus Cohen Stuart (1824-1878) wandten sich öffentlich gegen die Sklaverei. Die Abschaffung der Sklaverei durch die niederländische Regierung geschah erst 1873. Aber Simon Vuyk schreibt in ADREM: „Danach importierte das Königreich der Niederlanden Gastarbeiter aus Hindustan (Indien) nach Surinam, aber diese Menschen wurden dort noch schlechter behandelt als die Schwarzen (Sklaven).

8.
Der Theologe und Historiker Simon Vuyk ist deutlich in seinem abschließenden Urteil: „Es gibt zu denken, dass Missstände (in Holland) bestehen blieben, trotz der Kenntnis der unmenschlichen Behandlung von Sklaven. Und zwar blieben die Missstände bestehen, „wegen des eigenen (materiellen) Gewinns und unsrer Habgier. Die Sklaverei verschwand zu guter Letzt aus der niederländischen Gesellschaft, aber das System der Habgier blieb“.

9.
So wird nun, mit höchster, königlicher Ermunterung, sicher eine neue Epoche in den Kirchen der Niederlande beginnen hinsichtlich der Frage: Wie können wir den heutigen Sklaven und Sklavinnen – etwa den Kindern, die unter grausamen Bedingungen in Afrika nach seltenen Erden graben müssen oder den Frauen, denen die Menschenrechte verweigert werden, beistehen. Und wie können unsere Kirchen – auch die Remonstranten – immer mehr zu Orten werden, in den sich Menschen vieler unterschiedlicher Kulturen und Hautfarben als Mitglieder wohlfühlen. Kirchengemeinden sind nur als Orte der Begegnung unterschiedlicher Menschen aus unterschiedlicher Kulturen in Gleichberechtigung möglich und sinnvoll, natürlich eine theologische Selbstverständlichkeit und überflüssig dies zu betonen.

10.
Über das umfangreiche Werk des remonstrantischen Theologen und Historikers Simon Vuyk informiert die wikipedia Seite auf Niederländisch. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Tödliche Grenzen der EU: Flüchtende verlieren ihr Leben…Und EU-Bürger ihre Seele.

Das Buch „Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 5.Juli 2023.

1.
Die aktuelle Situation:
Es wird weitere verschärfte Grenzverfahren für Flüchtende an den EU – Außengrenzen geben, das haben die EU AußenministerInnen beschlossen.
Fünfundfünfzig Menschenrechtsorganisationen in Deutschland erklären zu diesem Vorhaben: „ Der Entwurf der Verordnung sieht vor, europäische Vorschriften für Asylverfahren sowie für die Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden weit unter jedes erträgliche Minimum abzusenken. Im Falle einer Instrumentalisierung würde eine Regelung im Schengener Grenzkodex durch die Schließung von Grenzübergängen es fliehenden Menschen nahezu unmöglich machen, an den Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen“ (Pressemitteilung von „Pax Christi“ am 5.7.2023.)
2.
Europäer verraten ihre offiziell verkündeten Werte!
Seit Jahren schon verüben Staaten der EU schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte gegenüber Flüchtenden. Nur einige bekannte Beispiele: Polnische „Grenzschützer“ prügelten im Winter Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus wieder in diese Diktatur zurück. Die griechische Küstenwache drängt schutzsuchende Menschen auf ihren überfüllten Booten wieder in Richtung Türkei zurück. Die Lebensverhältnisse in griechischen Flüchtlingslagern (wie Lesbos) sind meist katastrophal. Mit Gewalt drängen Kroaten Flüchtende nach Bosnien zurück. In dem ungarischen Container Lager Röszke an der serbischen Grenze werden Flüchtende in einer Weise versorgt, „die an die Fütterung von Tieren im Zoo erinnert“.
Weitere Beispiele bietet die Studie der Politologen Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Hinter Mauern“, erschienen 2023 im Suhrkamp Verlag. Das Zitat zum ungarischen Lager steht auf Seite 72 des Buches. Es hat den treffenden Untertitel „Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.
Bis zum 14.6.2023 sind „seit 2014 mindestens 26.924 Flüchtende im Mittelmeer umgekommen“, mindestens heißt in der offiziellen Mitteilung, es werden viel mehr Menschen umgekommen sein… Quelle. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/892249/umfrage/im-mittelmeer-ertrunkenen-fluechtlinge/

3.
Die Verrohung der Seele und des Geistes in Europa.
In ihrem Buch „Hinter Mauern“ machen die Autoren auf einen bislang vernachlässigten Aspekt der Dialektik „Flüchtende und Abweisende der Flüchtenden“ aufmerksam. Sie sprechen von einem bis jetzt eher selten angesprochenen Verderben, das die EU Flüchtlingspolitik für die Menschen innerhalb der EU anrichtet: Es ist seelische, geistige Ignoranz, oft die Verrohung, die bis zur Unterstützung rechtsextremer Parteien führt: Die Wahlsiege rechtsextremer Partei in fast allen Ländern Europas, auch in Deutschland, sind seit Monaten bekannt.
Faktenreich und eindringlich zeigt das Buch „Hinter Mauern“ also, was mit Geist und Seele der Europäer„geschieht“, wenn sie weiterhin hohe Mauern und Stacheldrahtzäune bauen, um Flüchtende abzuwehren. Die Südgrenzen Europas im Mittelmeer „sind zwar zur tödlichsten Grenze der Welt geworden“ (S. 43). Aber man muss immer wieder betonen: Tödlich in einem anderem Sinne sind die immer weiter ausgebauten, immer perfekter mit Milliarden-Euro-Einsatz gestalteten Grenzen auch für Menschen hinter den Grenzen: „Die Gewalt an der europäischen Grenze – etwa im Umgang mit Flüchtenden im Mittelmeer-Raum – greift nach Innen, korrumpiert also die europäische Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“ (S.12). Die Autoren beziehen sich nicht nur auf die immer strengeren Grenz-Regimes in Europa, sondern auch auf die z.T. noch brutaleren Umgangsformen mit Flüchtenden aus Lateinamerika in den USA.
4.
Rassismus
Rassismus als herrschende Ideologie, oft noch versteckt und diplomatisch verhüllt, der weißen Herrschenden ist längst eine Tatsache. Dieser etwa auch in der Stadt-Planung versteinerte Rassismus zeigt sich erneut in der Abdrängung bestimmter Menschen, vor allem Schwarzer, Ausländer, Armer in die so genannten Banlieues in Frankreich, in Vorstädte, die kulturell und sozial und verkehrspolitisch abgekoppelt sind vom „urbanen Leben“ der Stadtzentren von Paris, Lyon, Marseille, Toulouse usw. Und bei jungen Menschen werden entsprechend Wut und Hass erzeugt über diese etablierte und seit Jahren kaum korrigierte Degradierung. „Die Nachfahren der Migranten (Post-Migranten) in Frankreich leben in einem ihnen feindlich gesinnten Staat. Und sie werden ihn wohl so wahrnehmen. In einem rassistischen Staat, der sich immer ich als Grande Nation sieht, damit aber nur die weißen Franzosen meint“ ,so der Autor Behzad Karim Khan in der Süddeutschen Zeitung“, 5. Juli 2023, Seite 9).
5.
Eine „soziale Theodizee“: Ein Thema der politischen Philosophie!
Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist höchst erfreut über eine weitreichende, durchaus neue und durchaus kreative philosophische und ethische Aussage der Autoren Volker M. Heins und Frank Wolff:
„In der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es die so genannte Theodizee: Da wird gefragt, wie Gott es zulassen kann, dass unschuldige Menschen leiden, obwohl Gott durchaus gut ist und die Macht hätte, das Leid zu verhindern. Philosophen nennen dies das Problem der Theodizee“ (S. 99).
Und dann folgt gleich die sehr sinnvolle und richtige Aktualisierung dieses uralten philosophischen Themas: „ABER ES GIBT AUCH EINE SOZIALE THEODIZEE, die danach fragt, warum Gesellschaften, die in ihrem Selbstbild auch human und demokratisch sind, sinnloses Leid zulassen, obwohl sie über die Macht verfügen , solches Leid zu verhindern oder erheblich zu reduzieren“ (S. 99).

6.

Warum verhindern wir EU -Bürger und deren Politiker nicht das Leiden der “anderen”, der Flüchtenden?

Diese Frage kann nicht nur politologisch, nicht nur soziologisch oder nur historisch beantwortet werden. Sie führt in die Psyche der Angst, der Angst vor dem „Fremden“, der Angst vor dem Verlust des hoch-heiligen Eigentums durch die Anwesenheit der Fremden, es ist die Angst vor den „Schwarzen“, den „Farbigen“, die nun das starke Selbstbild des „Weißen“ ins Wanken bringen. Es ist letztlich die Angst, Solidarität zu leben, die Angst davor, als Mensch mit anderen zu teilen.
Es ist leider die gewisse Bedeutungs-Schwäche der humanen Organisationen und humanistischen NGOs, wenn sie kaum wirksam ihre vernünftigen Erkenntnisse der großen Masse der Bevölkerung zu Gehör bringen können – angesichts der Übermacht populistischer, rechter und rechtsextremer Presse. Deren Rederei hat sich förmlich eingebürgert, etwa wenn Flüchtende „Sozialtouristen“ genannt werden – parallel zu den „einheimischen Sozialbetrügern“, ein genauso pauschal – rassistischer Begriff gegenüber Ausgegrenzten und arm Gemachten(S. 127).

Es ist auch die Schwäche der philosophisch Arbeitenden, denen es nicht gelingt, den absoluten Vorrang der universal geltenden Menschenrechte deutlich zu machen und als politische Dynamik zu mobilisieren. Es ist auch die Schwäche der sich christlich nennenden Kirchen in Europa, auch in Deutschland, die die kritische politische Analyse, wie etwa jetzt zur Verschärfung der Grenzregimes und der Asylrechte, kleineren kirchlichen Organisationen überlassen, wie Pax Christi oder Brot für die Welt. Die katholischen Bischöfe, auch als gemeinsame Bischofskonferenz in Deutschland, sprechen lieber über den Zölibat oder den synodalen Prozess als deutlich die demokratischen Politiker zu kritisieren. Diese haben Angst, Wähler zu verlieren, wenn sie eine Politik der universal geltenden Menschenrechte tatsächlich praktizierten. Und die Bischöfe wollen nur Teil des offiziellen Systems bleiben, von dem sie – bis jetzt noch – finanziell sehr profitieren. Kardinal Woelki, Köln, erhält vom Staat ein Monatsgehalt von ca. 13.000 Euro. Man kann fast verstehen, dass er darauf – wie seine lieben Mitbrüder in München, Regensburg, usw. – nicht verzichten will.

7.
Das Selbstbild der EU – eine Lüge?

Die Europäische Union lobt sich gern selbst in höchsten humanistischen Tönen. Und belügt die Menschheit. Der ehemalige französische Außenminister und Europaminister Jean-Yves Le Drian z.B. behauptete: Die EU sei eine „echte humanitäre Macht , mehr noch, das hoffnungsvolle Projekt eines neuen Humanismus“.
Die Autoren des empfehlenswerten Buches „Geschlossene Grenzen“ schreiben realistischer: „ Europa ist hin – und hergerissen zwischen dem Streben nach globaler Attraktivität und der Angst vor globalen Einwanderungsbewegungen, die doch eine Folge seiner Attraktivität sind“ (S. 19f.). Darum stellt sich jetzt Europa – abwehrbereit – gegenüber den Flüchtenden und denen, die bereit sind, Afrika zu verlassen, auch mal als unattraktiv und gefährlich für Flüchtende dar.
Politiker der EU wollen aus ökonomischen Interessen vor allem die schon gut Gebildeten und die Fachleute unter den Flüchtenden nach Europa lassen: Nur sie sind in Europa willkommen, aber: sie fehlen dann in ihren Herkunftsländern. „Aus dieser Spannung zwischen einem offiziellen Sinnbild von Hoffnung und der Vergeblichkeit der Hoffnung (für die meisten Flüchtenden) ergibt sich ein Widerspruch, in dem sich die EU bewegt. (S. 20).
Es sieht so aus, dass die EU an dem traurigen Bild der Hoffnungslosigkeit festhält und die Abschottung weiter durchsetzt, so dass für alle Flüchtenden die Hoffnung auf ein Leben in Europa vergeblich ist. So wird letztlich Europa (oder auch die USA) wie eine Insel gedacht, mit Mauern und Stacheldraht, eine Insel, die aber alles andere ist als ein „Insel der Seligen“.
8.

Alternativen?

Über Alternativen zum bisherigen Flüchtlingsregime wird zwar viel gesprochen, aber bestimmte Alternativen werden nicht wirksam gestaltet: Nämlich: den arm gemachten Menschen im globalen Süden endlich so wirksam zu helfen, dass diese genauso ein menschenwürdiges Leben haben wie die Menschen im globalen, reichen Norden. Das Zulassen von Hunger und Elend im globalen Süden, der Ausschluss der meisten Menschen dort von Bildung und Gesundheit ist nichts anderes als eine Form des Rassismus, nämlich die Haltung: „Es sind ja bloß die Armen, die wissen vielleicht mit Hunger umzugehen, wir helfen nur in größter Not mit Spenden“. Wer die Dörfer der Elenden und die Slums der Ausgeschlossenen im globalen Süden anschaut un erlebt hat, muss an die Bedingungen des Überlebens in KZs denken.
Aber: die EU verhandelt eher mit den Diktatoren dieser Länder des globalen Südens, dass sie doch ihren Landsleuten die Idee der Flucht nach Europa nicht nur ausreden, sondern dass die Diktatoren, von der der EU unterstützt, jegliche Flucht auch verhindern.
Bisher ist die Politik der Abschreckung nicht wirksam, d.h. es fliehen immer mehr Menschen nach Europa. Und so wird das rechtsextreme Denken und die werden die rechtsextremen Parteien in der EU immer stärker. Das gegenwärtige Grenzregime der EU ist vom humanen Gesichtspunkt der Menschenrechte vergiftet, und es hat auch die Mentalitäten vieler BürgerInnen in der EU vergiftet.
Das ist die Erkenntnis des wichtigen Buches „Hinter Mauern“. Werden es die Politiker lesen? Die Schülerinnen, die Teilnehmer an Volkshochschulen, die Basisgruppen der Parteien, die kirchlichen Gemeindekreise, wird es Eingang finden in die Predigten, werden sich Philosophen mit der „sozialen Theodizee“ (siehe Nr. 5) befassen? Man kann es nur hoffen. Wahrscheinlich ist das nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siehe auch den ausführlichen Hinweis von Christian Modehn auf das Buch (2022)  “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende”  LINK:

Über das Buch „Hinter Mauern“ hat auch das Kulturmagazin TTT der ARD (Das Erste) am 2. Juli 2023 berichtet: LINK:

 

 

 

 

Unruhen in Frankreich: Was sagt die katholische Kirche?

Beten und Appellieren

Frankreichs Katholiken und Muslims in der Krise Frankreichs Juni-Juli 2023

Ein Hinweis von Christian Modehn am 2. 7.2023

1.
Die katholischen Bischöfe Frankreichs haben am 1.Juli 2023 „die Katholiken in unserem Land“ offiziell zum Gebet aufgerufen. Gemäß der uralten Theologie sind sie überzeugt, dass Gott im Himmel das Gebet seiner Gläubigen hört und erhört und als Gott vom Himmel aus dann auch – möglichst – wunschgemäß handelt… Über diese Theologie gäbe es vieles kritisch zu sagen. Bittgebete in höchster Not sind immer Versuche der leidenden Menschheit, sich höchsten, himmlischen Mächten anzuvertrauen. Sozusagen als „Schreie der leidenden Kreaturen“, wie ein berühmter Soziologe, Karl M,.einst treffend sagte…
2.
ABER: Bittgebete, formuliert von einer Bischofskonferenz in einem Frankreich, das zu zerreißen und zu zerbrechen droht, sind doch ein bißchen sehr wenig, könnte man denken.
Könnten Bischöfe in Frankreich noch Vermittler zwischen den Fronten sein? Eher nicht, dafür ist der gute Ruf der Kirche, zumal der Bischöfe, angesichts sehr vielfacher Missbrauchs-Skandale seit Monaten ruiniert. LINK   Aber die Bischöfe könnten immerhin vorschlagen, dass bestimmte kirchliche Orte, Gemeindehäuser, Kirchen als Orte des Dialogs genutzt werden, falls ein Dialog jetzt möglich ist.
3.
In jedem Fall könnten die Bischöfe bekennen: Was die Kirche selbst alles auch versäumt hat in ihrer Vernachlässigung der Menschen in den Banlieues der großen Städte. Nachweislich ist die Tatsache, dass sich Priester und Jugendmitarbeiter etc. lieber in den behüteten Vierteln des schönen Paris oder Lyon oder Toulouse usw. aufhalten, als in den belasteten und ungemütlichen Regionen der Banlieues.
Banlieue bedeutet ja auch so etwas wie Bannmeile, meint Orte der Verbannten, der Armen, der aus den Stadtzentren Vertrieben , aufgrund der Immobilien-Spekulation, also der Gier der Reichen….Banlieues sind belastete Orte, auch wegen der Herkunft der dortigen Bewohneer vor allem aus arabischen, muslimischen Ländern. Sie erleben Ausgrenzung und Rassismus, das ist ein uraltes französisches Thema, tausend mal beschrieben… Aber selten politisch beachtet.
Diese Vernachlässigung der Kirche gegenüber den Menschen in den Banlieues ist eine Tatsache und auch statistisch nachweisbar. Die schwierige Sozialarbeit in den Banlieues überlässt man lieber wenigen mutigen, jetzt überalterten Ordensleuten (Fils de la Charité, Mission de France …etc.). Mit anderen Worten: Man könnte ein Eingeständnis eigenen Versagens erwarten als nur die Aufforderung „Beten!“.

4.
Das Gebet der Bischöfe vom 1. Juli 2023 hat diesen Inhalt:
„Nous te prions, Seigneur, pour le retour au calme et à la paix dans notre pays.
Nous te confions Nahel et nous prions pour ses proches. Que l’Esprit de lumière et de paix les soutienne.
Nous te confions les blessés de ces nuits de violence, ceux et celles aussi dont les lieux de vie ou de travail ont été détruits ou endommagés.
Nous te prions, Seigneur, pour les personnes engagées dans les forces de l’ordre et les services de l’Etat, soumis à de fortes pressions et parfois attaqués.
Inspire-nous, pour qu’avec les croyants d’autres confessions chrétiennes et d’autres religions ainsi qu’avec l’ensemble de nos concitoyens, nous sachions être des artisans de dialogue et de paix.
Nous te supplions encore : qu’au-delà même des explosions actuelles, notre société sache identifier avec lucidité les sources de la violence et trouver les moyens de la dépasser.“ (Quelle: Offizielle website der Conférence des évêques de France).

Eine Übersetzung:

„Wir bitten dich, Herr, für die Rückkehr zur Ruhe und zum Frieden in unserem Land.
Wir vertrauen dir Nahel (den von einem Polizisten getöteten Jugendlichen, CM) an und wir beten für seine Angehörigen. Und dass der Geist des Lichtes und des Friedens sie unterstütze.

Wir vertrauen dir die Verwundeten der Gewaltnächte an, auch diejenigen, deren Wohnungen und Arbeitsstätten zerstört oder beschädigt wurden.
Wir bitten dich Herr, für die in den Ordnungskräften und in den staatlichen Diensten engagierten Personen, die starkem Druck unterworfen sind und manchmal attackiert werden.

Inspiriere uns, dass wir mit den Gläubigen anderer christlicher Konfessionen und anderer Religionen sowie mit der Gesamtheit unserer Mitbürger es verstehen, Schöpfer des Dialogs und des Friedens zu sein.
Wir bitten dann auch noch: Dass, jenseits der aktuellen Explosionen (sic, CM), es unsere Gesellschaft versteht, mit Klarheit die Quellen der Gewalt zu identifizieren und die Möglichkeiten findet, die Gewalt hinter sich zu lassen“ (Übersetzung: Christian Modehn).

BEMERKENSWERT an dem Gebet ist u.a., dass die Bischöfe nicht das Wort Krawall und schon gar nicht den Begriff “Revolte” verwenden zur Beschriebung der “Krise”. Der Soziologe Sami Zegnani von der Universität Rennes deutet die gegenwaärtige Situation als Revolte. “Es gibt eine Reihe von Problemen, die seit 2005 nicht vorangekommen sind”, betont die führende Soziologin Stéphanie Vermeersch vom Forschungsinstitut CNRS.

Am 30.Juni 2023 haben die Verantwortlichen für „religiöse Kulte in Frankreich“ (CRCF) (also eine inter-rreligiöse Vereinigung aller Religionen) eine Stellungnahme veröffentlicht.
Darin heißt es: „Wir teilen den Schmerz der Familie von Nahel.. wir verstehen (entendons) das Leiden und die Wut, die sich jetzt ausdrücken, wir bedauern die Zerstörungen…Mögen Gläubige heute mehr als jemals zuvor Diener des Friedens sein und des Allgemeinwohls….
(Quelle: https://www.la-croix.com/Religion/Mort-Nahel-Nanterre-responsables-religieux-invitent-lapaisement-2023-06-30-1201273775)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Diktaturen – sozialistisch/kommunistisch und katholisch/vatikanisch: Hinweis auf einen Systemvergleich.

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Dies könnte der Beginn eines Forschungs-Projektes, Juni 2023, sein. Damit ist gesagt: Es bedarf einer gewissen kritischen Begeisterung zu fragen, zu forschen, um den hier vorgestellten Systemvergleich mitzuvollziehen und weiter zu gestalten.

Mit diesem Systemvergleich steht der “Religionsphilosophische Salon Berlin” natürlich nicht allein da. Im DRITTEN KAPITEL (Nr. 19) wird gezeigt, dass Philosophen mit katholischem und/oder auch mit marxistisch-kommunistischem Hintergrund diesen Systemvergleich ebenfalls darstellen…Also: Leszek Kolakowski (Polen/England), Reymond Geuss (USA/England)….

ERSTES KAPITEL: Die sanften Modernisierungen und scheinbaren Demokratisierungen in beiden Systemen.

1.
Der System-Vergleich real-sozialistischer (kommunistischer) Herrschaftsformen, d.h. Diktaturen, mit der uneingeschränkten Klerusherrschaft in der Theokratie Vatikan, mit einem unfehlbaren Papst an der Spitze, war etliche Jahre üblich, und dieser Systemvergleich ist als Analyse immer noch treffend: Daran wird im folgenden noch einmal – weiter unten – erinnert.

Beide Herrschaftssysteme stehen einem Struktur – Vergleich zur Verfügung, weil beide aufgrund ihrer Ideologie überzeugt sind, “die”  Wahrheit für die ganze Menschheit zu besitzen. Und weil beide Herrschaftsysteme immer von Führern geleitet werden, die nicht aus demokratischen Wahlen der betroffenen Bevölkerung oder der Masse der Glaubenden zur Herrschaft gelangt sind. Sondern aus Kreisen gewählt wurden und werden, die diese Herrscher selbst im eigenen Interesse berufen haben (Zentralkomitee der Partei bzw. Kardinalskollegium, berufen durch den Papst). Mit diesem Vergleich der Strukturen wird nicht eine Vergleichbarkeit oder gar seelische “Identität” der realen Personen (Parteichef oder Papst etc.) unterstellt. Es geht um Strukturen, nicht um das je verschiedene persönliche Profil der Herrscher.

Dieser Vergleich der Strukturen hat einen aktuellen Bezug: Er kann etwa die Möglichkeiten und Grenzen von Reformen in beiden Systemen aufzeigen und Hoffnungen auf “Demokratiesierung” beider Systeme in den sehr begrenzten Rahmen setzen. Für manche LeserInnen aus katholischen Kreisen kann also dieser Beitrag hier zur Ernüchterung führen und die Frage drängend machen: Wie setze ich meine Lebenszeit am besten ein für das Überleben der Menschheit, für die Abwehr der weiteren Klimakatastrophen, für die Überwindung der Ungerechtigkeit der Reichen gegenüber den meisten Menschen im “globalen Süden” und so weiter. Wahrscheinlich entdeckt “man” dann im Engagement mit anderen seine eigene Spiritualität oder sucht sich in aller Freiheit seine eigene, seine “einfache”, jesuanische, in jedem Fall nicht-hierarchische  Spiritualität. Also außerhalb des römischen Systems.

2.
Aber schon an dieser Stelle wird auf eine weitere Aktualität des Thema hingewiesen: Denn dieser Systemvergleich (Kommunismus – katholische Kirche) hat seit etlichen Jahren eine neue Dimension erreicht: Bekanntlich gibt es kein kommunistisches Sowjet-Imperium mehr, das üblicherweise mit der vatikanischen Theokratie verglichen werden könnte.

3.
Sondern jetzt steht das Kommunistische China – Imperium mit seiner kapitalistischen (modernen) Ökonomie als Beispiel des Systemvergleichs im Mittelpunkt. Auch wenn der chinesische kommunistische Alleinherrscher Xi immer wieder betont: „Unsere Modernisierung bedeutet nicht Verwestlichung“, so gibt sich China im ganzen de facto (nur) nach außen hin (!) sehr westlich, denn es kann gar nicht auf die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der europäischen-amerikanischen Moderne verzichten. Die Spionage Chinas u.a. in der Forschung des Westens ist bekannt…

4.
Und auch der Vatikan als Theokratie gibt sich unter Papst Franziskus nach außen hin seit einigen Jahren etwas moderner, d.h. demokratischer, man möchte sagen etwas sympathischer, dem Anschein nach: Denn nun heißt das vatikanische Leitwort „Synode”, also gemeinsames Beraten von Klerikern aber auch mit einigen vom Klerus ausgewählten Laien und Nonnen. Die Verlogenheit im Umgang mit dem „Synoden“ Begriff wird schnell deutlich: Diese Synodalen können zwar Mehrheits – Beschlüsse fassen, aber diese haben keine bedeutende Wirkung: Denn allein der Papst entscheidet, ob diese Beschlüsse auch „realisiert“ werden. Wer es noch nicht weißt: Auch Papst Franziskus ist der absolute Herrscher über die Kirche. (Siehe das “Kanonische Rexcht” von 1984, Kanon 331.

Die Allmacht des Papstes im Umgang mit Synoden: Ein Beispiel: Die „Amazonas-Synode“ (2019) von Bischöfen und wenigen Laien in Rom forderte die Aufhebung des Zölibatsgesetzes für die dortigen Priester: Aber der Papst realisierte danach nicht diesen Mehrheitsbeschluss. Dazu hat der Bischof em. vom Amazonas, Erwin Kräutler, seine treffende Meinung im Juni 2023 veröffentlicht. LINK.

Zur Weltsynode in Rom (Oktober 2023) hat Papst Franziskus nun wie üblich eigenmächig bestimmte Kleriker als Mitglieder berufen,, etwa Kardinal Gerhard Ludwig Müller, einen der reaktionärsten Kirchen-Fürsten heute. Er ist in dieser Synode als Kleriker selbstverständlich stimmberechtigt… Er kann also reaktionäre Positionen unterstützen und mit seinen Freunden durchsetzen…

Auch in Deutschland hgab es eine gewisse Synoden-Begeisterung unter Katholiken: Aber die Engagierten wissen – oft uneingestanden – genau: Alle ihre demokratischen Mehrheits-Entscheidungen müssen vom Papst abgesegnet werden. Globale Reformen, wie in Deutschland gewünscht („Priestertum der Frauen“), sind nur eine Utopie, über die man Jahrzehnte lang reden kann. Offiziell heißt es vom „Synodalen Prozess“ in Deutschland im Jahr 2022: „Über die Umsetzung von Beschlüssen, die eine weltkirchliche Relevanz entfalten, entscheidet der Apostolische Stuhl, also der Papst…Entsprechende Beschlüsse der Synodalversammlung müssen als Votum der Kirche in Deutschland an Rom gerichtet werden.“

5.
Mit anderen Worten: Es gibt eine überraschende begrenzte Parallele zu Xi und seinem Modernisierungsprogramm: Nur nach außen hin gibt man sich in Peking westlich. So, wie die Theokratie Vatikan etwas moderner, etwas demokratisch nach außen hin tut. „Synode hurra“ möchte man sagen, ohne dass nun die Prinzipien der Moderne und der Demokratie von der Theokratie Vatikan respektiert werden. Ein frommer Schein wird von den Theokraten geweckt … und den Engagierten ihre Lebens-Zeit gestohlen…Wie sinnlos und ergebnislos war damals letztendlich die Würzburger Synode (1971-1975)? Wie sinnlos und frustrierend das „Niederländische Pastoralkonzil“ (1966-1970): Alle richtigen Reformvorschläge der Mehrheit dort wurden von den Herren der Theokratie im Vatikan zurückgewiesen… Und die katholische Kirche der Niederlande in den Niedergang geführt.

6.
Es könnte manche fromme Seele erstaunt sein, wenn der Vatikan hier eine Theokratie genannt wird: Aber diese Bezeichnung ist unter Politologen üblich, denn der Vatikan als Herrschaftsform ist allein religiös legitimiert, und zwar durch den einen Satz im Neuen Testament, in dem Jesus von Nazareth dem Fischer Petrus eine Sonderrolle als „Chef“ seiner imaginierten Kirche zuweist (siehe Matthäus-Evangelium 16,18). Unter Historikern und kritischen Bibelwissenschaftlern ist heute eindeutige Überzeugung: Jesus von Nazareth dachte nicht im entferntesten daran, eine Kirche zu gründen, dazu war seine Erwartung eines baldigen Endes des Welt viel zu dominant. Und einen Fischer Petrus (übrigens verheiratet! und sicher Analphabet) als Papst konnte sich der Wanderprediger Jesus nun auch nicht vorstellen.
Aber die Kleriker im Vatikan haben zur Rechtfertigung ihrer Macht die Interpretation dieser Bibelstelle absolut „gepachtet“. Sie sind die einzig gültigen Interpreten.
„Theokratie“ bezogen auf den Vatikan heißt ja nicht, dass Gott selbst unmittelbar vom Himmel aus rein regiert in die Welt. Theokratie bedeutet, dass es eine Gruppe von Klerikern gibt, die den heiligen Text der Bibel so deutet, dass nur sie die einzig gültigen Interpreten ist. Diese Herren Kleriker (es sind immer Männer) stehen also gleichsam auf Gottes Seite und sind, wie der Papst in entscheidenden Glaubens – und Moralfragen sogar unfehlbar. Das heißt nichts anderes: In ihnen und durch sie spricht dann Gott selbst… behaupten diese Leute, die noch von Laien und einfachen Pfarren und Ordensleuten als „Hochwürden“ oder „Heiliger Vater“ verehrt werden…

7.
Aber das vatikanische Imperium als Theokratie wird dann auch im weltweit verbreiteten „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) urbi et orbi gelehrt: „Christus selbst ist der Urheber des Amtes (also des Papst-Amtes) in der Kirche. Christus hat es eingesetzt, ihm Vollmacht und Sendung, Ausrichtung und Zielsetzung gegeben“ (§ 874 im „Katechismus der katholischen Kirche“, S. 259). Es wäre also eine Gotteslästerung, wenn der Papst dieser „Einsetzung des Amtes“ durch Christus persönlich widersprechen würde oder wenn er das Amt in der bestehenden Form grundlegend reformieren oder gar aufgeben würde. Die klerikale Theokratie ist also wie Gott selbst „ewig“, soll man denken.

8.
Um noch einen Moment beim Vergleich China von Xi und dem nun etwas demokratisch erscheinenden Vatikan zu bleiben:
Xi will eine weltpolitische Rolle spielen, als Vermittler auftreten, als Friedensstifter im Krieg Russlands gegen die Ukraine

Der Papst will auch weltpolitisch eine große Rolle spielen, deswegen die diplomatischen Bemühungen von Papst Franziskus etwa um Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Deswegen das starke Drängen des Papstes seit Monaten, mit Patriarch Kyrill von Moskau in gutem Einvernehmen zu sein.

Dabei spielt der Papst seine übliche Doppel-Rolle aus: Einerseits ist er Staatschef des Staates Vatikan-Stadt, andererseits auch spiritueller Führer der katholischen Kirche und ihrer Gläubigen. Der Papst ist spirituell der Inhaber des “Heiligen Stuhls”, ein Titel, bezogen auf einen imaginären Stuhl des heiligen Petrus, den angeblich Jesus von nazareth zum ersten Papst auserwählt hat… und diese Rolle als Inhaber des “Heiligen Stuhls” ist am wichtigsten. In der Herrschaft über den “Heiligen Stuhl” bündeln sich die Leitungsaufgaben der katholischen Kirche UND des Staates Vatikanstadt”, wie der italienische Kassationsgerichtshof 1979 die Sachlage klärte.(Siehe dazu: Corrado Augias, “Die Geheimnisses des Vatikan”, München 2011, S. 439). Die Botschafter des Papstes (Nuntien) in fast allen Ländern repräsentieren also den “Heiligen Stuhl”, also die umfassende religiöse wie politische Macht des Papstes….  so wie auch die ausländischen Botschafter  beim “Heiligen Stuhl” in Rom akkrediert sind … und nicht beim Staat Vatikanstadt. Noch einmal: Der “Heilige Stuhl” ist Völkerrechtssubjekt! Ein Völkerrechtssubjekt, das eine Theokratie oder anders gesagt eine Wahl-Monarchie ist, diese päpstliche Herrschaftsform kennt keine übliche Gewaltenteilung, keine durch eine Verfassung begrenzte Macht des Monarchen (des Papstes).

Welch ein intellektueller Tiefpunkt, welche Ideologie, wenn ein Theologieprofessor und Kardinal, Gerhard Ludwig Müller, lange Jahre Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan,  in seinem Buch “Der Papst” (Herder Verlag, 2017)  514 lapidar behauptet:” Der päpstliche Primat hat grundsätzloich nichts mit einer monarchischen und sonstigen Form von Machtausübung zu tun”.

Der Papst ist also absoluter geistlicher Führer für 1,3 Milliarden KatholiKinnen und  Staatschef des Minimal Staates Vatikanstadt (Größe 0,44 Quadratkilometer, 618 Staatsbürger).

ZWEITES Kapitel: Ein Systemvergleich: Real-Sozialistische /Kommunistische Diktaturen und die päpstliche Theokratie.

9. Zur Vertiefung:
Auf die Notwendigkeit einer Untersuchung einer Strukturanalogie von Religion (in unserem Fall Katholizismus) und sozialistischer Diktatur wird man immer wieder von verschiedener Seite aufmerksam gemacht. „Es gibt eine Strukturanalogie zwischen Religion und einer sozialistischen Diktatur… Wie der Papst beanspruchten auch die sozialistischen Parteiführer eine Generalkompetenz über alle Werte-Entscheidungen“, schreibt der Philosoph Harry Lehmann (Berlin) in der Kultur-Zeitschrift „Lettre International“, Winter 2021, Seite 26.
Auf eine „Strukturanalogie“ von Katholizismus und sozialistischen bzw. kommunistischen Diktaturen wurde schon mehrfach auch von großen katholischen Theologen hingewiesen, wie etwa von Hans Küng: „Die Kirche ist von einer Gemeinschaft der Gläubigen zu einer geistlichen Diktatur geworden“, schrieb Küng 2011 in seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“. Und: „Der biblische Jesus Christus hat die Päpste beim Ausbau ihrer Macht gestört und er ist durch ein selbstfabriziertes Kirchenrecht verdrängt worden“. Unter vielen Quellenverweisen nur diese: LINK  . Und noch einmal Küng: „Ohne ein Ende des römischen Hofstaats wird auch einem neuen Papst kein Durchbruch und Aufbruch gelingen“, sagte Küng. Quelle:LINK
Man erinnere sich auch an die heftige Kritik an der Bürokratie im „vatikanischen Hofstaat“ durch den international hoch geschätzten katholischen Theologen Karl Rahner SJ: Es gibt viele Stellungnahmen, Interviews, Zeitungsbeiträge Rahners, die seine Ablehnung des römischen Herrschaftssystems belegen: So nannte er vatikanische Theologen tatsächlich „Bonzen“, im Sinne von ideologisch verblendeten Partei-Bonzen oder Partei-Genossen in sozialistischen Diktaturen. (Quelle: Herbert Vorgrimler, „Karl Rahner verstehen“, Topos Taschenbücher 2002, S. 117.)

10.
Eine kurze Darstellung der Analogie der beiden Systeme:

Die sozialistischen (kommunistischen) Diktaturen (in Zukunft SD abgekürzt) beziehen sich auf eine Gründergestalt (bzw. mit Friedrich Engels auf eine zweite): Karl Marx. Beide dachten nicht im entferntesten an den Stalinismus.
Die katholische Theokratie (KT abgekürzt) bezieht sich auf die Gründergestalt Jesus von Nazareth bzw. „Jesus Christus“ oder nur „Christus“. Aber von der Bibelwissenschaft her ist eindeutig: Jesu hat gar kein Kirche begründen wollen und können…

Das grundlegende Buch in den SD ist „Das Kapital“.
Das grundlegende Buch in der KT ist die Bibel bzw. vor allem das „Neue Testament“. Das „Kapital“ ist keine Anleitung für den Stalinismus, das „Neue Testament ist keine Anleitung für die Hexenverfolgungen oder die Verbrennung von angeblichen Irrlehrern.

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches beansprucht die KP-Parteiführung bzw. die Führung der Sozialistischen Partei (etwa SED). Ihr Selbstverständnis drückt sich etwa in dem bekannten Kampf-Lied aus „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“ (Es ist raffinierterweise die anonyme „Partei“, nicht ein konkreter Parteiführer, der recht hat…

Die einzig zugelassene Interpretation des Gründungsbuches „Neues Testament“ beansprucht in der KT der Papst bzw. die von ihm eingesetzten Bischöfe und dann in der Hierarchie die von Bischöfen geweihten Kleriker. Ihr Selbstverständnis drückt sich in dem Lied „Fest soll mein Taufbund immer stehen“ aus, besonders in dem Vers „Ich will die Kirche hören, sie soll mich allzeit folgsam sehen und gehorsam ihren Lehren“… „Die Kirche“ hören, nicht einen konkreten Bischof…

Die Partei (d.i. das Zentralkomitee, ZK) beansprucht, „die” Wahrheit, die einzige wahre Wahrheit , zu „haben“, für alle Bereiche des Lebens. Sie will diese Wahrheit international ausbreiten (Beispiel: im Ostblock durch die KPDSU etc.).

Die Entwicklung des Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitschin “Die Zeit”, 29.Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel wie in einer Welt aus Beton…

Die Kirche (d.i. der Papst und die von ihm ernannten Bischöfe) beansprucht „die” Wahrheit, die einzige, für alle Bereiche des Lebens, auch der Politik und der Sexualität, zu „haben“ und allen Menschen mitzuteilen (darum weltweite Mission). Man denke an das Reinreden der Kirchenführer in die Sexualmoral der Katholiken…

Wer „die“ Wahrheit nicht annimmt und nach außen bekennt, möglichst wortwörtlich, wird vom ZK wie auch von der Glaubensbehörde (Heiliges Offizium) kritisiert, ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet. Die Ketzerverfolgung in der katholischen Kirche hat natürlich eine viel umfassendere längere Tradition aufgrund des längeren Bestandes dieser Institution Kirche…

„Die Lehre“ wird vom ZK der SD bestimmt und bei Parteitagen manchmal geändert. Die kommunistischen Basis-Dogmen bleiben aber unberührt, etwa die führende Rolle der KP oder SED usw. Damit schützt sich die Parteiführung, wohlwissend, dass ihr totalitärer Anspruch der absoluten Führung von Marx gar nicht gefordert wird.

Die Kirchen-Lehre wird vom Papst und seinen Gremien, auch vom Konzil, das dem Papst untersteht, gelegentlich moderat verändert, etwa: „Landessprache in der Messe“ seit 1965, „Religionsfreiheit ist kein Verbrechen“ oder Möglichkeit der Feuerbestattung für Katholiken.
Die Basis-Dogmen hingegen bleiben aber unberührt, damit sichert sich der Klerus seine alleinige Interpretationsgewalt. Es gilt die totale – auch sprachlich fixierte – Unwandelbarkeit der vielen seit dem 3. Jahrhundert einmal formulierten Dogmen. Das in den katholischen Messen heute immer noch gesprochene „nizänokonstinopolitischen Glaubensbekenntnisse“ ist für heutige Menschen unverständliches Blabla. Wer versteht schon, dass „der Heilige Gest vom Vater ausgeht“…Wenn interessiert, das „der Logos gezeugt, aber nicht geschaffen ist“…Philosophen vielleicht.

Geschlossenheit und Einheitlichkeit wird von der Führung für die Funktionäre vorgeschrieben: Man denke an die Sitzordnung bei den Parteitagen. Parallel dazu: die absolut gleich gestalteten Gewänder und Mitren bei den Bischöfen bei größeren Zusammenkünften auch in Rom. Die Individuen „Bischöfe“ verschwinden unter der totalen Identität der Kostümierung. Das ist wohl so gewollt. Einstimmigkeit ist die Mitte der Diktaturen, Vielfalt die Mitte der Demokratien.

Die Zensur verbotener Bücher: Zensur im Verlagswesen in der SD, der Index verbotener Bücher im Katholizismus. Das „Imprimatur“ wird heute noch gewünscht.

Die Sonderstellung hoher und höchster Funktionäre in der SD, sie wohnen in separaten Siedlungen, haben Zugang zu westlichen (kapitalistischen) Konsumgütern, Leben im Luxus.
Und in der katholischen Kirche: Hohe Gehälter für Bischöfe, etwa in Deutschland, Luxuswohnungen für Kardinäle im Vatikan, Dienstautos usw.

Akzeptanz privater „Seitensprünge“ hoher Funktionäre (nur einzelne Funktionäre werden als Symbole des Kampfes gegen Korruption in Chinas KP verfolgt),
Akzeptanz der privat gehaltenen, verschwiegenen „Seitensprünge“ des Klerus (Heteros im Klerus haben ihre Freundinnen, Homos im Klerus ihre Liebhaber) , aber alles bitte nicht öffentlich machen. Man lese die instruktive Studie „Sodom“ von Frédéric Martel.

Zusammenfassung:

Die Entwicklung der Ideologie in der UdSSR stagnierte: “Alle sowjetischen Führer bis 1984 haben von Ideen gelebt, die aus den 1920er- bis 1950er Jahren stammten. Als wäre die Welt aus Beton” (so der belarussische Schriftsteller und Oppositionelle Viktor Martinowitsch in “Die Zeit”, 29. Juni 2023, S. 43).

Die katholische Kirche lebte seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil 1962 ebenfalls in einer erstarrten Ideologie (Theologie) ohne jeglichen Wandel “wie in einer Welt aus Beton”…

11.
Die Brutalität der Verfolgung von Abweichlern findet in den sozialistischen/kommunistischen Diktaturen (China, Vietnam, Kuba, Nord-Korea) bis heute statt.
Die Brutalität der Verfolgung von Ketzern und Abweichlern im Katholizismus findet jetzt keinen unmittelbaren materiellen, leibhaftigen Ausdruck mehr, diese Brutalität war aber bis ins 19. Jahrhundert üblich. Wie viele Tausend Ketzer wurden verbrannt, wie viele Tausend Irrlehrer verfolgt, wie viel Tausend Hexen verbrannt uns so weiter…
Aber die psychische Brutalität im Umgang mit Abweichlern und „Unbequemen“ im Katholizismus verursacht auch heute seelisches Leiden, Ausgrenzung, privates finanzielles Desaster usw.

12.
Viele sozialistische Regime im Osten Europas sind seit 1989 weithin überwunden worden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war sicher auch ökonomisch bedingt, Stichwort „Hochrüstung“. Aber der Zusammenbruch des Sowjetimperiums war dann doch möglich, weil es eine kleine Gruppe von Abweichlern innerhalb der KPDSU gab, vor alem einen Michael Gorbatschow. Einen solchen Zusammenbruch des Imperiums Papstkirche/Katholizismus ist trotz aller Reformgrüppchen und aller so genannter Synodaler Wege nicht möglich…Solange eben der Papst die Allmacht des Papsttums (Heiliger Stuhl, Unfehlbarkeit, Monarchie etc.) behält und beansprucht. Ein Machtverzicht des Papstes ist nicht in Sicht, trotz allen Schwadronierens von Synodalen Wegen und Synoden. Erst wenn ein Papst gewählt wird, der das papsttum beendet, ist eine Ende dieser Klerus – Diktatur in Sicht.

13.
Warum ist die Theokratische Diktatur des Vatikans, also die klerikale Führung der Katholischen Kirche, nicht zusammengebrochen? Weil so viele religiöse Menschen wider alle Vernunft auch heute noch an Wunder und Wunderbares glauben, weil sie meinen, Gott höchst persönlich will diese Katholische Kirche, inclusive Papsttum, so wie sie ist.

Solange es also ein “göttliches Erschauern und Bewundern der “Hochwürden und Eminenzen und Heiligen Väter gibt, wird sich im Katholizismus nichts grundlegendes, also Vernünftiges, Humanes, ändern. Erst wenn viele Millionen Menschen erkennen: Jede Kirche ist Menschenwerk und damit reformierbar, und die Bibel ist nur ein geistiges, poetisches Produkt frommer Menschen und nicht unmittelbar “Gottes Wort”, wird sich etwas grundlegend zum Guten, Humane, verändern.

In Westeuropa ist der Abschied, der Austritt aus der katholischen Kirche, zahlenmäßig faktisch erwiesen, jetzt immens. In Afrika und manchen Gegenden Asiens sind viele Millionen Menschen (noch) katholisch, bevor sie wahrscheinlich wie in Lateinamerika zu den Evangelikalen und Pfingstgemeinden „konvertieren“…
Vielleicht hängen sie noch am Katholizismus, weil der Vatikan für sie weit weg ist? Und ihre Gemeinden dort oft der einzige soziale und caritative (!) Zusammenhalt sind? Und junge Männer in Indien und auf den Philippinen machen als Kleriker eine schöne und sichere Karriere… Vielleicht später mit einer „Mission“ im reichen Europa? Um die Lücken in den europäischen priesterlosen Gemeinden zu stopfen?

14.
Warum hat der Katholizismus sein „1989“ bisher nicht erlebt? Dies liegt sicher auch an der Lehre, der Spiritualität, den Gottesdiensten, den Wallfahrten usw., so dass viele Katholiken eben trotz und gegen den Vatikan katholisch bleiben, um der Wunder (Lourdes, Fatima!) und der Mystik willen, was auch immer man unter Mystik versteht.
Katholische Religion ist eben immer auch Opium und Folklore (Spanien, Semana Santa) … Außerdem sind gotische Kathedralen schön anzusehen oder barocke Kirchengebäude auch. Es ist sozusagen diese wundervolle, ästhetisch als erhebend erlebte Welt der uralten Frömmigkeit, die letztlich dafür sorgt, dass diese theokratische Diktatur bis heute noch fortbesteht. Natürlich weiß niemand, wie die Taube neben dem Gott Vater mit Bart ins barocke Bild kommt,…“Aber warum soll die Tierwelt, etwa die Taube, nicht auch im Himmel eine Rolle spielen, sagte mir ein junger Mann einmal in einer bayerischen Barockkirche… Vom Symbol der Taube als Heiliger Geist hatte er wie die meisten Besucher dieser kirchlichen Museen genannt Barockkirchen keine Ahnung…

Die Kommunisten hatten ihre Kulte kurzfristig erfunden, wie die Feiern zum 1.Mai, aber sie haben keine innere Resonanz bei den Menschen gefunden. Der russische Historiker Michail Ryklin hat in seinem wertvollen Buch „Kommunismus als Religion“, Frankfurt am Main 2008, darauf sehr anschaulich hingewiesen.

15.
Papst Franziskus denkt gar nicht daran, eine explizit synodale, und das meint immer (!) eine demokratische Kirche zu gestalten. Er verändert mit vielen Worten sozusagen etwas die Farbtöne in der katholischen Bilderwelt, aber ein neues modernes Bild will er nicht entwerfen oder gestatten. Denn dann gäbe es bei einer solchen Reformation, die mehr ist als eine Reform, auch keinen Papst und kein Papsttum mehr. Dann gäbe es aber die Gemeinschaften der gleichberechtigt Glaubenden, dann gäbe es auch keine „Laien“ und auch „Kleriker“ mehr, sondern nur noch spirituell suchende „Brüder und Schwestern“.

16.
Aber diese neue Kirche ist genauso eine ferne, sicher nie erlebbare Utopie wie die klassenlose Gesellschaft im Kommunismus.

17.
Warum also dieser Systemvergleich von zwei Diktaturen?
Weil die eine, die real-sozialistische und kommunistische Diktatur, keine innere, seelische Verheißung bieten konnte, keine transzendierende Illusion. Sie musste ohne Gott auskommen, und das war ein Teil ihrer Katastrophe.
Die katholische Diktatur wurde und wird, wie erwähnt, für viele erträglich durch die von den Dogmen gelieferte Verzauberung der Welt und der Existenz. Aber diese Verzauberung hat auch vielerorts keine Macht mehr, und so ist die Frage offen: Was kommt nach dem Ende auch dieser katholischen antidemokratischen Welt (also der Theokratie)? Wird es eine humane, eine vernünftige, eine elementare christliche Religion der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit geben? Oder wird der Konsumismus und der Neoliberalismus den endgültigen Sieg haben, falls denn die Welt nach all den Öko – und Umweltkatastrophen, den sinnlosen Kriegen und dem Gemetzel mit dem lukrativen Waffenexport etc. noch existiert.

18.
Mit einem Bedauern endet der Blick zurück, mit einem Bedauern darüber, dass sich so viele Menschen gern in der – dialektisch gesehen – behütend-zerstörerischen Macht von Diktaturen irgendwie dann doch einrichteten und gar wohlfühlten und immer noch wohlfühlen. Es ist die unreflektierte Bindung an angeblich allmächtige Autoritäten und der innere Zwang, gehorsam und angepasst zu leben, der diese Diktaturen und die Theokratie am Leben erhält und – wie im Falle des Vatikans – immer wieder mit Geld versorgt, obwohl diese Theokratie allein durch ihren Immobilienbesitz in Rom ein Milliardenvermögen hat. Aber die aufgeklärte, gebildete Jugend Westeuropas denkt anders. Welchem Gott wird sie folgen?

DRITTES KAPITEL als Ergänzung: I.: Der Beitrag des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski.

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat 1977 einen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel „Marxistische Wurzeln des Stalinismus“, dieser Text wurde in dem Buch „Leben trotz Geschichte“ (hg. Leonhard Reinisch), München 1977, S. 257-281, publiziert.

19.

Kolakowski, einer der bedeutenden europäischen Philosophen, war zunächst in Polen Marxist und Kommunist. Als Dissident wurde er 1966 aus der Partei ausgeschlossen und dann lehrte er seit 1969 als Philosoph an verschiedenen Universitäten in Kanada, den USA und vor allem in Oxford. Dort ist er (1927 im polnischen Radom geboren) im Jahr 2009 gestorben. …

Zu unserem Thema sind diese Hinweise Kolakowskis von Bedeutung: Die Bindung der Gläubigen an die katholische Kirchenführung, den Klerus, den Papst usw., ist in Westeuropa und Amerika mindestens bis 1968, strukturell verwandt mit der Bindung der Menschen an das totalitäre System des Kommunismus in Osteuropa bzw. der damaligen Sowjetunion.

20.

Kolakowski nennt ein politisches System totalitär, in dem „alle Gruppen und Individuen nur für Ziele handeln, die zugleich Ziele des Staates sind und als solche vom Staat festgelegt werden“ (S. 260).
Übertragen auf die Bindung der „engagierten Katholiken“ an die Kirchenführung heißt das: Auch diese Katholiken haben nur „für Ziele gehandelt, die zugleich Ziele der Kirchenführung sind und als solche von der Kirchenführung festgelegt werden“.
Also konkret gesagt: Die Kirchenführung bestimmt das Familienleben, die Gestaltung der Sexualität, sie schreibt vor, welche Bücher der Katholik ohne Strafe lesen darf, welche Partei er wählen darf, wie der Katholik mit Andersdenkenden umgeht usw..

21.

Weiter führt Leszek Kolakowski zum kommunistischen Totalitarismus aus: „Der Staat und seine organisatorischen Instrumente bilden die einzigen Formen des sozialen Lebens. Jede Art menschlicher Tätigkeit ist erlaubt, nur sofern sie im Dienst der staatlichen Ziele steht.“
Auf die Bindung der katholischen Gläubigen an die Kirchenführung bezogen heißt dies: Die einzige wertvolle und Gott – bzw. der Kirchenführung wohlgefällige Form des Lebens spielt sich für einen Katholiken nur in der Kirche ab, in der Pfarrgemeinde, in den Gemeindegruppen, den katholischen Verein und katholischen Schulen bis hin zu katholischen Friedhöfen… LINK.

22.

Leszek Kolakowski nennt weitere Elemente totaler Herrschaft in der Sowjetunion und in kommunistisch gelenkten Staaten:
Formen der repräsentativen Demokratie gibt es nicht….
Auf die katholische Kirche bezogen: Sie ist stolz darauf, nicht-demokratisch zu sein. Der Vatikan bzw. der “Heilige Stuhl” ist eine absolute “Wahl-Monarchie”.

Es gibt im Kommunismus keine wirklichen Wahlen. Es gibt keine freie Presse… und die gab es als katholische Kirchenpresse bis vor 20 Jahren gar nicht. Dann gab es Wahlen für den Pfarrgemeinderat, der nur beratende Funktion hat, die letzte Entscheidung trifft der Priester.
Ähnliches gilt für Synoden und synodale Prozesse… Alle Druckwerke hatten ein amtliches „Imprimatur“ …und in den katholischen Presserzeugnissen wachten strenge Priester über die Orthodoxie der Texte und der Autoren. Texte theologischer Dissidenten wurden nicht gedruckt. Man denke an das bischöflich verordnete Ende der kritischen katholischen Wochenzeitung PUBLIK.
Es gab keine Pluralität mit tatsächlicher Vielfalt. Alle Gruppen, ob kommunistisch oder katholisch, wurden von der Führung kontrolliert und in ihrer Entfaltung bestimmt.

23.

Kolakowski weist darauf hin, dass fast niemand die offizielle kommunistische Staatsideologie wirklich aus Überzeugung glaubte. Aber die kommunistische Staatsideologie musste nach außen aufrechterhalten bleiben, damit das ganze System des Staates nicht zusammenbricht. Dissidenten wurden bestraft.

Auf die katholische Kirche übertragen: Nur wenige glaubten das ganze fdogmatische System, das sich in dickleibigen Katechismen darstellte. Nur wenige glaubten etwa, dass sich Jesus von Nazareth den armen Fischer Petrus tatsächlich als den ersten Papst wünschte. Wobei doch fast jeder schon wusste, dass Jesus von Nazareth überhaupt nicht an eine Kirchengründung dachte, war er doch vom nahen Ende dieser Welt überzeugt. Aber bis heute glauben die klerikalen Beamten im Vatikan, dass die Form ihres Papsttums genau dem Willen Gottes und den Weisungen Jesu von Nazareth entspricht. Und sie hämmern diese Ideologie ihrer eigenen Herrschaft den Glaubenden ein. Vergeblich, auf lange Sicht…

24.

Im Katholizismus, seit etwa 1968, konnten sich die Gläubigen in nicht-kirchliche Organisationen flüchten, in feministische Gruppen, in Parteien, die nicht das „C“ als Aushängeschild hatten, in NGOs usw. Dieses Verbundensein mit säkularen Gruppen und Lebensformen schwächte entschieden die totalitäre Herrschaft der Kirchenführung. Bis heute versucht sie, ihre Allmacht zu festigen, im Bereich der Sexualmoral, der Abweisung der Gleichberechtigung von Frauen in den kirchlichen, priesterlichen Ämtern, die Abweisung der Homoehe usw.
Mit anderen Worten:
Die Katholiken konnten ihre menschliche Existenz auf eigene Art ohne kirchliche Vorschriften leben, weil sie sich in der freien, säkularen Gesellschaft entwickeln konnten. Die säkulare Welt, die Aufklärung, die Menschenrechte, haben die Gläubigen in ihrem Menschsein gerettet.

II: Die Hinweise des us-amerikanischen Philosophen Reymond Geuss. Er war Schüler eines katholischen Internats in den USA.

25.

Das neueste Buch von Reymond Geuss “Nicht wie ein Liberaler denken” (Suhrkamp 2023) ist auch eine Art philosophische Autiobiographie. Auf Seite 16 schreibt Geuss: “Lenin und Lukács haben beide von der Notwendigkeit einer Ideologie für das Proletariat gesprochen. Es war keine ausreichende Voraussetzung, unterdrückt zu sein oder gar zu wissen, dass man unterdrückt war; man musste auch Möglichkeiten haben, das empfundene Elend zu artikulieren, theoretisch zu verarbeiten…Man brauchte so etwas, wie das, was der Katholizismus zur Verfügung stellte”. Entscheidend die Erkenntnis: “Die Schwierigkeit ist natürlich, dass wir gegenüber allen totalisierenden ideologischen Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus zu Recht misstrauisch geworden sind” (S. 17).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Siehe auch die Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, WDR, „Die Pyramide des lieben Gottes. Über die Macht und das System in der römischen Kirche“ (Erstsendung am 1.11.2009)   U.a mit O Tönen von Otto-Hermann Pesch, Josef Imbach, Hermann Häring, Friedrich Wilhelm Graf, aber auch Kardinal Joachim Meisner und Kardinal Joseph Ratzinger: Vor allem dessen Empfehlung beachten, dass Theologiestudenten bitte wie Spitzel ihre Professoren beobachten sollten, vgl. O TON 16.     LINK