Offene Kirchen contra verschlossene Religion? Aber: Wozu sind die „offenen Kirchen“ offen …. wenn sie denn offen sind?

Ein Hinweis zu den Dorf-Kirchen im Land Brandenburg
Von Christian Modehn

1.
„Was machen wir, wenn die Gläubigen wegbleiben? Müssen wir Dorf – Kirchen (in Brandenburg) verschließen, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen in der Hoffnung auf wieder christlich engagiertere Zeiten? Oder können wir sie anders oder auch gewissermassen mit queren Ideen nutzen?“

2.
Solche Fragen, die zu „queren Ideen“, also provozierenden Vorschlägen, direkt auffordern, liest man nicht gerade oft in kirchlichen Publikationen. Diese Sätze stehen aber auf Seite 3 im Vorwort der Broschüre „Offene Kirchen 2023“, das Heft hat den Titel „Gotteshäuser im Wandel“, gemeint sind „Gotteshäusern“ auf den Dörfern der Mark Brandenburg.

3.
Zum Hintergrund:
Das Thema Dorfkirchen im Land Brandenburg ist alles andere als ein marginales, „bloß kirchliches“ Sonderthema. Diese Kirchengebäude, so klein, so bescheiden sie auch sein mögen, sind oft die einzige sichtbare und ästhetisch oft auch ansehnliche Erinnerung an „Kultur“ und kulturelle Traditionen in den Dörfern. Die Kirchen sind Zeugen einer religiösen Vergangenheit, die selten glorreich oder glanzvoll war in Preußen bzw. in Brandenburg. Aber immerhin, diese Gebäude aus alter Zeit, haben die DDR-Anti-Kirchenpolitik mehr schlecht als recht überstanden, auch die kirchenfeindliche Nazi-Zeit oder die problematische enge Verbindung der Kirche mit dem Staat im Kaiserreich usw.
Aber sie sind bis heute in gewisser Weise doch noch kleine „Lichtblicke“ in den sonst an kulturellen, architektonischen Höhepunkten sehr armen Regionen Brandenburgs. Dort freut man sich schon über gepflegte Ruinen von Zisterzienser-Klöstern (etwa in Chorin oder in Zinna) oder denkt an das von sehr konservativen österreichischen Mönchen wieder „belebte“ Barock-Kloster Neuzelle…LINK   Wie sollte auch die Kirche glänzen, wenn 2022 nur 14 % der Bevölkerung Brandenburgs sich evangelisch nennen und 3,6% katholisch, alle Mitglieder sind nicht mehr die Jüngsten. 2011 waren noch 17 % evangelisch und 3,0% katholisch. Das heißt, die Kirchenbindung wird in absehbarer Zeit nicht mehr deutlich wahrnehmbar sein. Ein Phänomen, das alle neuen Bundesländer besonders betrifft.

4.
Etwa 1.500 Dorfkirchen soll es nach ungefähren Zählungen im Land Brandenburg jetzt geben, etwa 850 dieser Kirchengebäude sind uralt, ursprünglich im 13., 14. Jahrhundert errichtet. Und es gibt verschiedene Initiativen, die sich um den Erhalt und die Renovierung dieser Dorfkirchen kümmern, bekannt ist der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“. Jährlich veröffentlicht er eine Broschüre, im Jahr 2023 mit dem Titel „Gotteshäuser im Wandel“. Aus dem Vorwort wurde schon am Anfang dieses Beitrags zitiert. Die Frage ist: Was wird aus den zum Teil mit viel persönlichem Einsatz und öffentlichen Geldern restaurierten Dorfkirchen und was aus den noch zu renovierenden?
Das Thema ist aber auch sozialwissenschaftlich relevant: Denn sind die Kirchen in den Dörfern nur Denkmäler aus vergangenen Zeiten, also äußerst selten genutzte, fast immer verschlossene Gebäude? Dann sind die Dörfer ein weiteres Mal wie tot erscheinende Orte mit einigen „Überlebenden“: Verschlossen sind schon fast alle Gaststätten von einst, nicht mehr vorhanden die kleinen Lebensmittelmittel-Geschäfte, kaum noch benutzt die Bushaltestellen der selten fahrenden Busse, weit entfernt vom Dorf die medizinische Versorgung, die Sparkassen usw. Schon jetzt ist es Tatsache: Eine gewisse Melancholie, manchmal eine Depression, kann den Besucher in dieser Gegend überfallen, wenn er diese Dörfer etwa der Uckermark besucht, er besucht sie, eingeladen von der Schönheit der Natur dort, den Alleen, der Stille.

5.
Wer einige „quere Ideen“ also theologisch-kritische Ideen formuliert, muss realistisch beginnen: Wer an diese Kirchen voller Neugier und auf der Suche nach Momenten spiritueller Sammlung herantritt, findet sie in Brandenburg jedenfalls meist verschlossen. Bestenfalls mit einer handgeschrieben Information, an der Kirchentür mit Reißnagel angeheftet: Bei Frau X Y im Dorf könne man sich ja den Schlüssel besorgen. Und sonntags um 10 Uhr? Da kann der Besucher lesen, dass der nächste Gottesdienst in dieser Kirche erst in 3 Wochen wieder stattfindet. Kein irgendwo ausliegendes Gemeindeblättchen hat den Mut, ehrlich mitzuteilen, wie viele Seelen denn an diesen Gottesdiensten teilnehmen. Wer dann zufällig in den Dörfern bei Gemeindemitgliedern nachfragt, erhält meistens als Antwort: „Na ja, Heiligabend ist die Kirche voll, sonst kommen so 8-10 Leute zum Gottesdienst“. Vom Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen ist auch keine Rede… Eine sterbende Kirche als in oft recht hübsch herausgeputzten kleinen verschlossenen Kirchen? Diese Erkenntnis sollte nicht verdrängt werden.

6.
Nun also die offiziell gewünschten „queren“, also kritischen Ideen.

– Die Gottesdienste: Nach wie vor finden evangelische Gottesdienste eher selten in den Kirchen der Dörfer statt. Und es sind Gottesdienste, die der üblichen, vorgeschriebenen liturgischen Ordnung folgen. Also mit all den inhaltlich kaum noch nach vollziehbaren Gebeten und Liedern. Solche Gottesdienste zu feiern ist freilich für viele PfarrerInnen einfacher als sich kreativ etwas Neues zu überlegen.
Es sind also fast immer herumreisende Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Gottesdienste etwa einmal im Monat in den jeweiligen Dorfkirchen halten, die zu ihrem „Sprengel“ „gehören“. Muss das so sein?

Die systematische Ausbildung von Laien als Gemeindeleitern und Gottesdienstleitern aus den Dörfern selbst gab es offensichtlich nicht. Sie könnten im Team oder einzeln wöchentlich einen Gottesdienst anbieten. Das hätte der Ausbau einer Basis-Laien-Kirche sein können. Aber dafür ist es wohl nun – aufgrund der Altersstruktur auf den Dörfern – zu spät. Die Kirche hat den Aufbau einer lebendigen Laien-Kirche verschlafen oder hat nicht im entferntesten daran gedacht. Basisgemeinden waren auf Kirchentagen etwas Bejubeltes für Lateinamerika, nicht für Brandenburg oder die Dörfer in der ganzen Republik. Diese „quere Idee“ können wir uns also abschminken, für eine Laien-Basis-Kirche ist es. – mangels Personal – wohl zu spät. Ein solcher Gedanke an kirchliches Versagen kann manchen Theologen in eine gewisse Trauer führen, wenn er auch bedenkt, wie viele Milliarden Euro in all den Jahren durch den kirchlichen Betrieb geflossen sind. Wohin bloß, in die Kosten für das etablierte Personal?
Lebendige Kirchengemeinden können nur entstehen, wenn endlich konsequent in den Gottesdiensten eine neue Sprache, begründet in einer neuen Theologie, praktiziert wird. Theologische übliche Floskeln, aus Gottesdiensten zu Heiligabend oder Karfreitag bekannt, sind verbraucht und leer: „Der Erlöser ist da“, „deine Sünden sind dir vergeben“, „Christi Blut rettet dich“, „Das Lämmlein geht und trägt die Schuld“. ….und so weiter…

Es müssen in diese Dorfkirchen explizit auch Dorfbewohner eingeladen werden, die nicht Mitglieder der Kirche sind. Sie könnten anstelle der üblichen Sonntagsgottesdienste zu „Lebensfeiern“, Meditationen, musikalisch – literarische Besinnung, Austausch über dringende (auch politische) Lebensfragen anstelle der üblichen Gottesdienste (zusammen mit Kirchenmitgliedern) eingeladen werden. Natürlich nicht um 10 Uhr wie üblich, sondern etwa um 15 Uhr mit anschließendem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Kirche oder im Garten etc.

– In Berlin leben so viele Musik-Studenten, viele junge Künstler, viele junge Autoren, viele junge kreative Menschen aus ganz Europa und der Welt: Warum können die nicht regelmäßig – etwa zur Sommerzeit – in den renovierten Kirchen (mit den oft auch funktionierenden Orgeln und Instrumenten) auftreten und „Salon-Veranstaltungen“ gestalten, mit entsprechender Werbung in Berlin und in der Mark. Warum soll das scheitern? …
In Thüringen wurden einige kleine Kirchen als „Herbergskirchen“ umgestaltet, berichtet Elke Bergt in dem Heft „Gotteshäuser im Wandel“(S.10). Warum gibt es „Wohn – Herbergs-Kkrchen“ nicht auch in Brandenburg?

Es muss möglich sein, dass diese Dorfkirchengemeinden zu „ökumenischen Gemeinden“ offiziell erklärt werden: Die Katholiken könnten ihre äußerst wenigen Priester entlasten, die gestreßt von einer Kirche zur anderen hetzen, um ihre Sonntags-Messen zu lesen. Es müsste den Katholiken, ihren Bischöfen auch, klar sein: Soll der Glaube dort überleben, dann nur durch ökumenische Praxis. Also sollten Katholiken explizit zu den Gottesdiensten oder besonderen „Lebensfeiern“ in den evangelischen Dorfkirchen eingeladen werden, als gleichberechtigte ökumenische Gemeindemitglieder. Die Protestanten hätten dabei wohl die geringeren Probleme als die Katholiken bzw. deren auf die Reinheit der uralten Lehre bedachten Bischöfe. Aber warum könnte nicht wenigstens endlich einmal in einer Region als „Experiment“ Ökumene im vollen Umfang praktiziert werden? Ich vermute, die Protestanten hätten auch nichts dagegen, wenn gelegentlich die Katholiken in den Kirchen den dringenden Wunsch haben, eine Marien-Andacht in der einst evangelischen, nun aber ökumenischen Kirche zu feiern.Selbstverständlich müsste diese Kirche und müssten die Gemeinden als ökumenische Gemeinden offiziell gelten. Mit der Zahlung und Verteilung der Kirchensteuer käme man schon klar…Hier fehlt der Platz um dieses Modellprojekt „Ökumene in Brandenburg“ ausführlich darzustellen…

Selbstverständlich müssten diese Dorf-Kirchen auch offen sein für andere Religionen, etwa für Buddhisten oder Yoga-Übende oder für Freunde der Sufi-Mystik oder jüdischen Theologen, die die Bibel auslegen? Warum könnten einige Kirchen in den Dörfern, wo Literaten und Schriftsteller schon wohnen, nicht auch Literaturkirchen werden? Oder zentrale Treffpunkte für Menschen, die sich intensiv für die ökologische Wende einsetzen.
Vielleicht sollte die Kirche im nahegelegenen Berlin nach Kirchen-Paten suchen, die sich im Team um eine Kirche und die Gestaltung der Veranstaltung dieser ihrer einen Kirche kümmern, weil sie selbst in dem einen oder anderen Dorf oft zu Gast sind oder dort ihre „Zweitwohnung“ haben.

– Aber warum und zu welchem Zweck sollten denn die Dorfkirchen überhaupt tagsüber offen sein? So viele herausragende Kunstwerke gibt es ja dort nicht zu bestaunen, so viele wertvolle Kirchenfenster oder Taufengel auch nicht. Der einzige dringende Grund: Diese Kirchen sind Orte der Meditation, der Stille, der Einkehr, des Gebets. Deswegen sollten sie offen sein. Und ein Pfarrer könnte sich ja zweimal pro Woche in die Kirche setzen für eine Stunde setzen und mit den Besuchern Lebensfragen besprechen oder Hinweise zu Meditation und Gebet geben. In Frankreich sind die (katholischen) Kirchengebäude bekanntlich die Orte, wo Pfarrer anzutreffen sind, das ist ihr „Arbeitsplatz“ auch außerhalb der üblichen Sonntagsgottesdienste…

– Über die Frage: Müssen wirklich diese fixierten unbequemen Holzbänke in den Dorfkirchen stehen?  wäre nachzudenken. Oder können nicht auch bequeme, fürs Meditatieren und Beten geeignetere Sessel und Stühle oder Kissen diese ewigen “Kirchenbänke” ersetzen? Ich würd micht gern länger in einer Dorfkirche ausruhen, meditieren etc., wenn nicht diese Bänke herumstehen wü+rden. Oder ist das etwa alles vom “Denkmalschutz” geregelt?

– Aber noch eine Idee, eine „quere“ aber als eine“ queere“ Idee. Queer also: Warum können manche Dorfkirchen nicht gastfreundlich sein auch für queere Menschen, also etwa Sonntag mittags den Pfarrgarten und die Kirche öffnen für den queere Menschen und deren FreundInnen. Etwa auch für Gruppen aus Berlin, die gern einmal auf dem Land, in einem Dorf, Momente der Besinnung, der Erholung usw. suchen. Es wird doch nicht schon so weit gekommen sein, dass diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wird, weil es auf den Dörfern schon so viele AFD Leute oder explizitere Nazis gibt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der “Förderkreis Alte Kirchen Berlin Brandenburg e.V.”,: www.altekirchen.de ;  altekirchen@gmx.de

Ein Orts-und Personenregister der “Offenen Kirchen” (Broschören) von 2000-2023: www. altekirchen.de/offene-kirchen/register

Siehe auch einen Beitrag von Chrostian Modehn über  “Theodor Fontane und seine Dorfkirchen”:  LINK

“Stille in leeren Kirchen” eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, NDR “Glaubenssachen”:   LINK

Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, “Leere Kirchen, lebendige Spiritualität”. LINK

Ein Buchhinweis, zu einem Foto-Buch, ein Dokument verfallener, verlassener Kirchen vor allem in Frankreich, eine Besprechung und Buchempfehlung von Christian Modehn  LINK

 

 

 

 

Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

„Himmelfahrt“ und Pfingsten vernünftig verstehen!

Christliche Feste vernünftig erklären. Für uns heißt das: „Undogmatisch“, also freisinnig verstehen.
Ein Hinweis von Christian Modehn

……. Wer sich sogleich für unsere Interpretation zu „Pfingsten“ interessiert: Siehe Nr. 8 f., besonders Nr. 17 und 18.

1.
Schwer tun sich die meisten – verständlicherweise – mit den Titeln (und der Bedeutung) christlicher und speziell katholischer Festtage: Von „Fronleichnam“ soll aber jetzt keine Rede sein. Auch nicht von „Allerheiligen“ oder „Allerseelen“. Von einer „Himmelfahrt“ soll gesprochen werden, aber nicht der Marias, der Mutter Jesu von Nazareth. Sie erlebte gemäß der Mythen und des Dogmas nicht eine „Himmel-Fahrt“, sondern eine „Aufnahme in den Himmel“ (Festtag 15.8.) Dabei sei Gott selbst tätig gewesen, sagte Papst Pius XII. Im Jahr 1950. Gott „nahm“ Maria in den Himmel auf… Jesus aber „stieg“/„fuhr“ – im uralten Bild – selbst in den Himmel.

2.
Hier geht es also um „Christi Himmelfahrt“. Ein religiöser Denk-Feier-Tag, der mangels tieferen Verständnisses säkular „Vatertag“ genannt wird. Populäre Ideen der Blumenhändler und Kneipiers: Die Mütter haben ihren Blumen-Feiertag, und die Väter bzw. Männer sollen doch bitte auch „endlich mal“ (?) ihren Feiertag haben. Jesus hat ja bekanntlich auch gern Wein getrunken, darin sehen „die“ Männer nun die Berechtigung, gerade an diesem berühmten Donnerstag, immer 10 Tage vor Pfingsten, einmal (un)ordentlich zu trinken. Für viele bleibt dies (leider) die einzige Verbindung zum Denken an die „Himmelfahrt Jesu Christi“.

3.
Der „Himmelfahrtstag“ meint also immer „Christi Himmelfahrt“, oder noch genauer: Die „Himmelfahrt“ Jesu von Nazareth, der von Christen als „der“ Christus, d.h. der Erlöser, verehrt wird.

4.
In den Himmel ist also Jesus „gefahren“: Was für ein merkwürdiges, ungeschicktes Bild, an dem die Kirchen dummerweise bis heute festhalten. Was ist damit in einer vernünftigen Theologie gemeint? Und nur um eine vernünftige Theologie kann es heute nur noch gehen, sie ist klar erklärend, Mysteriöses abweisend, Verstehen weckend. Und kann aber bei religiösen Themen, modern interpretiert, auch nicht auf neue Bilder, Symbole, Metaphern verzichten. Anders geht es nicht: Man hat philosophisch und theologisch nur die Wahl zwischen heute etwas verständlichen und heute sehr unverständlichen alten Bildern, Symbolen, Metaphern.

5.
Jesus von Nazareth ist, nach seinem Tod am Kreuz, als „Auferstandener“ nicht mehr sichtbar unter seinen Freunden gewesen, auch wenn die Evangelisten davon in Bildern, Mythen, voller Schwärmerei und maßlosen Übertreibungen sprechen und schreiben. Sie konnten 60 bis 80 Jahre nach Christi Geburt einfach nicht anders. „Weltbild gebunden“, sagen Theologen.

6.
Die Auferstehung Jesu bedeutet: Der Gekreuzigte liegt wie alle anderen Menschen als toter Körper im Grab. Aber eine Einsicht kommt seinen Freunden: Jesu Seele hat den Tod überlebt, den Tod überwunden: Man kann etwa sagen: Jesus lebt in der niemals zu zerstörenden Präsenz des Ewigen, dies ist eine transzendente Wirklichkeit. Das meint das uralte naive Bild: Jesus ist in den Himmel „gefahren“.
„Jesus ist nicht mehr hier“, sagt der Engel den Frauen am Grab Jesu (Markus, 16,6), d.h.: Er ist auf der Erde, irdisch, nicht mehr greifbar.
Der Glaube an eine geistige Nähe lieber Verstorbener ist ja eine weit verbreite Überzeugung, der sich niemand schämen muss.

7.
Wer also von der „Himmelfahrt Jesu von Nazareth“ spricht, muss zugleich von der Auferstehung Jesu von Nazareth reden. Und stellt dann fest: Beide Begriffe beschreiben die gleiche Erfahrung der Hinterbliebenen, also der Jesus-Freunde, der Gemeinde, die sich nach Jesu Tod versammelte. Beide Feste meinen das gleiche: Die Auferstehung Jesu IST seine „Himmelfahrt“. Nur diie bekannte Freude der Christen am Feiern erklärt die Verdoppelung des einen Gedenkens, des einen Feiertages. Und natürlich: das eigene „Kirchenjahr“ (es beginnt am 1. Adventssonntag) braucht auch verschiedene „Ereignisse“ und Feste…

8.
Und Pfingsten? Der tote Jesus ruht zwar im Grab, aber er ist als geistige, d.h. nicht zu greifende „Wirklichkeit“ mit der Gemeinde verbunden, im Geist, in der Erinnerung lebendig als der nun „Ewige“.
Diese Einsicht erlebt die Gemeinde als unverhoffte Erkenntnis, als außergewöhnliches Geschenk ihrer allen Menschen zugänglichen Vernunft. Die Freunde Jesu werden später diese besondere Einsicht ihrer Vernunft eine Gnade nennen.
Tatsächlich es ist ihr menschlicher Geist, der Jesus als auf andere Art als „lebendig“ erkennt, als Teil des Ewigen.

9.

Dieses „Ereignis“ der tieferen Einsicht meint „Pfingsten“: Jesus wird von der Gemeinde als „geistig lebendig“ erkannt und gefeiert. Diese Erkenntnis wertet die Gemeinde als überraschendes Geschenk, und: als Chance einer neuen, alle nationalen Identitäten sprengenden Gemeinschaft.

10.
Ostern – Jesu Himmelfahrt – Pfingsten, das ist die Folge der Feste im Kirchenjahr. Aber Pfingsten ist als das zeitlich letzte der drei Feste nun – logisch gesehen – das erste, d.h. das alles gründende „Ereignis“: Weil die Gemeinde der Freunde Jesu überhaupt um die Bedeutung Jesu von Nazareth ringt, kommt sie zur Einsicht: Jesus ist zwar körperlich tot – aber seine Seele, sein Geist, lebt. Und im Geist sind Gemeinde und Jesus also verbunden, diese Verbindung ist so außergewöhnlich, dass sie dann heiliger Geist genannt wird.

11.
Aber es bleibt ein Problem:
Wenn ich mit meinem menschlichen Geist, mit der Vernunft, über den „heiligen Geist“ nachdenke, ist es dann mein menschlicher Geist, der den heiligen Geist verstehen kann? Oder wirkt dann in mir, der Bibel und den offiziellen Dogmen folgend, irgendwie der besondere, der heilige Geist? Führt also nur der heilige Geist in die Höhen der Gotteserfahrung?
Noch einmal anders gefragt: Wenn ich mich mit religiösen Themen beschäftige, wirkt dann der „heilige Geist“ in mir? Aber wenn ich mich mit „weltlichen“ Problemen befasse, etwa mit der Gestaltung der Demokratie, der Solidarität oder meiner Gesundheit… , ist dann „nur“ mein menschlicher Geist tätig? Soll es also gleichsam zwei „Geister“ im Menschen geben, den üblichen menschlichen Geist, und parallel dazu, den gelegentlich wirkenden heiligen Geist?
Erlebe ich wirklich zwei Geister in mir? Der eine soll menschlich sein, der andere göttlich, heilig? Bedeutet dieser doppelte Geist nicht eine gewisse Form von Verwirrung, vielleicht von Spaltung, von Schizophrenie?

12.
Ich bin überzeugt, dass die Christen wie überhaupt alle Menschen nur einen einzigen Geist haben. Und dieser eine Geist, das Auszeichnende des Menschen, wird gelegentlich auch heilig genannt, erhaben, grundsätzlich unangreifbar. Dies ist die Leistung der Freunde Jesu, der ersten Gemeinde, in ihrer „Pfingsterfahrung“.

13.
Für die alltägliche Lebenspraxis bedeutet das: Etwas abstrakt formuliert: In der Kraft unseres Geistes, also auch der Vernunft und der Urteilskraft, können wir uns entscheiden für Gutes oder Böses in unserem Leben. Entscheiden wir uns für Gutes, etwa für den Respekt, das Mitgefühl, für die Förderung von Kunst und Literatur, für die Suche nach dem Göttlichen, dann erkennen wir: Der Geist kann in dieser speziellen Aktivität tatsächlich „heilig“, erhaben, ewig genannt werden, weil er hilft, den alltäglichen Egoismus und die Verkapselung ins Weltliche zu überwinden.
Das Böse als Tat ist genauso Ausdruck freier Entscheidungen, Ausdruck des Geistes, des Denkens. Haben wir uns für Böses entschieden, haben wir uns mit unserem Geist freiwillig (oder im psychischen Krankheitsfalle wie betäubt) gegen unser Gewissen entschieden. Aber immer ist es der eine Geist, der Geist der Freiheit, der uns zur freien Entscheidung führt.

14.
Eine weitere philosophische Überlegung:
Wenn man die menschliche Wirklichkeit mit dem Göttlichen in Verbindung bringen will, dann nur über die Erkenntnis: Das Göttliche hat die Evolution der Welt „geschaffen,“ darin entwickelt sich der Mensch als Geist und das heißt als Freiheit. Hätte der Mensch die Freiheit (die auch Freiheit zum Bösen ist) nicht, dann wäre er kein Mensch mehr, sondern ein Tier, das seinen Trieben folgt. Aber das Göttliche als „Schöpfer“ der Welt und des Menschen, hat mit seinem Geist das Geschaffene, den Menschen zumal, ausgestattet. Sonst wären die Welt und der Mensch außerhalb des Göttlichen, Gott hätte als Gott also eine Konkurrenz, er wäre nicht mehr Gott.
Der eine Geist, die eine Vernunft des Menschen ist wegen der engen Verbundenheit („Schöpfung“) mit dem Ewigen, dem Göttlichen also heilig!

15.
Durch diese Erkenntnis werden bestimmte uralte, aber immer umstrittene Dogmen in Frage gestellt. Darum ist diese hier skizzierte freisinnige theologische Erkenntnis für die dogmatisch verfassten Kirchensysteme erschütternd. Das Dogma der Erbsünde, das der Kirche von Augustinus (gestorben 430) gegen vernünftigen theologischen Widerstand aufgezwungen wurde, kann endlich beiseite gelegt werden. Fällt aber das Dogma der Erbsünde, fällt auch eine bestimmte kirchlich-dogmatische Vorstellung von „Erlösung“. Unvorstellbar wird dann das mittelalterliche Dogma, dass Jesu von Gott als dem Vater in den Tod geschickt, hingeschlachtet wird, um die Erbsünde bei den Menschen auszulöschen. Und das soll „Erlösung“ sein, diese Idee lebt leider bis heute in vielen kirchlichen Weihnachtsliedern oder Karfreitagsliedern weiter, gesungen von Leuten, die oft gar nicht verstehen, was sie da alles so singen…

16.
Jesus von Nazareth wird im neuen vernünftigen Denken zu einer Orientierung, zu einem Offenbarer, seine zentrale Lehre: Alle Menschen sind „Gottes Kinder“ – haben also den einen Geist in sich, er ist vom Ursprung her der heilige, göttliche und ewige Geist. Und die Menschen brauchen deswegen den Tod als das definitive Ende nicht zu fürchten.

17.
Und vor allem: Wenn alle Menschen „Gottes Kinder“ sind, wie das Bild richtig ausdrückt, dann ist jeder Mensch von absolutem Wert, dann sind alle Menschen untereinander Bruder und Schwestern. Daraus ergeben sich weitreichende politische Konsequenzen: Nämlich die Gültigkeit der Menschenrechte für alle, auch für die vom Kapitalismus arm Gemachten, die Hungernden, die Gefolterten, die Leute in den Lagern der Diktaturen usw.

18.
Pfingsten ist also auch ein politisches Fest, das Fest der absoluten Gleichberechtigung aller Menschen. Ein Fest mit einer Forderung also, ein Fest der Menschenrechte. Pfingsten hat also wenig zu tun mit dem Trallala des Alleluja – Enthusiasten, die sich “Charismatiker” nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gott im Ukraine-Krieg. “Wenn es Gott gäbe, hätte er die Tragödie, die die Ukrainer erleben, nicht zugelassen“.

Religionsphilosophische Überlegungen zu einer Aussage von Oksana Ivanets, Oberstleutnant der Ukrainischen Armee. Publiziert im „Tagesspiegel“ am 8. Mai 2023, S. 10.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9. Mai 2023. Die 13. der “unerhörten Fragen”.

1.
Jede und jeder kann seinen Glauben frei aussagen. Das ist selbstverständlich. Aber jedes individuelle Glaubensbekenntnis, bezogen auf eine göttliche Wirklichkeit, auf Gott, kann und sollte philosophisch befragt werden. Gedankliche Klarheit kann das Leben nicht nur erleichtern, sondern helfen, es neu und besser zu gestalten.

2.
Die totale Verzweiflung Okasana Ivanets ist verständlich: Die Region um die bedeutende ukrainische Stadt Charkiw wurde von den russischen Truppen aufs übelste fast völlig zerstört, selbst Krankenhäuser mit ihren PatienTinnen wurden vernichtet. Menschliches Leben ist in den Ruinen nicht möglich. Die Felder sind von russischen Minen übersät, die Aufräumarbeiten werden viele Jahre dauern. Es ist schwer für die Menschen (nicht nur dort), überhaupt noch Hoffnung zu bewahren. Und dann wird von den oft noch frommen UkrainerInnen die Frage gestellt: Warum hat Gott dieses Grauen, dieses sinnlose Töten der russischen Mörder, nicht verhindert? Oksana Ivanets hat offenbar den Glauben an einen allmächtigen, treu sorgenden Gott verloren.

3.
Wer Gott als einen allmächtigen, immer wieder aktuell Wunder wirkenden und ins Weltgeschehen eingreifenden Gott versteht, wie offenbar Oksana Ivanets, kann an diesem Gott verzweifeln. Und wird damit neue Antworten suchen zu der nicht abzuweisenden Frage: Was ist der Sinn dieses Grauens, dieses Mordens, dieses Krieges. Eindeutige, sozusagen mathematisch unbedingt beweisbare Antworten kann es zu diesem philosophischen Thema nicht geben.

4.
Es kann aber gefragt werden: Wie sinnvoll ist es, eine göttliche Wirklichkeit, einen Gott, für das Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen. Die grundlegende ERKENNTNIS ist: Ein solches Denken lenkt ab von der Verantwortlichkeit der Menschen, der Politiker vor allem, für diesen Krieg … wie für alle Kriege, die jemals von verblendeten Menschen in ideologischem Wahn geführt wurden. Und genauso wichtig: Wer Gott als Täter – parteiisch – im Krieg will, folgt einem, mit Verlaub gesagt, naiven Gottesbild. Es wurde von den Kirchen und ihren alten Dogmen zwar mit dem Inhalt vermittelt: „Gott handelt”. Aber es wurde nicht gesagt: Gott handelt nur durch die freie Entscheidung der eigentlich vernünftigen Menschen,

5.
Lassen wir also Gott in dieser konkreten politischen Frage beiseite. Fragen wir nach den Menschen, vor allem den Politikern, den Machthabern, in diesem brutalen Geschehen. Denn sie sind, die Kriege planen, Kriege ausführen, Männer als Soldaten, als Kanonenfutter, in die Schlacht schicken, sie sind es, die vom Schreibtisch aus mit Bomben humanes Lebens auslöschen.
Es sind also konkrete Menschen mit konkreten Namen, so genannte Politiker, die dieses Grauen ausrichten. Die politischen Täter (Verbrecher) wurden aber zugelassen in ihrem Tun von Politikern der benachbarten oder ferneren Staaten. Diese haben aus Mangel an kritischer Kraft, aus Bequemlichkeit, aus ökonomischen Interessen die sich aufbauenden Mörder-Politiker (etwa in Russland) zugelassen.

6.
Es ist also menschliche Dummheit, politische Nachlässigkeit, ökonomische Gier, die auch unter demokratischen Politikern den langsamen Aufbau politischer Gewalttäter wie in Russland zugelassen haben.

7.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, gegen die Freiheit, gegen die Demokratien und Menschenrechte ist also eindeutig Schuld der Menschen. Und Schuld der Politiker, die von diesen Menschen, selbst oft unkritisch, gedankenlos, egoistisch, nationalistisch, gewählt wurden. Diese Leute und die von ihnen gewählten Politiker sind nicht der besseren Einsicht gefolgt, haben im Falle Putins nicht rechtzeitig STOP gesagt und gewaltfreie Aktionen und Sanktionen gegen ihn eingeleitet. Dass eine Gestalt wie Putin und sein System so übermächtig gewaltsam werden konnten, verweist auch auf das völlig unterentwickelte demokratische Bewusstsein in Russland. Die orthodoxe Kirche wurde seit 1990 nie eine Kraft, die die Verteidigung der Menschenrechte genau wichtig fand ihre Weihrauch umwölkten stundenlangen Liturgien in altrussischer Sprache. Dieser Kirche war und ist Dogmatismus und Nationalismus wichtiger als die Ausbildung des Volkes in den Menschenrechten. Und diese russisch-orthodoxe Kirche ist seit 1961 Mitglied im „Ökumenischen Weltrat der Kirchen“ in Genf: Aber diese Theologen aus aller Welt dort ist es offenbar nicht gelungen, diesen russischen Patriarchen und Popen die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte als obersten Auftrag einer jeden sich christlich nennenden Kirche einzuschärfen. Stattdessen hat man sich in Genf theologisch hübsch ausgetauscht, und statt auch von Russland bzw. damals der Sowjetunion kritisch zu sprechen, hat man im Ökumenischen Weltkirchenrat eher von Südafrika geredet, was ja richtig war, aber eben einseitig. Die Nachlässigkeit im Umgang mit den russischen Patriarchen sieht man jetzt. Und Papst Franziskus sieht sich so stark, dass er unbedingt Patriarch Kyrill I. In Moskau treffen und „bekehren“ will. Eine Aktion, leider verspätet. Zu vieles wird versäumt…

8.
Damit sollte klar sein: Gott ist nicht schuldig am Morden und Grauen im Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Demokratien. Was hätte Gott denn vom Himmel aus Tun sollen? Mit einem göttlichen Blitz etwas den Kreml auslöschen oder den Patriarchen zum Christentum führen sollen oder was? Wenn man schon von Gott redet, sollte man wissen: Das Göttliche hat als Schöpfer der Welt (als einem evolutiven Geschehen !) den Menschen Geist und Verstand gegeben, also die einzigartige Möglichkeit, in reflektierter Freiheit das Leben, auch die Politik, zu gestalten. Diese Freiheit vollzieht sich immer in einer inneren, geistigen Reflexion, die man klassisch Gewissen nennt. Kriege sind Ausdruck dafür, dass Menschen, dass Politiker, nicht auf ihr Gewissen achten, also nicht auf die Stimme der allen Menschen gemeinsamen humanen Vernunft hören.
Nebenbei: Was wäre wenn die aktuellen Gebetswünsche der Russen „Gott hilf, dass wir die Ukraine auslöschen“, von Gott erfüllt würden? Wie parteilich darf Gott eigentlich sein, in diesem naiven Gottesbild?

9.
Kriege sind also Menschensache, und damit eigentlich zu verhindern, wenn denn Menschen auf ihre Vernunft achten, auf Ihr Gewissen, und achtsam reagieren, wenn sich in dieser Welt Gewaltherrscher etablieren. Aber viele Menschen in den Demokratien sind ja froh über diese Fehlentwicklungen, dann können sie den Gewaltherrschern und ihren Regimen Waffen verkaufen… Und Politiker können ihre nationalistischen Ambitionen ausleben. Alles das ist unvernünftiges, inhumanes Tun. Es hat aber mit Gott nichts zu tun. Es sei denn, man klagt ihn als „Schöpfer“ dieser Welt an, den Menschen überhaupt die Freiheit gegeben zu haben. Hätte der Mensch aber keine Freiheit, wäre er kein Mensch, sondern ein den eigenen Trieben folgendes Tier. Aber diese Tiere – ohne Freiheit – gehen ja mit anderen Tieren auch nicht immer freundlich um. Fressen und Gefressenwerden ist das Motto. Die Menschen aber sind eigentlich zu anderem fähig. Aufgrund ihrer Vernunft, ihres Gewissens. Aber beides „lieben“ die Menschen immer besonders, wenn Vernunft und Gewissen schlafen, stillgestellt sind…Und der Egoismus sich durchsetzen kann…

10.
Solange Friedenserziehung für Kinder und für Erwachsene in allen Ländern nicht Pflichtfach über mehrere Jahre ist, wird es immer wieder Kriege geben. Dies ist eine optimistische, vielleicht auch utopische Erkenntnis. Aber sie ist viel mehr wert als einen Gott fürs Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen.

11.
Ist aber der Krieg einmal Realität, wie jetzt in der Ukraine, kann das stille und schreiende Gebet des leidenden einzelnen eine Hinwendung zu einer göttlichen Wirklichkeit sein, als Suche nach einem letzten spirituellen Halt, einem letzten Sinn „trotz allem“. Gebet ist also als eine poetische Form der seelischen Beruhigung und damit der reflektierten Akzeptanz des Geheimnisses menschlicher Freiheit. Was bleibt, wenn wir die Idee einer vernünftigen humane Weltordnung aus Resignation aufgeben?

12.
Befreien wir uns also davon, Kriegsgeschehen und Gott in Verbindung zu bringen. Aber die Frommen und die Weniger Frommen neigen immer wieder dazu. Jetzt wird etwa Gott in die furchtbare Trockenheit in Italien, Spanien, Frankreich einbezogen. Er, Gott als Wettergott ???, soll Regen schicken. Ein naiver Wunsch: Und ein Wahn. Es ist doch der fehlende Respekt der Menschen vor der Natur und vor allem vor dem Klima, der zu dieser gefährlichen Trockenheit führt. Anstelle von Regen-Bitt-Prozessionen sollte politische und ökologische Aufklärung in den Kirchen geschehen: Wie viel Wasser wird seit Jahren – durch schlechte Leitungen – vergeudet in den Obst-Plantagen im Süden Spaniens usw… Dies ist ein anderes, aber ähnliches Thema, das, nebenbei gesagt, zeigt, wie dringend kritische religionsphilosophische Überlegungen bleiben. Aber die Predigten der Pfarrer preisen nach wie vor einen Kriegsgott oder einen Wetter-Regen-Gott. Manchmal ist es zum Verzweigfeln mit der Unwissenheit und Dummheit des Klerus…

13.

Hat dann Gott/das Göttliche nichts mehr mit der Welt und den Menschen, den Ereignissen in der Welt etc.zu tun? In einer kritischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Antwort klar: Gott/das Göttliche wirkt als solcher/solches nicht unmittelbar als solcher. Da Gott/das Göttliche aber als “Schöpfer” der Evolution und des Menschen (und des menschlichen Geistes) gedacht werden kann, wirkt Gott/das Göttliche durch den von ihm geschaffenen GEIST, der Vernunft, der Empathie IM Menschen auch in der Welt etc.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Freiheit – ist immer auch eine Freiheit FÜR andere: Lea Ypi.

Zur Philosophie der albanischen Autorin und Philosophin Lea Ypi
Ein Hinweis von Christian Modehn

Welcher Inhalt zum Begriff Freiheit zeigt sich für eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend im kommunistischen Albanien erlebte?

1.
Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi hat ein viel beachtetes autobiographisches Sachbuch veröffentlicht. Der Titel: „Frei“. Der Untertitel: „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“.
Lea Ypi, 1979 in Tirana geboren, beschreibt in dem Buch „Frei“ sehr ausführlich ihr äußerst beschwerliches Leben und das ihrer Familie und ihrer Freunde im „Sozialismus“ des Diktators Enver Hoxha. Die Zeit der so genannten „Transformation“ als mühevoller Abschied vom „Sozialismus“ wird aus subjektiver Sicht beschrieben. 1997 verlässt Lea Ypi das Land Richtung Italien, sie studiert zunächst in Rom, später u.a. in Paris, Berlin Philosophie und Literatur, seit 2016 ist sie Professorin an der angesehenen Universität „London School of Economics“.

2.
Die Geschichte des Mädchens Lea Ypi ist ein Ringen um Freiheit, wobei die Autorin nicht verschweigt, wie sie als Kind durch die Propaganda und Indoktrination in der Schule durchaus zu einem naiven Glauben an den Kommunismus fand und den Diktator – ehrfürchtig -„Onkel Enver“ nannte.

3.
Im expliziten Sinne philosophische Reflexionen zum Thema des Buches, also „Freiheit“, bietet das Buch vor allem im letzten Drittel.
Bedenkenswert etwa die Einsichten zu Widersprüchen im alltäglichen menschlichen Leben, etwa am Beispiel des Wunsches auszureisen, das eigene Land zu verlassen: Im Sozialismus wurde man verhaftet, wenn man ausreisen wollte. Im Kapitalismus ist der aus Albanien Ausreisende alles andere als willkommen, wie etwa in Italien, von dort wurden viele albanische Boots-Flüchtlinge wieder zurückgeschickt. Lapidar heißt es auf S. 199: „Welchen Wert hat das Recht auf Ausreise noch, wenn es kein Recht auf Einreise gibt?“ Und die Freiheit zu bleiben besteht auch nicht in Albanien damals (S. 200). Denn das Verbleiben im kapitalistischen Albanien bietet angesichts der Arbeitslosigkeit keine Lebenschancen. Weggehen oder Bleiben – beides bietet keine Lebenschancen.

4.
Zu denken geben die Reflexionen Lea Ypis zu zentralen politischen Begriffen: Die herrschenden Leitbegriffe der Lebensorientierung werden ausgetauscht. Der im Kapitalismus übliche Begriff „Zivilgesellschaft“ hat den sozialistisch – kommunistischen Begriff „die Partei“ ersetzt (S. 230). Zum Umfeld der „Zivilgesellschaft“ gehört für Ypi auch der Begriff „Liberalisierung“, der den Begriff „demokratischer Zentralismus“ abgelöst hatte“ (S. 231). „Privatisierung nahm die Stelle von Kollektivierung ein und Transformation die Stelle von Selbstkritik… Antiimperialistischer Kampf wurde durch Kampf gegen Korruption ersetzt“. (ebd.) Die Marktwirtschaft muss nun angekurbelt werden. (S. 261). Wie im Sozialismus gibt es also auch im liberalen Kapitalismus ein MUSS „Es gibt einen vorgeschriebenen Weg, der einzuhalten ist“ (S.261), sagt der Vater der Autorin, der nach dem Ende des Sozialismus Generaldirektor des Hafens wurde. „Er war weniger frei als er es sich vorgestellt hatte“ (S. 263). „Der Klassenkampf war nicht vorbei, das hatte der Vater begriffen!, (S.264), als er gezwungen war, aufgrund von so genannten neoliberalen „Strukturreformen“ (S. 242) Arbeiter im Hafen zu entlassen. Aber: Der Vater will sich die Namen der Entlassenen merken, er will sich stemmen gegen das Vergessen, er wehrt sich gegen eine Welt, in der Menschen nur noch als Zahlen in Statistiken vorkommen. Der Vater glaubt noch an ein Körnchen Güte in jedem Menschen.

5.
Entscheidend die Erkenntnis der Philosophin Lea Ypi: „Alle diese neuen Konzepte handelten von Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums“ (S. 231). Der einzelne steht nun absolut im Mittelpunkt der demokratisch – kapitalistischen Ordnung. Lea Ypi lässt keinen Zweifel daran, dass die Ideologie der Herrschaft des Individuums ergänzt und kritisiert werden muss durch die Erkenntnis: Freiheit ist immer auch Freiheit, FÜR andere und MIT anderen zusammen eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

6.
Es sind die Zweifel am Leben, an der Gesellschaft, am Staat, an der „Ordnung“ des Zusammenlebens überhaupt, die Lea Ypi zur Philosophie führen. „1990 hatten wir nichts außer Hoffnung gehabt; 1997 (dem Jahr des Krieges in Albanien aus ökonomischen Gründen) hatten wir selbst die Hoffnung verloren. Die Zukunft sah trostlos aus“ (S. 318). „Ich hatte nichts als Zweifel“ (S. 319).

7.
Als Philosophin zeigt Lea Ypi, dass der Mensch „trotz aller Zwänge nie die innere Freiheit verliert, die Freiheiten das Richtige zu tun“ (s. 323). Selbst im totalitären Kommunismus von Enver Hoxha war die Reflexionskraft der Eltern und der Großmutter noch schwach und ungebrochen da, sie wussten, wie sie in in einer Diktatur überleben konnten, etwa durch den Einsatz von Lügen gegenüber ihren Kindern bzw. Enkeln. Die Familie Ypi ist ein (seltenes) Beispiel dafür, dass Menschen, die sich die innere Freiheit der stillen Selbstreflexion bewahrt haben, selbst die stalinistische Diktatur relativ menschlich überleben können, ohne dabei mit dem Diktator zu paktieren.

8.
Lea Ypi verschweigt überhaupt nicht, dass sie sich als Philosophin und Autorin als Sozialistin versteht. Sie will sich die humanen Werte der sozialistischen Idee nicht nehmen lassen, nur weil so viele Diktatoren, sich sozialistisch nennend, nur auf autoritäre Herrschaft und Bereicherung bedacht waren. Mit dem üblichen westlichen Liberalismus kann Ypi wenig anfangen: „Ich setzte Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“.

9.
Lea Ypi will im Sinne ihres umfassenden Verständnisses von Freiheit (Freiheit ist immer auch Freiheit FÜR andere sich einzusetzen) den Werten und Idealen des Sozialismus treu bleiben, sie will, wie wie ganz am Ende ihres Buches schreibt, „den Kampf fortführen“(S. 329). Aber, wie sie im Interview des SRF Fernseh-Interviews „Sternstunde Philosophie“ (am 18.9.2022) sagte, sie verstehe Marx auch mit den ethischen Prinzipen Kants.

10.
Aber was kann der Untertitel des Buches bedeuten? „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“? Ist damit das Ende des albanischen Sozialismus bzw. Kommunismus gemeint? Oder nimmt Ypi ironisch Bezug auf ein Ende der Welt-Geschichte, das schon prominent verwendet wurden von dem us-amerikanischen Historiker Francis Fukuyama, der sein Buch 1992 „Ende der Geschichte“ nannte. Fukuyama behauptete: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion gebe es nur noch die Herrschaft der liberalen Demokratien. Dies käme dem Ende der Geschichte gleich, weil es nun keine Dialektik Ost-West mehr gibt. Diese Dialektik bewegte die Zeit, schuf Geschichte. Dieses Denkmodell „Ende der Geschichte“ bezieht sich auch auf die Hegel-Interpretation des Franzosen Alexandre Kojève. Er sagte, wie einige andere auch: Hegel meine tatsächlich, in seinem Denken an eine Art Endpunkt gekommen zu sein, und gezeigt zu haben, dass nun im Preußischen Staat alle Widersprüche aufgelöst seien, dass alles begriffen ist, dass die Versöhnung real wurde Und dies könnte eine Art „Ende der dialektisch bestimmten Geschichte“ sein.
Aber Fukuyama blieb skeptisch: Es bleibt die Versuchung, zurück zum Krieg zu degenerieren.

Lea Ypi, „Frei“. Suhrkamp Verlag 2022, 7.Aufl. 2023, auch als Taschenbuch, 333 Seiten, übersetzt von Eva Bonné.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jacques Gaillot gestorben – Hinweise zu einem außergewöhnlichen Bischof!

Bischof Jacques Gaillot ist am 12. April 2023 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Hinweise von Christian Modehn am 13.4.2023.

Es ist keine Übertreibung: Jacques Gaillot war ein ganz außergewöhnlicher Bischof, ein Mensch, der frei und mutig als Bischof lebte und als Bischof lehrte, was er selbst vor seinem Gewissen im Angesicht der Moderne und der Bibel leben und lehren konnte. Er war alles andere als ein Kirchen-Funktionär, er fühlte sich frei …und nicht unbedingt verpflichtet, die offizielle Lehre der katholischen Kirche zu vertreten. Denn er wusste: Diese ganze alte Kirchenlehre und ihre alte Moral sind oft Ausdruck einer vergangenen Ideologie. Und er wusste: Christlicher Glaube ist zuerst Solidarität mit den Armen und mit den vom Kapitalismus arm Gemachten weltweit, mit den Obdachlosen, den Flüchtlingen, den Ausländern, den sexuellen Minderheiten, den Wohnungslosen. Darum fühlte sich Bischof Gaillot in diesen Kreisen am wohlsten.

Ich habe seit 1982 Jacques Gaillot mehrfach getroffen und über ihn zahlreiche Ra­dio­sen­dungen, Zeitschriftenbeiträge und Filme fürs ERSTE (ARD) realisiert.

Aus meinen zahlreichen Veröffentlichungen nur diese Hinweise:

Abschied und Trauer: Gedenken an Jacques Gaillot LINK

Grundlegend, ein Buch-Beitrag von 2010: “Aus Gewissensgründen NEIN sagen”:  LINK

Ebenso: “Menschlichkeit zuerst”: LINK 

Ökumene mit Protestanten auch im gemeinsamen Abendmal praktizieren: LINK

Für die “Homo-Ehe” (2013): LINK

Für eine humane Form der aktiven Sterbehilfe:  LINK

Wird Bischof Gaillot vom Papst rehabilitiert? LINK

Zwei Halbstunden-Dokumentationen fürs ERSTE (ARD) über JACQUES GAILLOT: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.