Georg Lukács – was sagt er über die Religionen und seine “Conversion” zum Marxismus?

(Unvollständige) Hinweise von Christian Modehn anlässlich des 50. Todestages von Georg Lukács am 4. Juni 2021.

1.
Vor 50 Jahren, am 4. Juni 1971, ist der Philosoph Georg Lukács in Budapest gestorben, geboren wurde er ebenfalls in Budapest am 13.4.1885. Das sehr umfangreiche Werk des marxistischen Philosophen ist, wie Axel Honneth schreibt (in: Georg Lukács, „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“, Suhrkamp, 2021, S. 7, in den folgenden Zitaten hier nur die Seitenangaben) „voller Höhen und Tiefen“, nicht zuletzt wegen seiner Jahre langen engen Bindung an die Kommunistische Partei Ungarns. Zur Zeit seines Aifenthalts in Moskau (dorthin geflohen seit 1933) fiel er 1941 in Ungnade Stalins …und überlebte trotzdem: „Glück in Katastrophenzeit“, sagte er (G.L. Ästhetik, S. 557).
Lukács hat sich seit 1919 bis zu seinem Tod sehr deutlich als Marxist verstanden. Aber deswegen ist Lukács alles andere als ein Denker, der nur für Historiker des angeblich bedeutungslos gewordenen Marxismus wichtig ist. Im Gegenteil, es gibt bleibende und gültige Erkenntnisse des Marxisten Lukács, man denke nur an den Begriff der „Verdinglichung“, dargestellt in dem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Der Soziologe Hartmut Rosa bezieht sich in seinem viel beachteten Buch „Resonanz“ ausführlich auf die Verdinglichung im Sinne von Lukacs.
2.
In der ersten Phase seines äußerst umfangreichen nicht nur philosophischen, sondern auch literaturwissenschaftlichen Publizierens hingegen war er „vormarxistisch“ (A. Honneth, S.8) orientiert. Seine „Konversion zum Kommunismus“ (so Axel Honneth, S. 13) fand Ende 1919 statt. „Lukács wird 1918 scheinbar urplötzlich Kommunist und zumal orthodoxer Marxist“, ergänzt Rüdiger Dannemann, Lukács Spezialist und Mit-Herausgeber des genannten Buches (S. 24f.). Die Gründe für dieses „urplötzliche Konversion“ wird vielleicht eine sehr ausführliche Biographie erklären können. War es die Erschütterung über die Verwüstungen des Ersten Weltkrieges? Die Flucht in eine Doktrin, die die „Erlösung“ der Menschheit politisch durchsetzen kann?
3.
Der theologisch konnotierte Begriff „Konversion“ macht wie schon die von Lukács selbst verwendete Behauptung von der „welterlösenden Rolle des Sozialismus“ (in: G.L., „Ästhetik…“ S .205) neugierig: Wird eigentlich heute – endlich, möchte man fast sagen – auch gründlich das Thema „Georg Lukács und die Religion“ untersucht?
4.
Nun findet im „Aufbau-Haus“ in Berlin am 4. Juni 2021 eine internationale Lukács Konferenz statt – live gestreamt! Unter den zahlreichen Vorträgen (Höhepunkt dürfte wohl der Vortrag von Axel Honneth sein über „Lukács‘ Gratwanderung zwischen philosophischem Argument und parteilichem Engagement“) sucht man das Thema Religion, jedenfalls explizit, vergebens, vielleicht kommt es ja irgendwie am Rande „implizit“ dann doch noch vor. Die Frage nach der Religion im philosophischen Denken ist keineswegs ein persönlicher „Spleen“. Dieses Interesse entspricht nicht nur den Traditionen philosophischen Denkens, sondern im Fall von Georg Lukacs selbst gibt es allein schon in dem genannten Buch einige zum Teil kurze, zum Teil ausführlichere Hinweise zur Bedeutung der Religion in seinem Denken aus allen unterschiedlichen „Denk – Epochen“ von Lukács.
5.
Für mich ist sehr aufschlussreich der kurze Text über „Jüdischen Mystizismus“ von 1911, also noch aus der vormarxistischen Phase. Der kurze Text ist eine Buchbesprechung zu den „Geschichten des Rabbi Nachman“ aus der mystischen Chassidim-Bewegung, in einer Übersetzung Martin Bubers. Interessant ist, welche Kenntnisse der Mystik Lukacs in dem kurzen Text (Seite 108 und 109) zeigt. In einem gewissen kritischen Abstand spricht er nicht von Mystik, sondern von Mystizismus, was auf seine Distanz hinweist. Aber Lukács weiß auch, dass „Mystizismus“ wenig an etablierte Religions-Systeme gebunden ist, er weiß, dass es sozusagen interreligiöse inhaltliche Übereinstimmungen zwischen verschiedenen „Mystizismen“ gibt. Im Jahr 1933, als Marxist und Kommunist, kommt Lukács noch einmal auf „Mystik“ zurück. In seinem inzwischen etwas berühmten Aufsatz „Grand Hotel Abgrund“ behauptet er, dass ein skeptischer Relativismus eine nicht-kommunistische, liberale und sozialdemokratische intellektuelle „Elite“ hinübergleiten lässt in eine „reaktionäre Mystik“, (so wörtlich S. 333). Diese reaktionäre Mystik im Sinne von Lukács hält sich nicht mehr an die „objektive Wirklichkeit“ in seinem Sinne, also an die alles bestimmende Macht der materiellen Gegebenheiten. Diese reaktionäre Mystik gleitet in ihrer Ignoranz ab „in das fingierte Absolute des religiösen Mythos“ (332). Also, man könnte sagen: Wer nicht als Kommunist die Partei ergreift für die Unterdrückten, ergreift Partei für die Unterdrücker und gleitet ab in einen religiösen Glauben, der förmlich nur über allem Materiellen schwebt.
6.
Der christliche Begriff des Märtyrers als „Blutzeugen“ ist Lukács natürlich bekannt. Darum kann er in seiner Hommage für Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1920 (!) diese ja durchaus Lenin-kritische Sozialistin eine „wahre Blutzeugin“ nennen (S. 294). Ist dies eine Art säkularer Heiligsprechung der Blutzeugin Rosa Luxemburg?
7.
Seine Studien über den jungen Hegel hat Lukacs auch in Moskau unter Stalin fortgeführt. Und Axel Honneth schreibt wohl sehr treffend: „Es fällt ein bestürzend erbarmungsloses Licht auf die Widersprüchlichkeiten, in die sich Lukacs inzwischen bei seinem Versuch verstrickt hat, gleichzeitig Partei für den Geist (also Hegel, CM) und Partei für die Partei zu ergreifen“( 21). Vorher, 1922, hatte Lukács schon einen Beitrag „Die Jugendgeschichte Hegels“ verfasst. Der „junge Hegel“ ist sozusagen ein Dauerthema für Lukács. In diesen Arbeiten ist – wie es sich für Hegel gehört – auch von Religion die Rede. Darin sieht er Hegel auf einer Linie mit der bürgerlichen Klasse, die sich damit abgefunden hatte, die feudalen Reste der Gesellschaft zu akzeptieren. Auf die Religion im Sinne Hegels bezogen: Hegel wollte nur noch das bestehende, gegebene „positive“ Christentum durch die Vernunftreligion rechtfertigen. Er wollte als Bürgerlicher aber nicht das Christentum abschaffen zugunsten nur einer Vernunftreligion. (S. 304). Das hätte Lukács treffend gefunden
8.
Sehr religiös klingen einige Formulierungen, wenn Lukács, 1918 also noch sehr kurz vor seiner Konversion zur kommunistischen Partei, von der erlösenden Kraft des Proletariates schwärmt: Das „Wollen“ einer demokratischen Weltordnung durch die Sozialisten (also SPD) „macht das Proletariat zum sozialistischen Erlöser der Menschheit“ (S. 205). Kann man sich, philosophisch gesehen, Erlösung in einer engeren, begrenzteren Definition vorstellen?
9.
In seinem Aufsatz von 1933 „Grand Hotel Abgrund“ fordert er hingegen die Abkehr von der Sozialdemokratie, er fordert den mutigen „Sprung“ angesichts des politischen Abgrundes dieser Welt in die kommunistische Partei. Diesen Sprung nennt er hübsch „salto vitale“ (S. 329). Lukács verwendet tatsächlich den Begiff „Sprung“, (S. 328) um die entscheidende Leistung des zum Kommunismus Entschlossenen zu beschreiben. Dieser Begriff Sprung erinnert mich daran, was Kierkegaard oder der Theologe Karl Barth für die entscheidende Leistung des Glaubenden hielten. Sie müssen gegen alle Vernunft in den Glauben und seine Dogmen springen. Über den Begriff Sprung sehe ich eine intime Nähe der kommunistischen Religion zur dogmatischen Religion der christlichen Kirche. In beiden Religionen muss „gesprungen“ werden. Und der Begriff „salto vitale“, also ein lebendiges, wenn nicht erst gar Leben spendendes salto, erinnert mich von fern an den „Sprung „des Menschen, wenn er sich zur Taufe entschließt, und ursprünglich in das tiefe Taufbecken einst gestoßen wurde.
Für viele Kommunisten, zumal unter Stalin, wurde ihr „salto vitale“ dann doch zu einem salto mortale, für Millionen anderer Menschen ebenso, die dieses sich nur im „Glauben“ zu erschließende kommunistische „salto vitale“ aus Vernunftgründen gar nicht vollziehen konnten und wollten. Sie wurden zu tausenden dann auch in den Lagern Stalins oder der sozialistischen „Bruderländer“ gequält, ausgebeutet als Arbeitstiere und umgebracht
10.
Ausführlich über das Christentum spricht Lukács in der Einleitung seiner Studie „Zur Ontologie des gegenwärtigen Seins“(von 1964) (S. 458 ff.). Darin weist er nicht nur auf das Eingebundensein des Christentums in die antike und mittelalterliche Philosophie hin, er zeigt sich dabei als Kenner der Kirchengeschichte, wenn er etwa sagt: „Paulus, der das Christentum über die engen Schranken einer jüdischen Sekte hinausführt“ (S. 459).
11.
Die Erinnerung an Georg Lukács also bleibt zwiespältig: Für mich stellt sich die Frage: Wie kann man sozusagen bleibende Erkenntnisse (etwa „Verdinglichung“) aus dem Gesamtkorpus seines nun einmal seit 1919 kommunistischen, später aber in jedem Fall sozialistischen Denkens „herausbrechen“? Und eine Debatte über das „Bleibende“ und nach wie vor „Inspirierende“ des Sozialismus ist heute alles andere als obsolet.
12.
Eine Frage bleibt: Wie hat Georg Lukács den Antisemitismus und den Holocaust verstanden und beschrieben, auch den Antisemitismus in den kommunistischen Parteien (Polen, Ungarn, DDR) nach 1945?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der unbekannte Comenius ist der Theologe Comenius

Das neue Buch von Manfred Richter
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Keine Frage: Jan Amos Komensky ist nicht nur ein bedeutender Intellektueller Tschechiens. Er ist unter dem Namen Comenius weltweit bekannt als ein bis heute inspirierender Pädagoge, deswegen gilt er als „Lehrer der Völker“. Comenius lebte von 1592 bis 1670, er wurde von den katholischen Habsburgern in seiner Heimat verfolgt, flüchtete nach Polen und in die Niederlande, in Amsterdam ist er gestorben. Er hat ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, und darunter zahlreiche theologische Studien, die stets mit seiner kirchlichen Praxis verbunden sind. Und darum geht es hier.
2.
Jetzt hat der Berliner Comenius-Spezialist, Pfarrer Dr. Manfred Richter, erneut in einem umfangreichen Buch einige seiner gründlichen Studien zu dem hierzulande eher unbekannten Theologen und Bischof der protestantischen „Brüderunität“ Jan Amos Comenius vorgelegt: Der Untertitel macht von vornherein die ökumenische Energie dieses tschechischen Theologen deutlich: “Ein Bischof fordert: Ökumene radikal“. Warum radikal? Weil Comenius überzeugt ist: Eigentlich könnten die unterschiedlichen, verfeindeten protestantischen Kirchen mit gutem Willen und in friedfertigem Geist zur Versöhnung finden. Dabei werden auch die spirituellen Verbindungen von Comenius mit dem großen böhmischen Reformator Jan Hus deutlich: „Die Gemeinsamkeit liegt in der Bereitschaft, auf Gott selbst sein Vertrauen zu richten, nicht auf die abgeleitete Autorität der Kirche, die freilich ihre gottgewollte Bedeutung behält“ (S. 39).
3.
Zuflucht fand der aus dem katholischen Böhmen vertriebene Comenius auch in Polen. Mit den damals dort dialogfreundlichen Katholiken suchte er das ausdauernde, geduldige Gespräch, etwa im „Religionsgespräch in Thorn“ im Jahr 1645. Dort forderte er als Weg zur Versöhnung mit den Katholiken ein universales Konzil. Darüber hat Manfred Richter ein eigenes Buch verfasst.
Nebenbei: Heute hat das katholisch reaktionäre, antisemitische Medienimperium Radio Maryja in dieser Stadt Thorn (Torun) seine Zentrale, die beste Stütze der PIS Regierung. Ob der Manager, der Redemptoristen-Pater Rydzyk, schon mal den Namen Comenius gehört hat?
4.
Für viele LeserInnen neu dürfte sein, dass auch der Philosoph Leibniz den Theologen und Pädagogen Comenius schätzte, was sich in seinem Abschiedsgedicht zu Ehren von Comenius etwa ausdrückte (S. 359). Auch zum Thema „Leibniz und Comenus“ bietet das empfehlenswerte Buch von Manfred Richter viele Informationen.
5.
Comenius konnte als ökumenischer Vermittler wirken, weil er das Dogma der damals starken und mächtigen Kirchen teilte, das Trinitäts-Dogma, also den Glauben an den dreifaltigen, dreieinigen Gott. An diesem Bekenntnis hielt Comenius unerschütterlich fest in den Auseinandersetzungen mit der kleinen kirchlichen Bewegung der Sozzinianer, benannt nach den italienischen Juristen und Theologen aus der Familie Sozzini: Sie wollten und konnten nicht anerkennen, dass Jesus von Nazareth als Gott und damit als eine zweite Person in der Trinität betrachtet wird. Die Sozzinianer fanden ebenfalls Zuflucht in dem damals toleranten Polen. Comenius begegnete ihnen, den „Anti-Trinitariern“, also. Manfred Richter spricht von „aggressiven Bekehrungsbemühungen“ seitens der Sozzinianer. Und er nimmt als Historiker selbst persönlich Stellung, wenn er die Sozzinianer Christen nennt, aber Christen in Anführungszeichen, so werden diese verfolgten anders denkenden Christen erneut verurteilt. Gut, dass wenigstens die niederländischen Remonstranten die Sozzinianer immer noch schätzen. Woher kommt denn diese Arroganz zu wissen, dass der arme Prophet Jesus von Nazareth zur zweiten Person der Gottheit erklärt werden kann. Geht es nicht auch einfacher? Muss man einen lebendigen Gott immer trinitarisch denken? Sicher nicht, Gott „nur“ als Geist verstanden ist auch immer schon als Geist lebendig.
Manfred Richter schreibt etwa, die Sozzinianer hätten „die komplexe religiöse Logik des Heilsgeschehens (was ist denn das?, CM) nicht nachvollziehen können und eine „plumpe Eindimensionalität vertreten“ (S. 229, Fn. 16). Die Sozzinianer hätten also nicht die (offenbar trinitarische?) Qualität der Texte der Bibel gekannt, behauptet er. Als würde es im Neuen Testament auch nur einen einzigen bescheidenen Hinweis geben auf das Trinitätsdogma! Dieses ist ein Produkt des 4. Jahrhunderts, unter allerhand politischem Druck zustande gekommen, was hier nicht vertieft werden kann.
Über die Sozzinianer hat sich treffend und richtig der Philosophiehistoriker Kurt Flasch geäußert in seinem neuen empfehlenswerten Buch „Christentum und Aufklärung“.
Auch die in dem Buch „Der unbekannte Comenius“ geäußerte Liebe zu dem Kirchenvater Augustin, dem Erfinder der ebenfalls unbiblischen Erbsündenlehre, wirkt befremdlich, dass christliches Leben ohne die Erbsünden-Ideologie möglich ist, kann man anderswo nachlesen, LINK.
Aber Manfred Richter zweifelt offenbar dann doch an seinem Bravour-Urteil gegen die Sozzinianer und deren angeblicher Liebe zur willkürlichen Auswahl der Bibeltexte. Richter schreibt also in seinem Buch etwas später sehr richtig: „Allerdings muss die Frage erlaubt sein, taten es (also die willkürliche Auswahl) die orthodoxen Christen nicht auch, und bis heute? (S. 241.) Wohl wahr!
Nebenbei. Bei einer willkürlichen Auswahl der Bibeltexte wären dann also auch die so genannten orthodox glaubenden Christen Häretiker, also Leute, die auswählen.
Comenius sprach von einer triadischen Struktur der Wirklichkeit, die ein stummes Zeugnis biete für den dann doch auch triadisch gedachten Gott. Also weil Gott triadisch ist, ist die Wirklichkeit triadisch? Ist es nicht umgekehrt: Das Triadische wird von Menschen auf Gott übertragen, wie es später dann Hegel in seiner Logik der Dialektik tat: Weil der menschliche Geist (!) dialektisch, also irgendwie „trinitarisch“ ist, muss auch Gott als der absolute Geist, dialektisch, also „trinitarisch“, verstanden werden… Aber das nur am Rande, von Hegel ist in dem Buch Manfred Richters keine Rede.
6.
Weil das Thema der dogmatisch gefassten Trinität ja durchaus ein ökumenisches Thema sein sollte, das gegenüber den Festlegungen aus dem 4. und 5. Jahrhundert debattiert werden sollte: ein Zitat des großen katholischen (sic) Theologieprofessors und Dominikanermönchs in Nijmegen Edward Schillebeeckx: Er wollte und konnte ehrlicherweise von Gott nicht „zu viel wissen“. Er sah sich verpflichtet, Gott eben Gott sein zu lassen, als ein bleibendes Geheimnis. Darum sagte Schillbeeckx: „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitäts-Theologie fast ein Agnostiker. Ich bekenne die Trinität, aber ich übe gleichzeitig eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den drei (göttlichen) Personen rational zu erfassen“. („Edward Schillebeeckx im Gespräch“, Luzern 1994, S. 107).
7.
Ich habe im Oktober 2017 ein Interview mit Manfred Richter über seinen Vorschlag publiziert, eine „Erste gesamtökumenische Enzyklika“ zu verfassen. Das Interview ist nach wie vor interessant, es wird in dem Buch nicht erwähnt, siehe: LINK.

Manfred Richter, „Der unbekannte Comenius. Ein Bischof fordert – Ökumene radikal“. LIT Verlag Berlin 2021, 406 Seiten, 29,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Für den Bruch mit der bestehenden Kirche.

Der katholische Theologe Hubertus Halbfas plädiert für eine “säkulare Frömmigkeit”.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das neue Buch des katholischen Theologen Hubertus Halbfas ist – im ganzen gesehen – ein dringender Aufruf zu einer grundstürzenden Reformation der Kirchen: „Nur ein Systembruch (mit dem dogmatischen Kirchensystem, CM) kann die Kirchen retten“ (S. 139), „sonst bleibt auch das Rest-Christentum entbehrlich“ (S. 200).
2.
Halbfas hat einen radikalen Reformvorschlag, also einen an die Wurzeln des bisher Selbstverständlichen gehenden Vorschlag: Nur eine säkulare Frömmigkeit, die kritische Glaubende wie kritische Nichtglaubende gemeinsam (!) leben und reflektieren können, ist noch relevant für die Menschen von heute. Er denkt dabei an die gebildeten Europäer, nicht aber an die Armgemachten in Afrika oder Lateinamerika, die Religion immer noch als Opium offenbar brauchen und gebrauchen.
3.
Das neue Buch von Halbfas könnte trotz dieser Begrenzung als eine Art Impuls für die aktuellen „Reformbewegungen“ („Maria 2.0“ etc.) und den so genannten „synodalen Weg“ gelesen werden. Diese immer noch ein bisschen hoffnungsvoll gesinnten noch kirchentreuen Katholiken sollten, salopp gesagt, das Buch debattieren und es ihren Bischöfen, Generalvikaren, Ordensoberen usw. schenken „Bitte lesen, Pflichtlektüre“.
4.
Hubertus Halbfas ist ein viel gelesener Autor mit etwa 16, zum Teil sehr umfangreichen Büchern (allein im Patmos Verlag) und ein deutlich schreibender und klar denkender, vor allem umfassend gebildeter Theologe. Er wird sich gesagt haben: Mit meinen 88 Jahren brauche ich jetzt auf keinen Hierarchen mehr Rücksicht zu nehmen. Dies hat er auch nie getan. Er hat die Gabe der Zuspitzung und der Radikalisierung von Erkenntnissen, eher eine Seltenheit unter katholischen Theologen Deutschlands.
5.
Warum ist das Buch „Säkulares Christentum“ so wichtig? Halbfas nennt in aller Kürze die wichtigsten theologischen und bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gestalt Jesu Christi, zu den Kirchen und ihren Dogmen. Es sind Erkenntnisse, die in der theologischen Forschung überhaupt keinem Zweifel unterliegen, die aber von den (an alte Dogmen gebundenen) Hierarchien und ihren Theologen (sollte man besser sagen: Ideologen) ignoriert werden.
6.
Einige Erkenntnisse, an die Hubertus Halbfas in seinem neuesten Buch erinnert:
– Jesus von Nazareth ist nicht der Gründer der Kirche(n).
– Paulus kannte offenbar nur sehr wenige Lehren des historischen Jesus (etwa seine Gleichnisse). Paulus hat autoritär eine Dogmatik entworfen. Zum Beispiel: Gott als Vater im Himmel opfert seinen Sohn zur Erlösung der Menschheit. Es gibt einen „Unterschied zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium des Paulus“ (S. 200). Die „paulinische Erlösungskonstruktion ist eine fehlgeleitete Entwicklung“ (S. 162). Nicht erwähnt wird von Halbfas die zweifellos vorhandene poetische Begabung des philosophisch gebildeten Apostels Paulus, etwa sein „Hohes Lied der Liebe“ (1. Korintherbrief, Kap. 13), es sagt in seiner Deutlichkeit einen verwandten Inhalt zum Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“.
– Jesus von Nazareth, der Prophet, wurde seit dem 4. Jahrhundert als die zweite „Person“ einer göttlichen Trinität gedacht und damit auch als wahrer Gott verstanden und verehrt. „Der Christus ist eine Kunstfigur, ihn braucht die Kirche für ihre eigenen Repräsentation, für Herrschaft und Glanz“ (S. 140).
– Der authentische Jesus von Nazareth hat „mit dem Kirchen- Jesus der meisten Gebete, Lieder und Bilder nichts gemeinsam“ (S.191).
– Jesu Lebensprogramm ist das auch weltlich erfahrbare und realisierbare „Reich Gottes“ als ein Leben der universellen Gerechtigkeit. Das Spezifische an Jesus wird in seiner „offenen Mahlgemeinschaft“ sichtbar, das gemeinsame Speisen an einem Tisch mit unterschiedlichen, zum Teil einander verfeindeten Menschen (S. 176 f.). Diese offene Tischgemeinschaft haben die Kirchen zu einem exklusiven Sakrament umgedeutet und religiös verfremdet. Hier setzt Halbfas seinen Impuls: Erlösung im Sinne Jesu ist nicht ein transzendentes Geschehen, Erlösung als politische Befreiung geschieht auf Erden. Was „post mortem“ für die Menschen kommt, werden wir dann sehen, meint Halbfas….
– Die Dogmatik der ersten Jahrhunderte folgte der Macht, die vor allem ein Augustinus ausübte, etwa, als er seine Erbsündenlehre erfand und gegen Widerstände (gegen Bischof Julian von Eclanum u.a.) durchsetzte. An diesem Wahn des furchtbaren Erbsündendogmas halten die allermeisten Kirchen bis heute fest. Und vertreiben mit diesem Dogma nachdenkliche Christen aus den Kirchen.
– Die (katholische) Hierarchie hat sich also der von ihr erfundenen Christus-Gestalt bemächtigt und schließt in ihrer Herrschaft Frauen vom Priesteramt aus; die Hierarchie verfügt über die Gesetze der Moral, des Zugangs zu den Sakramenten etc. Die Hierarchie hat sich ihre eigene, von außen nicht kontrollierbare Welt aufgebaut.
– Es gibt Menschen, natürlich auch außerhalb der Kirchen, die dem Lebensentwurf Jesu entsprechen, die also als die weiteren Jesus-Gestalten angesprochen werden könnten: Halbfas nennt als Beispiele: Gandhi oder Janusz Korczak, Franz Jägerstätter und Maximilian Kolbe (S. 188f.).
7.
Sein Buch versteht der Autor ausdrücklich, vom Titel her, als Impuls für eine „säkulare Frömmigkeit“: Fromm hat für ihn eine ungewohnte, durchaus merkwürdige Bedeutung. Ich würde den Mut haben, diesen Begriff „säkulare Frömmigkeit“ mit „humanistischer jesuanischer Frömmigkeit zu übersetzen. Halbfas versteht Frömmigkeit als “rechtschaffen, sorgfältig, tüchtig, vortrefflich“ (S.11). Zur säkularen Frömmigkeit gehört selbstverständlich auch der Respekt vor den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen, der Biologie, der Geschichte, der Religionsgeschichte usw. Ich persönlich finde dieses Verständnis von Frömmigkeit noch zu eng, denn zum Menschen gehört auch das Transzendieren, die Erfahrung des unendlichen Geborgenseins in einer göttlichen „Hand“. Halbfas spricht selbst später davon, wenn er etwa ein Gedicht des Romantikers Eichendorf bewegend findet. Warum also diese enge Definition von Frömmigkeit?
8.
Wichtig bleibt der Hinweis von Halbfas: Ein Glaube, der an den Realitäten der heute erkennbaren Wissenschaften „vorbei-glaubt“, ist existentiell nicht hilfreich und deswegen auch sinnlos. „Nicht Flurprozessionen, sondern der chemisch richtige Dünger sichert eine gute Ernte. Nicht Gelübde schützen vor Diphterie und Scharlach, sondern eine Forschung, die den schützenden Impfstoff erfand“ (S. 47).
9.
Diese säkulare Frömmigkeit verbindet Glaubende wie Nichtglaubende. Insofern kann sich Halbfas selbst auch als säkular verstehen. In diesem Sinne benutzt er das Wort Gott nicht mehr als Titel, der reserviert wäre allein für Glaubende: “Ein Atheist kann das mit dem Wort Gott Gedachte als geistigen Entwurf des Weltganzen nehmen…“ (S. 171).
10.
Der Glaubende im Sinne von Halbfas erlebt eine innere, bleibend-geistig-seelische Präsenz. Dabei beruft sich der Autor auch auf den mittelalterlichen Philosophen Meister Eckart. Dessen Hinweis auf den „Göttlichen Funken“ in der Seele eines jeden Menschen findet Halbfas sehr angemessen für ein „aufgeklärtes Christentum“, wie das Buch im Untertitel fordert.
Interessant und weiter sehr bedenkenswert in dem Zusammenhang auch der viel zu knappe Hinweis: “Wir können auch die Stimme unseres Gewissens … als Stimme Gottes ansehen“ (S. 57). Leider werden diese Einsichten wie auch die zu Meister Eckart nicht vertieft. Das bestätigt den eher thesenartigen Charakter des Buches und weist auf einen Mangel an philosophischer Reflexion hin (Kant, Hegel etc.)
11.
Dies empfinde ich als überflüssig, wenn nicht störend: Der Text stellt sich als Dialog dar. ABER: Die Fragen stellt der Autor selbst. Gerade bei dem Thema und dem Titel wäre eine echte Person als Fragende sehr sinnvoll gewesen.
12.
Zur weiteren Debatte regen die Hinweise zum Sinn des Betens, vor allem der Fürbitte an; dazu hat sich Halbfas schon vor Jahrzehnten geäußert. Für ihn sind Bittgebete immer irgendwie egozentrisch und Ausdruck eines magischen Denkens. „Man kann nicht dafür beten, dass Borussia Dortmund gegen Bayern München gewinnt“ (S. 49). Beten für etwas hat bei Halbfas vor allem den Sinn: „Ich muss mich fragen, was ich etwa für einen Kranken tun kann, für den ich bete“ (S. 49).
13.
Problematisch finde ich, dass Halbfas nicht sieht: Das „klassische“ Beten, auch das Bittgebet, kann die Bedeutung einer persönlichen Poesie haben, auf die sich die Betenden dann noch einmal nachdenkend beziehen. Dabei könnten sie entdecken, dass sie durch diese Gebete in ihrem Wünschen und Fragen über alles weltlich Verfügbare hinausreichen, dass sie sich in ihrem Denken von sich selbst befreien und dem anderen denkend und liebevoll gesinnt zuwenden, dessen Stärke und Schwäche sehen. Solch ein Beten für einen anderen in diesem Sinne hat nicht den Charakter eines „magischen Denkens“. Es führt zur inneren Reife und Selbstfindung und „Nächsten-Findung“.
14.
Problematisch finde ich das erste Kapitel des Buches, das stark eintritt für den Glanz der griechischen Götterwelt. Halbfas spricht da von „poetischer Gültigkeit der altgriechischen Welt“ und dem „darin aufleuchtenden Geheimnis“ (S. 19). Kann man ja mal behaupten, aber es sei daran erinnert: Die ersten Philosophen Griechenland, wie Platon, waren froh, die griechischen Göttermythen im Logos hinter sich gelassen zu haben. Die Schönheit der Götter in ihren Statuen wird dann philosophisch vermittelt! Wir wissen heute aus vielerlei Mythen, wie diese Götter unter sich verfeindet waren, wie widersprüchlich ihr Charakter, wie verworren die Erzählungen sind. Diese Götterwelt muss nun wirklich nicht herhalten für ein heutiges Gespür von Heiligem und von Frömmigkeit. Von Kleists „Amphytryon“ usw. will ich lieber gar nicht sprechen. Ebenso wenig, inwiefern sich da Türen zum Polytheismus öffnen. Den muss man ja nicht verteidigen, wenn man den fundamentalistischen Monotheismus ablehnt. Das gilt allgemein und ist nicht auf Halbfas bezogen.
15.
Wie schon gesagt: es fällt auf, dass bei Halbfas doch eine gewisse Liebe zur Romantik durchbricht. So ganz rationalistisch will er dann doch nicht sein. Er will ja nicht nur die antike (also altgriechische) Naturfrömmigkeit, sondern auch das romantische Naturgefühl in den Diskurs über Religion einführen“ (S. 74). Halbfas spricht voller Achtung und Verehrung von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, er sieht darin “mehr Frömmigkeit als in kirchlichen Gebetbüchern“ (77). Es gibt ja nun auch vernünftige Gebete, die sich auf einen personal gedachten Sinngrund („Gott“) von allem beziehen und nicht in einem stimmungsvoll schönen Mondnacht-Erleben verbleiben, ich denke an Bonhoeffers späte Gebete. Aber vielleicht, ironisch gefragt, können die Menschen auch zum Mond ein personales Verhältnis entwickeln, der Mond, der ihnen letzte Geborgenheit vermittelt…Wer weiß… darüber wäre zu diskutiere.
Deutlich ist jedenfalls: Auch die rationalistische Theologie kommt nicht ohne einen Rest von Verzauberung und romantischen Gefühlen aus. Das ist, philosophisch gesehen, nicht „schlimm“, wenn denn gesagt würde: Der menschliche Geist steuert den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen. Von dieser koordinierenden, steuernden Funktion des Geistes ist leider keine Rede.
16.
Dass von der Evolution gesprochen wird, ist natürlich richtig und selbstverständlich. Ich hätte mir nur mehr präzisere Formulierungen gewünscht: Auf Seite 30 schreibt Halbfas: „Wir sind mit zwingender Konsequenz Geschöpfe der Evolution“ (S. 30). Wir sind Geschöpfe der Evolution, heißt das: Also hat uns die Evolution geschaffen? Aber: Wer oder was hat denn die Evolution erschaffen? Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Auch der Geist ist ein Produkt des evolutionären Geschehens. Er ist bereits in der toten Natur mit angelegt und insgesamt dem Universum inhärent“. Woher aber kommt dieser richtig erkannte „inhärente Geist“, dieses „Produkt des evolutiven Geschehens“?
17.
Vieles andere bleibt merk-würdig im kritisch – fragenden Sinne: Die globale politische Ungerechtigkeit des Neoliberalismus wird nicht umfassend angesprochen, auch nicht das Miteinander der verschiedenen Religionen, Islam, Buddhismus, Judentum, Hinduismus usw.
18.
Wichtig sind die Hinweise etwa zur theologischen Rechtfertigung der Kriege und der kirchlichen Abweisung von Wehrdienstverweigerern (S. 111 f). Seit Kaiser Konstantin stehen die Kirchen auf der Seite der Machthaber. Davon werden sie sich „nie mehr erholen können“ (S. 113), betont Halbfas. „Der jesuanische Ursprung und sein Reich-Gottes-Konzept sind in der kirchlichen Realität verblasst“ (ebd.).
19.
Welcher Gesamteindruck bleibt nach der Lektüre dieses Buches? Selbstverständlich wird jede LeserIN eigene Konsequenzen ziehen. Viele werden wohl die Konsequenz ziehen und die Institution Kirche als (zahlendes) Mitglied verlassen. Das geschieht ja auch. Aber was dann? Fühlen sich doch viele der „Ausgetretenen“ durchaus als spirituelle, vielleicht sogar als jesuanisch interessierte Menschen. Werden sie die Kraft haben, eigene Gemeinden der kritischen religiösen Vernunft zu schaffen? Oder sich den wenigen bestehenden „freisinnigen“ Kirchen anzuschließen?
20.
In jedem Fall wird aber deutlich, dass Halbfas die humane, „humanistische“ Lebenspraxis (im Sinne eines ursprünglichen Jesus von Nazareth) über alles geschätzt und empfiehlt. Explizit religiöse Kulte, Gebräuche, Riten hingegen bleiben unter dem Verdacht, nur die Herrschaft des Klerus zu stützen und Menschen von einem authentischen Leben abzulenken.
Religiöse Kulte, wie Wallfahrten, Prozessionen, Reliquienverehrungen, in den südeuropäischen und osteuropäische Ländern üblich, werden schnell missbraucht zur Verschleierung realer Zustände. Diese Kulte und Prozessionen, fördern, wenn sie denn mehr sind als touristische Folklore, nur die Scheinheiligkeit der Herrschenden. Und trotzdem werden sie vom Klerus weiterhin dem „Volk“ aufgedrängt. In Süd-Italien hat die Mafia ihre bis vor kurzem noch offiziell – kirchlich unterstützten Wallfahrtsorte. Und die katholische Volksfrömmigkeit in vielen Staaten Lateinamerikas hat auch nicht gerade demokratische und weithin gewaltfreie Verhältnisse geschaffen. Katholische Länder sind kaum Vorbilder der Demokratie, das liegt -psychologisch betrachtet – auch daran, dass die Leute wissen: Die „heilige römische Kirche“ ist selbst nicht demokratisch organisiert, sie kennt keine Gleichberechtigung von Frauen. Wenn das bei einer „von Gott gestifteten“ Institution Kirche so ist: Warum soll denn unser Staat demokratisch sein? Warum sollen die Männer aufhören extrem machistisch zu sein und Gewalt gegen Frauen normal zu finden? Diese Zusammenhänge sollten diskutiert werden.
So wie auch der evangelikale Glaube oder der Glaube vieler Pfingstgemeinden etwa in Nigeria den Zustand politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit eher verfestigt. Christliche Religion ist also weithin oft Opium des Volkes, was selbstverständlich auch für alle anderen Religionen gilt. Ohne Religionen als Klerus-Herrschaft religiös sein und ohne Kirchenbindung jesuanisch sein – das ist wohl die Herausforderung religiös bzw. spirituell interessierter Menschen heute und morgen.

Hubertus Halbfas, „Säkulare Frömmigkeit. Gespräche über ein aufgeklärtes Christentum“. Patmos Verlag, 2021, 208 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Philosophische Salons – die neuen Orte für Spiritualität, Lebenskunst und Religion

Anregungen anlässlich des 250. Geburtstages der ersten Saloninère in Berlin, Rahel Varnhagen.

Von Christian Modehn

1.
Gedenktage sind nicht nur Tage des Rückblicks und der kritischen Erinnerung, sondern auch Tage des Vorblicks: Der Blick in die (nahe) Zukunft soll von der Begrenztheit des Gegenwärtigen befreien und Neues soll konzipiert werden, Besseres, das die Routine traditioneller kultureller Praxis überwindet.
2.
So auch beim Denken an Rahel Varnhagen (17.5.oder 19.5.1771 bis 7.3.1833). Ihr großartiges Lebenswerk ist bekannt, wer es noch nicht kennt, sollte seine Bildungslücke alsbald schließen, Gelegenheiten gibt es ausreichend, auch im www. Dabei wird man sich auch auf die vielfältigen großartigen schriftstellerischen Leistungen Varnhagens konzentieren.
3.
Ich möchte hier nur an ihre bleibende Leistung erinnern, die mir von aktueller Bedeutung erscheint: Es ihre Gründung und Gestaltung von Gesprächsrunden, die dann später “Salons“ genannt wurden, also gesellige Zusammenkünfte mit hohem Gesprächsniveau, an dem sich unterschiedliche Menschen, meist Männer, beteiligten. Die Liste der „berühmten“ TeilnehmerInnen ist lang: Jean Paul, die Brüder Humboldt, Friedrich Schlegel, Heinrich Heine, Schleiermacher, Hegel usw. Die Gastgeberin, Rahel Varnhagen, leitete ihre Salons von 1790 bis 1806, und dann noch einmal von 1820 bis 1833. Die Zusammenkünfte in der Privatwohnung waren geprägt vom Geist der Aufklärung und damit der Vernunft, und damit auch der Toleranz: Diese Lebensphilosophie war bester Ausdruck ihrer zeitgemäßen jüdischen Spiritualität.
4.
An Rahel Varnhagen denken – das heißt heute: Nachdenken, wie denn diese offenen und von Vielfalt und Toleranz geprägten SALONS heute eine große Rolle spielen können. Dass es sozusagen „objektiv“ in der Gesellschaft einen Bedarf gibt an niveauvollem Gespräch und Austausch der verschiedenen Meinungen, braucht nicht bewiesen zu werden. Zumal die großstädtische Gesellschaft zerfällt förmlich in Inseln der Kommunikation der Gleichen, wenn nicht ohnehin die Isolierung und Einsamkeit des einzelnen beherrschend ist.
5.
Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat in seinem 1799 veröffentlichten Text mit dem Titel “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” sich von den Berliner Salons inspirieren lassen und mit großer Dringlichkeit die Bedeutung der Salons unterstrichen.Vor allem werden dem Teilnehmer an Salon-Gesprächen “andere und fremde Welten nach und nach bekannt” und “auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse würden dem Menschen befreundet und nachbarlich”.
6.
Ich will nur daran erinnern, dass de facto in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die alte Struktur der Kirchengemeinde sich auflöst: Gottesdienste werden gefeiert mit stets abnehmender Teilnehmerzahl. Aber wichtiger noch: Die Gesprächsangebote, die „Gruppen“, die Bildungsveranstaltungen in den Kirchengemeinden sind eher marginal. Und wenn sie noch stattfinden, müsste das intellektuelle und kritische Niveau geprüft werden. In den meisten Fällen bleiben diese Gruppen eher „homogen“ unter sich: Welcher Atheist, welcher Skeptiker, welcher Flüchtling, welcher ausländische Student usw. verirrt sich schon in einen üblichen Gemeindekreis? Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat eine christliche Gemeinde als Ort des Gesprächs und der Begegnung definiert, daran sollte man sich erinnern.
Nebenbei: Heute hat der herrschende Klerus in der katholischen Kirche Europas die Gemeinde zu Orten des Messelesen degradiert: Ein Priester eilt sonntags von einer Kirche zur anderen, um die Messe feiern, weil nur er, als Kleriker, beansprucht in der Lage zu sein, Eucharistie feiern zu können und zu dürfen. Und die wenigen verbliebenen Katholiken in den Gemeinden nehmen diesen Klerikalismus (noch) hin.
7.
In dieser Situation des kirchlichen Niedergangs haben die offenen Debatten über Spiritualität, Lebenskunst, Religion, Philosophie in Salons eine große Chance. Sie finden nicht unter einem Dach einer Kirche oder einer Religion statt, diese Salons sind undogmatisch, offen, plural, an der Vielfalt und dem Streitgespräch interessiert.
8.
Wer kann solche Salons eröffnen? Jeder und jede, der/die sich für kompetent hält, nicht nur einen angenehmen Gesprächsraum anzubieten, sondern auch thematisch die Abende zu gestalten. Ein Künstler lädt zu Gesprächen über Kunst ein, warum nicht auch zu religiöser Kunst? Ein Kenner der Romane oder eine geduldige Leserin von Poesie lädt zu literarischen Gesprächen ein, die ohnehin die grundlegenden Sinnfragen berühren. Ein Naturwissenschaftler lädt ein, über Natur, Naturschutz, Naturgesetze und Evolution oder gar „Schöpfung“ usw. zu sprechen.
9.
Nun leben in den großen Städten zumal auch viele TheologInnen, die noch als solche tätig sind oder längst andere Berufe (Coach etc.) haben: Warum laden sie nicht zu Gesprächen über „Gott und die Welt“ ein? Und die vielen Leute, die Philosophie studiert haben: Der philosophische Salon wäre in meiner Sicht die beste Form der Erinnerung an Rahel Varnhagen.
10.
Die Frage ist, ob die entsprechenden Herren und Damen des kulturellen Establishments die enorme Bedeutung der Salons erkannt haben. Interessieren sie sich mehr für die Opernhäuser und Theater als für die eher „kleinen“, aber feinen kulturellen Basisinitiativen, wie die Salons? Falls dies der Fall ist, sollten die kulturell verantwortlichen Politiker und auch die Hochschulen und Universitäten überlegen: Wie kann man in einer Art Grundkurs Salonnièren ausbilden und fördern? Wie können die Organisatoren auch finanziell unterstützt werden, ohne dass dabei die Salons in Abhängigkeit geraten?
11.
Über den seit 2007 bestehenden (wegen Corona seit einem Jahr „ruhenden“) „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ kann man sich informieren und vielleicht inspirieren lassen: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Was ist unmittelbar? Unsere Erkenntnis und sogar die Gotteserkenntnis?

Einführende Hinweise von Christian Modehn

1.
Das Thema hat weitreichende Bedeutung, nicht nur fürs allgemeine menschliche Erkennen, sondern auch speziell fürs Erkennen dessen, was man das Göttliche, Gott, nennt. Kann ein Mensch etwa Gott „als solchen“ unmittelbar erleben und „als“ Gott erkennen und sogar in Worten „fassen“? Können Wunder als göttliches Eingreifen in die Naturgesetze unmittelbar als solche geschehen? Kann die Kirche eine unmittelbare Begegnung mit der Jungfrau Maria behaupten, die als Himmelskönigin irgendwelche historisch sehr konkreten Worte übermittelt? Etwa in Fatima, Portugal, 1917, als die Himmelskönigin sich höchst persönlich zum kommunistischen Russland äußerte? Keine Frage: Die Frage nach dem Unmittelbaren ist für die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und die Religionskritik aktuell und eine “Pflichtaufgabe“.
2.
Für ein „alltägliches“ Leben ist die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung (von Weltlichem) und deren – angeblich – unmittelbaren Erkenntnis üblich. In der unmittelbaren Erfahrung, als einer Form der mit den Sinnen geschehenen Verbundenheit / Beziehung zur Welt, wird durch die Sinne eine Gewissheit erzeugt beim Menschen. Etwa der Schmerz, wenn der Mensch Feuer berührt. Der Schmerz ist zwar unmittelbar, aber er ist immer bereits im Moment des Erlebens sprachlich geprägt, selbst wenn er noch nicht in Worten gesprochen wird. In der „sinnlichen Erfahrung“ mit der durch die Sinne erzeugten sinnlichen Gewissheit (Schmerz) ist also die Sprache und damit die Vernunft immer schon anwesend. Die Unmittelbarkeit gibt es als Erleben, aber sie ist immer schon durch die Sprache und Begriffe für den Erlebenden wie die anderen Menschen vermittelt.
3.
In dieser „unmittelbaren“ Erfahrung gibt es vier Determinanten:
Es ist das JETZT (also nicht später, nicht früher) dieser Erfahrung.
Das HIER (nur an diesem bestimmten Ort) dieser Erfahrung.
Es gibt – wie gesagt – eine immer schon latent anwesende begriffliche Form der Erfahrung und
es gibt selbstverständlich ein Ich, ein Subjekt, das diesen Komplex dieser sinnlichen Erfahrung erlebt und eben auch davon weiß. Das Subjekt ist der „Ort“ der Vermittlung und Aufhebung des Unmittelbaren.
4.
Diese (in Nr. 3 genannten) Strukturen sind allgemein für alle Subjekte im Umgang mit Welt und mit sich selbst vorhanden und gültig. Welt und Objekte werden immer mit diesen „Determinanten“ erlebt und dann auch verstanden. Die menschliche Erfahrung eines einzelnen Objekts geschieht also immer in diesen allgemeinen Determinanten. Wer vom Individuellen, Besonderen, spricht, ist also immer auf den Gebrauch allgemeiner Begriffe angewiesen. Total individuelle Begriffe einer einmaligen Erfahrung könnten nur zu einer Geheimsprache gehören, die dann aber nur der Erfinder dieser Sprache versteht.
Damit wird den Behauptungen einer total einmaligen und angeblich nicht aussagbaren, „nur“ privaten Erfahrung widersprochen.
Das einzelne Unmittelbare ist also immer in allgemeinen Begriffen vermittelt. Auch Hegel hat daran erinnert, dass das Einzelne NICHT ausschließlich in seinen engen Grenzen als einzelnes, sozusagen wie ein isolierter Punkt begriffen werden kann. Das einzelne Ding steht in einem Vermittlungszusammenhang, wie in einem Netz, mit anderen, auf die es bezogen ist.
5.
Alles Wahrnehmen und Erkennen des Unmittelbaren wird sprachlich in allgemeinen Begriffen vermittelt. Wolfgang Welsch schreibt in seinem Essay „Hegel und die analytische Philosophie“ (in: „Information Philosophie“, 2000): „Jede Berufung auf unmittelbares Wissen ist epistemologisch naiv“.
6.
Wer also das Verbundensein des Menschen mit der Welt begreifen will, muss die vernünftigen Strukturen im Subjekt analysieren. Es geht darum, die Leistungen des Bewusstseins und der Vernunft im Subjekt als konstitutiv für die Verbindung mit dem Objekt zu erkennen. Schon im praktischen Verhalten ist es so: Unser Handeln in der äußeren Wirklichkeit ist dergestalt, dass es als begrifflich geprägtes, vernünftiges Handeln diese dann ebenfalls vernünftig bestimmte Wirklichkeit tatsächlich erreicht, es gibt also eine Übereinstimmung zwischen unseren Handlungsideen und der äußeren Wirklichkeit. Das hat Hegel auch aufs theoretische Erkennen übertragen. Er sah eine Kongruenz von menschlichem Begriff und äußerem Gegenstand.
Es ist wichtig, sich in dem Zusammenhang weiter mit Hegel zu befassen: Für ihn ist der unmittelbare Mensch der in Ego – Strukturen befangene Mensch. Hegel spricht von „der Partikularität, den Leidenschaften, der Eigensucht“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Suhrkamp, 323) Diese beherrschen den Menschen, der sich als total vereinzelter, als Veräußerlichter, in dem Sinne als unmittelbarer versteht. Das wahre Wesen des Menschen ist seine Teilhabe am universalen Geist, und dieses wahre Wesen muss dieser unmittelbar lebende Mensch sich durch seine Vernunft erst noch „erarbeiten“. „Der Mensch ist nur durch diese Vermittlung, er ist nicht unmittelbar“ (303 ebd.) Aber diese Arbeit der Überwindung der Unmittelbarkeit als der falschen Lebensform geschieht nicht ohne den Schmerz des Abschieds von dieser „Leidenschaft und Eigensucht“. Von diesem „natürlichen Herzen, worin der Mensch befangen ist, dies ist der Feind, der zu bekämpfen ist“ (ebd.).
Aber der universale Geist ist auch in diesen falschen Haltungen anwesend, in seiner Energie kann der Mensch die Freiheit erreichen.
7.
Wer Religionen – auch philosophisch – verstehen will, muss sich auf die Bedeutung der „Unmittelbarkeit“ einlassen: Im Christentum ist häufig die Rede von der „unmittelbaren Erfahrung Gottes“. Glaubende, die sich Mystiker nennen und von anderen als Mystiker bezeichnet werden, betonen: Ihre besondere Spiritualität zeichne sich durch die „unmittelbare Erfahrung Gottes“ aus. Diese Erfahrung hat immer einen existentiellen Aspekt. Sie berührt den ganzen Menschen, sie ist mehr als eine theoretische Einsicht: Diese kennt nur das fremde Gegenüber von Menschen und Göttlichem. In der Mystik hingegen löst sich dieses Gegenüber in ein Gefühl der Einheit auf. Die Untersuchungen dieser drei zusammenhängenden Begriffe „unmittelbar“, „Erfahrung“ und „Gott“ füllen riesige Bibliotheken. Hier nur einige Hinweise:
8.
Die Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (1515 – 1582) gilt in der Mystik-Forschung als Vorbild mystischer Frömmigkeit. Sie hat ein umfangreiches literarisches, spirituelles, mystisches und theologisches Opus hinterlassen. Wer bei ihr nach der Bedeutung ihrer unmittelbaren Gotteserfahrung fragt, kann sich z.B. mit einem Text ihrer „Vida“ befassen. Der Mystik-Forscher Alois M. Haas hat sich damit in seinem Buch „Mystik als Aussage“ (Suhrkamp 1996) befasst. Er zitiert (S. 54) Theresa, wenn sie von der ihr zuteil gewordenen Gnade spricht, die „von kurzer Dauer“ war, nämlich Christus erfahren zu haben. Dazu waren für Theresa aber Voraussetzungen nötig: Diese Erfahrung habe sich ereignet, als „ich mich in die Nähe Christi versetzte“ und „bisweilen auch, als ich (die Bibel) las (leyendo, auf Spanisch): In diesen Momenten „überkam“ sie „ein Gefühl der Gegenwart Gottes, so dass ich gar nicht zweifeln konnte, er sei in mir oder ich sei ganz in ihm versenkt“. „Gott“ „in“ Theresa „versenkt“, eine für sie zweifelsfreie Erfahrung also, eine offenbar unmittelbare Erfahrung.
Dieses Erleben der Vereinigung mit Gott war aber für sie kein irrationaler Rauschzustand, sondern es geschah mit Bewusstsein: Denn Theresa war danach in der Lage, in Worten zu sagen: „Er (Gott) war in mir oder ich ganz in ihm versenkt“. Sie selbst wehrt sich in dem Text ausdrücklich, ihre Gotteserfahrung sei eine, so wörtlich, „Vision“ (also eine Art „Entrückung“) gewesen! Theresa bewertet hingegen ihre Gotteserfahrung überraschend als „mystische Theologie“! Damit will Theresa ihre mystische Erfahrung mit den Begriffen, eben der Theologie, verbinden, also die Unmittelbarkeit des Erlebens in eine begriffliche und „trans-subjektive“, also allgemeine Sprache überführen. Und sie wollte mit ihrem Hinweis auf Theologie ihre dogmatischen Gegner besänftigen, die mit Mystik auch zu ihrer Zeit nur subjektive Eigenwilligkeit und Entrückungen und Verzückungen vermuteten.
Wären Theresas Geist und ihr Erinnerungsvermögen ausgeschaltet gewesen in ihrer „Versenkung“, also in ihrer Gotteserfahrung, hätte sie nicht später davon sprechen können. Entscheidend ist ihr kurzer Satz: „Der Wille liebt“ in diesem Moment der Versenkung: Liebe zu Gott ist für sie die entscheidende bleibende Voraussetzung Zugang zu Gott zu finden. Dann folgen aber diese Worte, in denen sie die Grenzen des Verstehens dieser mystischen Erfahrung anspricht: „Das Gedächtnis scheint mir beinahe verloren, der Verstand denkt nicht nach, aber er verliert sich nicht. Der Verstand ist nur untätig und wie von Staunen hingerissen über das viele, das der Verstand hier gewahrt.“ Also, der Verstand selbst nicht mehr aktiv, er ist passiv „hingerissen“ von dem, was sich ihm zeigt. Und dann folgen die das mystische Geschehen wieder relativierenden Worte, um jegliches „Wegschweben“ und das Entrücktsein auszuschließen: „Denn Gott lässt den Verstand erkennen, dass der Verstand nichts von dem begreift, was seine Majestät (Gott) ihm vorstellt.“ Die mystische Erfahrung erschließt also keinen inhaltlich breiten Gewinn an Erkenntnis Gottes, keine „Details“ seines inneren, göttlichen Lebens. Vielmehr ist das Resultat: Gott zeigte sich, aber der Verstand begreift nichts Inhaltliches. Mit anderen Worten: Die Mystikerin wurde mit dem unauflösbaren Geheimnis Gottes konfrontiert.
9.
Diese Aussage als theologische Erkenntnis ist ein wichtiger Hinweis: Eine sich unmittelbar nennende Erfahrung Gottes gibt es nicht, die Erfahrung selbst enthält schon den Verstand, der dann später die Erfahrung in Worte fassen kann. Und diese vermittelnden Worte sind jeweils historisch, von der Bildung des Erlebenden, geprägt: Wenn sich Theresa, wie sie sagt, in die „Nähe Christi versetzt“, dann ist es der konkrete bildhafte Christus, der ihr auch durch die Lehre der Kirche und der Theologie ihrer Zeit und ihrer Umgebung vermittelt wurde.
10.
Warum ist es so wichtig, darauf zu insistieren, dass in der unmittelbaren mystischen Erfahrung immer die Vermittlung durch Begriffe besteht? Weil nur mit dieser Erkenntnis die immer subjektive, einzelne Erfahrung in den Bereich des allgemeinen Gesprächs und der kritischen Debatte treten kann. Das ist heute politisch so wichtig: Wer auf einer absoluten Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung besteht, will sich autoritär abkapseln, will sich bedeutend machen, sich als Meister und Guru aufspielen. Es wäre zu prüfen, in wie weit diese autoritäre Unmittelbarkeit von Propheten und Aposteln usw. in der kirchlichen Bibelinterpretation oder in der Korandeutung behauptet wird. Nur wer die immer vermittelte Unmittelbarkeit bejaht und kritisch durchleuchtet, will einen freien, nicht-autoritären, einen nicht-fundamentalistischen Glauben.
11.
Es ist wichtig, noch einmal auf den Philosophen G.W.F. Hegel (1770 – 1831) zurückzukommen. Für ihn ist der christliche Glaube nicht die Bindung an eine historische Gestalt (Jesus) oder an ein Buch (Bibel) oder an eine Institution. Für ihn als Philosophen, der die Religionsgeschichte und damit auch die Christentums-und Kirchen-Geschichte auf den Begriff gebracht hat, ist der Glaube des Menschen an Gott die Beziehung zum Geist, dem göttlichen. Und dieser ist als solche (weil Gott das andere seiner selbst, die Welt „schafft“) auch im Menschen selbst anwesend, eben als „Geist des Menschen“. Diese Beziehung des Geistes im Menschen auf den in ihm auch anwesenden göttlichen Geist ist das Entscheidende. Darum sagt Hegel: „Der Glaube ist Zeugnis des Geistes vom Geist“. (Vgl. dazu Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, Seite 387). Hegel betont immer wieder, „dass es nicht zweierlei Vernunft und nicht zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche und eine menschliche, nicht einen göttlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden voneinander wären. Die menschliche Vernunft ist Vernunft ÜBERHAUPT, ist das göttliche im Menschen… Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist gegenwärtig im (menschlichen) Geist“. (Dieses Hegelzitat siehe S. 388, Jaeschke).
12.
Daraus zieht Hegel die Konsequenz zur Erkenntnis Gottes: „Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung Gottes in uns. Weder die positive Offenbarung (also die Bibel) noch die Erziehung kann Religion bewirken“, denn dann wäre Religion etwas von außen Gewirktes, sagt Hegel. Dieses unmittelbare Wissen bei Hegel überrascht! Aber auch hier gilt: Es muss vermittelt werden in Begriffen. Das ist möglich, weil im unmittelbaren Erkennen die Tendenz zum Wissen schon angelegt ist. Wichtig ist für Hegel: Wenn Religion (oder auch Sittlichkeit) im Menschen immer „vorkommt“, dann wird Religion als Geistiges „im Menschen nur erregt“. „Der Mensch ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muss ihm das zum Bewusstsein gebracht werden“. (Dieses Hegelzitat stammt aus dem genannten Buch von Jaeschke S. 390). Religion „schlummert“ also förmlich im Menschen und muss zum Bewusstsein und zum begrifflichen Wissen gebracht werden. Es gibt also eine Offenbarung Gottes in den Menschen als Menschen, weil sie vom Geist, der heilig ist, sich bestimmen lassen. Dieses unmittelbare Verbundensein des Menschen mit dem göttlichen Geist ist die Basis.
In meinem eigenen Bewusstsein bin ich mit Gott unmittelbar verbunden, er ist nichts Fremdes, sondern Geist, wie ich Geist bin. Dieses Selbstverhältnis des Geistes ist also nach Hegel Ausdruck der Freiheit.
13.
Auch in der Literatur ist das Thema Unmittelbarkeit und Vermittlung naturgemäß ständig präsent. Ich denke etwa an das neue Buch „Ein Monat in Siena“ von Hisham Matar, als Übersetzung von „A month in Siena“. Der Autor, 1970 geboren, lebt als Literaturwissenschaftler in England; seine Eltern stammen aus Libyen. Sein Vater wurde als Oppositioneller 1990 aus Ägypten entführt und von Gaddafis Mördern hingerichtet.
14.
Den Tod des Vaters versucht Hisham Matar regelmäßig durch eine „unmittelbare“ Begegnung mit Kunst, mit Gemälden, zu „bearbeiten“. Hisham Matar betont, im Dialog mit einem Gemälde zu leben, vor allem eben mit den Gemälden in Siena. Es gibt für ihn einen Austausch mit dem Gemälde. Es wird für ihn zu einem geistigen und physischen Raum. „Wie ein Zimmer, in das man von Zeit zu Zeit flüchtet, um Gespräche, zu haben, die man sonst irgendwo haben kann“. In dem Beitrag von Le Monde sagt er: „Ich spreche zu den Gemälden und sie antworten mir“.
15.
Es ist das geduldige, oft stundenlange Sich-Versenken in ein Gemälde (Theresa von Avila sprach von einem Sich – Versenken in die Gestalt Jesu Christi), die zu neuen Erkenntnissen, zu rettenden Einsichten führt. Es ist dieses Sich-Hineinbegeben in eine geistige Gestalt außer mir, die zunächst zu einer Unmittelbarkeit, zu einer Vereinigung führt, die dann aber als reflektierte Unmittelbarkeit Erkenntnisse vermittelt, vielleicht neuen Mut zum Leben.
Wir sollten also das Hineintreten in eine langdauernde Unmittelbarkeit (Beispiel: Christus-Betrachtung der Theresa von Avila oder das Sich in ein Gemälde Versenken) nicht nur zulassen, sondern für uns fördern, wenn wir denn nach dem Erfahrungserlebnis Worte finden wollen, für uns selbst wie für andere.
16.
Man spürt es etwa bei trockenen theologischen Texten: Da hat der Autor keine Unmittelbarkeit erlebt, er war nicht „versenkt“ in eine Sache, eine Person, ein Bild etc., sondern er hat Begriffe hin und her gewendet. Begriffliche Trockenheit und Öde, das bestimmt etwa dogmatische Texte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Poesie – Worte der Transzendenz

Über Yves Bonnefoy
Ein Hinweis von Christian Modehn (siehe auch den Hinweis auf Baudelaire, LINK)

1.
In seiner Aufsatzsammlung mit dem Titel „Le siècle de Baudelaire“ (Paris 2014) spricht der Poet, Poetologe und Philosoph Yves Bonnefoy (1923 – 2016) ausdrücklich von der herausragenden Bedeutung der Poesie für die Frage der „Transzendenz“. Sie sollte nicht im fernen Jenseits gesucht werden, sondern als Anwesenheit, als présence, im Hier und Heute des Daseins. Dabei ist für Bonnefoy auch die Auseinandersetzung mit dem Dichter und Poeten Baudelaire wichtig, ihn nennt er „den stärksten und tiefsten Geist“ im 19. Jahrhundert. Baudelaire stellte die Frage nach der Existenz Gottes… „Aber er musste sich eingestehen, dass er nicht glaubt (S. 8).“

2.
Für Bonnefoy als Poeten und gleichzeitig Philosophen der Poesie erhalten Gedichte eine neue Bedeutung für die Spiritualitäten heute. Transzendenz wird nicht mehr in den überlieferten, alles einordnenden und übersichtlichen (dogmatischen) Begriffen gedacht und ausgesprochen, sondern in der Offenheit poetischer Worte. Dabei geht es um ein Verstehen der alltäglichen Wirklichkeit in ihrer Tiefendimension: „Es ist wichtig, die Wirklichkeit, die einfache Wirklichkeit, von dem Schleier zu befreien, der diese Wirklichkeit verdeckte (S. 11)“.
„Poesie ist nicht Literatur (etwa ein Roman), sie ist nicht Ausdruck des (nur Allgemeines fassenden) begrifflichen Denkens“ (S. 57). „Die Poesie unterscheidet sich von Literatur wie das Begehren zu sein von der Verwaltung des Habens“, betont Bonnefoy (S. 58).
Poesie ist keine Rede in fixierten Begriffen, sie ist Klang, wie Musik, die sich der geschlossenen Bedeutungen entledigt, Poesie will das EINE als das allen Gemeinsame sagen.
Die Sprache der Poesie, das ist für Bonnefoy also entscheidend, lebt wie die Musik vom Rhythmus und dem Klang. Musik und Poesie sind „nächste Verwandte“.

3.
Entscheidend bleibt für Bonnefoy: Die Présence, die Gegenwart, soll bewusst erlebt werden: Dann zeigt sich die Ganzheit des Daseins als begrenztes, endliches, sterbliches. Aber kann sich das Dasein darin einschließen?
In der Poesie wird dem widersprochen: Das wahre „Wesen“ des Transzendenten ist immanent, also im Menschen, vor allem für Bonnefoy auch in der Natur anwesend. Dort wird das Entgrenzte, vielleicht damit auch das Grenzenlose erlebt. Der moderne Mensch kann entdecken: In der Poesie ist das Unendliche mit der gewöhnlichen Existenz verbunden ist.

4.
Wenn also das Religiöse im 19.Jahrhundert aus weiten Bereichen der Kultur schwindet, sollte die besondere Bedeutung des poetischen Wortes erkannt werden. Aber mit der Poesie wird dann doch ein schwieriger Weg des Verstehens eröffnet. Aber: Bonnefoy hat auch „leichter zugängliche“ Poesie geschrieben. Man denke etwa an das Gedicht „L Arbre de la rue Descartes“ aus dem Buch „L Heure présente“:

« Passant,
Regarde ce grand arbre et à travers lui,
Il peut suffire.
Car même déchiré, souillé, l’arbre des rues,
C’est toute la nature, tout le ciel,
L’oiseau s’y pose, le vent y bouge, le soleil
Y dit le même espoir, malgré la mort.
Philosophe,
As-tu la chance d’avoir l’arbre dans ta rue,
Tes pensées seront moins ardues, tes yeux plus libres,
Tes mains plus désireuses de moins de nuit. »

„Passant,
betrachte diesen großen Baum und seinetwegen
Kann es genug sein.
Denn sogar gespalten, beschmutzt, ist der Straßenbaum
Die ganze Natur, der ganze Himmel,
der Vogel setzt sich dort nieder, der Wind dort sich bewegt und die Sonne dort
spricht dieselbe Hoffnung, trotz des Todes.
Philosoph,
hast du das Glück einen Baum in deiner Straße zu haben
dann werden deine Gedanken weniger schroff, deine Augen freier sein,
deine Hände werden gieriger sein nach weniger Nacht“. (Übersetzung: Christian Modehn)

5.
Das Gedicht ist eine deutliche Kritik Bonnefoys an der begrifflichen Fixierung des Philosophen.
Es wendet sich direkt an den Passanten, Spaziergänger … aber auch an den Philosophen. Der Titel ist auf eine Rue Descartes bezogen. In der Pariser Rue Descartes befindet sich das berühmte „Collège International de Philosophie“.

6.
Hat die Theologie, hat die Religion, haben die Kirchen die Poesie (im emphatischen Sinne – auch im Sinne Bonnefoys -) verstanden? Haben sie ihr fixierendes Begriffs-Denken, ihre Herrschaft der klaren Definitionen, korrigiert oder wenigstens eingesehen? Diese Grenzziehungen, die sie mit den Definitionen, den Dogmen, schaffen, Grenzen, die ausschließen, die Menschen zu den “anderen”, den Fremden” machen.
Ich denke: Theologien und Kirchen haben den Geist der Poesie überhaupt nicht erkannt und auch nicht rezipiert. Sie lieben nicht den freien Geist der Poesie. Sie lieben nach wie vor die banalen Gedichte und Gebete und Lieder, die einzig nach dem Prinzip des Reims gebaut sind und deswegen als populär und “tauglich” erachtet werden. Ästhetische Bildung war nie Sache der Kirchen.

7.
In Europa ist die einzige mir bekannte Ausnahme der niederländische Poet und Theologe Huub Oosterhuis (Amsterdam), aber dessen Poesie ist in den katholischen Kirchen der Niederlande offiziell im Gottesdienst verboten.in Deutschland ist seine Poesie nur marginal vertreten.
Meine Forderung also wäre, die aber angesichts der Verhärtungen im Katholizismus ziemlich sinnlos ist und angesichts des banalen Trallalas in evangelikalen Veranstaltungen ebenso sinnlos ist… aber diese Forderung soll wenigstens noch einmal genannt werden: Die Kirche sollte poetisch werden, also sanft, suchend, offen, mit Sinn für das Schöne als das Überraschende und Befremdliche. Wir bräuchten also poetische Kirchen und poetisch denkende und vor allem poetisch fühlende Herren der (römischen) Kirche.
Weniger Kirchenrecht, mehr Poesie könnte eine selbstverständlich utopische Forderung heißen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Napoléon: Wenn sich ein gewaltiger Herrscher seine Kirche schafft und seinen Kult begründet.

Der Autokrat und seine Religion.

Ein Hinweis von Christian Modehn anlässlich des 200. Todestages Napoléon Bonapartes.

1.
Die Kirche des napoleonischen Staates
Die Beziehungen Napoléons zur Religion bzw. vor allem zur katholischen Kirche sind zwar nur ein Thema unter vielen „Napoléon-Themen“ anlässlich seines 200. Todestages am 5. Mai 2021.
Seiner politischer Leidenschaft und seinem unendlichen Streben nach Macht ist es gelungen, dem Kirche-Staat–Verhältnis in Frankreich eine neue rechtliche Struktur zu geben. Diese war zwar vor allem innerhalb der Kirche stets umstritten, sie blieb aber bis zur Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 bestimmend.
Napoléon war mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die nach dem Ende der Herrschaft der Revolutionäre gespalten war. Nur ein Beispiel: Unter den Priestern gab es viele, die den „Treueid“ auf die Revolution und ihre Ideale geschworen hatten und im Rahmen der neuen revolutionären Kirchengesetze auch das Zölibatsgesetz als für sie ungültig erachteten. Und es gab Priester und deren Gemeinden, die antirevolutionär eingestellt waren und die alte Kirchenordnung mit ihren Gesetzen, vor der Revolution von 1789 respektierten.
Eine einheitliche Kirche in dem zentralistischen Staat Frankreich erachtete der Herrscher Napoléon als notwendig für die Sicherung des so genannten inneren Friedens. Hinzu kam, dass die oft verwüsteten Kirchengebäude mit staatlicher Hilfe wieder in einen brauchbaren Zustand versetzt werden mussten. Die Ausbildung von Priestern musste neu gestaltet werden genauso wie die finanzielle Sicherheit der Geistlichen. Und es musste geklärt werden, wer denn das letzte Wort zu sagen hat in der Ernennung der Bischöfe: Der Papst oder er, der Herrscher und spätere Kaiser Napoléon. Napoléon legte allen wert darauf, dass selbstverständlich er wie immer das letzte Wort habe.

2.
Das Konkordat
Diese Fragen wurden in dem Konkordat von 1801 entschieden, das Napoleon mit den päpstlichen Beamten ausgehandelt hatte. An diesem Vertragstext lag Napoléon sehr viel, weil er darin den Ausbau seiner Vormacht als politischer Herrscher gegenüber der geistlichen Gewalt des Papstes sichern konnte. Napoléon konnte so die alte französische Konzeption einer „Gallikanischen Kirche“ (also der von der politischen Herrschaft in Frankreich gesteuerten Kirche) durchsetzen. Die von der Revolutionsregierung 1790 beschlossene „Constitution civile du Clergé“ hatte der Papst 1791 verurteilt, sie war eine Art Zuspitzung der sozusagen „gallikanisch – revolutionären“ Kirche. Der Papst zur Zeit von Napoléons Herrschaft, Pius VII., hingegen stimmte im Konkordat mit Napoleon zu, dass er, der Herrscher, Bischöfe ernennt, die der Papst zur Ernennung bestätigt. Zu diesem Kompromiss war Pius VII. bereit, um das (Über)Leben der katholischen Kirche in Frankreich überhaupt zu sichern. Der päpstliche Unterhändler damals, Kardinal Consalvi, hatte sich mit seiner Forderung nicht durchsetzen können, dass der Katholizismus offiziell zur Staatsreligion erklärt wird. Napoleón bestimmte mit seiner Formel „Der Katholizismus ist die Religion der großen Mehrheit der Franzosen“ eine moderatere Form von Staatskirche, ließ aber Raum für andere Religionen und Kirchen, die gesetzlich geschützt waren. Die materiellen Güter des Klerus, die von der Revolutionsregierung eingezogen wurden, durften von der Kirche nicht zurückverlangt werden. Der Staat sicherte sich seinen Einfluss auf die Kirche durch die Gründung eines „Ministeriums für die (religiösen) Kulte“. Es koordinierte die Beziehungen des Staates zu den Bischöfen und zum Klerus, dieses Ministerium bestand bis zur Trennung von Kirche und Staat 1905. In der Zeit der Restauration unter Karl X., dem Bruder Ludwig XVIII., war sogar ein Bischof Minister, Mgr. Frayssinous. Höhepunkt des Strebens nach Allmacht war die Kaiserkrönung Napoléons in Paris 1804. Die Welt war Zeuge, wie Napoléon förmlich den Papst rufen darf, damit er dem Wunsch des Herrschers entspricht. Und Napoléon krönte sich selbst während der Papst – Messe in der Kathedrale Notre Dame zum Kaiser. Der Papst setzte ungerührt die Messe fort. Aber Pius VII. war nicht bereit, Napoléons Machtpolitik zu akzeptieren, als dieser Rom zum Teil des Französischen Staates erklärte. Der Papst bewies seine Macht, als er den Kaiser 1809 exkommunizierte…Förmlich als Bestrafung wurde der Papst als Gefangener nach Savona, dann 1812 nach Fontainebleau verschleppt. Nach der Abdankung Napoléons 1814 konnte Pius VII. nach Rom zurückkehren, dies wurde von der Bevölkerung wie ein Triumph gefeiert. Pius VII. war ein ungewöhnlich großzügig denkender Papst: Der Familie Bonaparte gewährte er in Rom Asyl, bei den Engländern setzte er sich für Napoléon ein. Pius VII., durchaus ein bemerkenswerter Papst!

3.
Der demokratische Priester Abbé Grégoire
Ein eigenes Thema, der Vertiefung wert, ist die Gestalt des Abbé Grégoire(1750-1831), der als hoch gebildeter philosophischer Theologe und Priester während der Revolution zum Bischof von Blois gewählt (!) wurde. Er kämpfte gegen das Konkordat, das Napoleón aushandelte, er war gegen Napoléon, aus seiner demokratischen Grundüberzeugung heraus. Aber der ließ den demokratischen Priester und Vorkämpfer der Rechte der Sklaven leben…

4.
Der Katholizismus stiftet die Einheit im Staat
Entscheidend ist: Für Napoleon als unumschränktem Herrscher, als Kaiser, als Diktator, als Militarist, war die katholische Kirche nur als Dienerin des Staates, seines Staates, wichtig und interessant. Die Kirche sollte sich ums Jenseits kümmern, meinte er und sich aus politischen Themen heraushalten. Für ihn galt absolut das Primat des Politischen. Es kam ihm auf die ideologische Einheit im Staat an, und diesen Zusammenhalt sollte auch die katholische Religion als „die Religion der meisten Franzosen“ befördern. Spaltungen innerhalb des französischen Katholizismus lehnte er ab. Darum unterdrückte er die „Petite Eglise“, verbreitet vor allem in der Vendée, die sich den Bestimmungen des Konkordates widersetzte und an der alten Kirchenordnung vor der Revolution festhalten wollten Deswegen lehnte Napoleon den Atheismus ab, denn der würde den Zusammenhalt im Staat zerstören. Auch jede Form eines wirren, unvernünftigen Aberglaubens war ihm suspekt. „Nur durch religiöse, d.h. katholische Bindungen kann die Anarchie im Staat verhindert werden“. Darin war er durchaus religionspolitischen Positionen der Reaktionäre, wie Metternich, verwandt. Auch die philosophisch geprägte religiöse Gemeinschaft der Theophilanthropen, die eine deistische, stark die Ethik betonende Position vertrat, konnte er nicht dulden. Und die Protestanten waren ihm nicht zuverlässig genug … wegen der protestantischen Vielfalt. Insgesamt fühlte er sich, auch darin sehr unbescheiden, von Gott selbst in diese höchste politische Führung berufen.

5.
Napoléon – ein frommer Katholik?
Napoleons persönlicher Glaube war vom Katholizismus geprägt, auch wenn er viele Sakramente, Riten, Gebräuche des Katholizismus für sich selbst ablehnte, erst auf der Insel Sankt Helena soll er wieder die Beichte geschätzt haben.
Zu dem Thema hat der Historiker Hannes Liebrandt (Helikon, 2014) einen längeren Aufsatz publiziert.
Liebrandt folgt der biographischen Entwicklung: Bonaparte wurde von einer sehr religiösen, katholischen Mutter erzogen, als Jugendlicher und während der militärischen Ausbildung schätzte er eine allgemeine, wenig katholisch bestimmte Verehrung Gottes. Wenn er später, als Kaiser, an der katholischen Messe teilnahm, dann wohl eher, um einen guten Eindruck als Politiker zu machen und nicht aus innerer katholischer Bewegtheit. Im ganzen gesehen, so Liebrandt, kann zwar von einer Grundtendenz der katholischen Bindung und Frömmigkeit Napoléons gesprochen werden, aber ein definitives Urteil ist unmöglich. Wie so oft im Falle Napoléons, der insgesamt eine zwiespältige Person ist, egozenrischstes Machtstreben ist wohl seine einzige eindeutige Qualität.

6.
Der kaiserliche Katechismus
Ausdruck des maßlosen Wahns Napoléons, sich auch als religiöser Führer zu präsentieren, ist die Veröffentlichung des „Kaiserlichen Katechismus“ (1806), der als katholisches Lehrbuch überall in Frankreich Verwendung finden und zu einer exzessiven Verehrung des Kaisers führen sollte: Die Priester waren verpflichtet etwa diese widersinnigen Sprüche zu Ehren des Diktators zu lehren: „Les chrétiens doivent aux princes qui les gouvernent et […] en particulier à Napoléon Ier, notre Empereur, l’amour, le respect, l’obéissance, la fidélité, le service militaire, les tributs ordonnés pour la conservation et la défense de l’Empire et de son trône ; nous lui devons encore des prières ferventes pour le salut et pour la prospérité spirituelle et temporelle de l’Etat […] Honorer et servir notre Empereur est donc honorer et servir Dieu lui-même. […]“ „Die Christen schulden den Fürsten, die sie regieren und besonders Napoléon I., unserem Kaiser, Liebe, Respekt, Gehorsam, Treue, den Militärdienst, schulden ihm die befohlenen Abgaben zur Erhaltung und Verteidigung des Kaiserreiches und seines Thrones. Wir schulden ihm glühende Gebete für seine Gesundheit und Gebete für das spirituelle und zeitliche Glück des Staates. Unseren Kaiser zu ehren und ihm zu dienen bedeutet iatsächlich Gott selbst zu ehren und ihm zu dienen“.
Quelle: https://archives.var.fr/article.php?laref=11129&titre=decret-du-19-fevrier-1806-instaurant-la-fete-de-la-saint-napoleon-et-le-retablissement-de-la-religion-catholique-1-k-48-
Dieses religiöse Lehrbuch ist ein politischer Katechismus, er erinnert an ähnliche Lobeshymnen religiöser Art, die andere Diktatoren zu ihrem Ruhm anordneten, etwa die Gebete, die zum Wohl Marchall Pétains formuliert wurden oder die politisch – religiöse Verehrung, die bei jeder Messe zugunsten des widerwärtigen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik geleistet werden musste. Das Thema „theologische Selbsterhöhung der Diktatoren“ zu vertiefen, wäre spannend und wichtig.

7. Der heilige Napoléon
Das staatliche Fest des heiligen Napoléon (ein Märtyrer unter Kaiser Diokletian) wurde auf Befehl des Kaisers Napoléon eingeführt, selbstverständlich am Geburtstag von Napoléon Bonaparte, also am 15.8. (Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Saint-Napol%C3%A9on).
Napoléon bezog sich bei diesem seinem Fest (mit Prozessionen im Freien) auf einen Heiligen Neopol bzw. Neopulus. Rom hingegen hat abgelehnt, diesen wirklichen Heiligen mit einem eher konstruierten Heiligen „Napoléon“ in Verbindung zu bringen. Darum wurde dieser Kult um den Heiligen Napoléon endgültig 1870 abgeschafft, lediglich in Ajaccio auf Korsika, dem Geburtsort von Bonaparte, soll es noch eine gewisse Verehrung für den heiligen Napoléon geben.
Es ist in gewisser Weise eine Ironie, dass Napoléon Bonaparte den Kult um einen heiligen Napoléon einführte, der als Widerstandskämpfer gegen den Kaiser ermordet wurde! Eins steht fest: Ein heiliger Napoléon ist eine politisch – theologische Erfindung! Aber die führenden Bischöfe und ihre Priester in Frankreich damals machten diesen theologischen Blödsinn gern und unterwürfig mit!(Quelle:https://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-609.htmhttps://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-659.htm, ein Beitrag von Vincent Petit).

Wichtig ist auch das Buch von Werner Telesko, Wien 1998:, „Napoleon Bonaparte. Der moderne Held und die bildende Kunst“. 1811 als Buch, 513 Seiten.

8.
„Napoléon und Jesus
Im März 2021 ist in Paris ein erstaunliches Buch erschienen, mit dem Titel „Napoléon et Jésus“, der Untertitel, ins Deutsche übersetzt: „Die Thronbesteigung eines Messias“. Autorin ist die junge Philosophin Marie-Paule Raffaeli-Pasquini, erschienen ist das Buch in dem katholischen Verlag (des Dominikanerordens) Editions du Cerf, Paris. Die Autorin will zeigen, dass sich Napoléon selbst in der Rolle eines Messias sah, dessen Werk ewig währt. Unterstützt wurde er in dieser maßlosen Selbsteinschätzung auch von der Verehrung, die ihm, wie einem heiligen Objekt, entgegengebracht wurde. Zahlreiche Gemälde, auch viele populäre Chansons und literarische Hymen bestätigen diesen Trend. Dass dabei auch von katholischer Seite Widerspruch kam, ist selbstverständlich. Einige Pfarrer verglichen den maßlosen Anspruch des „Christus – Napoléon“ mit drohenden Aussagen des biblischen Buches der Apokalypse (etwa zum Antichristen).
In jedem Fall: Napoléon wollte mit sich selbst als Monarchen noch einmal den von Gott gesandten Herrscher lebendig werden lassen. Die Autorin bezieht sich in ihrer ausführlichen Analyse auf ein so genanntes Mémorial, das auf St. Helena von Emmanuel Las Cases, Politiker und Napoléon – Freund verfasst wurde. Zu der genannten Neuerscheinung: Ein Interview mit der Autorin, veröffentlicht von der „Fondation Napoléon“ : https://www.napoleon.org/magazine/interviews/marie-paule-raffaelli-pasquini-napoleon-et-jesus-avril-2021/

9.
Sein bürgerliches Gesetzbuch
Es mag ja sein, dass sich Napoléon für eine Art zweiten Christus gehalten hat oder der Nachwelt dies bloß einreden wollte. Tatsache ist aber auch, dass er ein Egomane, eine Gewaltherrscher war, ein Freund des Krieges und des Mordens. Dass er die Ideen der Freiheit verbreitete, zumal in Deutschland, ist eine Tatsache. Einige zentrale Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, hat er in Deutschland und Holland durchsetzen können aufgrund seines „Code civil“, des bürgerlichen Gesetzbuches, das 1804 in Frankreich in Kraft trat. Dieses Gesetzbuch enthielt bürgerliche Freiheitsrechte für männliche (!) Bürger, es sicherte die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz des Privateigentums usw. Wegen dieser Haltung, der Vollendung der Ideale der Französischen Revolution, wurde Napoléon auch von G.W.F. Hegel geschätzt, selbst wenn er seine jugendliche Begeisterung für den französischen Herrscher im Alter bremste…

10.
Ein rassistischer Gewaltherrscher
Es ist eine Tragik in der Menschheitsgeschichte, dass einige richtige Ideen manchmal von Gewalttätern vertreten werden. Und es ist eine Schande, dass diese Herrscher nicht in der seelischen Reife leben, sich selbst, persönlich, an die propagierten Ideale zu halten. Dadurch werden die politischen strukturellen Beschädigungen nur fortgesetzt. Und es ist wohl auch, gelinde gesagt, hoch problematisch, wenn eine Nation, Frankreich, auch heute noch meint, sich immer noch in dem dunklen Glanz dieses Napoléon sonnen zu können. Äußerliche Größe des Autokraten wird als nationale Größe verstanden, was für ein Wahn. Die Debatten um die Dekolonisierung werden das rassistische Gesicht Napoléons deutlicher machen. Man wird die Menschen zum Beispiel in Haiti fragen, was sie vom brutalen Kolonialherren denkenn

11.
Wann verschwindet der Text der “Marseillaise”?
Die maßlosen Feierlichkeiten, gewundenen Festreden und offiziellen Erinnerungen (Ausstellungen) an den Autokraten Napoléon jetzt, die ebenso maßlose Begeisterung der vielen Napoléon Forscher und Napoléon Publizisten, allein in diesem Jahr werden mindestens 100 neue Bücher über ihn in Frankreich erscheinen, all das zeigt: Es gibt eine gewisse Erstarrung in der französischen Kultur. Es ist dieses Sich-Klammern an alten, falschen Glanz der angeblich großen Nation. Das deutlichste Beispiel dafür ist für mich immer noch die selbstverständliche Praxis, diese Nationalhymne, die “Marseillaise” auch mit dem unsäglichen Text heute noch zu singen bzw. zu schmettern. Warum nur sind alle Versuche selbst “prominenter” Leute gescheitert, diese Marseilaise mit diesem verrückten Text in den Kellern histoischer Museen verschwinden zu lassen? Darauf gibt es bisher keine Antwort. Es ist wohl diese Macht der Gewohnheit, die so verstörend, so gefährlich ist. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.