Gleichgültig leben: Ein Verbrechen oder eine Tugend?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.Juli 2021

1.
Gert Scobel, Wissenschaftsjournalist und Philosoph, spricht in dem neuen Buch, einem Dialog mit dem Philosophen Markus Gabriel (Titel: „Zwischen Gut und Böse“) auch von der Gleichgültigkeit als einem ethischen Problem und als einer politischen Herausforderung. Im Anschluss an den Roman von Albert Camus „Der Fall“ deutet Scobel Gleichgültigkeit als eine Haltung, in der ein Mensch die Not und Todesgefahr eines anderen übersieht. Der Protagonist im Roman, „Clemens“, erzählt, dass er den Hilferuf eines Ertrinkenden in der Seine (Paris) ignorierte und dem Sterbenden nicht zu Hilfe kam.
Gert Scobel schreibt (S. 221): „Wir sind dem nichtspringenden, andere nichtrettenden, gleichgültigen Menschen näher denn je. Es geht, platt gesagt, genau darum: Springe ich jetzt, rette ich das Kind, nehme ich ertrinkende Flüchtlinge an Bord, auch an Bord der EU, oder lässt mich das völlig kalt?“
Scobels Dialogpartner, Markus Gabriel, stimmt dem zu. Er hält „den Umgang mit ertrinkenden Menschen an unseren Außengrenzen für ein Beispiel des Bösen“ (S. 222). Die von Scobel genannte Gleichgültigkeit ist also für den Philosophen Gabriel „Ausdruck des Bösen“, es ist sogar „das radikal Böse, es findet nicht immer nur anderswo, sondern weiterhin unter uns und in uns statt“ (ebd.).
Bemerkenswert ist, dass sich vorher die beiden Gesprächspartner der Einsicht von Hannah Arendt angeschlossen hatten, dass es das “radikale Böse” eigentlich nicht gibt (S. 218). Nun aber spricht Gabriel (S.222) doch davon, dass es das radikal Böse gibt. Auf solche Feinheiten (Widersprüche?) will ich hier nicht eingehen, Gabriel meint wohl, vermute ich, es gebe etwas ungeheuerliches, grausames Böses…
Was die beiden Philosophen da sagen, ist bekannt, aber eine Erkenntnis wird vielleicht beimanchen LeserInnen dadurch unterstützt, wenn zwei “Prominente” diese Erkenntnis formulieren….Leider unterlassen es beide Autoren, die Parteien und die Politiker in Deutschland oder etwa in Frankreich und Italien beim Namen zu nennen, die „dieses radikal Böse“ korrekt finden und verteidigen. Und es sollte bei diesem „radikal Bösen“ als unterlassener Hilfeleistung nicht nur ans Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer gedacht werden. Auch an das Zusehen der sich human nennenden Menschheit beim Krepierenden der vielen tausend Hungernden jetzt wegen der Dürre (Mitte Juli 2021) im Süden von Madagaskar ist eine Schande… Die Klimakatastrophe ist bekanntlich von der reichen Welt, Europa, Asien, USA usw. verursacht, nicht etwa von Afrika.
2.
Gleichgültigkeit als „das größte Verbrechen“ zu bezeichnen, hat philosophisch durchaus eine gewisse Tradition. Ich denke nur an André Glucksman, der in Berlin 2008 sagte: „Ich glaube, das größte Verbrechen – das ist jetzt nicht von mir, das ist eine Idee, die ich schon immer hatte, die ich aber glücklicherweise von Hermann Broch formuliert fand –, das größte Verbrechen ist das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Es gibt ein Verbrechen, das die Verbrechen der Nationalsozialisten erst möglich gemacht hat und deswegen wichtiger ist, ja eigentlich entscheidend: das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Und an dieser Schuld tragen alle Europäer“.
LINK
3.
Zurück zu Ertrinkenden im Mittelmeer. Dieses Sterben zuzulassen, ist ja nur ein Beispiel für viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die heute vor unser aller Augen getan werden.
Aber wie sind die Reaktionen der meisten Menschen, die im Fernsehen Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer sehen? Manche erschrecken, einige wenige zittern kurz vor Scham, andere, vielleicht die meisten, zucken mit den Schultern und widmen sich den gleich folgenden Bildern in den TV – Nachrichten, etwa dem Stand der Aktien oder dem „Verkauf“ eines berühmten Fußballstars von einer Mannschaft zur nächsten. Die Bilder der Ertrinkenden in der Ferne, übermittelt durch das Fern-Sehen, berühren nicht, bewegen nicht, sie lassen die meisten nicht zum kritischen Denken und politischen humanen Handeln kommen.
4.
Gert Scobel weist darauf hin, dass „die Bürokratie, diese Herrschaft des Niemand, wie Hannah Arendt sie nennt“ es direkt zulässt, dass Flüchtlinge ertrinken (S. 223). Bürokraten „vor Ort“ tun dabei nur das Vorgeschriebene, das von „oben“ (von der EU) Bestimmte, sie sind also nur ausführende Organe, im eigenen Selbstverständnis schuldlos gegenüber allem, was sie auf Weisung von oben tun oder eben nicht tun. Sie sind als nichts als gehorsame Bürokraten und in einer gleichgültigen Stimmung: Individuell tut ihnen ein ertrinkender Mensch vielleicht leid, aber: Befehl ist Befehl. Man kennt diese Argumente der Gleichgültigen aus anderen Zusammenhängen, etwa von KZ-Aufsehern etc.
5.
Über das, was Scobel/Gabriel in dem Buch andeuten, hinausgehend: Es ist interessant, dass dem politisch rechten bzw. rechtsextremen Denken verpflichtete Leute häufig ziemlich pauschal „die griechische“ oder gar die „heidnische“ Philosophie preisen, weil diese – so wird pauschal behauptet – den universellen Wert der Menschenwürde aller Menschen nicht kannte. Das finden rechtsextreme Politiker und deren Ideologen aktuell und anregend. Unterstellt wird also, es hätte in der griechischen Philosophie so pauschal durchaus eine auch ethische Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Menschen gegeben…
Auf das Heidentum (das auch „der“ griechischen Philosophie unterstellt wird) hat sich einer der führenden französischen Meisterdenker rechtsextremer Philosophie, Alain de Benoist (z.Z. gibt er sich „moderat“) bezogen. Etwa in seinem Beitrag „Gleichheitslehre, Weltanschauung und Moral“, (in: „Das unvergängliche Erbe“, hg. Pierre Krebs, 1981). Daraus nur zwei zentrale Zitate: “Es wäre ja ungerecht, wenn alle Menschen eine Seele hätten…Der allein kann sich eine Seele geben, der Herr seiner selbst ist“ (S. 96). Und: „Alle wertvollen (sic) Menschen sind Brüder, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Landes, der Zeit, in der sie leben“ (S. 105).
6.
Wie aber sieht eine differenzierte Beurteilung aus? Tatsache ist zunächst: In einigen Schulen der griechischen Philosophie wurde die Gleichgültigkeit als Indifferenz des einzelnen Menschen gegenüber Dingen der äußeren Welt durchaus positiv bewertet.
Die Gleichgültigkeit etwa der philosophischen Schule STOA in Griechenland und später in Rom bezieht sich auf die innere Lebensorientierung eines einzelnen Menschen im Umgang mit den Dingen, die in der Welt wertvoll erachtet werden. Der stoische Philosoph Seneca etwa weiß, dass Ansehen und Reichtum und Einfluss und Macht einen solchen Einfluss auf den Menschen ausüben können, dass er von ihnen abhängig wird und ihnen gehorcht. Gegenüber diesen Werten bzw. Unwerten eines veräußerlichten Wohlergehens heißt es Widerstand zu leisten, Nein zu sagen, um der eigenen inneren geistigen Entwicklung und Freiheit willen. Nur im Abstandnehmen von den genannten Werten findet der Mensch die innere Seelenruhe, die ataraxia. Diesen Dingen und Werten bzw. Unwerten soll der einzelne Mensch gleichgültig gegenüberstehen, darauf komm es an: Also ohne leidenschaftliches Interesse, ohne Begeisterung leben, wenn denn einem Mensch Reichtum geschenkt wird, wenn er Macht ausüben muss, dann soll der Weise, der Philosoph, mit diesen Verhältnissen so umgehen, als er wäre er darin nicht verwickelt. Der Mensch sollte also in einer „Als-Ob“ Haltung denken und leben, d.h. so leben, „als ob“ er bloß reich wäre, also in innerer Distanz. Hingegen soll der Geist, die Seele, in ihrer „Gleichgültigkeit“ gepflegt werden auch in einer Situation, nur „als ob“ man reich wäre. Die Pflege der Seele hat völligen Vorrang vor der Pflege des Reichtums. „Kann einem auch Geld geraubt werden der freie Wille kann nicht geraubt werden. Die gleichgültigen Dinge sollen deshalb kein Mitspracherecht über die Seele besitzen, damit der Mensch nicht ihr Sklave wird, sondern frei bleibt“ (Dominik Terstriep, Indifferenz, EOS Verlag, 2009, S.92).
7.
Aber, und das ist wichtig; Die Lehre von der Indifferenz, der Gleichgültigkeit, hat etwa in der Stoa ihre Grenze in der Beziehung des einzelnen zu anderen und damit zur Politik. Denn durch seine Vernunft ist der Mensch mit allen anderen verbunden, und das bedeutet: Der Mensch ist wesentlich, „von Natur aus“, auf ein Leben in der Gemeinschaft angelegt. Zu seiner Stadt „gehören alle Menschen, gleich welcher sozialen Herkunft und Nationalität sie sein mögen: Alle sind Brüder, da sie alle Vernunft besitzen und dazu bestimmt sind, die Tugend zu üben“ (Charles Werner, Die Philosophie der Griechen, Freiburg 1966, S. 196). Auch Seneca (der Jüngere) hat in seinen Briefen „Epistula Morales“ (verfasst 62 bis 64) die universale Menschenwürde beschrieben, vor allem im Blick auf die Sklaverei. Sklaven sind auch Menschen, könnte man diese Position zusammenfassen, die natürlich noch nicht an die moderne Definition der auch rechtlich einklagbaren Menschenrechte heranreicht.
In jedem Fall wird deutlich: Die (neu)rechten und rechtsradikalen Verteidiger ihrer Gleichgültigkeit als Form ihrer Inhumanität gegenüber den „anderen“, den Fremden, den Flüchtlingen im Mittelmeer usw. können sich nicht auf “die“ in ihrer Sicht so vorbildlichen heidnischen griechischen Philosophen berufen. Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen als Missachtung von deren Würde passt nicht in eine Gesellschaft und in Staaten, die noch den Namen menschlich beanspruchen.
8.
Die rechte und rechtsextreme Abwehr der Hilfe und Aufnahme von Fremden und Flüchtlingen gibt sich seit einiger ein vornehmes, „bürgerliches“ Gesicht oder„Maske“. Führende AFD Politikerinnen wie Alice Weidel oder die Führerin des „Rassemblement National“ (zuvor Front National), Marine Le Pen, erklären wie gewohnt übereinstimmend: Bootsflüchtlinge müssen im Mittelmeer so behandelt werden, dass ihre Boote wieder beim Ausgangspunkt, einem Hafen in Libyen, landen. Was zwischendurch auf dem Meer mit den Flüchtlingen ist ohne Interesse für rechtsradikale PolitikerInnen. Mit dieser menschenverachtenden Haltung verbindet sich bei diesen Rechtsradikalen immer eine Verteufelung der Rettungsschiffe, die von humanitären NGOs (etwa „SOS Mediterranée“) betrieben werden. Bester Ausdruck für dieses Verständnis von Humanität, die nur dem eigenen „Volksgenossen“ gilt hat der Potsdamer AFD Abgeordnete Sebastian Olbrich geliefert, als er im Parlament im Blick auf die Flüchtlingshilfe sagte: „Meine Familie und ich selbst helfen eben den Menschen, wo sie auch wohnen“, also den Deutschen in der deutschen Nachbarschaft. LINK
9.
Die Gleichgültigkeit (bzw. die Indifferenz) kann sich als neue rechte und rechtsextreme Untugend nicht auf die Philosophie der Stoa berufen. Aber das bedeutet gleichzeitig: es gibt faktisch weit verbreitet die Untugend der Gleichgültigkeit auch heute. Es gibt das politisch indirekt wohl auch gewollte Ertrinkenlassen und Sterbenlassen von Flüchtlingen im Mittelmeer. Die Akteure „vor Ort“ sollten gemeinsam und in gemeinsamer Entschlossenheit Nein dazu sagen. Also den Bürokraten in der fernen EU (Brüssel-Administration usw.) faktisch und in der Tat widersprechen. Und eben krepierende Flüchtlinge im Mittelmeer retten. Dieses humane richtige Handeln wäre offiziell und bürokratisch betrachtet natürlich ungesetzlich.
10.
Der reflektierte Ungehorsam und das Nein-Sagen zu inhumanen Gesetzen ist bekanntlich eine der größten Erkenntnisse und Forderungen der Menschheit nach dem Ende des Holocaust. Wenn die viel besprochene Erinnerung an den von Deutschen betriebenen Massenmord an den Juden überhaupt mehr sein soll als Theorie, dann muss die Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen im Mittelmeer aufhören, um nur dieses eine Beispiel gegenwärtiger inhumaner Politik zu erwähnen. Diese Politik wird betrieben durch sich immer noch demokratisch nennende europäische Staaten, die dabei vor allem eins wollen: Den rechten und rechtsextremen Positionen nicht zu „nahe zu treten“, aus Angst, Wählerstimmen im rechten und rechtsextremen Lager zu verlieren.
11.
Was steht also philosophisch und ethisch gesehen evident fest:
Diese Flüchtlingspolitik, die das Ertrinken von Tausenden Menschen im Mittelmeer duldet und per Gesetz hinnimmt, ist „Ausdruck des radikal Bösen“, wie die Philosophen Gert Scobel und Markus Gabriel betonen. Dieses radikal Böse ist Menschenwerk, es kann also von Menschen (Politikern, Bürgern) beseitigt werden, wenn sie nur wollen. Sie könnten es, aber tun es nicht, so wie sie außerstande sind, eine gerechte Weltordnung zu schaffen. Manche fragen sich, ob der Begriff des aus den Kolonialzeiten stammenden Begriffes des Herrenmenschen tatsächlich veraltet ist. Die heutige Erinnerung an die Schrecken der Kolonialzeit „damals“ hat nur Sinn, wenn sie auch das aktuelle „kolonialistische Denken und Herrschen“ der „Herrenmenschen“ heute freilegt. Alles andere Verhalten und Publizieren muss sich dem Vorwurf des „Historismus“ stellen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Armin Laschet, ein katholischer Politiker und Opus-Dei-Versteher…

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 6.2.2021.

Am 12.9.2021 diese Ergänzung zu den unanständigen und würdelosen Äußerungen Laschets auf dem CSU Parteitag: LINK:

Am 12.8.2021 diese Ergänzung:

Die SPD hat in einem Wahl-Spot auf die spirituellen-politischen Hintergründe von Laschets engstem Mitareiter Nathanel Liminski hingewiesen (Belege dafür weiter unten).
Dieser Hinweis auf religions-politische Verflechtungen Liminskis mit äußerst konservativen katholischen Bewegungen löste einen heftigen Druck katholischerseits (auch vom ZK der Katholiken) auf diesen SPD Wahl-Spot aus. Der Werbespot wurde von der SPD gehorsam zurückgezogen. Man will es sich nicht mit dem katholischen “Volk” nicht verderben.
Dieser Rückzug der SPD erstaunt. Man stelle sich vor, wie dankbar auch die katholische Öffentlichkeit gewesen wäre, hätte man bei einem der engsten Mitarbeiter eines muslimischen Politikers in Deutschland Verbindungen zu fundamentalistischen muslimischen Kreisen nach gewiesen. Alle wären dankbar über so viel Aufklärung gewesen.
Nur im Fall eines führenden katholischen Politikers und Opus Dei Verstehers verhält es sich anders. Hätte doch der Herr Liminski öffentlich erklären können, dass er jetzt ganz und gar nicht mit den reaktionär-katholischen Kreisen zu tun hat. Hat er aber nicht gemacht. Also, Schlussfolgerung, steht er Herr Limiinski diesen Kreisen immer noch sehr nahe.

Am 15.7.2021 diese Ergänzung: Uns freut es sehr, dass unser kritischer Hinweis zum Kanzlerkandidaten der CDU, Armin Laschet, verfasst Anfang Februar 2021, viele tausend Klicker und hoffentlich Leser gefunden hat. Und wir hoffen, dass auf diese Weise ein kleiner Beitrag geleistet wird, dass Deutschland und der Welt Armin Laschet als Kanzler erspart bleibt!
Dass Laschet jetzt mit seinen Sprüchen (“Leistung muss sich lohnen”) immer mehr ins FDP-Milieu abdriftet, macht unser Thema noch aktueller: Denn offenbar hat der Katholik und Opus-Dei-Freund Laschet mit katholischer Soziallehre nicht allzu viel im Sinn, trotz seines großen Helfers und Beraters, des “strammen” konservativen Katholiken Nathanael Liminski.

Der Pressedienst queer.de berichtet am 12.7.2021 über eine denkwürdige Zusammenarbeit von Ministerpräsident Laschet mit dem de facto homophoben und ausländerfeindlichen Verein “DEMO FÜR ALLE”, der nun offensichtlich auf Betreiben des katholischen Poltikers Laschet und seines engsten Mitarbeiters Nathanel Liminski in den Rundfunkrat des WDR gehieft wurde. Liminski stammt aus einer Familie mit 10 Kindern, für die sich der Verein explizit einsetzt. Interessant ist, dass der katholische Politologe Manfred Spieker in diesem Verein “DEMO FÜR ALLE” führend aktiv ist … und Spieker ist zudem Mitglied des Opus Dei und Autor der katholischen Monatszeitschrift “Herder-Korrespondenz”. LINK
Kenner wissen natürlich, dass der Titel “Demo für alle” dem Vorbild des reaktionären Flügels im französischen Katholizismus folgt. Dort gabe es 2013 Demonstrationen gegen das Gesetz “Ehe für alle”, diese Demos, genderfeindlich und homophob und klerikal, hieß “Manif pour tous”, die “Demo für alle.”

1.
Für Armin Laschet, den CDU Vorsitzenden, ist „C“ wohl eher ein „K“ im Sinne von „Katholisch“, und zwar deutlich konservativ katholisch. Doppel „K“, KKDU also. Wir werden sehen, falls Laschet denn Kanzler wird, was nicht auszuschließen ist, welche Minister er einstellt, etwas liberale und etwas links Denkende werden es sicher nicht sein. Dafür wird schon sein engster Mitarbeiter sorgen, Nathanael Liminksi, jetzt noch in Düsseldorf. Er gehört zum sehr konservativen, man möchte sagen militanten Flügel im deutschen Katholizismus und der CDU. Dies muss wohl so sein, bei dem überaus katholisch-eifrigen Vater Jürgen Liminski, der ganz offen dem Geheimclub „Opus Dei“ angehört und für die sehr rechtslastige Zeitung „Junge Freiheit“ über Catholica schreibt oder die reaktionäre Kirchenzeitung “DER FELS”. Es wird sich zeigen, ob Nathanael Liminski dann seinem Vater folgt und die „Neue Rechte“ unter Laschet als Kanzler durchsetzt…

2.
Dass Armin Laschet aus einem tiefen katholischen Milieu in Aachen stammt, ist bei vielen Bürgern eher „im allgemeinen“ etwas bekannt.

3.
Es lohnt sich aber für alle Interessierten, zum Thema „Der Katholik Armin Laschet“ Details zu studieren, freizulegen und öffentlich zu machen. Hier nur ein erster Ansatz, der von Journalisten fortgesetzt werden sollte, die noch ein Interesse an Recherche und Investigation bewahrt haben.

4.
Der „Religionsphilosophische Salon“ muss sich mit diesem Thema („Laschet“) befassen, weil Religionskritik zweifelsfrei zum Kern der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gehört.Und Religionskritik muss immer auch bezogen sein auf aktuelle Ereignisse, genau dann, wenn ein mit dem sehr konservativen katholischen Milieu verbundener Politiker, wie Herr Laschet, immer mächtiger wird…

5.
Armin Laschet wurde 1961 in der Nähe von Aachen als Sohn eines Steigers geboren. Über den Katholizismus von Laschets Jugend schreibt „Die Welt“: „Forscht man in der frühen Lebenswelt Laschets nach, meint man schnell, sich in einem Roman von Heinrich Böll zu befinden: überlebensgroß die Kirche, überlebensgroß die Herren Honoratioren, viel Klüngel, viel Chuzpe und Schlitzohrigkeit. Sowie jede Menge Doppelmoral“. (Beitrag von Thomas Schmidt am 30.1.2021, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article225280253/Armin-Laschet-rheinischer-Katholik-und-sanfter-Reformer.html

Armin Laschet heiratet Susanne Malangré, ihr Vater ist Heinz Malangré. Laschets Schwiegervater arbeitet u.a. als geschäftsführender Gesellschafter im katholischem „Einhard-Verlag“. Für ihn wird Laschet tätig. Der Verlag besteht bis heute, er gibt u.a. die katholische Kirchenzeitung fürs Bistum Aachen heraus.
Heinz Malangré, Laschets Schwiegervater, war u.a.auch Vorsitzender des „Diözesanrates im Bistum Aachen“, er förderte Sozialprojekte im so genannten „Heiligen Land“ und wurde durch Kardinal Jaeger, Paderborn, innerhalb des von Laien wie Priestern geprägten „Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem“, zum „Großkreuzritter“ ernannt.
Zu Kardinal Jaeger und dem „Ritterorden“ ist wichtig zu wissen: Jaeger leitete im November 1954 die erste Zusammenkunft aller deutschsprachigen „Statthaltereien“ der Grabesritter in Oberwald/St. Gallen. Während einer “Investiturfeierfeier“ sagte der Kardinal: „Die Spielregeln der Demokratie haben das Denken weithin verbogen.“ Es brauche „eine religiöse Führerschaft, die sich den ewigen Wahrheiten verschrieben hat.“ In der Abendländischen Aktion, die der konservativen “Abendländischen Bewegung“ nahestand, hatte Jaeger als Mitglied des Kuratoriums eine maßgebliche Funktion. (Quelle: https.//de.wikipedia.org.wiki/Lorenz_Jaeger. Zur Nazi- Vergangenheit des Kardinals und Kreuzritters hat Peter Bürger publiziert.)

6.
Schwiegervater Heinz ist der Bruder von Kurt Malangré, Rechtsanwalt, der von 1973 bis 1989 (!) Bürgermeister in Aachen war. Und, das ist entscheidend: Von Kurt Malangré gibt das Opus Dei Deutschland in seltener Offenheit zu: Der Oberbürgermeister war seit 1955 (!) hochrangiges Mitglied des Opus Dei. Mit salbungsvollen Worten erinnert das Opus Dei an ihr prominentes Mitglied Kurt Malangré, der die Ehre hatte, sogar noch den inzwischen heilig gesprochenen Gründer dieses Geheimclubs, den „Vater“, Josefmaria Escrivá, persönlich zu sprechen. Und der gab fromme Wünsche, man sage Floskeln, weiter an die damals leidende Gattin Malangrés…
LINK https://opusdei.org/de-de/article/kurt-malangre-ist-mit-84-jahren-verstorben/

7.
Der weltweit agierende Opus Dei Geheimbund (ca. 80.000 Mitglieder) mit seiner reaktionären Theologie sowie das „Ritterliche“ der Ritterorden spielen eine Rolle in der Spiritualität des Herrn Laschet.
Anläßlich des Rücktritts Benedikt XVI. vom Papstamt betonte er: „Die Schriften von Papst Benedikt XVI. würden für die Grundsatzprogrammberatung in der CDU NRWs ein “wichtige Begleiter” sein. (Quelle: WDR https://www1.wdr.de/dossiers/religion/christentum/papstruecktritt100.html).
Das heißt im Klartext: Zum Grundsatzprogramm der CDU soll ein Papst mitreden, „Ultramontanismus“ nannte man das früher. Man stelle sich vor, Muslime in Deutschland würden sagen, ihre politische Haltung richten sie nach einem Mullah oder einem hochkarätigen Imam. Ein Aufschrei würde beginnen … auch in der CDU.

8.
Über den „Fall“ Woelki schweigt NRWs Ministerpräsident Laschet, bis jetzt, diplomatisch klug, um nicht die konservativen klerikalen Katholiken und CDU Wähler in NRW zu verschrecken. (Stand 6.2.2021) „Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) will sich in die Rücktrittsdebatte um den Kardinal Woelki nicht einmischen. Das sei keine Frage, die der Staat beantworten könne,“ sagte Laschet am Dienstag vor Journalisten in Düsseldorf.“ (Quelle
https://www.katholisch.de/artikel/28098-laschet-vorwuerfe-gegen-kardinal-woelki-innerkirchlich-klaeren)
Diese Zurückhaltung des Ministerpräsidenten Laschet von NRW (Düsseldorf „gehört“ zum Erzbistum Köln) ist ein gewisser Widerspruch: Denn Laschet weiß als informierter Katholik, dass doch auch ein „Laie“ sich zum Wohl der Kirche äußern darf, um das Wohl der Kirche geht es doch auch im „Fall“ Woelki.
In vielen anderen „Fällen“ folgen katholische CDU Politiker gern den Weisungen der Kirche, etwa im Falle von Pro Life oder der „Homoehe“. Warum schweigt Laschet zu Woelki? Hat dies etwas mit dem Schweigen des Opus Dei zu Woelkis „Fall“ zu tun, das Opus Dei hat bekanntlich seine Deutschland-Zentrale in Köln. Oder hängt es mit dem beratenden Einfluss seines engsten Mitarbeiters in der Staatskanzlei in Düsseldorf zu tun, mit Nathanael Liminski, der dem rechten Spektrum des Katholizismus eng verbunden ist.

9.
Über Nathanael Liminski wird wohl in den nächsten Monaten viel zu sprechen sein, wenn denn Laschet Kanzler werden sollte. Ihm wird wohl sicher ein anderer Job als der des Verkehrsministers angeboten werden… Es gibt bereits jetzt einige kritische journalistische Untersuchungen zu Nathanael Liminski, dem Sohn des schon erwähnten Opus-Dei-Mitglieds und „Junge Freiheit“ Autors Jürgen Liminski. (Ein Liminiski Artikel vom 12. Mai 2020: https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2020/der-gute-ruf-2/)

Also zu Nathanael Liminski, einem der 10 Kinder (sic!) einer “im guten alten Sinne”, “vorbildlichen” katholischen Familie: Das einzige Buch, das von Nathanael Liminski vorliegt, hat den Titel „Generation Benedikt“, es ist nach den katholischen „Weltjugendtagen“ im Jahr 2007 erschienen, als werbender Impuls, dass junge Leute den Weisungen von Papst Benedikt XVI. doch folgen mögen…

Auch die SPD interessiert sich für Nathanel Liminski:
„Der NRW Landesverband „SPDqueer“ macht sich Sorgen um den Einfluss eines homophoben Beraters auf den neuen CDU-Bundesparteichef Armin Laschet. Der 35-jährige Ministerialbeamte Nathanael Liminski, der als Leiter der NRW-Staatskanzlei als wichtigster Akteur im Hintergrund. Liminski
war in der Vergangenheit immer wieder durch radikalreligiöse und homophobe Äußerungen aufgefallen. So hatte er etwa 2007 gegenüber dem “Spiegel” gesagt: “Ich kenne viele Homosexuelle, und einige tun mir leid. Der Staat muss schon aus reiner Selbsterhaltung die natürliche Form der Ehe und Familie fördern….Mit seiner Nähe zu Nathanael Liminski begibt sich Armin Laschet in einen gefährlichen Einfluss der erzkonservativen und fundamental-christlichen Rechten. Diese ist ein aktiver Teil einer frauenfeindlichen, homophoben und rückwärtsgewandten Rollback-Bewegung”, erklärte Fabian Spies, der NRW-Landeschef von SPDqueer. …Spies äußerte die Befürchtung, dass Liminskis Einfluss noch steigen werde, je mehr Laschet in der Bundespolitik eine Rolle spiele….Im Kampf um die Ehe für alle stand Laschet stets auf der Seite der Reaktionären – und beugte dabei auch die Wahrheit: So behauptete er etwa als NRW-Oppositionsführer wiederholt, dass es im Grundgesetz ein verstecktes Ehe-Verbot für Schwule und Lesben gebe und Deutschland daher am diskriminierenden Ehe-Recht festhalten müsse. Auf Druck der Laschet-CDU weigerte sich das schwarz-gelbe Nordrhein-Westfalen 2017, dem Gesetz zur Ehe für alle zuzustimmen. Quelle: https://www.queer.de/detail.php?article_id=38055 Vom 2.2.2021)
Siehe auch: https://www.katholisch.de/artikel/28492-nathanael-liminski-von-der-generation-benedikt-zu-armin-laschet

10.
Nathanael Liminski wird wegen seiner absolut diskreten Art, immer im Hintergrund, aber einflussreich, eine große Zukunft vorausgesagt. Wenn er älter wird, könnte er als Opus-Dei-Freund und Erzkatholik bald die Geschicke der Bundesrepublik in Richtung eines katholischen klerikalen Staates führen, falls dann nach all den Affären um Priester und Woelkis überhaupt noch Katholiken auffindbar sein sollten.
„An Laschets Kabinettstisch in Düsseldorf ist Liminski der einzige, der gerne unsichtbar bleibt. Obwohl das achte von zehn Kindern eines ehemaligen Deutschlandfunk-Redakteurs druckreif spricht, schlagfertig ist und gewitzt, lässt er sich ungern zitieren. Unserer Redaktion stand er für dieses Porträt zwar für ein Hintergrundgespräch zur Verfügung. Aus dem Gespräch durften wir jedoch keinen einzigen Satz verwenden.(Rheinische Post, 4.9.2018)…„Keinen einzigen Satz verwenden“…. Diese Maxime kennen wir aus einer Pressekonferenz Kardinal Woelkis im Februar 2021…

11.
Die Frage ist: Hätte es wirklich keinen anderen als Nathanael Liminski für das hohe Amt in Düsseldorf gegeben? Wenn das so ist, dann sehe ich darin nur ein Beispiel dafür, wie wenige freie Intellektuelle in der CDU überhaupt noch „vorhanden“ sind.Offenbar ist bei Laschet der Wille da, einen Opus-Dei-affinen engsten Mitarbeiter zu haben, er selbst kennt sich ja schon bei den “Grabesrittern”, familiär bedingt, gut aus…

12.
Bleibt zu hoffen, dass der Politik in Deutschland ein Erzkatholik Nathanael Liminski erspart bleibt. Klerikalistische Politik brauchen wir nicht, schon gar nicht eine vom Opus-Dei ferngesteuerte Politik.
Dies ist selbstverständlich eine Meinungsäußerung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Edgar Morin: Sechs Bücher von ihm in deutscher Sprache!

Edgar Morin: Seine Bücher auf Deutsch (Stand Juli 2021)

Der Friedensforscher Werner Wintersteiner, Österreich, korrigiert zurecht meine Mitteilung, es gebe nur drei Bücher in deutscher Sprache von Edgar Morin: (Zum Beitrag von Christian Modehn: LINK)

Auf Deutsch sind tatsächlich von Edgar Morin erschienen (immer noch viel zu wenige!)
– Das Rätsel des Humanen (Le paradigme perdu), München: Piper
– Heimatland Erde (Terre Patrie), Wien: Promedia
– Die sieben Fundamente des Wissens … (Les sept savoirs), Hamburg: Krämer
– Der Weg (La voie), Hamburg: Krämer
– Die Natur der Natur / Die Methode (La méthode), Wien: Turia + Kant
– Für ein Denken des Südens. Berlin:Matthes und Seitz 2014.

Ich empfehle auch das Interview, das Constantin von Barloewen mit Edgar Morin führte, in LETTRE INTERNATIONAL, Heft 121, Sommer 2018, Seite 57 bis 62. Der Titel “Vom Verfall der Zukunft. Es geht darum, dass dieses Ende zu einem neuen Anfang führt”.

Siehe auch die Kampagne “Heimatland Erde” des österreichischen Friedensforschungsinstituts ASPR in Stadtschlaining, in deren Rahmen auch eine Würdigung Morins erschienen ist: https://www.aspr.ac.at/fileadmin/Downloads/Presse/Kommentare/Kommentar_ASPR_WW-Edgar-Morin_08-07-2020.pdf

Werner Wintersteiner hat sein neues Buch Edgar Morin zum 100er gewidmet: Werner Wintersteiner: Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen. Bielefeld: transcript 2021. Print 27.- €,

PDF open access: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5635-0/die-welt-neu-denken-lernen-plaedoyer-fuer-eine-planetare-politik/

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Marcel Proust zum 150. Geburtstag: Auf der Suche nach meiner verlorenen Zeit.

Für eine “Suche nach der verlorenen Zukunft”. Anlässlich des 150. Geburtstag von Marcel Proust (am 10.Juli 2021)
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Den Titel des großen Romans von Marcel Proust kann man auch frei variieren, vielleicht ein bisschen spielerisch, sicher aber provozierend. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wurde in den Jahren 1906 bis 1922 verfasst, wobei die drei letzten Roman – Teile erst nach dem Tode Prousts (1922) veröffentlicht wurden. Die aktuelle Titel – Variante – für eine philosophische Meditation etwa – könnte heißen: „Auf der Suche nach meiner verlorenen Zeit“. Oder: „Auf der Suche nach deiner bzw. unserer verlorenen Zeit“.
Meine, deine, unsere gelebte Vergangenheit könnte befragt werden: Ist sie „verloren“?
2.
Das Thema verwickelt uns in eine Reflexion über unsere Lebenszeit und über die Zeit „im allgemeinen“, in die wir unabwerfbar, sozusagen absolut, hineingestellt oder hineingeworfen sind.
Der Gebundenheit an die Zeit entkommt niemand. Aber diese Zeit wird vom Menschen immer auf irgendeine Art gestaltet, geformt. Zeit wird von Menschen „verbracht“. Selbst in der Langeweile können wir, entgegen einer populären Behauptung, die Zeit nicht „totschlagen“. Zeit verschwindet nicht.
„Autonom“ bzw. selbstbestimmt sind wir der Zeit gegenüber nur, weil wir die als „unabwerfbar“ verfügte, heteronom uns gegebene Zeit dann aber doch kraft unserer Freiheit, d.h. der Vernunft, für uns konkret gestalten können. So wird Zeit zu meiner, unserer Zeit, also Lebenszeit. Aber immer bleibt die Zeit „im allgemeinen“ auch diese nie endgültig zu definierende Gegebenheit – Verfügtheit in unserer Existenz. Aber es ist die menschliche Vernunft, die die Zeit als Dimension der Vernunft selbst und des Geistes wahrnimmt.
3..
Marcel Prousts Titel kann man als Aufforderung verstehen, bestimmte Momente unserer Vergangenheit zu suchen, nach ihr zu fragen und zu forschen. Denn Proust zeigt am Beispiel seines Ich-Erzählers, dass Momente unserer eigenen Lebenszeit verloren gegangen sind, nicht mehr präsent sind im Gedächtnis. Und selbst wenn wir sie in der Erinnerung dann wiederfinden, weil sie sich wenigstens als ein Moment zeigen und als Augenblick aufblitzen, können sie dann noch das gegenwärtige Leben prägen, korrigieren, bestimmen? Oder ist selbst auch die wieder entdeckte vergangene Zeit eine verlorene Zeit, verloren im Sinne von nicht mehr relevant, nicht mehr gültig? Sozusagen „passé“? Denn in diesen wieder erweckten Momenten unserer Vergangenheit sind immer auch andere und anderes „involviert“, und diese sind in weitem Rückblick meist passé, untergangen. Die Suche nach der verlorenen Zeit offenbart dann doch, dass Lebenszeit verloren ist.
4.
Für Marcel Proust gibt es nicht nur die aus einer vernünftigen Entscheidung entspringende Suche nach der eigenen Vergangenheit. Diese Suche ist freie Tat, absichtlich gesetzt, sagt Proust. Und sie kann Taten und Ereignisse und Namen aus dem Abstand auch wissenschaftlich fixieren. Dabei sollte aber nie vergessen werden, dass diese vernünftigen, in freier Entscheidung entstandenen Erinnerungen in der politischen Kultur absolut wichtig sind. Sie eher zweitrangig zu nennen, widerspricht jeder humanen Erinnerungskultur. Man denke nur an die absolute politische Verpflichtung, auch in immer größerem zeitlichen Abstand an den Holocaust zu erinnern
Aber: Viel wichtiger und hilfreicher ist für Proust in seinem Roman die unwillkürlich geschehende Suche nach der verlorenen Zeit, diese Suche geschieht von selbst und führt zu einer sich plötzlich einstellenden Erinnerung.
5.
Die von Proust hoch geschätzte „unfreiwillige Erinnerung“ (mémoire involontaire) wird dem Menschen förmlich geschenkt, wenn er die Botschaften seiner Sinne beachtet und sich von den Erfahrungen mit dem Sinnen überraschen lässt. Der Gesichtssinn (die Augen) spielt dabei für Proust keine große Rolle. Viel wichtiger sind ihm das Hören, vor allem das Schmecken und Riechen auch von Gegenständen: Im Umgang mit den Dingen kann dann unfreiwillig und wie von selbst als ein „Blitz“ eine Verbindung zu einem Moment der eigenen Vergangenheit erscheinen. Bekannt ist das so oft zitierte Beispiel aus dem ersten Roman(teil) seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“. Der Protagonist Marcel (der Roman ist ja keineswegs eine Art Autobiographie Prousts!) erlebt, als er an einem Wintertag das Gebäck „Madelaine“ in eine Teetasse tunkt, eine ihn tief berührende und glücklich stimmende Erinnerung an die Kindheit bei Tante Léonie in Combray/Illiers.
„In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu“? (Zu diesem Zitat, siehe: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“; 10 Bde. Frankfurt am Main 1979, Bd. 1, S. 63–67).
6.
Die unfreiwillige Erinnerung erleben selbstverständlich alle. Vielleicht wird die Erinnerung an diese Form der Erinnerung verdrängt oder in ihrer Bedeutung nicht wahrgenommen. Dass sie sich überhaupt einstellt, dafür gibt es keine „machbare“ Voraussetzung. Hilfreich könnte sein: Wohl eher in einer stressfreien Situation können uns unsere Sinne zu Erinnerungen an frühere Momente, etwa der Kindheit, führen. Ein persönliches Beispiel: Ich höre in meiner Wohnung regelmäßig den Klang der Glocken, morgens um acht, mittags und abends um sechs. Aus dem üblichen „überhörenden Hören“ aus Gewohnheit wurde ich kürzlich herausgerissen: Ich fühlte mich einmal in ruhiger Stimmung, auf dem Sofa liegend, durch die Glocke versetzt in einen Moment meiner Kindheit: Ich spiele im Garten, höre aus der Ferne, mittags um zwölf, die Glocke unserer Kirchengemeinde. Meine Mutter schaut aus dem Fenster, ruft mich, ich laufe zu ihr. Wir berühren uns voller Liebe und beginnen, wie vom Geist bewegt, zu beten, wie öfter schon früher, ein „Vater Unser“ und ein „Ave Maria“. Dieser Augenblick meiner Kindheit, dessen Datum mir die Erinnerung natürlich nicht mitteilte, was auch bedeutungslos wäre, wurde mir im Abstand vieler Jahre präsent. Ein durchaus heilsamer, beruhigender Moment, eine Form des Behütetseins von irgendwoher stellte sich ein. Ich spielte dann nach dem Gebet weiter, der Tag hatte eine Unterbrechung gefunden, es gab eine erneute Nähe zur Mutter und, so würde ich heute sagen, ein Innewerden der spirituellen, vielleicht der göttlichen Dimension im Menschen.
Marcel Proust nennt im Roman manche dieser geschenkten Erinnerungen „glücklich“. Ich denke, wir sollten dieses unwillkürliche Suchen nach der Vergangenheit ernst nehmen. Können wir es vielleicht pflegen, üben, einüben, vorbereiten, selbst wenn diese unwillkürliche Erinnerung, wie Proust vermutet, Geschenk bleibt?
7..
Die „verlorene Zeit“ ist ein mehrdeutiges Wort: Wie viele Bedeutungen hat „verloren“? Zeit kann als begrenzte Zeiteinheit, etwa als eine ferne Reise, tatsächlich im Bewusstsein der Erinnerung “verloren“ gehen. Und wer sagt, er hätte den Inhalt eines gelesenen Buch aus dem Gedächtnis „verloren“, hat wahrscheinlich die Erwartung oder Hoffnung, dass der Inhalt nicht verloren ist, sondern ihm wieder präsent wird. Es muss aber wohl auch damit gerechnet werden, dass Menschen sagen: Diese meine bestimmten Lebensjahre waren verlorene Zeiten, verlorene Jahre, im Sinne einer letztlich störenden, wenn nicht zerstörenden Wirkung auf das eigene Leben. Diese eigenen verlorenen Lebenszeiten können aber in der Therapie mit dem Lebensganzen wieder verbunden werden, in Form einer Versöhnung mit sich selbst. Eine andere Frage ist, wie die Gesellschaft, die Proust ausführlich schildert, ihrerseits so weit verloren ist, dass sie nahezu hoffnungslos und sinnlos dahinlebt… dies würde für die Künstlergestalten im Roman nicht gelten…
8.
Proust sucht die verlorene Zeit in der Vergangenheit. Diese Suche ist üblich. Ich behaupte aber: Es gibt tendenziell auch verlorene Zeiten in der Zukunft. Das mag paradox klingen, weil ja Zukunft per definitionem noch nicht als gestaltete Ganzheit vorliegt. Gemeint sind die verdrängten und unterlassenen , „verlorenen“ Projekte zugunsten einer guten Zukunft, etwa die Idee einer Welt ohne Atomwaffen, ohne Krieg oder auch nur eine Welt, die ohne die ungerechte Spaltung in wenige Milliardäre und viele sehr Arme und Hungernde gestaltet wird. Wir haben von heute aus zurückblickend viele „verlorene Zukünfte“ wahrzunehmen, also die übersehenen und verdrängten Chancen, Besseres zu tun; die Nachlässigkeiten, den Egoismus. Den Gedanken wird man denken können, wenn nicht bald denken müssen: Wir haben unsere gute Zukunft für diese Welt, die Natur und alle ihre Menschen de facto schon verloren. Wir haben uns unsere Zukunft aus eigener freier Entscheidung sozusagen „vermasselt“. Wer wagt dies zu sagen? Wer noch diese verlorene Zeit im Sinne der verlorenen, durch Menschentat ignorierten guten Zukunftszeit sucht, wird sich an sich selbst erinnern, an die Politik, die neoliberale Unordnung usw. Und wird er sich schuldig fühlen?
9.
Marcel Proust hat in seinem großen Roman diese ethischen, normativen Bewertungen nicht ausgesprochen, darauf hat die Romanistin, Prof. Barbara Vinken (München) in einem Interview, veröffentlich in der „ZEIT“ am 8. Juli 2021 (Seite 52f.) hingewiesen, „Dieses Gefühl von Verbot und Überschreitung habe ich bei Proust nie. Dort herrscht eine interessante Zensurlosigkeit…Ist es nicht beunruhigend, dass es gar kein Über-Ich zu geben scheint?“ (dort S. 53). Darf man sagen, dass Proust nicht nur eine gewissenlose Gesellschaft der Aristokratie und des Adels beschreibt, eine Gesellschaft, die in den Untergang hinein feiert. Sondern auch, dass er als Berichterstatter dem „ohne Über-Ich“ sozusagen hilflos zuschaut. Und was soll man daraus schließen, dass dieser 4000 (viertausend) Seiten lange Roman offenbar doch von vielen gelesen wird? Ist es das Studium der untergehenden dekadenten Gesellschaft damals interessiert, vielleicht mit einem Blick auf eine untergehende dekadente neokapitalistische Gesellschaft im Westen wie in der arabischen Welt? Das Massensterben von Verhungernden in Afrika r ist uns nur noch 30 Sekunden in den Nachrichten wert, Bilder aus der Ferne, die nicht berühren und bewegen. Danach wird in 3 Stunden dem allerhöchsten aller Götter, dem Fußball, die Ehre erwiesen, um nur ein Beispiel für dekadent erscheinende „Kulturen“ der Demokratien zu nennen.
10.
So sehr also der 4000 Seiten – Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu denken gibt, so sollten doch auch seine philosophischen und speziell ethischen Grenzen besprochen werden. Solches zu sagen hat gar nichts mit Prüderie zu tun. Eine dieser Begrenzungen ist die totale Fixierung des Erzählers auf Vergangenheit, auf Erinnerung. Insofern fehlt dem großen Roman doch sehr viel. Und es wäre zu fragen, warum gerade anlässlich des 150. Geburtstages von Proust dessen lustvoll-quälerisch-kritischer Blick auf Vergangenes so beliebt ist. Entspricht diese Liebe zu Vergangenem vielleicht der Angst, dass sich unsere „Suche nach einer verlorenen Zukunft nicht mehr lohnt? Dies würde der eher skeptischen, manche sagen der nihilistischen Grundhaltung Prousts entsprechen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Eine aktuelle Anmerkung zur katholischen Gemeinde in Illiers/Combray bei Chartres:
Dieses Städtchen spielt in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust eine gewisse Rolle. Wer den versteinerten Katholizismus des 19. Jahrhunderts heute noch sucht, hätte am 4. Juli 2020 in der dortigen Pfarrkirche „Saint Jacques“ fündig werden können: Dort hat der römisch-katholische Bischof von Kopenhagen (sic), der Pole Czeslaw Kozon, sechs Diakone zu Priestern geweiht, sie gehören der bekannten, traditionalistisch orientierten, aber mit Rom „versöhnten“ Bruderschaft „Institut du Bon Pasteur“ an, der „Bruderschaft vom Guten Hirten“. Die beiden Gründer – Priester vom „Guten-Hirten“ gehörten zuerst zur traditionalistischen Gemeinschaft „Pius X.“, von Erzbischof Marcel Lefèbvre gegründet. Aber diese beiden Priester haben Papst Benedikt überzeugen können, dass sie nun doch wieder treu zum Papst stehen… ihre reaktionäre Theologie mussten sie dabei nicht aufgeben. Die Priester „vom guten Hirten“ haben international „Nachwuchs“…
In dem Ort des Proust-Romans, in Villiers bzw. Combray, wurde nun 2020 bei der Priesterweihe die total klerikale Kirche von damals reanimiert, so wie sie der getaufte Katholik Marcel Proust noch erlebte, mit viel Weihrauch und lateinischen Messen und viel jungem hübschen Klerus in alten feinen Mess-Gewändern. Siehe: https://www.institutdubonpasteur.org/2020/07/04/photos-des-ordres-majeurs-2020/

Edgar Morin über die Beziehung von Poesie und Philosophie.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zu Edgar Morin LINK

Ein Motto von anderer Seite: „Es spricht nichts dagegen, Sophokles, Beckett, Proust und Celan als Philosophen zu bezeichnen.“ Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp 2014, S. 19).

1.
Über die Einheit und Differenz von Poesie und Philosophie ist schon einiges publiziert worden. Die Debatte geht wohl vorwiegend um die Möglichkeiten der nun einmal immer irgendwie rational-begrifflich geprägten Sprache, die Tiefe des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Also das, was man mit dem Wort Geheimnis umschreibt im Sinne des gründenden, nicht fassbaren Göttlichen. Dieses Thema bewegt den Poeten Yves Bonnefoy oder den Philosophen Edgar Morin, um nur zwei aktuelle Beispiele aus Frankreich zu nennen.
Wer sich um das philosophisch zentrale Thema „Philosophie der Philosophie“ bemüht, kann also nicht auf die Frage nach der Abgrenzung philosophischer Prosa von poetischen (lyrischen) Aussagen verzichten. Und wird weiter zu der Frage geführt: Wie sollte man eigentlich „poetisch sich äußernde Philosophen“ verstehen, etwa den später Heidegger oder Nietzsche. Manche neigen dazu, auch die ihnen selbst schwer verständlichen Philosophen wie Hegel oder Fichte bereits als Poesie zu betrachten, d.h. bei den Betreffenden, sie philosophisch als Poeten „abzuwerten“.
Zu einigen Hinweisen über Bonnefoy: LINK.
2.
Der Philosoph Edgar Morin, der am 8.Juli 2021 seinen 100. Geburtstag feiert, hat mehrfach zu diesem Thema Stellung genommen. Ich beziehe mich auf das leicht zugängliche Buch „Mes Philosophes“, das bei Fayard in Paris erschienen ist. In dem Buch berichtet Morin in kurzen Essays von Philosophen, Religionsstiftern und Künstlern, die ihm am meisten zu denken gaben und geben, auch Beethoven ist darunter. Über Poesie spricht Morin ausführlich in dem „Le Surréalisme“ überschriebenen Kapitel (S. 159 – 163). Ich finde Morins Überlegungen interessant und anregend, einige seiner Aussagen werde ich übersetzen.
3.
Edgar Morin entwickelt seine die Poesie lobenden Gedanken am Beispiel von Dichtern, die als „Surrealisten“ (etwa seit den 1930 Jahren) bezeichnet werden. Morin meint sogar (S. 159), der Surrealismus gehöre zu den „kulturell und sogar philosophisch reichsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts“. Poesie, Denken, die politische Aktion, das Leben, hätten sich darin gegenseitig befruchtet. Der Surrealismus ist in der Wahrnehmung von Morin eine Revolte für die Poesie als Lebensform, wie dies schon für die deutsche Romantik gilt. Surrealistische Dichter (wie Breton, Péret, Mario Pedrosa usw.) wollten die Poesie nicht einschließen und begrenzen bloß auf das Gedicht. Poesie ist für sie treffend vielmehr umfassend „eine Quelle des Lebens“. Edgar Morin meint, diese surrealistische Überzeugung erweiternd: Der Mensch lebe gleichzeitig auf poetische wie auch auf prosaische Weise, Poesie und Prosa sind also für Morin zwei ursprüngliche und primäre Polaritäten des Lebens. (S. 161). Prosa bedeutet für ihn: Arbeit, Nützlichkeitsdenken, Alltägliches etc. Poesie hingegen Verwunderung und Erstaunen, Ekstase, Musik, Tanz, Liebe. Aber beide „Welten“ sind nicht getrennt: In die Realität des Prosaischen ist „eingewebt“ die Phantasie, ohne Phantasie, also Poesie, gibt es keine Realität (S. 161). Morin erwähnt besonders Breton, für den die Welt des Surrealen „eine tiefe und höhere Welt bedeutet“, die im Traum, in der Ekstase der Liebe, in der Poesie zugänglich wird“ (S. 162). Es gibt sozusagen für Morin wie für Breton „innere Welten der menschlichen Seele“(ebd.) Und Morin fährt fort: „Ich glaube ganz tief an eine andere Realität, sie ist ein Geheimnis, aber wir tragen diese Welt ganz tief in uns selbst. Diese andere Realität ist in uns. Wir sind in ihr“ (ebd.). Das sind Worte, die sich an die besten mystischen Traditionen anschließen.
4.
Und diese „mystische Poesie“ muss völlig frei und selbstständig bleiben, sie darf sich niemals in den Dienst einer politischen Partei stellen. „Der Poet kann niemals Partei sein“ (S. 162). Damit erinnert sich Edgar Morin an die Zeit seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs, aus der 1951 ausgeschlossen wurde, ein Ereignis, das ihm umfassende Freiheit brachte. Poesie darf niemals Partei sein, niemals Partei ergreifen, das ist ja nicht nur im politischen Sinne gemeint. Poesie, wenn sie religiöse Dimension hat, darf niemals dogmatisch sein, sich niemals der Institution einer Kirchenbehörde unterordnen. Ein aktuelles Thema, wenn man bedenkt, wie die offizielle Katholische Kirche der Niederlande mit dem katholischen Poeten (und Theologen) Huub Oosterhuis umgeht… und seine Gedichte und Lieder in den Messen dort verbietet…
5.
Morin kommt auf die zentrale Bedeutung der Poesie auch in anderen Kapiteln seines Buches zu sprechen. Etwa in dem Kapitel über den umfassend gebildeten Gesellschaftsreformator Ivan llich (S. 167). “Die Poesie ist übrigens auch ein Aspekt der Ethik. Die Kräfte unserer Ethik kämpfen gegen die Grausamkeit der Welt, aber sie zielen gleichzeitig auf die Erfüllung des Menschen in der Lebensqualität, d.h. in dem Miteinander-Leben und der Poesie.“ Poesie und philosophische Ethik gehören zusammen. Von der Erfahrung der Schönheit also zum Guten kommen? Eine offene Frage
6.
So sehr der Philosoph Edgar Morin auch die Philosophen, unter ihnen auch die Skeptiker, schätzt: Wenn er sich etwa auf Rousseau bezieht und seine „Reveries du promeneur solitaire“( „Träumereien eines einsamen Spaziergängers) bespricht, dann gilt: „Ich spürte ein tiefes Bedürfnis nach affektiven Erfahrungen, die die Sensibilität preisen, die Gemeinschaft mit allen menschlichen Wesen und der Natur. Und das berührt mich bei Rousseau, dieser Sinn für die Poesie, der sich in „Reveries“ ausdrückt. Die wunderbaren Seiten erzählen einen Spaziergang auf der Insel Saint-Pierre, sie sind für mich ein großer Augenblick der Mystik. Mystik ist nicht notwendigerweise religiös. Mystik kann entstehen bei einem Glase Wein unter Freunden oder zusammen mit einem geliebten Menschen oder auch angesichts des Erlebens der lebendigen Natur“ (S. 68f.).
7.
Einen viel besprochenen Gegensatz von philosophischer Kritik, Skepsis, Aufklärung UND Poesie will Morin nicht gelten lassen (S. 75). Die romantischen Dichter, auch Rimbaud, integrieren, so meint er, die Botschaft der philosophischen Aufklärung sowie die Erkenntnisse Rousseaus. Und diese Dichter wie die Philosophen widmen sich dem menschlichen Fortschritt und der Emanzipation der Unterdrückten. Man muss die philosophische Aufklärung integrieren und auch hinter sich lassen. Man muss ihre kritische Energie integrieren! Aber ihre abstrakte Rationalität aufgeben (dépasser), auch das, was Hegel den Verstand (der begrenzter ist als die Vernunft, CM) nannte… Wir brauchen die Vernunft und ebenso „das Denken über die Vernunft – Hinaus. Deswegen bewahre ich Rousseau UND Voltaire zusammen in meinem Geist, sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit komplementär“. (S 76).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Peter Sloterdijk will den Himmel zum Sprechen bringen.

Das neue Buch Sloterdijks zeigt: Religionen sind nichts als Machwerk der Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Das neue Buch von Peter Sloterdijk „Den Himmel zum Sprechen bringen“ (2020) ist die Langfassung eines Beitrags für eine Festschrift zu Ehren des Ägyptologen Jan Assmann im Jahr 2018. Nun können sich die LeserInnen durch 20 Kapitel auf 344 Seiten durchbeißen. Als Leser hat man oft den Eindruck, ständig an den assoziativen Sprüngen in den Ausführungen des Autors teilzunehmen. Und man ist erstaunt, wie ausführlich Einsichten der Philosophie Platons in nahezu allen Kapiteln lang und breit ausgeführt werden, so dass manchmal der Eindruck entsteht, in ein Buch „Philosophie-Geschichte“ geraten zu sein. Und man fragt sich, wurde dieser nun sehr umfassend gewordene Beitrag für Jan Assmann doch etwas zu schnell geschrieben…
2.
Aber das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ verdient ein gewisses kritisches Interesse, weil es auch die dogmatischen Absonderlichkeiten, normativ gesprochen: die zahlreichen dogmatischen Verirrungen der Kirchen (aber auch anderer Religionen) freilegt. Diesen religionskritischen Focus wird man bei einem ersten Blick auf den Titel kaum vermuten: Manche denken dabei vielleicht an die Poesie, die Gebete, die Lyrik, die ja oftmals behaupten, den „Himmel zum Sprechen bringen“ zu können. Aber es geht Sloterdijk auch um viel Grundsätzlicheres. Und von Lyrik und Poesie im engen Sinne ist eher wenig die Rede.
3.
Entscheidend ist der Untertitel: „Über Theopoesie“. Das Wort Poesie bezieht sich hier umfassend auf das altgriechische Verb „poiein“, es bedeutet: Machen, schaffen, tun. Poiesis ist das entsprechende Substantiv. Natürlich ist zum Beispiel Lyrik „Poiesis“, von Menschen Gemachtes. Aber auch die Welt Gottes und der Götter ist nur Poesis, nur von Menschen Gemachtes, so die zentrale These Sloterdijks. Man bewegt sich also, bei Gott und den Göttern im „Bereich des Erfundenen, Ausgedachten, Übersteigerten“ (S. 63). Und weil Religion als Institution durch Mythen, Erzählungen, Reflexionen und verbale oder schriftliche Theologien konstituiert und öffentlich greifbar wird, ist Religion also auch wesentlich Poesie, d.h. Poiesis, Werk und Tat der Menschen.
Ein Urteil, das sich seit den griechischen Philosophien herumgesprochen hat und durch Feuerbach im 19. Jahrhundert sehr populär wurde und in Nietzsche einen Verteidiger fand. Sloterdijk belebt es neu.
4..
Er betont: Die Texte der Evangelien oder des Koran wurden absolut zur Geltung gebracht, sie haben dabei „ihren poetischen, d.h. fiktionalen bzw. mythischen Charakter unsichtbar gemacht“ (S. 277). Das heißt, diese heiligen Texte wurden zum Wort von Gott selbst definiert, dieses Verhalten ist also in der Sicht Sloterdijks geradezu „lügnerisch“ und es versteckt so den wahren, „bloß menschlichen“ Charakter der dann nur noch so genannten göttlichen Offenbarung, wir haben es also in Sloterdijks Sicht mit einem Betrugssystem zu tun. Die Auswirkungen sehen wir bis heute im religiösen Fundamentalismus.
5.
Wenn man nun in Sloterdijks Deutung die christliche Religion als Theo – Poesie zusammenfassend darstellen soll: Dann ist das Christentum (und damit die Kirchen) für den philosophischen Schriftsteller „erschreckend inhuman und eigentlich ein Fall für die Psychiatrie“. Das macht Sloterdijk mehrfach deutlich, etwa in seinem lobenden Hinweis auf die Erzählung von Pierre Gripari „Der kleine Jehova“, eine Erzählung, die, wie Sloterdijk schreibt, „auf engem Raum die theo-psychiatrische Verfassung des Christentums als klug lancierte Schuldgefühlsepidemie offenlegt“. (S. 88).
Das Christentum (als dogmatisches System) ist also krank, und die Kirchen und ihre Führer, die das Christentum repräsentieren, sind ebenfalls krank, wenn nicht pervers, siehe den massenhaften sexuellen Missbrauch durch Priester. Das ist der durchgehende Tenor der Ausführungen Sloterdijks. Und er bietet als Belege seitenweise Auszüge aus den offiziellen katholischen Verurteilungen so genannter Irrlehrer, die das einschlägige Sammelwerk „Denzinger“ äußerst umfangreich dokumentiert (bei Sloterdijk die Zitate auf den Seiten 128 bis 133). Dieses langatmige Dokumentieren der Verurteilungen, die inzwischen sehr bekannt sind, erinnert an den in der Hinsicht ebenso rührigen sich atheistisch nennenden Autor Karlheinz Deschner, er hat seine „Kriminalgeschichte des Christentums“ auf 10 umfangreiche Bände ausdehnen können.
Diese Krankheiten und Perversionen in den Kirchen sind – in Sloterdijks Sicht – von Theo-Poeten gemacht und belebt, vor allem auch von gebildeten Theologen und Bischöfen, wie etwa dem „Kirchenvater“ Augustinus: Sie haben in einer Herrscherposition wahnhafte Gebilde christlicher Dogmatik formuliert, diese durchgesetzt und zelebriert. Der Wortschöpfer Sloterdijk nennt frühe Theologen „Irrkirchenlehrer“ (S. 288), wenn sie als christliche Platoniker an der Vergöttlichung Jesu arbeiteten (ebd). Die Wende von Jesus von Nazareth zum Christus Imperator (etwa in Ravenna sichtbar) ist ein zentrales Thema kritischer Theologie, an das sich Sloterdijk anschließt.
6.
Über die Darstellung christlicher Dogmen und Überzeugungen durch Sloterdijk wäre ausführlich zu reden. Der gebotenen Kürze, die sich bei dieser Rezension aufdrängt, nur ein Hinweis: Wie Sloterdijk vom Glauben an die Auferstehung Jesu von Nazareth spricht, gleich im 1. Kapitel (S. 31 f) seines Buches. Die Hinweise Sloterdijks auf die von ihm studierte Literatur zu dem wahrlich äußerst umfassend erforschten Thema „Auferstehung Jesu“ ist äußerst dürftig, um nicht zu sagen für einen Autor wie Sloterdijk blamabel: Da nennt er nur ein Buch von einem gewissen Frank Morison alias Albert Henry Ross „Wer wälzte den Stein?“ (erstmals auf Englisch 1930 erschienen als Bekenntnis eines fundamentalistisch Bekehrten). Dieses Buch spielt heute in der Forschung zur Auferstehung Jesu de facto überhaupt gar keine Rolle. Und geradezu lustig ist dann Sloterdijks zweiter, wohl aber ernst gemeinter Hinweis auf den phantastischen Roman des zum literarischen Schwadronieren neigenden frommen Bestseller Autors Eric-Emmanuel Schmitt mit dem Titel „Das Evangelium nach Pilatus“. Sloterdijk bezieht sich vor allem auf das Thema „die abwesende Leiche im Grab Jesu“ am Ostermorgen und schreibt dann: „Dürfte man sagen, das Christentum beginne als Kriminalroman, in dem das negative corpus delicti in diversen Versionen wiederauftauchte, zuerst als spukender Ätherkörper am Rand von Jerusalem“, und dann springt Sloterdijk, assoziierend, in sachlich völlig unzutreffende Dimensionen, wenn er anschließend fortfährt: … „dann als Hostie, als Fronleichnamskörper und allenthalben als Kruzifixus?“ (S. 32). Der Fronleichnamskult ist bekanntlich ca. 1.300 Jahre „nach dem Entstehen des Auferstehungsglaubens entstanden. Sloterdijk spricht auch von den „40 Tagen „zwischen Ostern und Christi Himmelfahrt“ („falls es solch einen Tag gab“, schreibt er, wohl ahnend, dass man da doch sich besser an Metaphern und Bilder als an Daten halten sollte) gab es dann doch in der ersten Gemeinde, so wörtlich „Gerüchte, Delirien, Überhöhungen“ (S. 32). Da sind sie wieder, diese Sloterdijkschen Delirien, unter den Christen schon pauschal schon von Anbeginn leiden….
7.
Die Kirchengeschichte wird pauschal nichts als Heilgeschichte, sondern als Verbrecher-Geschichte von Sloterdijk bewertet. Es zeigt sich, dass Sloterdijk alles andere als ein objektiver religionswissenschaftlicher Beobachter ist, er hat durchaus seine eigene normative Meinung.
Sloterdijk warnt in seiner Schilderung der kirchlichen Verbrechen eher sanfte LeserINNen, wenn er in allen Details die Folter, verordnet von Kirchenoberen, ausführlich zu dokumentiert (S. 230 ff.). Diese LeserInnen sollten gegebenenfalls „die folgenden vier Seiten zu überblättern“ (ebd.).
8.
Sloterdijk ist bekannt für sein Ausfindigmachen entlegener Studien, seine Fußnoten sind oft eine Art Entdeckungsreise, nur der populäre und von ihm geschätzte Nietzsche wird mit einzelnen Sätzen (!) in „Den Himmel zu Sprechen bringen“ sehr oft zitiert (im Buch wird Nietzsche der vielen Erwähnungen wegen einfach nur kollegial F.N. genannt). Aber Sloterdijk verweist auf S. 129, Fußnote 137, ausnahmsweise ohne Quellenangabe auf einen Brauch in Österreich einst, „bei den in utero verstorbenen Föten diesen das geweihte Taufwasser von katholischen Hebammen per vaginam“ zuzuführen“, die Föten also per vaginam noch zu taufen. Aber diese nicht belegte Story erzählt Sloterdijk wohl nur, um dann gleich anzufügen: “Hatte Lenin doziert, die Wahrheit ist konkret, antwortet die religionsgeschichtliche Empirie: Das Delirium ist konkreter“. Das Delirium, d.h. die „geistige Verwirrung“ kennzeichnet für Sloterdijk sehr pauschal betrachtet das Christentum und den christlichen Glauben.
9.
Sloterdijk, als Zyniker bekannt, (sein erstes erfolgreiches Buch handelte von der zynischen Vernunft), gibt offen zu, auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“, „ironische Züge“ (S. 141) zu verbreiten. Und diese seine Ironie deutet er – gar nicht ironisch, sondern dogmatisch argumentierend – sei „besser als das Theologie-übliche Zuviel-Sagen und letztlich-doch-alles-besser-Wissen“ (S.141). Der Philosoph Holger Freiherr von Dobstadt hat in seiner durchaus auch kritischen Sloterdijk Studie „Das Sloterdijk-Alphabet“ (Würzburg 2006) unter dem Stichwort „Ambivalenz“ (Seite 15 f) über Sloterdijks Denken geschrieben. Er spricht von dessen „doppelter Buchführung“, also: „Alles und das  Gegenteil lässt sich über die Welt aussagen, alle Wahrheiten lösen sich in Perspektivik auf und seine Deskriptionen des Zynismus finden sich in seinem eigenen Bewusstsein, das er im übrigens schonungslos decouvriert“ (ebd.).
Auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ freut sich wohl Sloterdijk über seine zynischen Formulierungen zu katholischen Merkwürdigkeiten, wie dem Fegefeuer: Er beschreibt in seinem sprachschöpferischen („poetischen“) Enthusiasmus das Fegefeuer als „einen transzendenten Waschsalon“, der „die Flecken des Erdenlebens in sieben Reinigungsgängen von der Stirn der Seele tilgt“ (S. 85). Luther kämpfte also gegen Waschsalons, wie hübsch! Wie originell!
Wortschöpferisch – zynisch ist Sloterdijk auch im Fall des Wüstenmönches Antonius (ca. 251 – 356) tätig, den zölibatären Mönch nennt er angesichts der heftigen sexuellen Versuchungen „einen Patriarchen der Psychopornographie“ (245). Die LeserInnen sollen lachen und wohl denken: Bei diesen Theo – Poeten wird kein Himmel zum Sprechen gebracht, Sloterdijk verdirbt jegliche Laune, sich mit dieser üblen Theopoesie, diesem Machwerk Religion bzw. Christentum, auseinanderzusetzen.
Hinsichtlich der Verkündigung der christlichen Lehre, die in Rom tatsächlich einer Dienststelle mit dem lateinischen Titel „Propaganda fidei“ unterstellt war, geht Sloterdijk assoziativ zur kirchlichen „Öffentlichkeitsarbeit“ im allgemeinen über und schreibt nicht ohne „Thymos“, wie er wohl sagen würde, also nicht ohne Wut: “Es bleibt die Familienähnlichkeit mit römisch-katholischen, jakobinischen, Goebbelschen und leninistisch-maoistischen Prozeduren zur Konformitätserzeugung nicht zu verkennen“ (S. 202). Römisch-katholisch, Goebbels, Lenin, alles wird in einen Eintopf geworfen. Solches erzeugt bei einem noch differenzierenden Leser doch etwas „Thymos“, würde Sloterdijk sagen, also durchaus berechtigt: Wut.
Die zweifellos zu kritisierenden Reformatoren Luther und Calvin und ihre Gnaden-Erwählungslehren beschreibt er so: „Die moderne Welt (der Reformatoren, CM) war anfangs nichts anderes als ein Netzwerk von schnellen Brütern für Erwählungsideen“ (304). Und man(n) soll wohl zur Abwechslung beim Lesen ins Schmunzeln geraten, wenn Sloterdijk über die Mutter von Kaiser Konstantin schreibt: Helena sei, so wörtlich, „eine postmenopausich frömmelnde Mutter“ gewesen (S 160).
10.
An diesen Albernheiten werden sich einige LeserInnen erfreuen…Und Religionen albern finden…
Wer das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ aber ins kritische Nachdenken einbezieht, muss tiefer ansetzen. Es geht um die schwierige Frage nach dem schöpferischen, auch Religionen und religiöse Texte „schaffenden“ Menschen. Es gibt bekanntlich eine breite philosophische Tradition, die schöpferisches Tun (der Musiker, der Dichter, der religiös Kreativen) nicht einseitig nur als Tat des Menschen versteht, sondern auch als Gabe, als Geschenk, „Geschick“ „des Himmels“ bzw. des Gottes. Mit anderen Worten: Im schöpferischen Tun, auch im Schaffen von Religion, wirkt auch Göttliches mit. Dies ist eine Erkenntnis, die etwa Hegel in seinem ganzen Werk der Geist – Philosophie zentral setzte. Die Voraussetzung dafür war wohl die Erkenntnis, dass ohne eine Art “Schöpfer“ der evolutive Gesamtzusammenhang der Welt und der Menschen nicht zu verstehen ist. Kurz und gut: Hegel zeigte, dass im Menschen als Geist – Kreatur das Unendliche, das Göttliche, wie auch immer man diesen nicht definierbaren, d.h. total zu umfassenden Bereich nennt, anwesend und mit-wirksam ist im Tun und Handel der Menschen. Aber Sloterdijk weist diesen Gedanken sicherlich – wieder zynisch ? – als spinös zurück, so wie er, wenn er in dem Buch von Hegel spricht, dessen Denken verkürzt. Nur ein Beispiel: Im Zusammenhang mit dem Leiden am Karfreitag behauptet Sloterdijk, Hegel habe sozusagen nur die, so wörtlich, „hinfällige Individualität“ gesehen. Der Mensch müssen also, wieder wörtlich, „den unendlichen Schmerz über sich empfinden“ (S. 30) und dabei ausharren. Aber Sloterdijk unterlässt es, darauf hinzuweisen, dass Hegel in seiner Philosophie, auch in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, bei dieser Position nicht stehen bleibt! In dem auch von Sloterdijk zitierten Band 17 der Suhrkamp-Gesamtausgabe der Hegel Werke heißt es auf S. 269: Das Subjekt sei gerade nicht hinfällig, weil es in sich die „unendliche Kraft der Einheit“ (mit Gott) weiss“. Der Mensch, das Subjekt, ist also die „unendliche Kraft der Einheit“ (von Gott und Mensch), es ist alles andere als die „hinfällige Individualität“, als die sie Sloterdijk festlegen will. Hegel denkt die innere wesentliche Einheit von Mensch und Gott, aber die schließt Sloterdijk aus. Insofern übersieht er wohl gern die Hegelsche Aussage.
11.
Der Mensch ist auch für Sloterdijk, wie so oft gesagt wird in der banal wirkenden Formulierung des „nichts anderes als“ ein von jeglichem Göttlichen getrenntes Wesen. Es ist der Mensch ohne Mysterium, dem nichts als Zynismus übrig bleibt in seiner Situation.
Der große Literaturwissenschaftler George Steiner, wahrlich alles andere als ein kirchenfrommer Theologe, vertritt in seinem Buch „Grammatik der Schöpfung“ die Erkenntnis: Es kann nur ein Miteinander von Göttlichem und Menschlichem im schöpferischen Prozess geben, also in der Poiesis. „Über die Gott-Hypothese lässt sich nicht ohne Kosten spotten“ (S. 343), sagte der umfassend gebildete George Steiner in den genannten Buch, (München 2004).
12.
Viele Hinweise Sloterdijks zu den Verirrungen der Kirche, um nur bei dieser Religion zu bleiben, sind zweifellos richtig. Dennoch muss doch der Objektivität wegen ein starres Schwarz-Weiß-Schema aufgebrochen werden. Das mit der Kolonialherrschaft verbundene Missionssystem etwa der Spanier seitdem dem 16. Jahrhundert war eine Katastrophe, eine Katastrophe, was die Lebensrechte der „indianischen“ Bevölkerung angeht. Mission als Teil der spanischen Kolonisation war insofern auch Teilnahme am Morden. Aber es muss auch der Ausnahmegestalten gedacht werden, die sich – wie begrenzt auch immer – für die Menschenrechte der „indianischen Bevölkerung“ eingesetzt haben, ich nenne nur Pater Bartolomé de Las Casas, er überzeugte sogar mit seiner humanen Botschaft den spanischen Hof, aber der konnte sich bei den selbstherrlichen Eroberern nicht durchsetzen. Deswegen wurde weiter gemordet.
Das Christentum und die Kirchen waren also nie nur ganz total schwarz-weiß malend Mörderbanden.
Was waren denn die Forscher und Mathematiker etwa unter den Jesuiten des 17. Jahrhunderts für Menschen, die tatsächlich als Wissenschaftler anerkanntermaßen Großes leisteten? Haben die „Poeten“, also etwa auch die Schöpfer von barocken Kunstwerken oder die Komponisten von Messen und Oratorien etc., nicht oft genug von sich selbst gesagt, dass inmitten des schöpferischen Prozesses doch etwas „anderes“ („Göttliches“) und Geschenktes in ihnen mit dabei tätig war? Warum hören manche Leute noch voller Begeisterung diese Musik? Sind diese musikalischen Leistungen von Bach, Mozart, Beethoven etc. Ausdruck von Wahn oder „Delirium“? Wer solches behaupten würde, wäre selbst nicht mehr ganz auf der Höhe…
13.
Sloterdijks Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ ist im wesentlichen religionswissenschaftliches Feuilleton, es ist kein Buch, das auch die aktuelle Entwicklung der Religionen berücksichtigt und diese in die Analyse einbezieht. Sloterdijk sieht nicht den tiefen Wandel im Christentum. Er sieht nicht und weiß nicht oder will es nicht wissen, dass etwa in Lateinamerika viele katholische Kreise, auch Bischöfe, entschieden die Menschenrechte verteidigen, aber auch in Afrika und Asien. Da lebt eine christliche Religion, die eben kein Delirium ist. Von Theologie der Befreiung hat Sloterdijk offenbar nie etwas gehört, nichts von christlichen Friedensbewegungen, von katholischen Menschenrechtsaktivisten, die im Engagement für die Armen ihr Leben lassen. Sloterdijk hat offenbar nichts von der Diakonie oder Caritas gehört, die etwa in den Slums der USA nach wie vor Millionen Menschen mit Essen versorgen, von Suppenküchen und Kleiderkammern von Klöstern in Europa hat er nichts gehört, nichts davon, dass viele Klöster so beliebt sind, dass dort Menschen Ruhe und Meditation suchen und finden.
Damit will ich keine Apologetik betreiben, sondern nur der gebotenen Objektivität willen sagen: Selbst in Kirchen, die sich heute noch auf eine göttliche Wirklichkeit, auf ein ungreifbares und nicht machbares Lebensgeheimnis in aller Offenheit beziehen, lebt sehr viel humane und vernünftige Energie, für die Menschenrechte ALS „göttliche Gebote“ einzutreten.
14.
So bleibt nach der Lektüre die Frage: Warum wurde eigentlich dieses Buch geschrieben? Die alten Thesen von Feuerbach und Co. sind ja bekannt. In seinem 20., dem Schlusskapitel, überschrieben „Religionsfreiheit“, deutet Sloterdijk, diesmal recht knapp und kurz, an: Religion ist für ihn „Beihilfe zur Auslegung des Daseins… bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen“ (S. 331). Religion geht darin auf, gemachte, „poietische“ (poetische) Funktion der Menschen zu sein. Aber, damit er nur ja nicht der Religion eine allzu wichtige Rolle zuweist, betont Sloterdijk schon mehrfach zuvor: Und das ist wohl der Sinn all der über 300 Seiten des Buches: Religion ist in der säkularen Welt nichts als ein kleiner „Rest“. Ein Rest, der „nach Abzug von alldem übrigbleibt, was in die Wissenschaften und in alle nur denkbaren Bereiche von Weltgestaltung „abgewandert“ ist (S. 330). Vielleicht verschwindet beim Fortschritt der Wissenschaften etc. dann auch Religion? Die Religion ist also NOCH der verschwindend kleine Rest, der, so betont Sloterdijk, selbstverständlich frei gelebt werden kann. „Religion ist überflüssig wie Musik“, schreibt Sloterdijk tröstend all jenen, die noch diesem letzten Rest, wie er schreibt, dem letzten Rest aus den „archaischen und hochkulturellen Weltbildern“ (S. 330) anhangen. Aber wie Musik ist für Sloterdijk Religion „Luxus“ (S. 335). Aber er muss doch zugeben als ein Zitat von einem Ungenannten: “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“. Aber weil nun einmal Religion, so wörtlich, Luxus ist, also kein Grundnahrungsmittel für die meisten, ist ihre Leistung auch „durch weltliche Prägungen substituierbar“, wie er schreibt (S. 335). Substituierbar bedeutet bekanntlich „austauschbar“, „ersetzbar“.
Was aber kann dieser religiöse Luxus heute noch sein? Sloterdijks Antwort: Es sind die „Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen“ (S. 336). Möge also der einzelne als einzelner, offenbar außerhalb jeglicher Gemeinschaft, aus den Verlegenheiten des Daseins herausfinden. Von dem „Berührtsein“ von einer außerhalb des Menschen wie gleichzeitig IN ihm unbedingt sich zeigenden „Kraft“ des Mysteriums ist keine Rede. Aber gerade davon lebt ja bekanntlich die Musik, auf die sich Sloterdijk in seinem Hinweis auf die Ähnlichkeit mit Religion bezieht. So endet also das Buch mit einer doch wieder noch viel zu kurz greifenden „Auslegung der Existenz“. Aber gerade dann hätte das Buch wichtig werden können. Alles andere ist tausendmal gesagt.
15.
Und was soll der Titel des Buches wohl bedeuten? Kommt irgendwann ausführlich „der Himmel zum Sprechen“? Werden also naheliegend Gedichte und Psalmen, Lieder und Gebete, selbst unter der Sloterdijkschen Prämisse, dass es Gott nicht gibt, ausführlicher und angemessener vorgestellt und interpretiert? Eher nicht! Es werden einzelne Bibel-Verse gedeutet, etwa die Hiob-Geschichte, auch Psalmen werden kurz erwähnt und sogar das Kirchenlied „Großer Gott wir loben dich“ wird „abgehandelt“. Aber im ganzen darf man von dem Buch keine ausführlichen Hinweise zur Poesie und Lyrik und Gedichten „im engeren Sinne“ erwarten.
16.
Wer dieses umfassende Thema vertiefen will, auch die Frage nach dem schöpferischen Miteinander und Ineinander von menschlichem und göttlichem Geist, sollte das inhaltlich viel differenziertere Buch von George Steiner lesen, “Grammatik der Schöpfung“, DTV, 2004, 351 Seiten, 12,50 Euro.

Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theospoesie. Suhrkamp Verlag, 3. Aufl. 2020, 344 Seiten, 26 Euro.
Das Buch enthält weder ein eigentlich zu erwartendes Stichwort-Register noch eine Liste der zitierten Bücher. Das erschwert ungemein die kritische Arbeit am Text. Aber auch in den anderen Bücher Sloterdijks fehlen die für kritische Auseinandersetzungen üblichen Stichwort-Register und Listen der zitierten Bücher. Dieses Fehlen unterstreicht nur den „Feuilleton-Charakter“ der Schriften von Sloterdijk.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Edgar Morin wird 100: Ein universaler Geist. „Ich bin immer störend gewesen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf einen Denker, der endlich auch in Deutschland bekannt werden sollte! Siehe unten den Hinweis auf das Edgar Morin Forschungszentrum.

(ARTE sendet in der Nacht vom 8. zum 9.Juli, um 1.15 nachts einen einstündigen Film über das Leben und das Werk von Edgar Morin).

Wie Edgar Morin die Beziehungen sieht von Poesie und Philosophie, LINK

1.
Wie können die äußerst vielfältigen Interessen und Forschungen des Philosophen, Anthropologen, Soziologen und politisch Engagierten Edgar Morin zunächst an einem Beispiel deutlich werden?
2.
Wieder einmal verwirrten antisemitische Gerüchte in Frankreich die Geister. In Orléans und anderen Kleinstädten, wird 1969 (und später noch) das Gerücht verbreitet: In Geschäften jüdischer Eigentümer würden plötzlich junge Frauen entführt, sie verschwinden „einfach so“. Die jüdischen Inhaber der Läden werden aufs übelste beschimpft und bedroht. Die Polizei ist machtlos… und sie kann keine verschwundenen Personen melden.
Es gibt einen Soziologen, der diesen Wahn mit einer Equipe genau untersucht und seine Forschungsergebnisse publiziert hat: Edgar Morin. Seine Studie hat den Titel „La Rumeur d Orléans“ „Das Gerücht von Orléans“: Auch wenn sich der „alte“ Antisemitismus mit den üblichen rassistischen Klischees (Juden haben eine komische Nase, sind geldgierig etc.) 1969 nicht mehr öffentlich zeigt, ein anderer Antisemitismus macht sich breit: Im Focus des Hasses steht etwa der Jude als jüdischer Geschäftsmann, der zwar jedem anderen Franzosen gleicht, der also integriert ist, der aber doch „als Jude“ bekannt ist und trotz der Integration diffamiert wird. Dies ist auch das heutige Problem in Europa: „Der“ Jude scheint integriert, wenn nicht assimiliert zu sein, er/sie wird aber immer noch als „anders“ wahrgenommen und wegen der Andersheit drangsaliert und verfolgt.
3.
Das Buch „La Rumeur d Orléans“ ist eines von (tatsächlich) 115 Büchern, (gezählt auf der französischen wikipedia-Seite), des französischen Universalgelehrten. Sein Werk wird in Frankeich zurecht „monumental“ bezeichnet, seine Studien wurden in 28 Sprachen übersetzt und 42 Ländern verbreitet. In Deutschland ist Edgar Morin eher noch unbekannt, keine deutsche Universität hat ihm einen Dr. hc. verliehen. Von seinen 115 Büchern sind sechs Bücher auf Deutsch erschienen LINK. Manchmal wundert man sich sehr über die Grenzen des deutsch-französischen Kulturaustausches. Als sein Hauptwerk gilt das sechs Bände umfassende Werk „La Methode“ (erschienen in den Jahren 1977 bis 2006).
4.
Am 8. Juli 1921 wurde Edgar Morin in Paris 1921 als Kind säkularer jüdischer Eltern (ursprünglich aus Saloniki stammend) geboren unter dem Namen Edgar Nahum, der Tod seiner viel geliebten Mutter 1931 war für das Kind eine Katstrophe.
Wegen seiner Mitarbeit in der Résistance (als Mitglied des PCF 1942) gab sich Nahum den Decknamen Morin, den er seitdem behalten hat. 1951 wird er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Morin kam immer wieder auf seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs zu sprechen. Für sehr viele (bis heute prominente) französische Intellektuelle während und nach der Okkupation war eine Mitgliedschaft in dem PCF eine Art sich humanistisch verstehende Protesthaltung gegen den Faschismus, verbunden mit einer naiven Idealisierung der Sowjetunion und einer begründeten Abscheu vor dem Kapitalismus.
Morins politische Option blieb auch nach dem Ende seiner Tätigkeit in den intellektuellen Zirkeln der KP links. Er gründete 1956 die Zeitschrift „Arguments“, damals sehr angesehen, unter seiner Chefredaktion wurde der Stalinismus analysiert und kritisiert. Das Erscheinen von „Arguments“ wurde leider 1962 eingestellt.
In seinem Buch „Autocritique“ (1959) reflektiert Morin seine vor allem auf intellektueller Ebene durchaus beträchtliche Mitwirkung in der Kommunistischen Partei. 1983 erschien sein Buch „Was war der Kommunismus“. Die Antwort Morins: „Kommunismus war auch ein religiöser Glaube, eine große Religion mit Heiligen, Helden, Schlächtern, Märtyrern, Eiferern, war eine irdische Heils-Religion“.
5.
Morin ist bestimmt von dem Willen, sich persönlich zu befragen und politisch zu verändern, vor allem: zu lernen: Als Professor war er viele Jahre an dem berühmten Studienzentrum CNRS (=Forschungszentrum der Wissenschaften) tätig. Mit ihm ist Morin immer noch, auch publizistisch verbunden: https://lejournal.cnrs.fr/articles/edgar-morin-ou-leloge-de-la-pensee-complexe. Das CNRS weist zurecht auf die wichtigste Qualität des Wissenschaftlers Morin hin: Er sieht die Komplexität der sozialen, politischen und philosophischen Wirklichkeit, aber er sucht im Komplexen den inneren Zusammenhalt.
Seit vielen Jahren ist Ökologie eines seiner Hauptthemen, mit dem französischen Öko-Aktivisten Pierre Rabhi hat er beispielsweise ein Buch herausgegeben. Auch die Enzyklika von Papst Franziskus („Laudato si)“ zugunsten eines grundlegenden ökologischen Wandels hat Morin sehr positiv besprochen. „Der Papst verwendet eine Formulierung, wie ein Zitat von Gorbatschow, das Wort von dem Gemeinsamen Haus, in dem die Menschheit lebt. Der Papst zeigt, dass die Ökologie ganz tief heute unser Leben, unsere Zivilisation, unsere Weise zu Handeln und unser denken bestimmen muss“. Es ist die Selbstkritik, die Morin auszeichnet, diese Bereitschaft zu fragen und zu lernen, die auch an seinem Lob für eine päpstliche Enzyklika sichtbar wird. Das ständige Lernen und Sich-Befragen ist förmlich Morins Prinzip…
6.
Das politische Engagement zugunsten der sozialen Gerechtigkeit ist die Leidenschaft im Denken Morins. Sie gilt den armen Menschen in den Ländern der Armut, wie in Lateinamerika. Sie gilt in anderer Form auch in seinem Einsatz zugunsten von Edward Snowden und Julian Assange … mit Stéphane Hessel hat er gemeinsam publiziert. Auch der Dialog mit islamischen Intellektuellen ist ihm wichtig: Selbst mit einem muslimischen Intellektuellen, der umstritten ist, mit Tariq Ramadan, hat Morin im Jahr 2017 das Buch „L urgence et l essentiel“ publiziert: „Ich verabscheue die Polemik gegen Menschen und liebe die Polemik der Ideen“, hat Morin in dem Zusammenhang gesagt.
7.
Das explizit philosophische Werk Morins ist umfassend: Er betont: „Zweifel ist die Basis des menschlichen Lebens“ und sagt gleichzeitig: „Das Leben ist ein Mysterium: Sich verwundern über den Glanz des Lebens und darin die Energie finden gegen alle Greuel“.
Morin nennt sich Agnostiker, er hat aber viel Verständnis für religiöses Suchen nach einer Transzendenz. „Alles, was wir vom Universum gelernt haben, hat ein tiefgründiges Mysterium der Wirklichkeit offenbart. Mysterium des Lebens auf der Erde! So verblüffend bei seinem Entstehen und nicht weniger verblüffend in den Evolutionen: das Mysterium des Menschlichen, das Mysterium des Bewusstseins. Wir sind eingebettet in unergründliche Geheimnisse, die sich verbinden zu einem großen und obersten Geheimnis Die Poesie des Lebens passt zu der Präsenz des Mysteriums“.
8.
In seinem Buch „Mes Philosophes“ (2012) zeigt er zum Beispiel, warum er den Mathematiker und Mystiker Blaise Pascal schätzt, warum er in dem Buch auch von Jesus und Buddha spricht. „Jesus ist eine Art jüdischer Schamane, er hat der Menschheit den Sinn für die Vergebung beigebracht, die in seiner Sicht höher ist als die Gerechtigkeit. Ich bin ebenfalls sehr bewegt von einem Satz des Apostels Paulus: „Ohne die Liebe, bin ich nichts“. Ich glaube nicht an ein himmlisches Heil. Aber wegen der Vergebung und der Lehre von der Liebe fühle ich mich wie eine Art „Neo-Chrétien“, also ein Neu-Christ. Und was Marx angeht: Seine materialistische und eindimensionale Lehre von der Welt ist überholt und vorbei, aber viele seiner Ideen bleiben lebendig und stark. Im übrigen glaube ich, wie der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz, dass jede Kenntnis zu einer neuen Unkenntnis führt. Und alles Licht kommt von einer dunklen Quelle“.
9.
“Was ich glaube”:
Morin lehnt es ab, sich Christ zu nennen, auch wenn ihm die Jesus-Gestalt viel bedeutet und die christliche Mystik (Johannes vom Kreuz) ebenso. In seinem Buch “Mes Philosophes” (Seite 42) schreibt Morin: “Ich bin für eine Religion der Verbindung: Wir Menschen sind verbunden mit dem Leben, mit der Erde, die mit ihrer Sonne verbunden ist, wir sind verbunden mit dem Kosmos. Wir sind schließlich auch mit allen Wesen verbunden, die in uns sind, Vorfahren, Eltern. Und wir müssen uns verbunden mit allen anderen Menschen durch die Bindungen der fraternité. Das ist also eine Religion ohne Idole, aber mit dem Sinn für das Mysterium, in dieser Religion sind Glauben und Zweifel gleichzeitig vorhanden. Dies ist die Religion der verlorenen Menschen, eine Idee, die ich in meinem Buch “Evangile de la perdition” ausgedrückt habe. Wir Menschen sind zusammen verloren, wir haben keine strahlende Zukunft der Vorsehung. Aber wir sind gemeinsam verbunden in einem unbekannten Abenteuer, das ungewiss ist und geheimnisvoll”.

10.
WIDERSTEHEN!
Edgar Morin ist überzeugt:
„Wogegen muss man heute Widerstand leisten? Man muss gegen zwei Formen der Barbarei Widerstand leisten: Eine Barbarei kennen wir alle: Sie zeigt sich im so genannten Islamischen Staat mit ihren Attentaten und dem Wahn. Die andere Barbarei ist kalt, eisig, die Barbarei des Kalküls, des Geldes, der Zinsen. Gegen diese beiden Formen der Barbarei müsste jedermann heute Widerstand leisten“.

Wer Französisch lesen kann, dem empfehle ich dringend als Einführung in das Denken Edgar Morins sein Buch “Mes Philosophes”. Reihe “Pluriel” im Verlag Editions Germina, 185 Seiten, 7,50 Euro.

Es gibt eine offizielle website mit einer kompletten Bibliographie, gestaltet vom “Centre Edgar Morin”: LINK
https://www.iiac.cnrs.fr/spip.php?page=rubrique&id_rubrique=2

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.