Kultur darf sich niemals abschotten. Dialog und Austausch müssen gelten.

“Kultur. Eine neue Geschichte der Welt”: Ein provozierendes Buch von Martin Puchner.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 5.5.2025.

1.
Martin Puchner, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Cambridge, USA, hat dort 2023 sein Buch „Culture“ vorgelegt: In den 15 Kapiteln seines Buch (auf Deutsch „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“) zeigt Puchner, dass die Kultur bzw. die Kulturen etwas Aufregendes, Anregendes, ganz neu zu Entdeckendes sind – zumal angesichts der nationalistischen Starre und Enge sowie der fundamentalistischen Fixierung heutiger konservativ – populistischer Regierungen und „Bewegungen“…
Marin Puchner stellt sein Thema gut dokumentiert und leicht zugänglich vor, voller überraschender Einsichten, man möchte sagen: durchaus „spannend“ beim Lesen.

2.
Der Autor befreit in den 15 Kapiteln – den in sich abgeschlossenen Essays – von der Vorstellung, eine Nation „besitze“ ihre Kultur. Oder: Kultur sei etwas Fertiges und Abgekapseltes. Genauso falsch ist: Als Kultur könne nur die von etablierten Kulturmanagern geförderte und staatlich unterstützte „hohe Literatur“ oder die „klassische Oper“ und das „große Schauspielhaus“ usw. gelten.
Jede konkrete Kultur – etwa eines Landes, eines Sprachraums etc. – ist Resultat von Begegnungen mit anderen Menschen und deren Kultur. Die eigene Kultur ist ein mühsam erworbenes, immer weiter zu entwickelndes Resultat von Lernbereitschaft und Innovation: Nur sie ermöglichen die Zusammenfügung unterschiedlicher Kulturen zu einer dann eben neuen oder erneuerten Kultur. Und die wird dann ihrerseits selbstverständlich wieder von anderen rezipiert und auch umgeformt.

3.
Martin Puchner schreibt: „Kulturen gedeihen auf dem Boden der freien Verfügbarkeit von vielfältigen Formen des Ausdrucks und der Sinnstiftung, von Möglichkeiten und Experimenten. Und in dem Maß, in dem Kontakte mit Fremden diese Optionen erweitern, fördern sie die Produktion und Entfaltung von Kultur“. Dagegen neigen die auf Exklusivität und Reinheit (der eigenen Kultur) bedachten national begrenzten Leute mir ihrer „volksbezogenen“ Kultur dazu, kulturelle Alternativen auszuschließen, Möglichkeiten des Austauschs zu begrenzen und darüber zu wachen, dass derlei Experimente nicht zu weit getrieben werden. (siehe S. 379).

4.
Diese ängstliche offizielle Kulturpolitik ist heute weithin an der Macht, sie entspricht der konservativen und populistischen Wende in den sich Demokratie nennenden Staaten. Dieses enge Verständnis von Kultur als eigene „Kulturpolitik der Abwehr“ muss in Beziehung gesetzt werden zur aktuellen Politik der „Schließung der Grenzen Europas und der USA“ für Fremde, Ausländer, für Flüchtende zumal. Diese Schließung der Grenzen wird von Martin Puchner zwar nicht aktuell angesprochen, aber seine Position ist deutlich: Auf diese Weise “verarmen geistig“, so Puchner, die konservativen und populistischen Menschen und ihre Kulturpolitiker. An die „geistige Verarmung“ sollten sich der neue deutsche Innenminister Dobrindt und sein Meister Merz stets erinnern, die AFD wird dazu sicher nicht in der Lage sein: Die neuen Grenzkontrollen lassen uns in Europa, in Deutschland, auch geistig und kulturell weiter verarmen, sie sind bereits Ausdruck geistiger Armut. Denn die strengen Grenzkontrollen und Zurückweisungen und Rückweisungen und Abschiebungen sind auch kein Ausweg, keine wirksame Hilfe angesichts der umfassenden, auch materiellen Armut und das Elend in den vom Kapitalismus arm gemachten Ländern des globalen Südens.

5.
Hier können die 15 Essays des Buches nicht im einzelnen vorgestellt werden. Gemeinsam ist allen: Sie beschreiben die Lebendigkeit von Kultur, wenn sie aus Begegnungen mit anderen Kulturen, oft nicht ohne Konflikte, entstehen. Von Nofretete über Platon und König Ashoka und dann weiter zu der christlichen Mystikerin Hildegard von Bingen und den Pariser Salons vor der Französischen Revolution handeln etwa die Studien des Buches. Sie zeigen an ausgewählten Beispielen, dass die Geschichte der Kulturen der Welt nur als Austausch, Begegnung und Konflikt zu verstehen ist.

6.
Ein Beispiel: Zurecht erinnert Martin Puchner daran: Die Revolution der Sklaven auf Haiti (damals französisch Saint Domingue genannt) und ihre erkämpfte Unabhängigkeit im Jahr 1804 wurde „als ein bedeutendes Ereignis in der Weltgeschichte lange Zeit ignoriert“ (S. 293). Ein bißchen Nachhilfe zu diesem Thema bietet das Kapitel des Buches: Deutlich wird: Die Sklaven dieser französischen Kolonie ließen sich von den politischen und philosophischen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution inspirieren, sie verachteten also nicht pauschal jene „europäischen Ideen“, bloß weil sie aus der „weißen Welt“ der „weißen Herrscher“ stammten. Damit ist deutlich: Der Ort des Ursprungs für allgemein gültige Prinzipien hat mit ihrer universellen Geltung nichts zu tun! Die Sklaven Toussaint Louverture und Dessalines, um nur zwei der Befreier Haitis zu nennen, haben die Ideen der Aufklärung „für ihre Zwecke nützen können“. Freilich wurde der Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit Haitis sofort von den Kolonialmächten mit allen Mitten bekämpft. Afroamerikanische Schriftsteller und antirassistische Schriftsteller äußerten sich im 19. Jahrhundert in „lobenden Tönen“ über den Befreier Toussaint Louverture (ebd.). Auch Hegel sprach schon lobend über die Befreiungstat der schwarzen Sklaven, wie die Philosophin Susan Buck – Morse in ihrer Studie „Hegel und Haiti“ (Suhrkamp, 2011) gezeigt hat. Im ganzen hatte die haitianische Revolution viele Feinde unter den Kolonialmächten. Aber auch die innenpolitischen Repressionen nach der haitianischen Revolutionen müssen beachtet werden. Ein glückliches, d.h. für alle Haitianer menschenwürdiges Leben hat die Revolution leider nicht erzeugt, davon spricht Martin Puchner nicht. Die Befreiung Haitis und die Gründung der Republik schon im Jahr 1804 (!) ist jedenfalls nicht nur an internen Streitereien eher gescheitert, Schuld war vor allem die nach wie vor kolonialistische und rassistsiche Haltung Europas und der USA gegenüber Haiti bis heute, gegenüber den „Schwarzen“…

7.
Ein zweites Beispiel: Einzelne Kulturen schaffen sich ihre Identität durch Mythen oder Erzählungen, in denen die Übernahme kultureller Güter und Werte der „anderen“ beschrieben wird. Der Autor spricht von einer „Aufpfropfung fremder Kulturen auf die eigene Kultur bzw. auch von Kulturtransfer (S. 175). Und er berichtet ausführlich über diesen lange dauernden Prozess der „Aufpfropfung“ am Beispiel der Orthodoxen Kirche Äthiopiens, sie ist seit dem 4.Jahrhundert in dem Land schon lebendig. Gerade für jene, die an der Geschichte des vielfältigen Christentums interessiert sind, ist der Essay bedeutsam , er hat denTitel „Die Königin von Äthiopien heißt die Diebe der Bundeslade willkommen“ (S. 171 ff.). Es geht um die Mythen und Erzählungen: Die Königin von Saba sei in den Besitz der „heiligen“ „Bundeslade mit den Tafeln der 10 Gebote des Moses“ (gelagert im Tempel zu Jerusalem) gekommen. Der grundlegende äthiopische Text dazu ist die Erzählung „Kebra Nagast“, die bis heute eine große Rolle in Äthiopien spielt. Der Besitz dieser „Bundeslade“ ist förmlich der Mittelpunkt äthiopischer Kultur und der äthiopisch orthodoxen Kirche. „Die Schrift „Kebra Nagast“ räumt ein, dass die eigene äthiopische Kultur von einer anderen Kultur (dem Judentum) abstammt, sie verkündet dann aber die eigene Überlegenheit“ (S. 179).
In Jamaika suchten die Bewohner (ehemalige afrikanische Sklaven) eine Quelle ihrer Identität: Einer der führenden Köpfe in dieser Suche nach Identität war derGewerkschafter und Publizist Marcus Garvey. „Er machte Äthiopien mit seiner uralten Geschichte und Schrifttradition zu einem wichtigen Bezugspunkt für Jamaikaner.“ (S. 188). Die Jamaikanische Rastafari – Bewegung hat sich auf äthiopische Traditionen bezogen. „DieRastafari-Bewegung müsste als ein glänzendes Beispiel für einen Transfer mit einer Verschmelzung verschiedener Kulturen gelten. Die Nachfahren von Sklaven aus Afrika mussten sich eine Vergangenheit erschaffen, die ihnen eine andere Zukunft als die von den europäischen Kolonialherren angebotene verhieß.“(S. 189).
Der Autor fordert, die Erzählung „Kebra Nagast“ als einen wichtigen Text im Kanon der Welt-Literatur anzuerkennen.“ (S. 190).

8.
Für philosophisch Interessierte der Hinweis auf ein mir besonders wichtiges und aktuelles Kapitel des Buches: „Als Bagdad zu einem Speicher der Weisheit wurde“ (S. 149 ff.) Tatsächlich interessierten sich muslimische Herrscher und Gelehrte in Bagdad im 9. Jahrhundert und noch etliche Jahre länger für die Philosophie der „heidnischen Griechen“, vor allem für Aristoteles. Es wurde in Bagdad eine große Bibliothek errichtet, ein so genannter „Speicher der Weisheit“, der umfangreiche Raum zur Pflege und Bewahrung astronomischer, mathematischer, medizinischer und eben auch philosophischer Texte. Es handelte sich vor allem um Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische. Die – auch christlichen – Übersetzer und die muslimischen Herrscher „waren zu dem Schluss gelangt, dass sich die in der Vergangenheit (Griechenlands) gewonnenen Erkenntnisse für die eigene Gegenwart nutzen ließen.“ (S. 155). Damals galt stark die Weisung des Korans, dass das Streben nach Wissen und Philosophie eine religiöse Pflicht für jeden Muslim ist. (S. 157). „Aus fremden Kulturen zu schöpfen, das wussten diese Übersetzungsprojekte, kann eine reichhaltige Quelle der Stärkung sein.“ (S. 159). Und dann die entscheidende Erkenntnis. „Die Araber waren die eigentlichen Erben der griechischen Antike.“ (ebd.). Der Philosoph Ibn Sina (980-1037), im Westen Avicenna genannt, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Was war Bagdad damals nur für eine kulturell bedeutende durchaus tolerante Stadt!
Später wurden alle technische Errungenschaften Europas – bis zu den modernsten Waffen – in der muslimischen Welt übernommen: Aber es waren nur die Technik und die Naturwissenschaft, nicht aber die allgemein und universal geltende Philosophie der Menschenrechte. Die schönsten Autos in diesen sich religiös nennenden Staaten der arabischen Welt durften Frauen nicht selbständig fahren… Es ist die fundamentalistisch verstandene muslimische Religion, die den umfassenden Kulturaustausch bis heute behindert und stört und manchmal zerstört.

9.
Martin Puchner zeigt, wie Kulturen eines bestimmten Landes, einer Region, paradoxerweise möchte man sagen, überleben konnten: „In China blieben buddhistische Schriften und Statuen erhalten, obwohl sie zu den vorherrschenden konfuzianischen und taoistischen Sitten und Gebräuchen im Gegensatz standen. So wie griechische Philosophen in Bagdad posthum weiterlebten, obwohl sie keine Gefolgsleute des Propheten Mohammed gewesen waren“.“ (S. 378 – 379). Kulturgüter blieben also erhalten, obwohl sie den „Besitzern“ dieser kulturellen Zeugnisse nicht nur als befremdlich , sondern auch als Bedrohung erschienen. Diese „Besitzer“ ihnen befremdlich erscheinender Kultur waren eben keine „Puristen und Puritaner“, wie Puchner schreibt (S. 379). Nur Fundamentalisten praktizieren die  Zerstörung der ihnen fremd und feindlich erscheinenden Kulturen ihrer eigenen Länder. Man denke an die Kulturzerstörungen des Islamischen Staates oder an die Fundamentalisten der Kulturrevolution Maos, oder auch an den Kampf der Nazis gegen die ihnen „entartetet“ erscheinende wertvolle Kunst wie auch an die Bücherverbrennungen der Nazis. Dem gegenüber wirkt der „Index der Verbotenen Bücher“ der Päpste noch eher bescheiden. Der Index (das Lektüreverbot von etwa 6000 Büchern für Katholiken) wurde von Papst Paul VI. tatsächlich erst am 15. November 1966 (!) abgeschafft.

10.
Das Buch “Kultur“ von Martin Puchner zeigt in den 15 ausgewählten Kapiteln tatsächlich eine „neue Geschichte der Welt“, wie der Untertitel heißt. Die Erkenntnis wird gefördert, dass Dialog und Lernbereitschaft unter den verschiedenen Kulturen immer schon stattgefunden haben und hoffentlich heute weiter stattfinden – früher nicht ohne Konflikte und Erfahrungen von Leid und Einschränkungen, heute sicher auch nicht. Aber Dialog und Lernen der verschiedenen Kulturen voneinander ist anders nicht möglich.
Nur diese Lernbereitschaft als Offenheit im Respekt der gleichen Würde aller Kulturen weist den Weg in eine humanere Zukunft. Abschotten und sich mit rigiden Gesetzen abgrenzen sind der falsche, der inhumane Weg einer populistisch, das heißt immer auch egoistisch werdenden Welt des reichen kapitalistischen Nordens. Die Menschen – Welt muss die gemeinsame Welt der gleichberechtigten Menschen (und der zu bewahrenden Natur) in der Vielfalt werden.

Martin Puchner, „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“. Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2025, 428 Seiten, 35€. Aus dem Amerikanischen Übersetzt von Enrico Heinemann.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de. in Berlin.

Wenn der Papst schreit: Eine aktuelle Bild-Theologie von Francis Bacon.

Ein Hinweis auf die Papst – Gemälde von Francis Bacon (1909-1992)
Von Christian Modehn am 2.5.2025

Wann, wenn nicht jetzt, wenige Tage vor Beginn des Konklaves am 7. Mai 2025, ist es hilfreich und inspirierend, an die Papst Gemälde von Francis Bacon zu erinnern. Er zeigt in seinen etwa 45 Arbeiten zum Thema in verschiedenen Variationen immer wieder (bis zum Jahr 1965) einen und denselben schreienden Papst. Angeregt wurde Bacon zu dieser provokativen Bild – Theologie durch das berühmte Gemälde von Diego Velazquez, das als kritisches Porträt Papst Innozenz X. darstellt. Das Gemälde entstand 1649/1650. LINK.

Die Arbeiten Bacons, auch dessen vorbereitenden „Studien“ zu den Papstgemälden, sind über das Internet leicht zu erreichen und ausführlich zu betrachten.(Fußnote 4).
Wir bieten nur einige Hinweise zur Bedeutung dieser Arbeiten Bacons.

1.
Die Aktualität der Bacon – Gemälde ist ganz eng mit der „Kammer der Tränen“ verbunden, einem kleinen Raum dicht an der Sixtinischen Kapelle, dem Ort der Papstwahl. In diesen Raum zieht sich der gewählte Papst zurück. Dort ist er allein. Unmittelbar nach der Wahl kann er dort seinen Gefühlen ungeschützt und unbeobachtet „freien Lauf lassen“: Er kann weinen, bitten, beten, schreien: Für Francis Bacon ist das Schreien wesentlich: Es ist ein Schreien nicht vor Freude. Sondern: Der Papst weiß sich in der Deutung Bacons förmlich eingezwängt, wie in einen Käfig eingesperrt sitzt er allein da, wie gelähmt und fest fixiert.
Ist die Aussage Bacons nicht sehr treffend angesichts der nur enorm zu nennenden und eigentlich total überfordernden Herausforderungen seines Amtes: Er soll ein „Papa“ für 1,5 Milliarden Katholiken sein in einer zerstrittenen Kirche, zerrissen zwischen „progressiv“ und „konservativ” und auch „reaktionär“. Er soll auf die Herausforderungen einer friedlosen Welt mit ökologischer Katastrophen und zunehmender sozialer Ungerechtigkeit als Staatsoberhaupt wie als geistlicher Führer (Papst) Weisungen geben und heilen und helfen…

2.
In der „Kammer der Tränen“ (Fotos siehe: Fußnote 1) steht ein rot ausgekleidetes Sofa bereit, um zur Ruhe zu kommen … oder auch erregt, sitzend, liegend, zu schreien. Vor den Augen des gerade gewählten Papstes hängen gut sortiert in verschiedenen Größen seine neuen weißen Gewänder, seine alternativlose Dienstkleidung sozusagen. Das Tragen jeglicher Form von bürgerlicher oder wenigstens moderner klerikaler Kleidung (schwarzer Anzug etc.) steht außerhalb jeglicher Überlegung. Ein Papst in grauem Anzug mit roter Krawatte? Angesichts der totalen Macht der Traditionen und Kleiderordnungen in der Kirche unmöglich.
Die weißen Papstgewänder hängen also in verschiedenen Größen zur Anprobe bereit: Sie zwingen zur Einsicht: Es gibt kein Entkommen mehr. Einst Kardinal, jetzt Papst, an der obersten Spitze einer klerikalen Hierarchie, die sogar noch als göttliche Stiftung gilt. Angesichts dieser Last, dieser Fixierung auf Traditionen und Dogmen, ist Schreien Ausdruck von Erschütterung und Verzweiflung.

3.
Der Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler Wieland Schmied hat in seiner großen Studie „Francis Bacon“ (1985, bei Frölich und Kaufmann) viele Details zu Bacons Papstbildern (auch in der Beziehung auf Velazquez) mitgeteilt. Und Schmied zeigt: Es geht Bacons um eine fundamentale Kritik am Papst und am Papsttum. In Bacons Papstporträts sieht Schmied durchaus den Ausdruck von „Aggression, Wut und Hass“ (S. 12). „Der eigentliche Kampf Bacons gilt dem Weltbild von Velazquez. Bacon richtet sich gegen dessen Vision des Papstes. Er richtet sich gegen die hierarchische Weltordnung, für die dieser Papst steht“ (ebd.). Also gegen die unantastbare geistliche Autorität, gegen das festgelegte Weltbild, „das Bacon als ungültig und unwahr empfindet“ (ebd.). Wieland Schmied schreibt: „Bacon rüttelt am Weltgebäude, wie es uns die Kirche und die großen Maler in ihrem Auftrag überliefert haben. Aber der Papst (in Bacons Gemälden) wehrt sich gegen den Einsturz der alten Weltordnung. Der Papst Bacons schreit, grimassiert, klammert sich an seinen Thron, er erhebt die Faust , er schlägt zurück“. (S. 14). Der Papst bleibt in der Deutung Bacons trotzdem wie ein Gefangener in einem Käfig sitzen. Er will sich aus dieser Fixiertheit nicht selbst befreien.

4.
Besonders eindrucksvoll sind die drei 1951 entstandenen Gemälde mit dem Titel „Papst I“, „Papst II“, „Papst III“, wobei besonders „Papst II“ sehr eindrucksvoll ist., im Buch auf Seite 25 in Farbe wiedergegeben. (Im Internet: Fußnote 2.)

5.
Die Papst – Gemälde von Francis Bacon zeigen eine andere Seite, vielleicht die entscheidende des Papstes und des Papsttums im ganzen: Dieses Amt wurde geschaffen, um die geistliche Macht des Katholizismus über alles in dieser Welt zu etablieren. Der große reaktionäre Verteidiger des Papsttums Joseph de Maistre (1753-1821) hat in seinen apologetischen Publikationen zum Papsttum betont: „Immer muss EINER sein, dem nicht gesagt werden kann: Du hast geirrt.“ (Fußnote 3). Dieser EINE Irrtumslose ist für de Maistre der Papst: Er ist der „institionalisierte Ausdruck des Absoluten“, wie Martin Burkhard im Vorwort des Buches schreibt: De Maistre wollte die Welt von der Notwendigkeit der Herrschaft des Papsttums überzeugen… viele seiner Argumente fürs Papsttum wirken bis heute in katholischen Kreisen. An die Abschaffung dieser Form des Papsttums denkt niemand. Im offiziellen Katechismus der katholischen Kirche (1993) hat der „Papst als Stellvertreter Christi“ „die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über die Kirche, die er immer frei ausüben kann“ (§ 882).
Angesichts dieser Allmacht lassen wir also auch den künftigen Papst in der „Kammer der Tränen“ schreien. Aber Kopien der Papst – Gemälde von Francis Bacon werden diese „Kammer der Tränen“ gewiss nicht „verzieren“.

6.

Am 14.4.2022 hat Christian Modehn einen Beitrag veröffentlich, in dem für öffentliche “Räume, wo wir schreien können” plädiert wird, Schreien als Therapie in Wut und Verzweiflung … über die Welt, die Kirchen. Leer stehende Kirchengebäude würden sich dafür in den Städten anbieten oder auch in renovierten, aber ebenfalls kaum noch genutzten Dorfkirchen in Brandenburg, Mecklenburg usw.. LINK:

Fußnote 1: https://popeemeritus.wordpress.com/2013/03/13/sala-delle-lacrime-room-of-tears-vatican-raum-der-tranen-vatikan-www-popeemer-com/

Fußnote 2.
 Das Gemälde „Pope II“: https://www.kuma.art/de/francis-bacon-pope-ii

Fußnote 3:
Joseph de Maistre, „Vom Papst. Ausgewählte Texte“, Semele Verlag Berlin, 2007, S. 195.

Fußnote 4: LINK  zu den Papstgemälden Bacons.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wolfram Weimer und sein Gott: Eine Rezension

Für die Zeitschrift “Publik Forum” hat Christian Modehn  im Oktober 2021 eine – bei Publik Forum übliche – kurze Rezension geschrieben zum Buch von Wolfram Weimer “Sehnsucht nach Gott”, erschienen im katholischen Bonifatius-Verlag. Das Buch hat 128 Seiten und kostet 15 €:

Der Autor Wolfram Weimer will mit seiner „Streitschrift“ die konservative Ideologie durch die Religion beleben.

Er setzt dabei abstrakt einen Gott voraus, an dem – seiner Meinung nach – zu zweifeln Unsinn ist.

Dieser Gottesglaube soll als „Deutungsmacht“ das politische Handeln in der Demokratie bestimmen.

Religionssoziologen beweisen den Rückgang der Kirchenbindung. Diese Fakten lässt der Autor nicht gelten, er erhofft sich voller Sehnsucht eine „neo-religiösen Bewegung“ der “Gott-Gläubigen.”

Der theologisch inkompetente Publizist Weimer hat einst das konservative Magazin „Cicero“ gegründet, jetzt ist er Chef seiner „Media Group“: Sie hat ihren „Freiheitspreis“ im April 2021 ihrem Freund, dem damaligen österreichischen Kanzler Sebastian Kurz, verliehen. Für diese Kreise ist „Gott“ eine Chiffre für ein verstaubtes Ideal-Bild der Familie.

Von der Bibel ist in Weimers Buch fast keine Rede, von prophetischer Kritik gar nicht.

Wer wirklich Sehnsucht nach Gott hat, braucht dieses Buch nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Die richtige Erkenntnis … und nichts wird besser?

Über das schwierige Verhältnis von Philosophie und Praxis
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2025

1.
Wie kommen wir von unserer Erkenntnis, etwa einer Evidenz, wie sie sich im „Kategorischen Imperativ“ ausdrückt, zur Praxis, zur Tat, die der Erkenntnis entspricht? Also von der Erkenntnis zu einem neuen Lebensentwurf und einer neuen Praxis unseres Lebens?

2.
Diese wichtige Frage wird auch in der Psychologie und der Gehirnforschung diskutiert. Dazu später ein Hinweis. Und in den christlichen Theologien wird auf unser Thema nach wie vor die Antwort des Augustinus (und Luthers) verbreitet: Es sei die Erbsünde, die den Menschen unfähig mache, das Richtige und Gute, das Erkannte, dann tatsächlich auch zu tun. Allein die göttliche Gnade könne zum richtigen Handeln führen. Der Mensch als „natürlicher“ Mensch sei hilflos, deswegen bleibe auch in der gestalteten Welt – letztlich – alles beim Alten. Weil aber die Erbsünde, historisch und theologisch nachgewiesen, eine klerikale Ideologie ist, lassen wir diesen Aspekt hier beiseite. LINK.

3.
Viele Politiker haben zwar die Demokratie als Theorie im Kopf. Sie folgen dieser aber nicht umfassend in ihrer politischen Praxis. D.h.: Sie reden von Demokratie, wollen aber – verschwiegen – etwas ganz anderes, etwa: sich bereichern, ihr Ego stärken, Karriere machen, das Gemeinwohl ignorieren. Die rechtsextremen Feinde der Demokratie haben wenigstens diese eine „Tugend“: Sie sagen offen, dass sie die Demokratie zerstören wollen. Dieser Wahn führt unter Demokraten heute aber nicht zu wirksamen Attacken gegen Rechtsextreme. Die Lust am Untergang der Demokratien verbreitet sich wie eine Epidemie. Aber das ist auch ein anderes Thema.

4.
Die geistig – seelische Erstarrung als Ursache der Abwehr richtiger Erkenntnisse findet sich bei sehr vielen Menschen. Das, was ider Vernunft als das Bessere und Richtige aufscheint, steht in Konkurrenz zum dem, was wir immer schon tun, aus Gewohnheit, Tradition, geistiger Nachlässigkeit. Bei unserem Thema geht es also auch um die Konkurrenz zweier Lebensentwürfe: Der eine Lebensentwurf ist der immer schon gelebte, angeblich bewährte, angeblich vorteilhafte. Der andere Lebensentwurf hat nur den Charme einer Verheißung, nämlich besser, richtiger, vernünftiger zu handeln und nicht nur all dieses „Schöne und Wahre“ zu denken. Es geht also um die eine Forderung: Lass das Alte hinter dir und tu das Neue, die Verheißung des Besseren und Vernünftigen. Diese Forderung kann entstehen, weil einige die alte, fixierte Lebenspraxis selbst als falsch, als zu eng erleben und dabei gedanklich dem Überschreiten des Gegebenen folgen. Transzendieren nennt man das. Aber: Nicht alles Neue ist automatisch das Bessere, sondern nur das Vernünftige, das Humane. Es gibt Normatives in dieser Debatte. Nicht jede Alternative ist richtig und gut, siehe die AFD, die das wichtige Wort Alternative in den Schmutz zieht. AFD sollte eher AZD heißen: „Alternative zur Demokratie.“

5.
Ein Blick in die Geschichte der Philosophie: Die hellenistischen Philosophen haben in ihren Werken und ihrem Leben explizit „Anleitungen zur individuellen Lebensbewältigung“ gegeben, also Hinweise zu einem besseren, wahren Leben, wie Heinrich Niehues – Pröbsting, Spezialist für hellenistische Philosophie, gezeigt hat. (Fußnote 1). Die hellenistischen Philosophen wollten also in diesem „Reformprogramm“ eine Art „philosophische Psychotherapie“ fördern als Voraussetzung für eine neue Praxis. Diese Erkenntnis verdankt sich dem großen Philosophen und Philosophiehistoriker Pierre Hadot (1922 – 2010), er hat in zahlreichen wichtigen Studien den praktischen Charakter der hellenistischen Philosophie hervorgehoben: Philosophien seien keine theoretischen, abstrakten Konstrukte, sondern „Anleitungen zu humanen Lebensformen.“ „Im Hellenismus versteht sich die Philosophie der Hauptsache nach als Anleitung zum glücklichen Leben, sie ist Kunst des Lebens, Kunst als ein Können, das auf Wissen beruht..“, schreibt Heinrich Niehues – Pröbsting im Sinne Pierre Hadots. Nebenbei: Von Hadot ließ sich auch Michel Foucault inspirieren.

6.
Philosophie als Therapie verstehen: Viele Philosophen vom 3. Jahrhundert vor Christus bis ins 4. Jahrhundert nach Chr. waren überzeugt: Es gibt eine „Krankheit der Seele“: Und die sei bedingt „durch falsche Vorstellungen, die zu den beunruhigenden Affekten führen.“ Die falschen Vorstellungen entstehen etwa in dem Unvermögen, bei der Macht der Gefühle Wichtiges und Unwichtiges im Leben nicht unterscheiden zu können. Auch die Angst erzeuge falsche Vorstellungen, oder die Meinung, „man bedürfe des Luxus oder der Erfüllung seiner eitlen Ansprüche auf Anerkennung“ (Fußnote 2). Vor allem Epikur lehrte die Kraft vernünftiger Unterscheidung: Er empfiehlt die Selbstgenügsamkeit.
Für die Stoiker gilt als philosophische Therapie: „Die Affekte sollen erst gar nicht aufkommen. Die Stoiker sind von der Macht der Vernunft über die Affekte grundsätzlich überzeugt.“

7.
Es ist für diese Philosophen die Macht der Vernunft und des Arguments, die einen Weg weist in ein glücklicheres Leben: das ist ja das Ziel der „individuellen philosophischen Lebensbewältigung.“ (Fußnote 3).

8.
Die Pythagoreer entwickelten als eine der wichtigen „philosophischen Schulen“ eine Art „Katechismus“, der die praktischen Lebensregeln zusammenfasste. Dazu gehörten auch Speisevorschriften (vegetarische!) oder Empfehlungen für die Gestaltung der Sexualität. Am wichtigsten ist für Pythagoreer das Gebot, täglich eine „Selbstprüfung“ zu gestalten: „Worin fehlte ich? Was war meine richtige Tat? Was war Unterlassung? Wenn du Schlechtes tatest, dann schilt dich, wenn du Gutes tatest, dann freu dich.“ (Fußnote 4).
Die Stoiker übernahmen diese Selbstprüfung als wichtige Übung, sie sollte zu einer neuen glücklicheren Lebensform führen. Nebenbei: Die Christen ließen sich davon anregen und haben dann die Gewissenserforschung eingeführt, die zur Erkenntnis von Sünden anregte und zur Praxis der Beichte ihren Höhepunkt (und Abschluss) fand.

9.
Um die philosophische Erkenntnis des Guten im Geist fest zu verankern, empfahlen einige „Schulen“, wie die Stoiker und die Epikureer, das Auswendiglernen zentraler philosophischer Erkenntnisse der eigenen „Schule“. Man könnte sagen: Eine Art Verhaltenstherapie zur vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens war intendiert. Damit verbunden war eine starke Forderung der eigenen gedanklichen Leistung, sie sollte dann den Willen bestimmen und tatsächlich eine neue Praxis im Leben einleiten.
Aber der einzelne fand in den philosophischen Schulen der Epikureer oder Stoiker praktische Hilfe, neue Wege zu gehen, vor allem durch den gedanklichen Austausch oder das lebendige Vorbild der anderen, die zur Schule, man könnte sagen, zur Gemeinde“, gehörten. Ohne die gleichgesinnten anderen, die Mitglieder der „Gemeinde“, kann eine neue, bessere Lebenspraxis nur schwer gelingen.

10.
Ein Stück Wirkungsgeschichte: Viele christlichenMönche und Einsiedler,, Wüstenväter genannt, übernahmen vom 3. bis 6. Jahrhundert auch diese aus der Philosophie stammende Übung der häufigen Wiederholung bestimmter Sätze der Weisheit, die sie natürlich der Bibel entnahmen. Bis heute wird in der christlichen Spiritualität diese Übung des häufigen Aussprechen von Weisheit – Sätzen während des Tages „Ruminatio“ genannt, das lateinische Verb ruminare bedeutet tatsächlich „wiederkäuen“. „Das Wiederkäuen gab den Mönchen die Gewissheit, in der Gegenwart Gottes zu leben und sich dieser Gegenwart bewusst zu sein, ohne lange Gebets – und Meditationszeiten dafür einzuplanen“, schreibt der katholische Theologe Thomas Dienberg in seinem Buch „Spirituelle Atempausen“, KBW Verlag 2025. Er empfiehlt heute diese Übung den Christen. Sie soll zur „christlichen Alltags – Praxis“ anleiten. Ob dabei spürbar und sichtbar neue Lebensentwürfe entstehen, die auch politisch wirksam sind, ist eine offene Frage.

11.
In den hellenistischen Philosophien gilt die Überzeugung: Soll es zu einer Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse kommen, dann muss zunächst und vor allem der einzelne Mensch den eigenen Geist, die eigene Vernunft, kennen und pflegen. Bevor es zu Strukturveränderungen kommt, muss der einzelne und mit ihm die Gruppe, die „Gemeinde“, selbst das gute und wahre moralische Leben leben. Nur durch die Vernunft erneuerte Menschen können die neue Gesellschaft gestalten.
Eine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit: Der Kommunismus in Russland ist sicher auch daran gescheitert, dass die Akteure, Herrscher und Funktionäre niemals an der eigenen seelischen und geistigen Verfasstheit und Mentalität kritisch gearbeitet haben. Dazu weitere Überlegungen in Fußnote 7.

12.
Die Forderung, Philosophie als Therapie zu gestalten, gilt auch für zeitgenössische Philosophen des 20.Jahrhunderts, neben Karl Jaspers auch für Ludwig Wittgenstein. Seine Spätschriften sind dabei wichtig. Bekannt ist sein Beispiel von der „Fliege, die im Fliegenglas gefangen ist und keinen Ausweg findet.“„Was ist dein Ziel in der Philosophie“, fragt Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“, § 309. Seine Antwort: „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Philosophie sollte hilfreiche Auswege zeigen … um besser, d.h. wahrer und frei zu leben! Darin sind durchaus Anklänge an die genannten Überzeugungen hellenistischer Philosophen deutlich. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ (§ 133) sagt Wittgenstein: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber es gibt Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ Ähnlich auch die kurze Erkenntnis in § 255 : „Der Philosoph behandelt eine Frage: wie eine Krankheit.“ Philosophieren kann heilsame Entwicklungen freisetzen. Diese Verfehlungen im Leben sind vor allem begründet im falschen Gebrauch der Sprache und der Grammatik.

13.
Pierre Hadot hat darauf hingewiesen, dass Wittgenstein sein eigenes radikales Fragen und Denken niemals als eine Art Schlusspunkt verstanden hat. Es gibt keine absolute Wahrheit, kein absolut gültiges Heilmittel. Und darin ist wohl auch das stets Unfertige jeder neuen Lebenspraxis begründet: Weil es denn vollkommenen Gedanken, die vollkommene Einsicht nicht gibt und geben kann, kann es auch bei allem guten Willen keine vollkommene neue Praxis geben. Hadot spricht von dem „inachèvement“, der Unvollendetheit, des philosophischen Denkens, die Auswirkungen auf die Praxis sind entsprechend: Sie ist unvollendet und unvollständig. Es ist also die Unvollkommenheit des einzelnen, einen vollständigen oder sogar vollkommenen Gedanken zu fassen entscheidend. (Hadot, Fußnote 5.)
Aber diese unüberwindbare Einschränkung darf niemals die Anstrengung verhindern, ein besseres, humaneres Leben zu denken. Und: Durch die Übungen der philosophischen Vernunft können fixierte alte, auch inhumane Einstellungen erschüttert und ansatzweise überwunden werden.

14.
Auf aktuelle Forschungen zum menschlichen Gehirn muss deswegen hingewiesen werden: Der Autor und Philosoph Stefan Klein hat in seinem Buch „Aufbruch“ (Fußnote 6) gezeigt: „Der Unwille zur Veränderung (der Lebenspraxis) wurzelt im Gehirn. Weltbilder, die unser Handeln bestimmen, folgen nicht Argumente; ihre Anziehungskraft beruht auf der Ökonomie der neuronalen Datenverarbeitung. Entscheidend ist die kognitive Flexibilität“.
Trotz dieser Dominanz „neuronaler Strukturen“, die eine Veränderung der Lebenspraxis behindern, ist auch die Macht der Ideologien zu respektieren. Ideologien können antihumane (etwa rassistische) Vorstellungen sein oder eben auch humane, etwa zur Solidarität auffordernde Ideen. Die Ideologien erscheinen oft in Gestalt von bestimmten Weltbildern. Und sie können den Geist der
Menschen fixieren und Veränderungen abwehren. Dies ist die wichtige Erkenntnis der Forschungen zum Gehirn: „Weltbilder (Ideologien) spiegeln nicht nur, sie bestimmen auch, wie ein Gehirn funktioniert… Ideologien zielen auf die Transformation der menschlichen Natur.“

15.
Das Bemühen der Philosophen, Formen humaner Lebenspraxis zu beschreiben und vorzustellen und Erkenntnisse in Praxis zu führen, bleibt nach wie vor gültig. Die richtigen Ideen können zu „einer gewissen Transformation der menschlichen Natur“ (Stefan Klein) beitragen. Die Gene sind also nicht allmächtig. Der alte Trott der unreflektierten, angeblich etablierten und fixierten Lebensführung kann unterbrochen und korrigiert werden: Durch philosophische Argumente.

16.
Natürlich zeigt sich in diesem Denken ein Rest von Optimismus, der sich dem Geist der philosophischen Aufklärung verdankt.

………………………….

Fußnote 1: Heinrich Niehues – Pröbsting, „Die antike Philosophie“, Fischer Taschenbuch, 2004. S. 188.

Fußnote 2: ebd. S. 189 und 190.

Fußnote 3: ebd. S 187.

Fußnote 4:
 Ein Zitat aus dem grundlegenden Werk von Paul Rabbow, bei Niehues – Pröbsting, S.155, dort Fn 246).

Fußnote 5: Pierre Hadot, „La Philosophie comme manière de vivre“, Editions Albin Michel, Paris. 2001, S 192.

Fußnote 6: 
Stefan Klein, „Aufbruch. Warum Veränderung so schwerfällt und wie sie gelingt“, S. Fischer Verlag, 2025. Die Zitate von Stefan Klein sind dem Tagesspiegel, Ausgabe vom 14.4.2025, Seite 10-11 entnommen.

Fußnote 7:
Die Sowjet – Kommunisten etwa haben den alten (etwa aus der Zarenzeit stammenden) Ungeist der Gewalttätigkeit, der Verachtung von Mehrheitsentscheidungen, von Minderheiten usw. nicht aufgegeben können und wollen. Die Utopie eines eigentlich nur human zu denkenden Kommunismus blieb für die Führer und ihre Kollaborateure nichts als lügnerische Theorie.
Wer sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in der klassischen orthodoxen kommunistischen Partei – Ideologie anschaut: Da wurde von einem einfachen Schritt von der Theorie zur Praxis gesprochen: Etwa: Die in der Theorie – Debatte (am „grünen Tisch“) gewonnenen Parteitagsbeschlüsse sollten unmittelbar als solche von den Werktätigen umgesetzt werden: „Vorwärts mit den Beschlüssen des VII. Parteitages“, hieß es dann. Dabei waren schon die Analysen der Theorie am „grünen Tisch“ der Parteibonzen falsch. Sie ignorierten die geistige Bereitschaft ihrer Untertanen, die Beschlüsse überhaupt ernst zu nehmen, geschweige denn freiwillig zu realisieren…
Eine Theorie kann nur dann Impulse für das Tun, die Praxis geben, wenn sie selbst als Theorie eng verbunden mit der schon vorhandene Praxis der Menschen in der Gesellschaft und im Staat ist. Und von dieser erkannten und gemeinsam kritisierten Praxis können dann neue Wege der Praxis gelingen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Karfreitag: Alles Ewige, alles Wahre ist vernichtet.

Hegels Interpretation des Karfreitag … weltlich, säkular verstanden.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2025.

1.
„Gott selbst ist tot“: Dieser provozierende Satz gehört tatsächlich zur klassischen christlichen Spiritualität. Er steht im Zentrum am Karfreitag, beim Gedenken an den Kreuzestod Jesu von Nazareth, der dann freilich in der üblichen, orthodox genannten Formel als „Gottes-Sohn“ gedeutet und verehrt wird.

2.
Wir wollen die spirituelle Erkenntnis Satz „Gott selbst ist tot“ weltlich, also auch politisch, neu verstehen. Damit wollen wir auch der Forderung des Theologen und Nazi – Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer entsprechen: „Wir müssen es riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ (Brief aus dem Nazi – Gefängnis Tegel am 3.8.1944). Und am 16.7.1944 notierte er die inzwischen bekannte, aber bis jetzt nicht realisierte Forderung einer „nicht-religiösen Interpretation der biblischen Begriffe“…Zu Bonhoeffers Provokationen: LINK.

3.
„Gott selbst ist tot“- dieser Satz ist wohl für klassisch Fromme befremdlich: Denn Gott kann doch gar nicht sterben, behaupten sie. Und darum haben sie den Satz „Gott selbst ist tot“ auch relativiert: Es war ja „bloß“ Gottes Sohn, Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist. Der Kreuzestod Jesu ist eine geschichtliche Tatsache, im Unterschied zur Auferstehung Jesu von den Toten, diese ist kein historisch nachweisbares Faktum.

4.
Wie fanden Christen zu der Erkenntnis „Gott selbst ist tot“? In Zeiten schlimmsten Leidens, der Trostlosigkeit im Dreißigjährigen Krieg, hat der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) ein Gedicht bzw. Kirchenlied verfasst , die ersten Worte heißen: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes des Vaters einzig Kind wird zu Grab getragen.“
 Weitergedacht hat der protestantische Pfarrer und Dichter Johann Rist (1607-1667), als er im Jahr 1641 in einer zweiten Strophe den Inhalt radikalisierte: „O große Not! Gottes Sohn liegt tot, am Kreuz ist er gestorben…“.. Das Lied ist Teil des evangelischen Gesangbuchs (von 1993).

5.
Bis heute aktuell interpretiert und gedeutet wurde diese theologische Überzeugung „Gottes Sohn ist tot“ von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Und Hegel weist uns den Weg zu einer weltlichen, säkularen Interpretation des Karfreitag – Satzes „Gott selbst ist tot“.

6.
Hegel hat in seinen mehrfach gehaltenen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“ in Berlin (1818-1831) im Blick auf den Karfreitag gelehrt: „Gott ist gestorben. Gott ist tot.“ Und Hegel übersetzt dann den Begriff Gott in weltliche Wirklichkeiten: Hegel fährt fort: „Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist; dass die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291).

7.
Hegel spricht also davon, dass der Tod Gottes (bzw. des Sohnes Gottes) ein Ereignis ist, das als „Aufgeben alles Höheren“ übersetzt wird. Und das heißt konkret: „Alles Ewige, alles Wahre“ ist nicht mehr, es existiert nicht mehr, ist verschwunden, Ewiges und Wahres haben keine Bedeutung. In dieser grundstürzenden Erfahrung des Zusammenbruchs entsteht der „fürchterliche Gedanke und das Gefühl der „vollkommenen Rettungslosigkeit“, wie Hegel sagt. Der Tod Gottes ist also, Hegel folgend, säkular und neu als der Zusammenbruch der humanen Welt zu verstehen.

8.
Karfreitag sollte also der Tag der Besinnung auf den Zusammenbruch der humanen Welt sein. Und dies ist die heutige Weltsituation, die nicht Resultat eines Naturereignisses ist: Es sind vielmehr Menschen, die diesen Zusammenbruch aus freier Entscheidung betreiben: Menschen, die die Klimakatastrophe erzeugen und nicht umfassend korrigieren und bremsen können oder wollen. Es sind Menschen, die Mord und Zerstörung zu ihrem politischen Geschäft machen. Es sind Menschen, die Diktatoren und Autokraten und andere Verbrecher an die Macht wählen, in den USA, in Russland, in Israel, in Ungarn, in Indien und so weiter. Es sind Menschen, die in noch funktionierenden Demokratien die Feinde der Demokratie wählen, etwa die Partei AFD, die Rechtsextremen in Frankreich und den Niederlanden. Es sind Menschen, die als Lobbyisten einflußreich genug sind, um eine Reichensteuer, Millionärs-und Milliardärs-Steuer, politisch zu verhindern. Sie wäre ein Ausdruck der gerechten, d.h. der sozialen Demokratie. Dies wird von sich noch dreist „christlich” nennenden Parteien auch in Deutschland verhindert.

9.
Der Philosoph Hegel hat den Zusammenbruch der humanen Welt, der im Ereignis des Todes Gottes am Karfreitag angezeigt wird, im Rahmen seiner Philosophie dann wieder „aufgehoben“, d.h. in eine positive Denkrichtung verwiesen durch den religionsphilosophischen Gedanken der Auferstehung. Aber Hegel kommt das Verdient zu, überhaupt den Tod Gottes in aller Tiefe gedacht zu haben.

10.
Wichtig ist für uns in dem Versucht einer „weltlichen Interpretation des Karfreitags“: In seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) bietet Hegel schon eine säkulare, vernünftige und nicht-religiöse Antwort auf die Frage: Wie kann der Mensch dem Tod, in unserem Beispiel auch dem Tod Gottes, begegnen?
In der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ (Seite 36 in der Suhrkamp – Ausgabe, Band 3) bezieht sich Hegel auf die Kraft des menschlichen Geistes – auch dem Tod gegenüber. Hegel schreibt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das den Tod erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist der Geist nicht, indem er von dem Negativen wegsieht … sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei dem Negativen verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die das Negative in das Sein umkehrt.“

11.
Dem Negativen ins Angesichts schauen: Das kann angesichts des genannten „Zusammenbruchs der humanen Welt“ bedeuten: Nicht nur schauen, nicht nur das Elend betrachten, sondern aktiv eintreten für die Rettung der Theorie betreiben, nicht nur ins Ästhetische sich zurückziehen, es geht um aktives „Verweilen“ beim Negativen, dem drohenden Tod. Dieses aktive Verweilen hat dann, wie Hegel schreibt, die „Zauberkraft, das Negative ins lebendiges, konstruktives Sein“ zu verwandeln. Diese Kraft, dem Negativen standzuhalten, kann von Hegel wie eine als Metapher „Zauberkraft“ genannt werden: Aber bei diesem Begriff „Zauberkraft“ spielt nichts Esoterisches , Wunderbares eine Rolle, sondern es wird nur das Überraschende formuliert: Einzig die „verweilende“, kritische Analyse der Verhältnisse, kann das „Negative in das Sein“, also in Leben, verwandeln. So kann der „Zusammenbruch der humanen Welt“ vielleicht noch aufgehalten werden.

12.
Karfreitag – weltlich, säkular verstanden, sollte also auch ein Tag des Gedenkens werden an die Widerstandskraft des Geistes, an die kritische Kraft der Vernunft angesichts der genannten miserablen Verhältnisse. Wahrscheinlich wird sich diese Widerstandskraft auf Dauer nur mobilisieren lassen, wenn sie selbst sich gegründet weiß in einem absoluten alles gründenden Sinnhorizont. Ein Gedanke, der dem Religions-Philosophen Hegel wichtig war. Und uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin noch immer ist.

13.
Unser Thema könnte natürlich weiter vertieft werden mit Hinweisen auf Nietzsche, etwa auf die Rede von „Gott ist tot“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125). Siehe Fußnote 1.
Uns interessiert sehr die Erkenntnis Nietzsches, am Schluss dieses Absatzes Nr. 125 formuliert: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Diese Frage haben die Kirche bis jetzt unbeantwortet gelassen. In dieser These, „Kirchen als Grabmäler Gottes“, sollte an die Mitschuld der Kirchenleitungen und der Christen erinnert werden am genannten „Zusammenbruch der humanen Welt“: Weil die Kirchenleitungen und die Frommen sich nachweislich ums Dogmatische und Spirituelle vor allem kümmerten und eben nicht um das auch politische Ziel der gerechten humanen Welt für alle. Theologisch nennt man dieses Ziel „Reich Gottes“. „Jesus verkündete das Reich Gottes … und gekommen ist die Kirche“, sagte sehr treffend der große französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940). Er wurde von der römisch katholischen Kirche exkommuniziert.

 

Fußnote 1.

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

 

Die Jüdisch-christliche Zivilisation: Nun eine Ideologie der Rechtsextremen.

Über den Betrug der Rechtsextremen. Ein neues Buch von Sophie Bessis.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.4.2025

1.
Der oft benutzte Begriff „jüdisch – christliche Zivilisation“ wird jetzt von der jüdischen Historikerin Sophie Bessis in Paris als Betrug der Rechtsextremen analysiert und bewertet.
Der Begriff hat sich, eher harmlos – versöhnlerisch klingend, seit etwa 1980 durchgesetzt. In christlichen Kreisen der Theologen wird er auch formelhaft verwendet, manchmal nur in der Kurzform „jüdisch-christlich“.
Dem Begriff gilt jetzt alle Aufmerksamkeit zum Verständnis der Ideologie der Rechtsextremen. Er teilt im Verständnis der europäischen bzw. us-amerikanischen und der israelischen Rechtsradikalen die Menschen in gute und böse. Gut sind angeblich die Verteidiger der „jüdisch-christlichen Zivilisation“ und böse die „anderen“ ,für Rechtsradikale vor allem „die“ Muslime.

2.
Gegen die übliche Selbstverständlichkeit bzw. auch Gedankenlosigkeit im Umgang mit dem Begriff „jüdisch – christliche Zivilisation“ argumentiert die französische Historikerin Sophie Bessis. Sie wurde 1947 in Tunis in einer jüdischen Familie geboren und arbeitet als Historikerin, Journalistin und Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Studien in Paris. LINK zur Person.

Ihr neues Buch „La Civilisation judéo-chrétienne: anatomie d’une imposture“, („Die jüdisch-christliche Zivilisation: Anatomie eines Betruges“), wurde publiziert im Verlag „Les Liens qui libèrent“, Paris. LINK zum Verlag.

Das Buch hat in Frankreich viel öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, auf deutsch liegt es noch nicht vor.

3.
Der Begriff wird – auf Frankreich bezogen – im öffentlichen Diskurs etwa seit 1980 verwendet. Die konsequente „laicité“ als republikanische Idee ist damals als orientierende Philosophie genauso verschwunden wie die kommunistische Partei. Nun wird das „Jüdisch-christliche“, in dieser Verklammerung, als neue/alte Identität des Westens proklamiert. Eine Art freundliche Geste der Nicht-Juden, der Christen, nach der Vernichtung der Juden im Holocaust.

4.
Einige zentrale Erkenntnisse von Sophie Bessis zur „jüdisch-christlichen Zivilisation“:
Der Begriff markiert die Vorherrschaft einer religiösen Ideologie: Es gilt, mit ihm die europäische Zivilisation ganz entscheidend auf den jüdisch-christlichen Zusammenhalt und die „gemeinsame Geschichte“ zu gründen. Die beiden monotheistischen Religionen sollen also die europäische Zivilisation bestimmen. In der Fußnote 1 wird auf die Verwendung des Begriffes durch westliche Politiker verwiesen.
Damit wird aber vor allem eine andere monotheistische Religion, der Islam, explizit ausgeschlossen, schreibt Sophie Bessis. Und sie zeigt, dass die arabischen Nationalisten diese Formel „jüdisch-christlich“ ihrerseits aufgegriffen haben, um die Interventionen des Westens gegen „den Islam“ – negativ – zu bewerten und zu bekämpfen.

5.
In einem Interview mit „Radio France International“ (RFI) vom 6.4.2025 sagt die Autorin: „Der Islam gilt heute als die Gefahr, er gilt als Barbarei. Die aktuellen israelischen Regierungschefs haben deswegen diese Rhetorik des „Jüdisch – Christlichen“ übernommen, sie zögern nicht, dies öffentlich zu proklamieren. Diese Rhetorik gilt ihnen als letzter Schutzwall der Zivilisation gegen die `muslimische Barbarei`. Und dieser anti-islamische Diskurs Israels wurde übernommen von der Mehrheit der westlichen politischen Klassen… Der Staat Israel wird durch Monsieur Netanyahu und seinen israelischen Führern zum Vorposten der westlichen Zivilisation erklärt – durch die Verwendung des Begriffes „jüdisch-christliche Zivilisation.“

6.
Auch die extremen Rechten im Westen verwenden den Begriff. „Zuletzt hat Monsieur Bardella von der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (einst „Front National“ von Le Pen begründet) diese Formel verwendet…“, berichtet Sophie Bessis.
Übrigens: Auf die Übernahme des Begriffes „jüdisch-christlich“ durch rechtsradikale Parteien hat schon der Radiosender „France Culture“ am 20.3.2021 aufmerksam gemacht. LINK  

Auch die Partei AFD benutzt die Floskel „jüdisch-christliche Zivilisation/ Kultur“ sozusagen als Inbegriff für Europa, um gegen den Islam und die Flüchtlinge zu polemisieren und die muslimischen Menschen zu vertreiben.

7.
Die Autorin setzt sich in dem Interview mit RFI weiter mit dem Anspruch von Netanyahu auseinander, alle Juden der Welt zu repräsentieren. Dieser Gedanke ist für die Jüdin Bessis unerträglich. Denn dann könnten „alle Juden“ auch für die furchtbare Politik Netanyjahus Politik bestraft werden…
Und Sophie Bessis setzt sich auch mit einem neuen Philo-semitismus in manchen Staaten Europas auseinander, der zumal seit dem 7. Oktober 2023 lebendig wird. Philo-semitismus ist bekanntlich eine ins Ignorant-Positive gewendete Form des Antisemitismus, nur eben exzessiv freundlich erscheinend. Israels rechtsextreme Regierung pflegt mit dem rechtsextremen Präsidenten Orban in Ungarn eine tiefe Verbundenheit, auch mit Präsident Modi in Indien sowie mit zahlreichen neofaschistischen Parteien, für die Antisemitismus eigentlich typisch und wesentlich ist. Aber sie verschleiern diese ihre traditionelle Ideologie, um gegen „den“ Islam zu kämpfen.

8.
Genauso wichtig ist die Erkenntnis von Sophie Bessis: Der Begriff „jüdisch – christliche Zivilisation“ ist Ausdruck einer Illusion von einer angeblich lange währenden kulturellen und religiösen Nähe und Verbundenheit von Juden und Christen: Dieser Begriff ignoriert aber die Jahrhunderte des christlich geprägten Antisemitismus. Der harmlose Begriff verwischt den Jahrhunderte alten Hass der Christen und der Kirchen auf die Juden.

9.
Die Autorin glaubt nicht, dass der Begriff „jüdisch – christliche Zivilisation“ alsbald in der Umgangssprache wie in der Sprache der Politiker verschwindet. Dafür sind die Rechten und Rechtsradikalen leider zu stark.
Dabei liegt Sophie Bessis alles daran, dass dieser verschleiernde Begriff auch politisch immer weiter analysiert wird, um ihn danach beiseite zu legen zugunsten des Begriffes einer humane Weltzivilisation, in der die universellen Menschenrechte gelten. Wir meinen: Zu dieser humanen Weltzivilisation gehören auch die Religionen, auch der Islam: Er wird sich aber wie das Christentum und das Judentum und der Hinduismus usw. korrigieren und reformieren müssen durch die universell gelten Menschenrechte. Denn die Religionen können intern keine radikale Reform ihrer Dogmen usw. gestalten, das kann nur die allgemeine Vernunft. Zur humanen Welt – Zivilisation gehört vor allem auch der Humanismus, der seit der Renaissance Europa zu bestimmen versucht mit seiner Philosophie der Toleranz.

10.
In der christlichen Theologie werden die Adjektive „jüdisch – christlich“ seit vielen Jahren verwendet, in der katholischen Kirche etwa seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-65). Der Begriff soll – nach dem Holocaust – die Verbundenheit des christlichen Glaubens mit dem Judentum signalisieren. Beispielsweise hat der niederländische Theologe und Poet Hub Oosterhuis – neben vielen anderen Theologen – diese Worte „jüdisch-christlich“ oft gesprochen und geschrieben: Voraussetzung dafür war und ist: Die meisten christlichen Theologen sehen eine enge Verbundenheit des Neuen Testaments der Christen mit der hebräischen Bibel der Juden. Davon spricht Sophie Bessis in ihrem Buch nicht.
Aber darüber sollten Theologen sprechen, selbst wenn es eine Art Tabuthema ist: genauer hinzuschauen, was denn diese enge Verbundenheit des Neuen Testaments der Christen mit der hebräischen Bibel bedeutet. Jesus von Nazareth ist Jude, aber ein Jude mit einer ungewöhnlichen, einmaligen durchaus auch „anderen“ Spiritualität. War er als Jude vielleicht aus dem herrschenden Judentum damals spirituell „hinausgewachsen“? Immanuel Kant hat 1793 seine These zu publizieren gewagt: Jesus von Nazareth hat in Bezug auf das Judentum eine „gänzliche Revolution in Glaubenslehren bewirkt“ (Fußnote 2). Aber dies ist ein anderes Thema…

Fußnote 1: Zitat aus der politischen Website BLAST in Frankreich: „Les hommes politiques en truffent leurs déclarations, s’en réclamant ad nauseam pour justifier leurs actions. Un candidat à l’élection présidentielle américaine de 2000 assurait ainsi qu’« être la seule superpuissance donnait aux États-Unis des responsabilités, en particulier celle d’intervenir à l’extérieur pour protéger les valeurs judéo-chrétiennes (2) ». Le monde est partagé entre « les cultures judéo-chrétiennes » et les autres (3). En France, on consacra en 1998 un colloque à « l’intégration politique des Français musulmans et leur place dans l’espace judéo-chrétien (4) ». Dans une interview au quotidien Le Figaro le 29 mai 2024, l’ex-président Nicolas Sarkozy brandissait lui aussi les « racines judéo-chrétiennes » de l’Europe. Écrit-on sur l’économie ? On y fait référence (5). Siehe: https://www.blast-info.fr/articles/2025/sophie-bessis-la-civilisation-judeo-chretienne-anatomie-dune-imposture-les-bonnes-feuilles-Ep8Ugq3ETDaUeibgnbV5vQ. BLAST vom 15.3.2025.

Fußnote 2: Seite B 190 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“.

Das wichtige Buch “La civilisation judéo-chrétienne: Anatomie d’une imposture”von Sophie Bessis ist im Verlag Les Liens qui libèrent in Paris 2025 erschienen, es hat 124 Seiten und den Preis von 10 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

An die Auferstehung „vernünftigerweise glauben“!

Kants Beitrag zur “Unsterblichkeit” … zum Osterfest.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9.4.2025

1.
Die Auferstehung Jesu von Nazareth ist keineswegs ein Thema, das für religiöse oder kirchlich-fromme Leute reserviert ist. Die Auferstehung Jesu, verbunden mit der Frage: Was bedeutet sie für alle anderen Menschen, ist auch ein Thema der Philosophie. Also des umfassend kritischen Nachdenkens. Auch Immanuel Kant hat sich auf das Thema eingelassen, für ihn waren Themen der Religion keineswegs tabu, sie waren eingebunden in seine praktische Philosophie. Kants Erkenntnisse zur Auferstehung sind, hinischtlich des theologischen Inhalts, eher bescheiden, sie wehren allen Überschwang und fromme Phantasie ab. Aber es bleibt doch beachtlich, dass – sozusagen mit einem elementaren Inhlt – die Auferstehung Jesu und der Menschen „vernünftigerweise“, wie Kant sagt, geglaubt werden kann.

2.
In seinem schon damals viel beachteten Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, Fußnote 1) setzt sich Kant kritisch mit dem Glauben an Gott auseinander, auch mit dem kirchlichen Glauben, der sich auf die Offenbarung, also auf die Bibel stützt: In diesem Glauben an geschichtliche Ereignisse nimmt der Mensch unmittelbar die Worte der Bibel, so sie wie da stehen, zum Maßstab der persönlichen Spiritualität.

3.
Das Leben Jesu endet für Kant in der „öffentlichen Geschichte“ (also in historischer Sicht) mit Jesu Tod. Sehr richtig betont er: Nur die “Augen seiner Vertrauten“ (so Kant, B 191) hätten ihn als Auferstanden und in den Himmel Auffahrenden erlebt und gedeutet. Daran klammern sich bis heute viele fromme Leute und mißverstehen die Auferstehung als ein historisches Ereignis.
Das wortwörtliche Verstehen der Bibeltexte lehnt Kant mit guten Gründen ab, schließlich sind Elemente der historisch – kritischen Bibelwissenschaft schon damals bekannt. Kant lehnt die Jesus – Gestalt aber nicht prinzipiell ab, sie versteht er als ein „Urbild der allein Gott wohlgefälligen Menschheit“ (B 192). Im vierten Kapitel der “Religionsschrift” nennt Kant ausführlich “zur Beglaubigung dieser seiner (Jesu) Würde, als göttlicher Sendung”, ausführlich einige zentrale Lehren Jesu. Kant lobt sie, weil sie “die alles entscheidende reine moralische Herzensgesinnung” fördern und nicht eine erstarrte, auf Statuten gründende religiöse Haltung. (Siehe dazu Seiten B 239 – B 243).

4.
Innerhalb seines Buch, im „Dritten Stück“ mit dem Titel „Sieg des guten Prinzips über das böse“, stellt Kant seine vernünftige Deutung der Auferstehung Jesu vor. Sie kann für alle Menschen nachvollziehbar sein. Auf Seite B 191 nimmt Kant dazu in einer längeren Fußnote ausführlich Stellung! Man muss beachten, dass diese kritische, vernünftige „Religionsschrift“ Kants in Zeiten königlicher Zensur Friedrich Wilhelm des Zweiten veröffentlicht wurde, in einer Zeit mit allen Attacken von orthodox-glaubender, konservativ – theologischer Seite. Darum argumentiert Kant hier eher bedächtig und vorsichtig.

5.
Zunächst steht für Kant fest: Wenn der kirchlich – fromme Glaube an Auferstehung und Himmelfahrt „buchstäblich genommen“ wird, ist er „der sinnlichen Vorstellungsart der Menschen zwar sehr angemessen.“ ABER „sinnliche Vorstellungen“ allein sind bloß zufällige Impressionen einzelner, sie können im Bereich der allgemeinen Vernunft nicht gültig sein. Darum sagt Kant: Diese sinnliche Vorstellung von der Auferstehung ist der „Vernunft sehr lästig“ (B 192), das heißt: Sie stört, sie hat in einem vernünftigen Denken keine Geltung.

6.
Wegen der Zensur schreibt Kant offenbar bewusst in eher schwierig nachvollziehbaren Formulierungen, aber seine Position ist deutlich: Ein „Klumpen Materie“, also der menschliche Körper, kann gar nicht in eine Ewigkeit auferstehen. Für die Vernunft ist es unvorstellbar, den Körper„in Ewigkeit mit uns zu schleppen“ (B 193). Diese im ganzen mühsam formulierte Zurückweisung der kirchlich üblichen „Auferstehung des Leibes“ ist also eine Art Vorsichtsmaßnahme angesichts der Zensurbestimmungen in Preußen bei dem sehr konservativ-frommen König Friedrich Wilhelm II. Kant vermag deswegen nicht klipp und klar seine Erkenntnis sagen: Eine leibliche Auferstehung ist für die Vernunft nicht denkbar. So bleibt es dabei: Diese fromme Vorstellung ist der Vernunft nur „sehr lästig“.

7.
Etwas deutlicher geht es dann weiter: „Die Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen ist der Vernunft günstiger.“ (B 192). „Spiritualismus“ ist der Gegenbegriff zu Materialismus und meint die Eigenständigkeit des Geistigen gegenüber dem Materiellen.
Konkret bedeutet diese Hypothese: „Der Körper bleibt tot in der Erde und doch kann dieselbe Person lebend dasein.“ Das heißt: „Der Mensch kann dem Geiste nach (in seiner nicht – sinnlichen, materiellen Qualität zum Sitz der Seligen, also in den `Himmel, gelangen.“ Bei dieser Idee der Auferstehung des Geistes wird der „Auferstandene“ nicht „in irgendeinen Ort im unendlichen Raume (und den wir auch Himmel nennen) versetzt.“
Damit sagt Kant: Es gibt nur eine – letztlich nicht klar beschreibbare Auferstehung des Geistes, der Seele, eine leiblichen Auferstehung würde ja bedeuten, dass die Körper irgendwie im unendlichen Raume, im Himmel, herumschwirren. Es ist der Geist der vernünftigen Weltwesen, der Menschen, der „zum Sitz der Seligen“ (also zu Gott) gelangt.

8.
Schon zu Beginn dieser längeren Fußnote schreibt Kant: Auferstehung und Himmelfahrt bedeuten als Vernunftideen „den Anfang eines anderen Lebens und den Eingang in den Sitz der Seligkeit, das ist in die Gemeinschaft mit allen Guten“. Kant meint damit den Eintritt des Geistes in die göttliche Wirklichkeit, den Himmel, in dem sich die Geister „der guten Menschen“ treffen, der Menschen, die für gut befunden wurden nach einem Urteil Gottes.

9.
Kant spricht über die Auferstehung auch in seinen großen zentralen Werken im Zusammenhang von “Unsterblichkeit“ und Gott..
Die Einbindung des Themas in Kants praktische Philosophie ist dabei zentral! Und dabei führt er in anspruchsvolle Überlegungen.

10.
Zumal in den Reflexionen Kants zum „höchsten Gut“ wird die Hoffnung auf die Glückseligkeit thematisiert: Diese kann der Mensch erhoffen, wenn er sein Leben gemäss der vernünftigen Sittlichkeit gestaltet hat.
Wer gemäß dem „Kategorischen Imperativ“ lebt, gestaltet sein Leben über den materiellen Eigennutz hinaus, er verzichtet auf viele Vorteile, nimmt aber durch den praktischen Respekt für das „moralische Gesetz in ihm“ (Kategorischer Imperativ) schon teil an der „besseren Welt der vollkommenen Gerechtigkeit“, also „dem höchsten Gut,“ betont Kant.

11.
Alle Menschen sollten so glücklich werden, wie sie es aufgrund ihres sittlichen Lebens verdienen. Diese zentrale Forderung verbindet Kant mit zwei „Postulaten“, wie er sagt, mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes.
Diese anspruchsvollen Überlegungen haben zur grundlegenden Voraussetzung: Wenn der Mensch in seiner Vernunft einem moralischen Sollen begegnet, dann hat diese Erkenntnis des Sollens nur Sinn, wenn der Mensch diesem Anruf des Sollens auch praktisch entsprechen kann. Und daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen.

12.
In aller Kürze: „Zwar können wir, wie Kant in seiner `Kritik der reinen Vernunft` gezeigt hat, nicht wissen, ob es einen Gott gibt und ob unsere Seele unsterblich ist. Aber wir müssen dies vernünftigerweise glauben, weil wir nur so verstehen können, wie wir unserer Pflicht nachkommen können, das höchste Gut (die vollkommene gerechte Welt) zu verwirklichen“, schreibt der Kant – Spezialist Marcus Willaschek in seiner Studie „Kant“ S. 140 (Fußnote 2). „Nun bin ich verpflichtet, das höchste Gut zu verwirklichen. Doch das ist nur möglich, wenn meine Seele unsterblich ist und Gott existiert. Denn: Nur eine unsterbliche Selle kann sich in einem unendlichen Prozess tatsächlich der vollkommenen Tugend annähern. Und nur Gott als „Allmacht und Allgüte“ kann dafür sorgen, dass der moralische Handelnde endgültig glücklich wird.“ Aus der Reflexion auf die menschlichen moralischen Pflichten ergibt sich also, dass wir „vernünftigerweise glauben“ können, dass es Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes gibt. „Zumindest dann, wenn es um die Voraussetzungen moralischer Pflichterfüllung geht und keine eindeutigen Indizien dagegen sprechen, ist es durchaus rational, etwa an Gott und die Unsterblichkeit auch ohne ausreichende Belege zu glauben.“ (Willaschek, S.141)

13.
Kant zeigt auf seine Art und unter seinen Voraussetzungen, dass es vernünftig ist, an die Auferstehung zu glauben. Und diese Erkenntnis kann nicht nur die philosophischen Debatten über ein ewiges Leben der Seele bereichern. Diese Erkenntnis kann auch eine persönliche Spiritualität inspirieren und wegen der vernünftigen Bescheidenheit von Kants Aussagen vor allzu großem frommen Enthusiasmus bewahren wie auch vor verzweifeltem Nihilismus angesichts des Todes.

14.

Für Sokrates ist der eigene Tod, das eigene vorzeitige Sterben, nicht das größte Übel. Darin kommt bei ihm zum Ausdruck “die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele, die bei Kant als Idee und Postulat der praktischen Vernunft wiederkehrt.” (Fußnote 3).  Zur Überzeugung von der Unsterblichkeit seiner Seele ist Sokrates durch die Reflexion auf den in ihm lebendigen LOGOS geführt worden.

Fußnote 1:
Wie üblich wird nach der 2. Auflage zitiert, vor den Seitenzahlen steht deswegen immer immer ein B.

Fußnote 2:
Marcus Willaschek, „Kant. Die Revolution des Denkens“. C.H.Beck Verlag, München, 2023.

Fußnote 3:

Heinrich Niehues – Pröbsting, “Die antike Philosophie”, Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, Zitat auf Seite 183. Auch S. 203.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin