Franzosen, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen…

Franzosen, die in den „heiligen Krieg“ ziehen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Wort vorweg:

Es gibt in Frankreich eine angesehene Zeitschrift, die sich unabhängig von konfessionellen Bindungen –das Blatt ist selbstverständlich an den großen Kiosken zu kaufen – der Welt der Religionen widmet: „Le Monde des Religions“ ist der Titel. Da klagen immer noch Leute in Deutschland, die von Frankreich wenig (bzw. gar keine) Ahnung haben, dass dort der totale Laizismus herrscht und religiöse Themen in der Öffentlichkeit nicht vorkommen. Das ist natürlich falsch, diese Meinung wird allein schon widerlegt, dass in Frankreich an jedem Sonntag seit Jahrzehnten von 8.30 bis 12 Uhr alle großen Religionen in eigener Verantwortung ! (also Buddhisten, Juden, Muslime, Orthodoxe, Protestanten und Katholiken) ihr eigenes religiöses Programm gestalten können, auf France 2. Und nebenbei nur ganz schnell: Es gibt in Frankreich immer noch eine lesbare, sogar zitierfähige, dogmatisch nicht allzu enge katholische Tageszeitung, La CROIX mit Namen, Auflage ca. 90.000. Zu solchen Leistungen ist die Milliarden-reiche deutsche katholische Kirche gar nicht in der Lage. Bekanntlich sind die Kirchen aufgrund der Trennung von Kirchen und Staat eher „arm“.

Zurück zu dem Heft „Le Monde des Religions“. Dort wurde am 22. 9. 2015 ein interessanter Beitrag auf der website des Blattes publiziert über die jungen Leute, die aus Frankreich in den angeblich „heiligen Krieg“ in Syrien etwa ziehen. Wir wollen den deutschen LeserInnen einige Erkenntnisse dieses Artikels nicht vorenthalten, weil ja leider (!) Französisch eine Sprache in Deutschland (und fast überall) ist, die nur noch Minderheiten sprechen.

Es gibt in Paris ein Zentrum, das sich mit der Prävention gegen das Abgleiten ins Sektiererische im Islam befasst. Es heißt CPDSI, siehe: http://www.cpdsi.fr/. : Dounia Bouzar leitet, vom Innenminister beauftragt (!), diese „Association“, also dieses auf für französische Verhältnisse üblicherweise vereins-mäßig organisierten Präventionszentrum.

Heute haben die jungen Leute, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen wollen, ein sehr unterschiedliches Profil, betont Dounia Bouzar. Sie stammen aus muslimischen, christlichen und atheistischen Familien, und „meme juifs“, also selbst aus jüdischen Familien, betont die Leiterin.

Die meisten sind zwischen 14 und 25 Jahre alt. „In diesem Alter haben junge Menschen das Gefühl, gesandt zu sein zur Rettung der Welt“.

Diejenigen, die diese jungen Leute anwerben, sind ganz ins französische Leben integriert. Sie gaukeln den jungen Leuten die wahren Werte der Brüderlichkeit und Solidarität vor.

Das Ziel der seelischen Bearbeitung durch die „Werber“ ist: Die jungen Leute sollen jegliche Vertrauen verlieren in die Welt, in der sie groß geworden sind. Das Motto heißt: „Alle sind hier verdorben, alle lügen. Nur eine Art blutiger Endkampf könne die reale Welt heute noch retten“.

Für diesen Kampf werden die jungen Leute vorbereitet: Sie müssen mit ihrer ganzen bisherigen „Welt“ brechen, mit ihren musikalischen Vorlieben etwa, vor allem aber mit der Familie. In dieser äußerst kritischen Situation hilft es nach Dounia Bouzar gar nichts, noch einen „verständnisvollen Imam“ zu bewegen, mit dem Jugendlichen zu sprechen, um den Jugendlichen von seinem Vorhaben abzubringen. Wichtiger ist die Mitarbeit der Familie, Dounia Bouzar nennt das – in Anlehnung an die Erinnerungs“arbeit“, wie sie Marcel Proust beschreibt, „la madelaine de Proust“. Bekanntlich war beim Erleben, Riechen, Genießen einer Madelaine die Erinnerung bei Proust wach geworden, wie denn die früheren, längst vergangenen Jahre waren. Diese Methode soll versuchen, den betroffenen Jugendlichen an die schönen Zeiten in der Familie und unter Freunden zu erinnern. Es sollen Gefühle geweckt, wie die gemeinsame Vergangenheit früher aussah, es waren doch angenehme gemeinsame Stunden. Erst dann kann ein tieferer religiöser Dialog beginnen.

Dounia Bouzar hat 2015 in dem Verlag “Editions de l Atelier“ (Paris) das Buch veröffentlicht: „Comment sortir de l emprise djihadiste ?“. 160 Seiten, 15 Euro.

Zu dem Beitrag in „le Monde des Religions“ siehe: http://www.cpdsi.fr/actu/dounia-bouzar-le-registre-de-la-raison-est-inefficace-pour-parler-a-un-jeune-embrigade-le-monde-des-religions-fr/

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus. Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus.

Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Ein Hinweis von Christian Modehn

Michel Onfray (Caen, Frankreich) ist einer der besonders umstrittenen und streitbaren und polemischen Philosophen Frankreichs, Autor vieler, zum Teil sehr voluminöser „Geschichten der Philosophie“, zudem ein militanter Gegner des religiösen Glaubens im allgemeinen. Dass er in seiner radikalen Religionskritik oft sehr „daneben liegt“, haben inzwischen philosophische Studien gerade in Frankreich gezeigt. Das hindert Onfray freilich nicht, weiter zu polemisieren und zu pauschalen Urteilen zu kommen. Auch in Deutschland sind seine Bücher verbreitet.

Interessant und sicher wichtig auch für die weitere Diskussion in Deutschland über Spiritualität ist, dass Michel Onfray seit einigen Monaten eine für uns bislang neue, unbekannte Dimension seines Denkens zeigt, eine weniger polemisch-polternde, sondern eben ruhige, sanfte, sensiblere Art: Onfray schreibt Poesie, vor allem Haikus. In diesen Dreizeilern aus alter Zen-Tradition wird die Frage nach Gott offen gehalten, ja, sie kommt gar nicht vor und kann auch im Raum der Zen-Tradition gar nicht vorkommen als solche. Onfray tritt entschieden für die Geltung der Haikus auch in der Jetzt-Zeit ein, wenn er selbst “seine Haikus” schreibt. Er verteidigt zudem das Projekt, dass eigentlich jeder und jede – mühsam und mit Geduld – Haikus schreiben kann. Für Onfray ist eine Voraussetzung dafür die Verbundenheit mit der Natur, die Nähe zu ihr, das Erleben der Natur. In der Stadt, so Onfray, könne er keine Haikus schreiben. Was jedoch problematisch ist, denn sehr viele an Haiku-Spiritualität Interessierte leben nun einmal in Städten. Wer Haikus nur in der Einsamkeit kleiner Dörfer schreiben kann, rückt sie in den Rahmen einer idealisierten ländlichen (alten) Welt.

Aber immerhin, der Vorschlag ist gemacht und verdient umfassende Diskussion: Können Haikus, die schon vielen vorliegenden Haikus der großen Meister aus Japan und Haikus eines Monsieur Onfray und vieler anderer Damen und Herren heute, können diese also eine Basis sein für ein spirituelles Gespräch zwischen Menschen aller Glaubens-Richtungen, also Atheisten, Skeptiker, Mystiker, christlicher Rationalisten usw. Wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon meinen ja, Haikus können eine gute spirituelle Basis sein. Wie auch andere Traditionen des Zen, etwa die Tee-Zeremonien, noch entdeckt werden sollten für eine außerreligiöse UND religiöse Spiritualität. Da gibt es noch viel zu tun für unseren privaten und völlig unabhängigen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin und die viel besser finanziell etablierten Akademien usw. Die Suche nach gemeinsamen Traditionen für Atheisten und Glaubende/Religiöse ist doch nicht ergebnislos und uferlos, die gemeinsame Gesprächs-Basis könnte es bereits geben, wenn man nur diesen Vorschlägen ausgerechnet von Onfray folgen möchte: Schreiben wir Haikus….

Zu den französischen Publikationen Haikus und Poesie von Michel Onfray:

Un Requiem athée (Galilée, 2013). Avant le Silence/Haïkus d’une année (Galilée, 2014). Les Petits Serpents (Galilée, 2015). L’Éclipse de l’éclipse (Galilée, à paraître en 2016).#

Haikus hat die von Martin Heidegger inspirierte Philosophin Ute Guzzoni in ihrem großartigen Buch „NICHTS“ (Verlag Karl Alber) dargestellt und philosophisch interpretiert. Eine anregende und anstrengende Lektüre!

 

Protestantische Verteidiger der Toleranz und des Humanismus –Werden sie im Reformationsjubliäum 2017 vergessen?

Protestantische Verteidiger der Toleranz und des Humanismus –Werden sie im Reformationsjubliäum 2017 vergessen?      Hinweise zur frühen Geschichte der Remonstranten und zur Gegenwart einer nicht dogmatischen protestantischen Kirche.

Von Christian Modehn

Wenn Historiker und Theologen heute wie früher über „Toleranzdiskurse in der frühen Neuzeit“ (so ein neues Buch hg. von Friedrich Vollhardt, erschienen 2015) sprechen und über Duldung und besser noch Akzeptanz religiöser Pluralität, „dann ist es auffällig, dass Weiterlesen ⇘

Macht Arbeit Sinn? Zum neuen “Philosophie Magazin”

Macht Arbeit Sinn? Ein Themenschwerpunkt im „Philosophie Magazin“, Ausgabe Oktober 2015

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das „Philosophie Magazin“ erscheint leider nur alle 2 Monate. Die Leidenschaft fürs Philosophieren muss wohl noch erheblich in Deutschland zunehmen, damit wir auch hier – wie in Frankreich – monatlich auch durch Zeitschriften ins Fragen, ins philosophische Fragen, kommen… Das wird wohl erst möglich werden, wenn der Philosophie Unterricht an den Schulen viel weitere Verbreitung und größeren Respekt findet. Und die „philosophischen Cafés“ mehr Verbreitung finden und mehr Ansehen genießen und etwa als eigenständige kulturelle Basisinitiative gefördert werden und öffentliches Interesse finden. Es gibt in Deutschland etliche Literaturhäuser, aber kein einziges „Haus der Philosophie“…

Immerhin: Jedes Heft des Philosophie Magazins bietet auf 100 Seiten eine vielfältige Fülle von Anregungen, ins eigene Denken zu gelangen. Und dies natürlich nicht als eher belangloses „Hobby“. Das eigene kritische und selbstkritische Nachdenken bietet Orientierung und die Fragen, die zu Antworten führen rufen wiederum weitere Fragen wach und so weiter.

Der thematische Schwerpunkt heißt diesmal „Macht meine Arbeit noch Sinn?“ Die Frage ist dringend, und darauf weist Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur, einleitend hin: Im Anschluss an Einsichten Dostojewskis aus dem sibirischen Arbeitslager betont er, dass „das Bewusstsein dauerhafter Sinnlosigkeit“ auch und gerade in der eigenen Arbeit erlebt, nicht ertragen werden kann. Und er weist auf die Tätigkeit der heutigen Finanzmanager hin, die nichts tun als Geld hin und her zu schieben per Computer-Knopfdruck „ohne etwas zu produzieren oder irgendjemandem benennbar zu nutzen“. Und Wolfram Eilenberger deutet politische Implikationen an: „Vielmehr geht die Sage, hinter diesem Geld-Geschiebe versteckten sich in Wahrheit tausend kleine Verbrechen“. Diese Erkenntnis möchte der Leser gern vertiefen. Sie ist auch philosophisch, weil ethisch, und würde zur vollständigeren Antwort die Zusammenarbeit mit Politologen und Verbrechensforschern implizieren. Diese neuen Bündnisse von Philosophie mit anderen Wissenschaften wären nicht nur reizvoll, sie könnten die Philosophie aus der naturgemäß eher abstrakten Argumentation herausführen; Philosophie würde so wieder mehr „ihre Zeit in Gedanken fassen“ (Hegel), also durchaus mehr mit empirischem Material „arbeiten“.

Die weiteren Hinweise von Wolfram Eilenberger sind wichtig: Nach diesem eher sehr wenig Sinn stiftenden Job, etwa an der Börse, „reißen sich“ sehr viele Bewerber. Sie suchen persönlich mit Luxus-Gehältern überhäuft zu werden. Und das ist für sie wichtiger als eine sinnvolle Arbeit. Denn Geld ist der (neue/alte) Gott, dem man sogar die eigene Sinnerfahrung und das eigene sinnvolle Leben opfert. Dieser Gedanke wird leider in dem Beitrag nicht weiter ausgeführt. Er könnte in die Richtung weisen „Für Geld tue ich alles“..

Viele dringende Fragen wirft auch der Beitrag „Macht meine Arbeit auch Sinn?“ auf, verfasst von Nils Markwardt. Auch er betont: „Der Sinnlosigkeitsverdacht der Arbeit beschäftigt uns (heute) wie nie zuvor“. In der Dienstleistung- und Informationsbranche oder im EDV Bereich werden keine vorzeigbaren, greifbaren „Werke“ hergestellt, die – idealerweise – als das eigene Werk angeschaut, eine gewisse Zufriedenheit des Handwerkers bewirkten: „Mein Werk, geschaffen für die anderen“, ist ja das bekannte Motto von Philosophen zugunsten nicht-entfremdeter Arbeit.

Heute hingegen erleben wir die Arbeit als „Fluxus“, als fließend und ungreifbar. „Die Verflüssigung des Werkes macht die Suche nach einem buchstäblich fassbaren Sinn zusehends schwieriger“.

Ob die sinnlose Arbeit dadurch wieder an Sinn gewinnt, „weil es schwer fällt, an den Tod zu denken, wenn es Arbeit zu tun gibt“, wie Alain de Botton in dem Beitrag zitiert wird, ist philosophisch doch sehr zu bezweifeln. Vorausgesetzt, man hält die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod philosophisch für sinnvoll. Das tun ja viele nachdenkliche, nicht nur „fromme“ Leute.

Merkwürdig, zum Fragen aufregend bzw. anregend und inspirierend ist der Schlussteil des Beitrags von Nils Markwardt. Darin behauptet er, dass es doch sinnvoll sei, wenn sich in „Sachen Arbeit“ „die Frage nach dem Sinn gar nicht erst einstellt“ (S. 47). Wir sollen uns in Selbstvergessenheit in der Arbeit öffnen, ein „ozeanisches Gefühl“ würde sich dann einstellen und „ein zeitloser Funkenflug der Selbsterfülllung“ und ein „göttlicher Zustand“ . O Gott, möchte man rufen, sag diese Weisheit bitte einmal nicht nur den gestressten Frauen an der Aldi-Kasse, den afrikanischen Plantagenarbeitern in Spanien, vor allem den ausgebeuteten Landarbeitern in Brasilien (Tageslohn nach 12 Stunden Arbeit: 5 Euro) oder den ausgepowerten, miserabel bezahlten, gesundheitlich stark gefährdeten Fabrikarbeitern etwa in Bangladesh. Nur wenn philosophisches Denken sich der Not der Menschen öffnet, und die allermeisten leben und arbeiten im kapitalistischen Weltsystem höchst erbärmlich, kann es den Anspruch haben, Weisheit zu sein, also humane Orientierung zu bieten. „Der zeitlose Funkenflug der Selbsterfüllung“ und dann sogar „der göttliche Zustand, den jeder von uns bei prosaischer Tätigkeit finden kann“, diese eher poetisch-mystischen Worte sind – mit Verlaub – nichts als Opium, eingepackt in schöne Worte.

In dem Heft werden Menschen vorgestellt, die so privilegiert sind, dass sie sich aus einem langweiligen, nervtötenden und sinnlos erscheinenden Job befreien konnten und neue erfreuliche Arbeit für sich entdeckten. Eine Assistenzärztin in einem deutschen Universitätsklinikum findet bei den „Ärzten ohne Grenzen“ eine insgesamt sinnvollere, auch mehr auf Eigenverantwortung setzende Tätigkeit unter elenden Menschen des Süd-Sudans. Ein Lehrer findet seine sinnvolle Erfüllung als Koch usw. Etliche Beispiele gelungenen Berufswechsels „um des Lebenssinns willen“ werden vorgestellt. Der Leser fragen sich: Habe ich selbst noch die Chance, neu und anders zu arbeiten? Diese Frage kann er weiter reflektieren wenn er sich auf die spannenden kontroversen Vorschläge bedeutender Philosophen einlässt. Michel Eltchaninoff stellt unter anderen die Überzeugungen Hegels und Simmels gegenüber zu der Frage: Arbeiten wir, um Geld zu verdienen? Weitere Beiträge gelten der Auseinandersetzung

Arbeiten wir, ja oder Nein, um die Welt zu verändern?

Erfreulich ist es in unserer Sicht, dass sich das „Philosophie Magazin“ auch religionswissenschaftlichen Themen zuwendet, diesmal wird eine Reportage geboten „Wer ist der nächste Dalai Lama?“.

Ein ausführliches Interview mit Michel Houellebecq über dessen neuestes Buch „Unterwerfung“ wird der klassischen (uralten, gegründet 1829) französischen Kulturzeitschrift „Revue des deux Mondes“ vom Juli 2015 entnommen. Dabei erscheint, mit Verlaub gesagt, der weltberühmte pessimistisch-nihilistisch-verzweifelt- suchende Autor wie ein ewig Klagender und Jammerer. „Gott will mich nicht. Er hat mich zurückgewiesen“ ist seine Aussage, und sein Bekenntnis gipfelt „in der Angst, der puren Angst“, dass „wir“ (also das angeblich christliche Europa) von einer anderen Kultur (gemeint ist eindeutig „der“ Islam) beherrscht werden könnten (Seite 31 unten). Da stellt der Journalist anschließend schon gar keine Frage mehr, er hat seine eigene These: „Aber es gibt keine Lösung für diese Angst“. Houellebecqs geradezu nahe liegende Antwort auf diese These: „Nein, das ist pure Angst“.

Ich finde es hoch bedauerlich, dass dieses doch schon relativ alte Interviews (es wurde für die Pariser Zeitschrift Revue des deux mondes sicher schon im Mai, Juni 2015 geführt) einfach kommentarlos stehen bleibt. Soll der große Meister Michel H. auch uns Angst machen, oder? Dieses Interview aus alten Zeiten jetzt zu platzieren, ist ohnehin sehr schade, hat doch die Tageszeitung „Le Monde“ im August noch mehrere sehr differenzierte Beiträge zu Michel Houellebecqs Denken (und pessimistischen, angstvollen) Raunen publiziert. Erstaunlich ist dabei vor allem der Beitrag vom 22. August 2015, in dem die Autorin Ariane Chemin der Beziehung Houellebecqs zum Katholizismus detailliert nachgeht. Sie berichtet von seinem Besuch im Benediktinerkloster von Ligugé bei Poitiers im Dezember 2013. Im Roman „Unterwerfung“ wird auch darüber ausführlich – mit Änderung der Namen der Mönche dort – geschrieben. Mit 13 Jahren, so betont „Le Monde“, erhält Houellebecq zum ersten mal eine Bibel, später nimmt er an katholischen Gruppen „Groupe de parole chétien“ teil, geht auf Wallfahrt nach Chartres. In Paris geht er viele Jahre zur Messe, nimmt in einer Gemeinde im Montparnasse-Viertel an der Vorbereitung zur Taufe teil. In seinem Buch „Ennemies publics“ lobt Houellebecq in höchsten Tönen das Ritual der katholischen Messe… Interessant ist zudem, wenn „Le Monde“ berichtet, wie der eher konservative Bischof von Poitiers, Msgr. Wintzer, sich, so wörtlich, „als absoluter Houellebecq Fan“ outet, mit dem er per email korrespondiert, beide haben sich sogar schon getroffen. Ganz anderer Meinung ist Erzbischof Dagens im benachbarten Angouleme, er ist Mitglied des Academie Francaise und hält Houellebecq, so wörtlich, für einen Unglückspropheten, vor dem man warnen muss. Auch wenn Houellebecq meint „Gott will mich nicht“, so hat er doch gegenüber Bruder Joel von Ligugé bekannt, nicht mehr Atheist, sondern Agnostiker zu sein (Le Monde, 22. August, Seite 21). „Ich bin sicher, Michel H. ist en route, ist unterwegs“, hofft Frère Joel. „Das Kloster ist bereit, von neuem seine Arme zu öffnen für seinen berühmten Gast“, heißt es in “Le Monde”.

Nach diesem kurzen Exkurs wieder zurück zum Heft:

Mit besonderer Aufmerksamkeit sollte man den Beitrag des in Berlin lehrenden Philosophen Byung-chul Han lesen über „Das falsche Versprechen der Arbeit“ (S. 62 ff.), ein ungeheuer dicht geschriebenes Essay, ursprünglich ein Vortrag zur Ruhrtriennale am 15.8.2015. Eine zentrale These: “Die Welt ist heute ohne jedes Göttliche und Festliche. Sie ist ein einziges Warenhaus geworden…Ich bin mit der Warenwelt nicht einverstanden… Wir haben auch jede Fähigkeit zu Staunen verloren…“ Man fühlt sich in die Zivilisationskritik Martin Heideggers zurückversetzt. Immerhin hat Byung-Chul Han im Unterschied zu dem bloß klagenden Heidegger einen knappen Vorschlag, wie es besser werden könnte: „Wir sollten aus diesem Warenhaus endlich ausbrechen, wir sollten aus dem Warenhaus wieder ein Haus, ja ein Festhaus machen, in dem es wirklich zu leben lohnt“ (Seite 65). Aber: WIE wir denn nun Schritt für Schritt das Warenhaus persönlich und mit anderen in ein Festhaus verwandeln können, wird nicht angedeutet. In dieser Undeutlichkeit meldet sich offenbar Meister Heidegger zurück, der bei solchen Problemen nur eins wusste und ewig wiederholte und seine Getreuen allein ließ mit seinem Raunen: „Hören wir auf die Weisungen des Seins (Seyns), werden wir zu Hirten des Seins” etc.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Philosophie Magzin kann per email bestellt werden: philomag@pressup.de

Oder telefonisch 040 41 448 463.

 

 

Philosophieren heißt Selber-Denken. Eine Alternative zur “Universitäts-Philosophie”

Philosophieren als Selber-Denken – Eine Alternative zur Universitäts-Philosophie

Ein Hinweis von Christian Modehn

Im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ versuchen wir seit seiner Gründung (2006) das Selber-Denken als Form des Philosophierens zu üben, zu besprechen, zu leben, in einer freundlichen Atmosphäre der Vielfalt. Für viele, selbst gebildete ZeitgenossInnen, hat „die“ Philosophie einen eher schlechten Ruf. Viele halten sie für genauso „unerreichbar“ wie die „höhere Mathematik“. Philosophie wird leider als doktrinäres und abstraktes Lehren an Universitäten erfahren („fast ausschließlich durch bezahlte Beamte und Angestellte betrieben“, so der Züricher Philosoph Michael Hampe selbstkritisch (1)). Dabei ist am Ursprung der Philosophie, denken wir nur an Sokrates, das eigene Reflektieren und Fragen absolut entscheidend, weil es den Geist belebt gegenüber aller Fixierung, etwa in Systemen und Doktrinen. Diese finden in schwer mitvollziehbaren philosophischen Büchern ihren Niederschlag. Abstrakte Philosophie ist nach wie vor unverzichtbar, sie gehört zur Kultur Europas, aber sie „entspringt“ förmlich dem eigenen Philosophieren, das jeder Mensch unthematisch immer schon lebt. Da ist die Quelle der Philosophie. Dies muss akademisches Philosophieren immer respektieren, denke ich. Denn jede Lebensentscheidung ist als Entscheidung immer Ausdruck reflektierter Freiheit, ist also Philosophieren. Die umfangreichen Bücher der Fachphilosophen sind meist nur für die Kollegen an den Universitäten bestimmt, nicht aber für Menschen, die lebendiges Fragen und Zweifeln als Orientierung in ihrem Dasein suchen. Ein Quantenphysiker kann ausschließlich für Quantenphysiker schreiben. Anders aber ein Philosoph, er sollte als Liebhaber der Weisheit (das bedeutet Philosophie) niemals verzichten, andere Menschen zur deutlicheren Liebe der Weisheit zu führen, aber eben liebend, also wohl auch behutsam nachvollziehbar. Auf der Rückseite des Umschlages des Buches von Hampe steht: “Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik”. Philosophieren hat mit mir zu tun, es geht um mich, aber auch um mich als (allgemeinen) Menschen…

Um so erfreulicher sind die Ausführungen des Züricher Universitäts-Philosophen Michael Hampe. In seinem Buch „Die Lehren der Philosophie“ legt er ausführlich dar, dass es auch eine andere, eine nicht-doktrinäre Form der Philosophie gibt und geben muss. Schon in den einleitenden Kapiteln 1 und 2 wird das deutlich. Wir empfehlen dringend die Lektüre!

Hampe zeigt zwei Gestalten der Philosophie in Europa: Das doktrinäre, universitäre, sich in Lehrbüchern niederschlagende wissenschaftliche philosophische Forschen. Auf der anderen Seite das auch in Europa lebendige „post-doktrinäre“ Philosophieren. Darin treffen sich Kritiker der herrschenden Moral, der politischen Ideologien, des religiösen Aberglaubens usw., betont Hampe. Zu denken wäre an Sokrates, an die Aufklärungs-Philosophien in den Salons von Paris, an Montaigne, Lichtenberg, Nietzsche, Wittgenstein und andere. Damit ist ja nicht geleugnet, dass etwa ein sehr systematischer, schwieriger Universitätsphilosoph wie Kant nicht auch „populäre“, halbwegs allgemein zugängliche Texte des Philosophierens publiziert hätte, etwa in seinen Beiträgen für die damaligen Berliner Kulturzeitschriften.

Das entschiedene Plädoyer Hampes für die postdoktrinären, oder sagen wir, vielleicht treffender, für die „nicht mehr doktrinäre Philosophien“ sollte auf breiter Ebene diskutiert werden. Es weitet das philosophische Selbstverständnis, es macht Mut, das Philosophieren – auch im Alltag unter „Nicht-Fachphilosophen“ (gibt es die??) – zu üben. Das nichtdoktrinäre Philosophieren ist ja keineswegs ein Plädoyer für die Beliebigkeit, etwa für die logische Willkür usw. Nicht doktrinäres Philosophieren ist nur nicht am Systemaufbau interessiert, nicht an der kryptischen Sprache, sondern am Verstehen und dann an der selbstverständlichen Kritik des alltäglichen Lebens: „Die nichtdoktrinäre Philosophie versucht zu verhindern, dass Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden“, so Michael Hampe, S. 49.

Hampe plädiert für das „Persönliche“ im philosophischen Denken, er fordert, dass die „die Philosophie auch in den akademischen Institutionen mit einem existentiellen Engagement zu betreiben ist“ (S.53). Und dieses Philosophieren muss selbstverständlich geübt werden, wie Hampe betont, (Seite 53 f.). Für dieses philosophierende „Üben“ als selbstkritisches Reflektieren, als Prüfung der Sprüche und angeblichen Weisheiten und Dogmen, die verbreitet werden, braucht man natürlich Räume, Orte. Und da ist Philosophie im öffentlichen Leben insgsamt absolut benachteiligt. Und niemand regt sich darüber auf! Es gibt Literaturhäuser, aber keine „Häuser der Philosophie“, in Paris gibt es ein entprechendes Haus in der Rue Descartes. Leider weist Hampe meines Wissens nicht auf die oft bescheidenden philosophischen Versuche der „Philosophischen Café“ oder der “Philosophischen Salons” hin: Dies sind ja solche bescheidenen, provisorischen Orte des Übens, wo Menschen sich auch selbst neu entdecken können und Fraglichkeit als Lebensform schätzen lernen. Ein philosophisches Leben führen, auch diese Maxime nennt Hampe (S. 64) hat viele Gestalten, sicher ist nur: Der Philosophierende wird starke Vorbehalte haben gegenüber vorgegebenen Lehren der Weisheit, der religiösen Institutionen. Nicht nur, weil er sich selbst und sein freies Leben darin NICHT wieder findet, sondern eher entmündigt fühlt.. Vor allem: Diese Lehren und Dogmen und Doktrinen werden eingesetzt von (demokratisch oft gar nicht legitimierten) Herrschern und Beherrschern. Darum kann es für Hampe auch niemals philosophische Gurus geben. Er weist auch „religiöse Lebenslehren“ (S. 65) aus diesem Grund, der Fremdbestimmung, zurück. Über dieses pauschale Urteil wäre aber zu diskutieren: Denn es könnte ja auch religiöse Lebenslehren geben, die aus dem selbstkritischen, reflektierten Lebenszusammenhang selbst entspringen, aus der Erfahrung des Absoluten “in” mir, so dass diese Religion nur das eigene Leben in seiner Tiefe aussagt und diese Aussage kritisch mit anderen (in einer religiösen Gemeinde) teilet, diese Menschen haben dann natürlich auch wieder ihre Erfarungen des Absoluten…Die neue liberale Theologie (als eine Theologie von unten, also vom Selbstbewusstsein her sich entwickelnd) würde diese nicht entfremdete Gestalt des Religiösen sein, in dem das im Menschen selbst entdeckte Göttliche zum Ausdruck kommen kann.

Michael Hampe bietet ein überaus inspirierendes Stück „Philosophie der Philosophie“. Und er macht damit deutlich, dass über Philosophie qualifiziert nur philosophisch gesprochen werden kann.

Copyright: Christian Modehn

(1) Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp 2014, Seite 55).

Ungläubiges Staunen? Eher ein irritiertes Fragen. Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 25.9.2015

Ungläubiges Staunen? Eher ein irritiertes Weiter-Fragen.

Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 25.9.2015

Hinweise von Christian Modehn. Ergänzt am 1. Oktober 2015: Zu der Beziehung Navid Kermanis zu Erzbischof Georg Gänswein, Rom, siehe weiter unten ausführlicher im Text. Nur so viel: Gänswein hat sich jetzt deutlich als Unterstützer des sehr konservativen, um nicht zu sagen fundamentalistischen römischen Kurienkardinals Robert Sarah (Autor:”Gott oder Nichts”) und erklärten Papst-Franziskus-Gegners geoutet. Kermani schreibt in seinem Buch “Ungläubiges Staunen” (S. 292), wie viele “Einsichten” und Hilfen er selbst Erzbischof Gänswein (einer seiner im Buch sonst namentlich nicht genannten Freunde) zu verdanken hat. Manche Kermani-LeserInnen fragen: Wie passt diese Gänswein-Connection zu einem doch sonst eher aufgeschlossenen Kermani? Wird Kermani dazu einmal Stellung nehmen?

Navid Kermani ist zweifelsfrei einer der sehr bedeutenden deutschen Intellektuellen: Reporter und Roman-Autor, als Orientalist hervorragender Wissenschaftler, zudem bester Kenner der deutschen Literatur, ein Muslim mit Vorliebe für die SUFI-Traditionen, leidenschaftlicher Kritiker der Verirrungen heutiger gewalttätiger Islam-Traditonen (die er z.T. faschistisch nennt), Vermittler einer Haltung, die man “kosmopolitisch” nennen könnte… und seit seinem neuesten Buch auch, wie er selbst sagt, „verliebt ins Christentum“. Kermani ist als Preisträger des „Friedenspreises des deutschen Buchhandels“ 2015 explizit ein „religiös gerade nicht unmusikalischer“ Mensch, sondern durchaus fromm und für eine lebendige spirituelle Beziehung mit Gott einladend, wenn nicht werbend: Dies im Unterschied zu dem Bekenntnis des Friedens-Preis Empfängers Jürgen Habermas (2001), der sich als religiös unmusikalisch outete.

Diese Liebe zum Christentum vor allem konservativ-katholischer Prägung (nicht ohne deutliche Kritik am Protestantismus) hat bei Kermani wohl zwei Gründe, die in seinem Buch “Ungläubiges Staunen” (C.H.Beck Verlag 2015) deutlich werden: Die Begegnung mit der (in katholischem Milieu entstandenen) Malerei des 16. Jahrhunderts vor allem in Rom, anläßlich seines Aufenthalts in der Villa Massimo gefördert. In den Kirchen Roms betrachtete Kermani vor allem den von der Orthodoxie zum „Ketzer“ titulierten Meister Caravaggio. Die Liebe zum Christentum hat zweitens  ihren Grund in der  persönlichen Freundschaft mit dem italienischen Jesuiten Pater Paolo dall Oglio. Er ist in seinem Wüsten-Kloster in Syrien so intensiv mit der dortigen, muslimischen Bevölkerung befreundet, dass er inzwischen von sich bekennt: Ich bin eigentlich ein muslimischer Katholik. Der Dienst am Frieden in Syrien ging für Pater dall Oglio so weit, dass er sich dem IS als Vermittler anbot; seit etlichen Monaten ist er spurlos verschwunden. Wir hoffen so sehr, dass er noch lebt!

Navid Kermnai schreibt: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere oder an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugt, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte… dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst. Es ist die spezifisch christliche Liebe… Die Liebe, die ich bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben. Diese Liebe geht bei Mönchen und Nonnen über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied“.

Nebenbei: Die aus christlichem Glauben mögliche Liebe ist also für Kermani viel mehr, als was menschliche Menschen „auch ohne Gott“ leben können. Darin steckt eine gewisse Kritik an einer säkularen Ethik des Humanismus. Ob diese Kritik so dringend und vor allem stimmig ist, bleibt fraglich: Atheistische „Heilige“ hat man bisher sicher noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie aber. Man suche bitte im Umfeld der Menschenrechts-Arbeit. Für den Urvater der säkularen „Ethik aus Vernunft allein“, also für den immer aktuellen und in dem Fall wieder Recht habenden Immanuel Kant, war klar: Wer dem Kategorischen Imperativ folgt, wird letztlich auch in ein Denken des Erstaunlichen, des Transzendenten usw., wohl auch erlebnismäßig, geführt. Warum rechnen eigentlich religiöse Menschen nicht mit “Denk-Erlebnissen” durchaus auch erschütternder Art? Warum glauben Sie meist, Vernunft sei etwas “Kaltes” usw. Ist das alles noch eine (vielleicht sogar falsch verstandene) Wirkungsgeschichte noch von Adorno/Habermas? Also: Es gibt die Vermutung im Sinne Kants: Säkulare Ethik ist immer schon mehr als nur „säkular“. Aber das ist ein anderes Thema. Man sollte sich nur wehren, wenn im Sinne Kermanis religiöse Heilige, denn so bezeichnet Kermani den sehr verehrungswürdigen Pater dall Ogilo, profiliert werden gegen Menschen der säkularen Ethik und diese irgendwie kleiner gemacht werden. Religiöse Menschen haben es nicht nötig, sich auf Kosten anderer für etwas Besonderes zu halten!

Das Christentum, wenn es denn gelegentlich umfassend glaubwürdig und wahrhaftig gelebt wird, ist für Kermani die Religion der praktizierten, umfassenden Liebe. Davor hat Kermani höchsten Respekt. Aber er selbst denkt nicht daran, nun zum Christentum bzw. zum Katholizismus zu konvertieren. Kermani ist ohnehin ein Gegner der starren Identität: „Nur“ christlich oder „nur“ muslimisch oder „nur“ humanistisch ist ihm – wie vielen anderen, auch den Initiatoren des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin – immer schon viel zu eng, viel zu dogmatisch, viel zu langweilig, wenn man es einmal etwas salopp will.

Kermanis Buch „Ungläubiges Staunen“ beschreibt nicht das Staunen eines Ungläubigen! Sondern: Da staunt jemand über ihm eher zufällig entgegen tretende Gemälde vor allem in Rom, aber auch in Madrid, Köln und anderswo. Er staunt, hält inne, reibt sich die Augen, ist verwirrt, lässt sich viel Zeit beim betrachten. Und ist eben erstaunt, wie er, aus einer bildfeindlichen islamischen Tradition stammend, von katholisch geprägten Bilderwelten anschaulichster, gegenständlichster Art, bewegt und fast verführt wird. Wie Gott und seine Heiligen so drastisch leibhaftig dargestellt werden, sinnlich, greifbar, alltäglich. Daran haben sich christlich geprägte Menschen vielleicht längst gewöhnt bei der Bilderflut, die ihnen in Barock-Kirchen begegnen. Kermani lehrt auch diese Leute, darüber doch wieder zu staunen. Nämlich: Gott ist Mensch! Gott ist Fleisch. Das ist Kern der Lehre des Christentums. Zu Weihnachten wird dieser “Kern” des Christenlichen irgendwie noch gefeiert, wenn er nicht im Konsum-Rausch zerstört wird. Das ist wohl die Herausforderung allen Denkens, über die auch Hegel nicht nur ins Staunen kam: Gott ist Mensch. Und das heißt aber: In allen Menschen ist Gott anwesend.

Diese Anwesenheit des christlichen Gottes mitten im Alltag (etwa das Gemälde „Berufung des Heiligen Matthäus“, von Caravaggio aus dem Jahr 1600) erstaunt Kermani, weil das Heilige nicht in einer getrennten, transzendenten Sphäre sich abspielt, sondern sozusagen am Stammtisch, an dem Matthäus sitzt.

Kermani schreibt seine sehr persönlichen Bild-Deutungen ohne jeden sichtbaren Bezug zu Forschungen der Kunstgeschichte. Man könnte diese Art des Schreibens über Kunstwerke private Meditationen nennen. Die selbstverständlich jeder immer schon macht, wenn er eine Gemäldegalerie betritt. Nur: Sehr wenige haben den Mut bzw. die Begabung (und die Publikationschance !), ihre persönlichen Eindrücke auszuarbeiten.

Kermani will die LeserInnen einladen, sich mit seiner sehr persönlichen und deswegen immer auch eigenwilligen Bild-Interpretation auseinanderzusetzen. Die eine und einzige dogmatisch korrekte Bild-Interpretation gibt es ja ohnehin absolut nicht; wenn Künstler etwa ihre eigenen Werke, die immer „größer sind als sie selbst“, interpretieren: Dann ist diese Deutung für sie selbst alles andere als maßgeblich. Ein Kunstwerk wird in die Welt „gesetzt“ und gibt sich radikal frei für verschiedene Interpretationen im Laufe der Geschichte. Dadurch macht es sich auch verletzlich.

Wo da die Grenzen des Subjektiven sind, darüber wurde in unserem Salon gestritten. Gibt es nicht doch auch Bilddeutungen, die bei allem Respekt vor der Vielfalt, dann doch irgendwie „daneben liegen“, wenn nicht gar falsch sind? Wo wären diese etwas überzogen, allzu privaten Deutungen bei Kermani?

Diese Frage lässt sich nur im sehr ausführlichen Lesen der Kermani-Texte beantworten.

Einen sehr treffenden Hinweis bietet der protestantische Theologe und Philosoph Johann Hinrich Claussen in der SZ vom 25.8.2015, Seite 12, wo er das Buch Kermanis in die Kategorie der “Erbauungsliteratur” einfügen möchte. Sie soll – früher weit verbreitet – “das Gemüt erheben, fromme Gedanken wecken und zum Guten aufmuntern“. Solche Ziele verfolgt durchaus das Buch Kermanis. Er weist etwa in der Pietà-Interpretation treffend darauf hin, dass von dieser Skulptur auch atheistische Mütter, den unschuldig abgeschlachteten, sterbenden Sohn auf dem Schoß, bewegt werden können bzw. sollten.

Manche TeilnehmerInnen in unserem Salon am 25.9.2015 empfanden das freie Interpretieren Kermanis ohne Rücksicht auf die detaillierte (Kunst-) Geschichte hoch problematisch, wenn nicht gefährlich und falsch. Andere fühlten sich bei dieser subjektiven Deutung sehr wohl, möchten es förmlich selbst nachvollziehen.

Dass Kermanis Buch über das Christentum so viel z.T. enthusiastische Aufmerksamkeit findet, ist sicher der Einsicht geschuldet: „Da spricht –endlich einmal – ein Muslim auf diese Weise”. Man sagt sich vielleicht: Also, toll, dass von der muslimischen Seite einmal so viel Wohlwollendes über einen Ausschnitt der christlichen Kultur, der Bilder zumal, gesagt wird.

Eine Frage, die auch eine empirische Untersuchung verdiente: Wie reagieren muslimische Kreise, etwa in den Moscheen, auf dieses Buch? Wird darüber gepredigt? Gibt es Stellungnahmen? Wird das Buch als Inspiration und Hilfe im muslimischen Religionsunterricht eingesetzt? Gibt es Übersetzungen ins Arabische, ins Persische? Im Libanon könnten sie eventuell publiziert werden? Kermanis eigene Website meldet sehr zahlreiche Auftritte, Lesungen, Diskussione im ganzen deutschen Sprachraum: Für September 2015 werden 15 Veranstaltungen mit Kermani zum neuen Buch gemeldet, für Oktober sind es 9 Veranstatungen, für November 12, für Dezember 10 Veranstaltungen, falls wir uns nicht ganz verzählt haben.

Das heißt: “Alle Welt” reißt sich offenbar förmlich um Kermanis neues Buch. Viele sehnen sich förmlich nach seiner Liebe zum barocken Christentum, sie dürsten danach, möchte man sagen, verlangen nach Kermanis sehr subjektiven, persönlichen Kunstdeutungen, wollen endlich eine sinnliche, möglichst vernunft-befreite (katholische) Christlichkeit erleben: “Bitte bloß nicht ein zu weltliches Christentum”! Bitte nichts Protestantisches!! Sein Buch ist ein sperriger Beitrag zum Reformationsjubiläum 2017? Wird er Ehrengast in Wittenberg sein?

Wahrscheinlich erhält Kermani im nächsten Jahr einen internationalen katholischen Buchpreis, vielleicht auch zwei Buchpreise. Eine Audienz beim Papst steht sicher bevor, selbstverständlich von Mosebach-Gänswein eingefädelt. Katholische Verlage in Frankreich,  Italien, Spanien, den USA bereiten Übersetzungen vor? Man könnte träumen: Die Katholiken haben fast einen neuen “Kirchenvater”. Kermani, immer noch Muslim, stört zwar ein bißchen mit seiner Ablehnung der Trinität, der Inkarnation Gottes “nur”  in Jesus usw… Aber immerhin: Der barocke Katholizismus könnte eine gewisse bescheidene Wiedergeburt erleben. Ob die Pius-Brüder sich freuen?

Eigentlich wäre es ja theologisch gesehen wunderbar, wenn ein Muslim Kirchenvater werden könnte! Aber muss man dazu, um dies zu werden, ein Loblied singen auf barocke Kunstwerke?

Das Buch als Erbauungsbuch findet viele Leser, gerade ist die 2. Auflage erschienen. Die begeisterten Stimmen sind in der Mehrheit. Noch einmal: Es ist eben die spontane Freude leitend, dass es solch einen Text eines muslimischen Intellektuellen überhaupt gibt. Vielleicht tröstet das viele LeserInnen angesichts des Grauens, das im Namen dieser Religion begangen wird. Aber über die Grenzen des Buches sollte man auch offen reden, durchaus auch über die sprachliche Gestalt, die so unsäglich viele ultralange, kaum überschaubare Satzperioden enthält, offenbar bestimmt für lautes Vorlesen mit dem „musikalischen Effekt“ wie bei einer – schönen – Koran-Lesung/einem Gesang.

Dringend geboten wäre jetzt im Anschluss an das Buch: Die Diskussion über das Aufbrechen der eigenen, der engen Identitäten, der Nationen, der Konfessionen, der Religionen, aller Ideologien, die Mauern um sich errichten. Natürlich soll jeder seine ihm eigene einmalige Identität haben, aber dies ist immer eine offene, eine lernbereite Identität.

Dann sollte wahrgenommen werden: Mit dem Werk Kermanis, nicht nur mit dem „Ungläubiges Staunen“, kommt die Religions-Debatte nicht als politische Debatte, sondern als philosophische, theologische Debatte wieder ganz neu nach vorn in Deutschland. Ob dabei die Abwehr Kermanis für eine rational geprägte Frömmigkeit hilfreich sein kann oder sein Pädoyer für den „göttlichen Schauer“, um es so zu formulieren, ist sehr die Frage. Emotional geprägte Religiosität, blind geworden für Zeichen der Vernunft, ist gefährlich. Darum wäre Kermanis Abwehr eines modernen, liberalen christlichen bzw. protestantischen Glaubens ein eigenes Thema. Kermani kann nicht sehen, wie gerade eine moderne, „liberale“ Religion orientierend sein kann. Immerhin gültig ist, wenn Kermani schreibt: „Es gibt etwas, das über uns steht, das wichtiger ist als wir“. Und: „Der Mensch soll sich nicht so ernst nehmen“.

Kermani spricht in dem Buch seltsam geheimnistuerisch, was zu seinem offenen Denken nicht recht so passt, von „dem oder den Katholischen Freund(en)“. Die Namen nennt er nicht, wenn es sie denn gibt und diese Freunde nicht nur eine literarische Erfindung, ein Trick, sind. Wer diese Freunde sein könnten: Siehe weiter unten….

Es ist ein unbescheidener Ausdruck besserer theologischer Kenntnis, wenn man Kermani dringend wünschen möchte: Suchen Sie sich auch andere kompetente christliche theologische Freunde. Es gibt auch sehr gebildete Kunst Experten unter den protestantischen Theologen, und es gibt moderne katholische Theologen, die das Interesse wecken können für religiöse Motive in der modernen Kunst. Wenn man sich denn auf den kleinen Sektor der Kunst fixieren wollte.

Aber vielleicht hat Herr Martin Mosebach seinen Freund Kermani vor modernen Theologen gewarnt? In einem langen Interview mit Mosebach und Kermani, publiziert in SZ Magazin Heft 35/2015, sagt Martin Mosebach die für ihn zweifelsfrei typischen Sätze zu seinem sich explizit als Freund bekennenden Navid Kermani: „In der westlichen Welt haben die Menschen (gemeint sind Katholiken CM) das Knien verlernt. Stattdessen wird auf lächerliche Art und Weise das Bild des mündigen Christen propagiert. Wenn es Gott gibt, ist es das einzig Vernünftige, sich vor ihm niederzuwerfen. Und der Anblick von Muslimen, die vor Gott auf die Knie gehen, ist mir da ein unendlicher Trost“.
Eine gewisse Beachtung kann ein Hinweis im Nachwort zu „Ungläubiges Staunen“ verdienen, das Kermani mit „Nourouz 1394“ (bitte im Lexikon recherchieren, was das in anderen Kalendern bedeutet, CM) datiert. In diesem Nachwort, tituliert mit “Dank”,  also dankt Kermani für „unvergessliche Einsichten“ zweier  Angehöriger der Curie, also des päpstlichen Hofes im Vatikan. Kermani nennt die beiden in einer erstaunlichen und für einige Leser sicher höchst ungewöhnlichen Ehr-Erbietung: „Seine Exzellenz Herrn Erzbischof Dr. Georg Gänswein und Prälat Dr. Eugen Kleindienst“.

Zu diesen Herrschaften, die „unvergessliche Einsichten“ bescherten: Nur diese wenigen Hinweise für LeserInnen, die mit dem päpstlichen Hof heute nicht so vertraut sind: „Exzellenz“ Gänswein war und ist Privatsekretär Benedikt XVI., mit er durchaus befreundet sein soll. Zuvor war Gänswein etliche Jahre Dozent an der Opus-Dei-Universität in Rom. An Opus Dei Universitäten können nur Sympathisanten, wenn nicht Freunde und Mitglieder des Opus Dei arbeiten. Aktuell ist Georg Gänswein enger Vertrauter und Verteidiger des ehemaligen Limburger Verschwender-Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst. Gänswein soll dafür gesorgt haben, so die Presseberichte, die kein Dementi fanden, dass der Bischof, nun mit einem Posten in Rom für die “Neuevangelisierung Europas” ausgestattet, nicht persönlich für den Millionenschaden eintreten muss, den seine Leidenschaft am wunderschönen Bauen seines Luxusresidenz in Limburg verursacht hat.

Wer Zeit, Lust und Geld für eine Rom/Vatikan-Reise hat: Am Donnerstag, 5. November, findet in Rom, in der Residenz der deutschen Botschaft im Vatikan (!) eine Veranstaltung Kermani-Gänswein statt, das meldet Navid Kermanis Website..: “Ungläubiges Staunen. Über das Christentum’ – Lesung und Gespräch mit Erzbischof Georg Gänswein, so der offizielle Hinweis.

Und zu Monsigore Eugen Kleindienst, nur so viel: Er war früher Generalvikar im Bistum Augsburg. Damals (1995, so der Spiegel am 13.3.1995) habe er in einem Gerichtsverfahren behauptet, als Generalvikar (also für Personalfragen zuständig) nichts von dem sexuellen Missbrauch eines seiner Priester gewusst zuhaben…Heute ist Kleindienst nicht nur Navid Kermani behilflich, sondern auch enger Mitarbeiter der Deutschen Botschaft im Vatikanstaat. Die Botschafterin ist die CDU Frau und Exministerin Annette Schavan.

Es darf nicht verschwiegen werden: Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein. Dennoch mutet die öffentlich besprochene und explizite Freundschaft des sonst so kritischen Intellektuellen Kermanis mit Martin Mosebach wirklich etwas befremdlich an, mit Mosebach, dem Romanautor und katholischen Liebhaber der alten lateinischen Messe sowie heftig konservativ theologiesierenden Laien. Die Vermutung ist: Mosebach hat wohl Kermani geholfen, über die Beziehungen zu den „Exzellenzen“ Gänswein und Kleindienst „unvergessliche Einsichten zu gewinnen“( S. 292 im Buch).

Denn Martin Mosebach hat offensichtlich allerbeste Verbindungen zum konservativen “Flügel” im Vatikan. Zum Beispiel: Die Presseinformation des Hauses Axel Springer schreibt zur Herausgabe ihres neuen Kunstmagazins „Blau“ am 29.4.2015: „So wandelt der Leser mit dem Schriftsteller Martin Mosebach auf Raffaels Spuren. Dem Büchner-Preisträger Mosebach gelang das fast Unmögliche: Er überzeugte Monsignore Georg Gänswein – die rechte Hand des Papstes –, dem BLAU-Fotografen François Halard exklusiven Zutritt zur ansonsten strikt für die Öffentlichkeit gesperrten Seconda Loggia im Apostolischen Palast zu gewähren“. Prälat Georg Gänswein – „die rechte Hand von Papst Franziskus“ – eine hübsche, zitierfähige Formulierung aus dem Hause Springer

Der begründete Eindruck besteht, dass Kermani das Christentum bzw. den von ihm so hoch gelobten Katholizismus auch ein bißchen durch die „Brille“ sehr konservativer „Exzellenzen“ und Schriftsteller kennen gelernt hat. Vielleicht sind Gänswein und Kleindienst die im Buch Kermanis namentlich mysteriös nicht genannten „Freunde“? Aber das sind Fragen, die zweifellos nie eine Antwort erhalten werden…

Es wäre jedenfalls fatal, wenn die vielen, ja so enthusiastischen LeserInnen des Kermani Buches den Eindruck hätten: Das Christentum ist eigentlich mit dieser barocken Bilderwelt des 16. Jahrhunderts, die Kermani so schätzt, weithin identisch. Diese Zeiten Caravaggios und der anderen ist die Epoche der Gegenreformation, des Hasses auf den anderen, der sich dann im Dreizigjährigen Krieg entladen hat. Ein Krieg, der heute in seiner Brutalität an die Verbrechen von IS Mördern, erinnert.

Wir empfehlen dringend die Lektüre anderer Bücher Navid Kermanis, vor allem “Wer ist wir?”, das jetzt auch im C.H.Beck Verlag als Paperback erschienen ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Interview mit Frederic Maeder, Zürich, Autor und Haiti-Spezialist

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben einige Jahre in Haiti gelebt und Sie besuchen das Land bis jetzt regelmäßig. Die Lebensqualität (Bildung, Ernährung, Wohnung, Gesundheit usw.) der meisten Menschen in Haiti ist, so wird übereinstimmend berichtet, katastrophal. Was gibt Ihrer Meinung den Menschen dort die Kraft, überhaupt noch einen Lebenswillen zu bewahren?

Mir kommt dazu spontan das kreolische Sprichwort pito nou lèd, nou la in den Sinn. Dieses besagt, dass das Leben zwar hart ist, aber dass man immerhin überhaupt noch lebt. Mit anderen Worten: Solange man am Leben ist, hat man die Möglichkeit, sein Leben zu verbessern. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist sehr stark, und man ist überzeugt, dass einem die eigenen Kinder ein besseres Leben werden garantieren können, wenn diese erst einmal erwachsen sind. Der Glaube an Gott ist äußerst ausgeprägt, und man ist der Auffassung, dass der Mangel an Lebensqualität eine Prüfung darstellt, vor welche der Herr einem stellt, und dass man diese meistern wird, wenn man stark genug an ihn glaubt.

Bemerkenswert ist, wie stark offenbar immer noch die kreative Energie bei Künstlern und Schriftstellern in Haiti ist. Wen erreichen die Künstler in Haiti? Hat Kunst dort eine „soziale Bedeutung“?

Erstaunlicherweise stößt die haitianische Kunst vor allem außerhalb Haitis auf großes Interesse. Zum Beispiel bei ausländischen Entwicklungshelfern, Mitarbeitern von internationalen Organisationen im Allgemeinen oder auch bei Vertretern der haitianischen Diaspora. Bei der Literatur gilt es zu beachten, dass diejenigen Haitianer, die des Lesens mächtig sind, überaus fleißige Leser und dementsprechend stolz auf ihre eigenen Schriftsteller sind. Die alljährlich stattfindende Buchmesse «Livres en folie» etwa erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit in Haiti wie auch in der Diaspora. Zeitgenössische Autoren, wie Lyonel Trouillot, Yannick Lahens oder Kettly Mars, aber beispielsweise auch Jacques Roumain, der Urheber des Werkes »Herr über den Tau«, des wohl bedeutendsten haitianischen Klassikers überhaupt, wurden alle ins Deutsche übersetzt. Die bildende Kunst auf Haiti dient vielen als eine Art Therapie oder Ventil, um der eigenen Existenz Ausdruck zu verleihen und den oft schwierigen Alltag erträglicher zu machen. Quasi: Aus Schmerz und auch aus langer Weile geht gute Kunst hervor.

Welche Rolle spielt der viel besprochene Voodoo-Kult mit dem Ziel, eine humanere Gesellschaft aufzubauen?

Hier gälte es wohl zunächst zu unterscheiden zwischen den Leuten, die den Voodoo offen praktizieren (hauptsächlich die Landbevölkerung), denjenigen, die den Voodoo leugnen, ihn aber neben dem Katholizismus oder Protestantismus insgeheim trotzdem praktizieren (der Grossteil der urbanen Bevölkerung), sowie jenen, die den Voodoo überhaupt nicht praktizieren. Die letzten beiden Gruppen schämen sich in der Regel für den Voodoo, setzen ihn gleich mit einem Mangel an Bildung und Zivilisiertsein, woraus häufig Konflikte mit der ersten Gruppe resultieren. Diese wird dementsprechend als böse und rückständig stigmatisiert. Unter solchen Voraussetzungen ist es natürlich schwierig, eine humanere Gesellschaft aufzubauen.

Im Jahr 1950 gab es 3 Millionen Einwohner in Haiti, 2004 waren es 9 Millionen, jetzt sind es 10, 6 Millionen, auf einer Fläche von 27.000 Quadratkilometern, das ist etwas mehr als das Bundesland Hessen. Welche Bedeutung hat die Geburtenkontrolle, damit wenigstens die jetzt lebende Bevölkerung vor dem Hungertod bewahrt werden kann?

Die Grundhaltung vieler Haitianer ohne Bildung steht in krassem Gegensatz zu einer im westlichen Sinne erfolgreichen Geburtenkontrolle. Sie denken, je mehr Kinder man hat, desto sicherer ist die eigene Zukunft. Eine Einstellung, die auf Grund einer hohen Kindersterblichkeit sowie wegen des Fehlens einer staatlichen Altersvorsorge sogar zu verstehen ist. Pitit se richès malere, Kinder sind der Reichtum der Armen, wäre das passende kreolische Sprichwort dazu. Natürlich wäre eine funktionierende Geburtenkontrolle der Linderung des Hungers im Land förderlich. Persönlich hielte ich es indes für effizienter, vermehrt in die Bildung der breiten Bevölkerung zu investieren, um die zahlreichen Probleme des Landes zu lösen.

Wer die Möglichkeit hat, als gebildeter Haitianer das Land zu verlassen, tut das auch, siehe die großen Communities in Kanada, den USA, Frankreich, der Dominikanischen Republik usw. Ist diese Flucht ins Ausland nicht auch fürs Land eine Katastrophe, weil die so genannte Elite keine Hoffnung mehr hat, Haiti aus dem multiplen Elend herauszuführen?

Hier sollte man vielleicht zuerst differenzieren, von welcher Elite die Rede ist. Das Interesse der finanziellen Elite ist es, das Volk arm und ungebildet zu halten, um es besser auszubeuten und kontrollieren zu können. Die intellektuelle Elite dagegen wäre um authentische Verbesserungen im Land bemüht. Ihr fehlt es jedoch an finanziellen Mitteln, um ihre Ideen zu verwirklichen, und die finanzielle Elite ist ihrerseits bestrebt, unter allen Umständen zu verhindern, dass die intellektuelle Elite zu Geld kommt, um deren Visionen umzusetzen. Gelingt dies einem ihrer Vertreter trotzdem, so läuft er oftmals Gefahr, umgebracht zu werden. Vielfach entscheiden sich Angehörige der intellektuellen Elite daher, schweren Herzens das Land zu verlassen, um im Ausland zu Wohlstand zu kommen, den sie dann nach Jahren in der Diaspora in der Heimat zu investieren hoffen. Das Ganze als Katastrophe fürs Land zu bezeichnen, ist letztlich durchaus legitim.

Die Bürger der benachbarten Dominikanischen Republik haben gleich nach dem schrecklichen Erdbeben Haiti großzügig geholfen. Jetzt gibt es wieder neue Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten. Die Dominikanische Republik will die starke Präsenz der Haitianer im eigenen Land jetzt einschränken, auch durch rabiate Ausweisungen. Gibt es Spuren der Hoffnung, dass die beiden Nationen doch noch zu einem menschlichen Miteinander aufraffen?

Eine sehr schwierige Frage, wenn man bedenkt, dass die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in der Angelegenheit schon vermittelnd helfen muss. Ich hoffe nicht, dass es einer weiteren großen Naturkatastrophe bedarf, so dass die Differenzen, welche die beiden Länder mit wechselnder Intensität schon seit Anbeginn miteinander austragen, wieder ein wenig in den Hintergrund gedrängt werden. Der so genannten »bi-nationalen, gemischten Kommission«, welche theoretisch schon seit den neunziger Jahren existiert und die für die Pflege der bilateralen Beziehungen ins Leben gerufen worden war, die indes viel zu selten tagt, neues Leben einzuhauchen, könnte ein Ansatz sein. Auch dass der alle zwei Wochen stattfindende bi-nationale Markt der haitianisch-dominikanischen Schwesterstädte Ouanaminthe und Dajabón trotz migrationspolitischer Differenzen weiterhin stattfindet, könnte man als Versinnbildlichung der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit sowie als positives Zeichen deuten. Schließlich jedoch glaube ich, dass die Differenzen der beiden Länder, die sich die Insel Hispaniola teilen, hüben wie drüben vor allem ein Problem der ungebildeten Massen ist, die von den eigenen finanziellen Eliten instrumentalisiert werden, indem sie ihnen ein Feindbild im Anderen suggerieren, derweil die oberen paar Hundert auf beiden Seiten der Insel eigentlich stets von der haitianischen Migration profitiert haben.

Frederic Maeder, Zürich, hat das Buch “Hochzeit haitianisch – Goudougoudou ex-ante!” publiziert, er erzählt von einer Reise in erdbebenzerstörte Port-au-Prince. BoD ISBN 978-3-7357-0485-6, 16,90 Euro. Das Buch ist überall im Online-Handel erhältlich.

Copyright: Frederic Maeder, Zürich.