Edgar Morin über die Beziehung von Poesie und Philosophie.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zu Edgar Morin LINK

Ein Motto von anderer Seite: „Es spricht nichts dagegen, Sophokles, Beckett, Proust und Celan als Philosophen zu bezeichnen.“ Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp 2014, S. 19).

1.
Über die Einheit und Differenz von Poesie und Philosophie ist schon einiges publiziert worden. Die Debatte geht wohl vorwiegend um die Möglichkeiten der nun einmal immer irgendwie rational-begrifflich geprägten Sprache, die Tiefe des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Also das, was man mit dem Wort Geheimnis umschreibt im Sinne des gründenden, nicht fassbaren Göttlichen. Dieses Thema bewegt den Poeten Yves Bonnefoy oder den Philosophen Edgar Morin, um nur zwei aktuelle Beispiele aus Frankreich zu nennen.
Wer sich um das philosophisch zentrale Thema „Philosophie der Philosophie“ bemüht, kann also nicht auf die Frage nach der Abgrenzung philosophischer Prosa von poetischen (lyrischen) Aussagen verzichten. Und wird weiter zu der Frage geführt: Wie sollte man eigentlich „poetisch sich äußernde Philosophen“ verstehen, etwa den später Heidegger oder Nietzsche. Manche neigen dazu, auch die ihnen selbst schwer verständlichen Philosophen wie Hegel oder Fichte bereits als Poesie zu betrachten, d.h. bei den Betreffenden, sie philosophisch als Poeten „abzuwerten“.
Zu einigen Hinweisen über Bonnefoy: LINK.
2.
Der Philosoph Edgar Morin, der am 8.Juli 2021 seinen 100. Geburtstag feiert, hat mehrfach zu diesem Thema Stellung genommen. Ich beziehe mich auf das leicht zugängliche Buch „Mes Philosophes“, das bei Fayard in Paris erschienen ist. In dem Buch berichtet Morin in kurzen Essays von Philosophen, Religionsstiftern und Künstlern, die ihm am meisten zu denken gaben und geben, auch Beethoven ist darunter. Über Poesie spricht Morin ausführlich in dem „Le Surréalisme“ überschriebenen Kapitel (S. 159 – 163). Ich finde Morins Überlegungen interessant und anregend, einige seiner Aussagen werde ich übersetzen.
3.
Edgar Morin entwickelt seine die Poesie lobenden Gedanken am Beispiel von Dichtern, die als „Surrealisten“ (etwa seit den 1930 Jahren) bezeichnet werden. Morin meint sogar (S. 159), der Surrealismus gehöre zu den „kulturell und sogar philosophisch reichsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts“. Poesie, Denken, die politische Aktion, das Leben, hätten sich darin gegenseitig befruchtet. Der Surrealismus ist in der Wahrnehmung von Morin eine Revolte für die Poesie als Lebensform, wie dies schon für die deutsche Romantik gilt. Surrealistische Dichter (wie Breton, Péret, Mario Pedrosa usw.) wollten die Poesie nicht einschließen und begrenzen bloß auf das Gedicht. Poesie ist für sie treffend vielmehr umfassend „eine Quelle des Lebens“. Edgar Morin meint, diese surrealistische Überzeugung erweiternd: Der Mensch lebe gleichzeitig auf poetische wie auch auf prosaische Weise, Poesie und Prosa sind also für Morin zwei ursprüngliche und primäre Polaritäten des Lebens. (S. 161). Prosa bedeutet für ihn: Arbeit, Nützlichkeitsdenken, Alltägliches etc. Poesie hingegen Verwunderung und Erstaunen, Ekstase, Musik, Tanz, Liebe. Aber beide „Welten“ sind nicht getrennt: In die Realität des Prosaischen ist „eingewebt“ die Phantasie, ohne Phantasie, also Poesie, gibt es keine Realität (S. 161). Morin erwähnt besonders Breton, für den die Welt des Surrealen „eine tiefe und höhere Welt bedeutet“, die im Traum, in der Ekstase der Liebe, in der Poesie zugänglich wird“ (S. 162). Es gibt sozusagen für Morin wie für Breton „innere Welten der menschlichen Seele“(ebd.) Und Morin fährt fort: „Ich glaube ganz tief an eine andere Realität, sie ist ein Geheimnis, aber wir tragen diese Welt ganz tief in uns selbst. Diese andere Realität ist in uns. Wir sind in ihr“ (ebd.). Das sind Worte, die sich an die besten mystischen Traditionen anschließen.
4.
Und diese „mystische Poesie“ muss völlig frei und selbstständig bleiben, sie darf sich niemals in den Dienst einer politischen Partei stellen. „Der Poet kann niemals Partei sein“ (S. 162). Damit erinnert sich Edgar Morin an die Zeit seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs, aus der 1951 ausgeschlossen wurde, ein Ereignis, das ihm umfassende Freiheit brachte. Poesie darf niemals Partei sein, niemals Partei ergreifen, das ist ja nicht nur im politischen Sinne gemeint. Poesie, wenn sie religiöse Dimension hat, darf niemals dogmatisch sein, sich niemals der Institution einer Kirchenbehörde unterordnen. Ein aktuelles Thema, wenn man bedenkt, wie die offizielle Katholische Kirche der Niederlande mit dem katholischen Poeten (und Theologen) Huub Oosterhuis umgeht… und seine Gedichte und Lieder in den Messen dort verbietet…
5.
Morin kommt auf die zentrale Bedeutung der Poesie auch in anderen Kapiteln seines Buches zu sprechen. Etwa in dem Kapitel über den umfassend gebildeten Gesellschaftsreformator Ivan llich (S. 167). “Die Poesie ist übrigens auch ein Aspekt der Ethik. Die Kräfte unserer Ethik kämpfen gegen die Grausamkeit der Welt, aber sie zielen gleichzeitig auf die Erfüllung des Menschen in der Lebensqualität, d.h. in dem Miteinander-Leben und der Poesie.“ Poesie und philosophische Ethik gehören zusammen. Von der Erfahrung der Schönheit also zum Guten kommen? Eine offene Frage
6.
So sehr der Philosoph Edgar Morin auch die Philosophen, unter ihnen auch die Skeptiker, schätzt: Wenn er sich etwa auf Rousseau bezieht und seine „Reveries du promeneur solitaire“( „Träumereien eines einsamen Spaziergängers) bespricht, dann gilt: „Ich spürte ein tiefes Bedürfnis nach affektiven Erfahrungen, die die Sensibilität preisen, die Gemeinschaft mit allen menschlichen Wesen und der Natur. Und das berührt mich bei Rousseau, dieser Sinn für die Poesie, der sich in „Reveries“ ausdrückt. Die wunderbaren Seiten erzählen einen Spaziergang auf der Insel Saint-Pierre, sie sind für mich ein großer Augenblick der Mystik. Mystik ist nicht notwendigerweise religiös. Mystik kann entstehen bei einem Glase Wein unter Freunden oder zusammen mit einem geliebten Menschen oder auch angesichts des Erlebens der lebendigen Natur“ (S. 68f.).
7.
Einen viel besprochenen Gegensatz von philosophischer Kritik, Skepsis, Aufklärung UND Poesie will Morin nicht gelten lassen (S. 75). Die romantischen Dichter, auch Rimbaud, integrieren, so meint er, die Botschaft der philosophischen Aufklärung sowie die Erkenntnisse Rousseaus. Und diese Dichter wie die Philosophen widmen sich dem menschlichen Fortschritt und der Emanzipation der Unterdrückten. Man muss die philosophische Aufklärung integrieren und auch hinter sich lassen. Man muss ihre kritische Energie integrieren! Aber ihre abstrakte Rationalität aufgeben (dépasser), auch das, was Hegel den Verstand (der begrenzter ist als die Vernunft, CM) nannte… Wir brauchen die Vernunft und ebenso „das Denken über die Vernunft – Hinaus. Deswegen bewahre ich Rousseau UND Voltaire zusammen in meinem Geist, sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit komplementär“. (S 76).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Peter Sloterdijk will den Himmel zum Sprechen bringen.

Das neue Buch Sloterdijks zeigt: Religionen sind nichts als Machwerk der Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Das neue Buch von Peter Sloterdijk „Den Himmel zum Sprechen bringen“ (2020) ist die Langfassung eines Beitrags für eine Festschrift zu Ehren des Ägyptologen Jan Assmann im Jahr 2018. Nun können sich die LeserInnen durch 20 Kapitel auf 344 Seiten durchbeißen. Als Leser hat man oft den Eindruck, ständig an den assoziativen Sprüngen in den Ausführungen des Autors teilzunehmen. Und man ist erstaunt, wie ausführlich Einsichten der Philosophie Platons in nahezu allen Kapiteln lang und breit ausgeführt werden, so dass manchmal der Eindruck entsteht, in ein Buch „Philosophie-Geschichte“ geraten zu sein. Und man fragt sich, wurde dieser nun sehr umfassend gewordene Beitrag für Jan Assmann doch etwas zu schnell geschrieben…
2.
Aber das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ verdient ein gewisses kritisches Interesse, weil es auch die dogmatischen Absonderlichkeiten, normativ gesprochen: die zahlreichen dogmatischen Verirrungen der Kirchen (aber auch anderer Religionen) freilegt. Diesen religionskritischen Focus wird man bei einem ersten Blick auf den Titel kaum vermuten: Manche denken dabei vielleicht an die Poesie, die Gebete, die Lyrik, die ja oftmals behaupten, den „Himmel zum Sprechen bringen“ zu können. Aber es geht Sloterdijk auch um viel Grundsätzlicheres. Und von Lyrik und Poesie im engen Sinne ist eher wenig die Rede.
3.
Entscheidend ist der Untertitel: „Über Theopoesie“. Das Wort Poesie bezieht sich hier umfassend auf das altgriechische Verb „poiein“, es bedeutet: Machen, schaffen, tun. Poiesis ist das entsprechende Substantiv. Natürlich ist zum Beispiel Lyrik „Poiesis“, von Menschen Gemachtes. Aber auch die Welt Gottes und der Götter ist nur Poesis, nur von Menschen Gemachtes, so die zentrale These Sloterdijks. Man bewegt sich also, bei Gott und den Göttern im „Bereich des Erfundenen, Ausgedachten, Übersteigerten“ (S. 63). Und weil Religion als Institution durch Mythen, Erzählungen, Reflexionen und verbale oder schriftliche Theologien konstituiert und öffentlich greifbar wird, ist Religion also auch wesentlich Poesie, d.h. Poiesis, Werk und Tat der Menschen.
Ein Urteil, das sich seit den griechischen Philosophien herumgesprochen hat und durch Feuerbach im 19. Jahrhundert sehr populär wurde und in Nietzsche einen Verteidiger fand. Sloterdijk belebt es neu.
4..
Er betont: Die Texte der Evangelien oder des Koran wurden absolut zur Geltung gebracht, sie haben dabei „ihren poetischen, d.h. fiktionalen bzw. mythischen Charakter unsichtbar gemacht“ (S. 277). Das heißt, diese heiligen Texte wurden zum Wort von Gott selbst definiert, dieses Verhalten ist also in der Sicht Sloterdijks geradezu „lügnerisch“ und es versteckt so den wahren, „bloß menschlichen“ Charakter der dann nur noch so genannten göttlichen Offenbarung, wir haben es also in Sloterdijks Sicht mit einem Betrugssystem zu tun. Die Auswirkungen sehen wir bis heute im religiösen Fundamentalismus.
5.
Wenn man nun in Sloterdijks Deutung die christliche Religion als Theo – Poesie zusammenfassend darstellen soll: Dann ist das Christentum (und damit die Kirchen) für den philosophischen Schriftsteller „erschreckend inhuman und eigentlich ein Fall für die Psychiatrie“. Das macht Sloterdijk mehrfach deutlich, etwa in seinem lobenden Hinweis auf die Erzählung von Pierre Gripari „Der kleine Jehova“, eine Erzählung, die, wie Sloterdijk schreibt, „auf engem Raum die theo-psychiatrische Verfassung des Christentums als klug lancierte Schuldgefühlsepidemie offenlegt“. (S. 88).
Das Christentum (als dogmatisches System) ist also krank, und die Kirchen und ihre Führer, die das Christentum repräsentieren, sind ebenfalls krank, wenn nicht pervers, siehe den massenhaften sexuellen Missbrauch durch Priester. Das ist der durchgehende Tenor der Ausführungen Sloterdijks. Und er bietet als Belege seitenweise Auszüge aus den offiziellen katholischen Verurteilungen so genannter Irrlehrer, die das einschlägige Sammelwerk „Denzinger“ äußerst umfangreich dokumentiert (bei Sloterdijk die Zitate auf den Seiten 128 bis 133). Dieses langatmige Dokumentieren der Verurteilungen, die inzwischen sehr bekannt sind, erinnert an den in der Hinsicht ebenso rührigen sich atheistisch nennenden Autor Karlheinz Deschner, er hat seine „Kriminalgeschichte des Christentums“ auf 10 umfangreiche Bände ausdehnen können.
Diese Krankheiten und Perversionen in den Kirchen sind – in Sloterdijks Sicht – von Theo-Poeten gemacht und belebt, vor allem auch von gebildeten Theologen und Bischöfen, wie etwa dem „Kirchenvater“ Augustinus: Sie haben in einer Herrscherposition wahnhafte Gebilde christlicher Dogmatik formuliert, diese durchgesetzt und zelebriert. Der Wortschöpfer Sloterdijk nennt frühe Theologen „Irrkirchenlehrer“ (S. 288), wenn sie als christliche Platoniker an der Vergöttlichung Jesu arbeiteten (ebd). Die Wende von Jesus von Nazareth zum Christus Imperator (etwa in Ravenna sichtbar) ist ein zentrales Thema kritischer Theologie, an das sich Sloterdijk anschließt.
6.
Über die Darstellung christlicher Dogmen und Überzeugungen durch Sloterdijk wäre ausführlich zu reden. Der gebotenen Kürze, die sich bei dieser Rezension aufdrängt, nur ein Hinweis: Wie Sloterdijk vom Glauben an die Auferstehung Jesu von Nazareth spricht, gleich im 1. Kapitel (S. 31 f) seines Buches. Die Hinweise Sloterdijks auf die von ihm studierte Literatur zu dem wahrlich äußerst umfassend erforschten Thema „Auferstehung Jesu“ ist äußerst dürftig, um nicht zu sagen für einen Autor wie Sloterdijk blamabel: Da nennt er nur ein Buch von einem gewissen Frank Morison alias Albert Henry Ross „Wer wälzte den Stein?“ (erstmals auf Englisch 1930 erschienen als Bekenntnis eines fundamentalistisch Bekehrten). Dieses Buch spielt heute in der Forschung zur Auferstehung Jesu de facto überhaupt gar keine Rolle. Und geradezu lustig ist dann Sloterdijks zweiter, wohl aber ernst gemeinter Hinweis auf den phantastischen Roman des zum literarischen Schwadronieren neigenden frommen Bestseller Autors Eric-Emmanuel Schmitt mit dem Titel „Das Evangelium nach Pilatus“. Sloterdijk bezieht sich vor allem auf das Thema „die abwesende Leiche im Grab Jesu“ am Ostermorgen und schreibt dann: „Dürfte man sagen, das Christentum beginne als Kriminalroman, in dem das negative corpus delicti in diversen Versionen wiederauftauchte, zuerst als spukender Ätherkörper am Rand von Jerusalem“, und dann springt Sloterdijk, assoziierend, in sachlich völlig unzutreffende Dimensionen, wenn er anschließend fortfährt: … „dann als Hostie, als Fronleichnamskörper und allenthalben als Kruzifixus?“ (S. 32). Der Fronleichnamskult ist bekanntlich ca. 1.300 Jahre „nach dem Entstehen des Auferstehungsglaubens entstanden. Sloterdijk spricht auch von den „40 Tagen „zwischen Ostern und Christi Himmelfahrt“ („falls es solch einen Tag gab“, schreibt er, wohl ahnend, dass man da doch sich besser an Metaphern und Bilder als an Daten halten sollte) gab es dann doch in der ersten Gemeinde, so wörtlich „Gerüchte, Delirien, Überhöhungen“ (S. 32). Da sind sie wieder, diese Sloterdijkschen Delirien, unter den Christen schon pauschal schon von Anbeginn leiden….
7.
Die Kirchengeschichte wird pauschal nichts als Heilgeschichte, sondern als Verbrecher-Geschichte von Sloterdijk bewertet. Es zeigt sich, dass Sloterdijk alles andere als ein objektiver religionswissenschaftlicher Beobachter ist, er hat durchaus seine eigene normative Meinung.
Sloterdijk warnt in seiner Schilderung der kirchlichen Verbrechen eher sanfte LeserINNen, wenn er in allen Details die Folter, verordnet von Kirchenoberen, ausführlich zu dokumentiert (S. 230 ff.). Diese LeserInnen sollten gegebenenfalls „die folgenden vier Seiten zu überblättern“ (ebd.).
8.
Sloterdijk ist bekannt für sein Ausfindigmachen entlegener Studien, seine Fußnoten sind oft eine Art Entdeckungsreise, nur der populäre und von ihm geschätzte Nietzsche wird mit einzelnen Sätzen (!) in „Den Himmel zu Sprechen bringen“ sehr oft zitiert (im Buch wird Nietzsche der vielen Erwähnungen wegen einfach nur kollegial F.N. genannt). Aber Sloterdijk verweist auf S. 129, Fußnote 137, ausnahmsweise ohne Quellenangabe auf einen Brauch in Österreich einst, „bei den in utero verstorbenen Föten diesen das geweihte Taufwasser von katholischen Hebammen per vaginam“ zuzuführen“, die Föten also per vaginam noch zu taufen. Aber diese nicht belegte Story erzählt Sloterdijk wohl nur, um dann gleich anzufügen: “Hatte Lenin doziert, die Wahrheit ist konkret, antwortet die religionsgeschichtliche Empirie: Das Delirium ist konkreter“. Das Delirium, d.h. die „geistige Verwirrung“ kennzeichnet für Sloterdijk sehr pauschal betrachtet das Christentum und den christlichen Glauben.
9.
Sloterdijk, als Zyniker bekannt, (sein erstes erfolgreiches Buch handelte von der zynischen Vernunft), gibt offen zu, auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“, „ironische Züge“ (S. 141) zu verbreiten. Und diese seine Ironie deutet er – gar nicht ironisch, sondern dogmatisch argumentierend – sei „besser als das Theologie-übliche Zuviel-Sagen und letztlich-doch-alles-besser-Wissen“ (S.141). Der Philosoph Holger Freiherr von Dobstadt hat in seiner durchaus auch kritischen Sloterdijk Studie „Das Sloterdijk-Alphabet“ (Würzburg 2006) unter dem Stichwort „Ambivalenz“ (Seite 15 f) über Sloterdijks Denken geschrieben. Er spricht von dessen „doppelter Buchführung“, also: „Alles und das  Gegenteil lässt sich über die Welt aussagen, alle Wahrheiten lösen sich in Perspektivik auf und seine Deskriptionen des Zynismus finden sich in seinem eigenen Bewusstsein, das er im übrigens schonungslos decouvriert“ (ebd.).
Auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ freut sich wohl Sloterdijk über seine zynischen Formulierungen zu katholischen Merkwürdigkeiten, wie dem Fegefeuer: Er beschreibt in seinem sprachschöpferischen („poetischen“) Enthusiasmus das Fegefeuer als „einen transzendenten Waschsalon“, der „die Flecken des Erdenlebens in sieben Reinigungsgängen von der Stirn der Seele tilgt“ (S. 85). Luther kämpfte also gegen Waschsalons, wie hübsch! Wie originell!
Wortschöpferisch – zynisch ist Sloterdijk auch im Fall des Wüstenmönches Antonius (ca. 251 – 356) tätig, den zölibatären Mönch nennt er angesichts der heftigen sexuellen Versuchungen „einen Patriarchen der Psychopornographie“ (245). Die LeserInnen sollen lachen und wohl denken: Bei diesen Theo – Poeten wird kein Himmel zum Sprechen gebracht, Sloterdijk verdirbt jegliche Laune, sich mit dieser üblen Theopoesie, diesem Machwerk Religion bzw. Christentum, auseinanderzusetzen.
Hinsichtlich der Verkündigung der christlichen Lehre, die in Rom tatsächlich einer Dienststelle mit dem lateinischen Titel „Propaganda fidei“ unterstellt war, geht Sloterdijk assoziativ zur kirchlichen „Öffentlichkeitsarbeit“ im allgemeinen über und schreibt nicht ohne „Thymos“, wie er wohl sagen würde, also nicht ohne Wut: “Es bleibt die Familienähnlichkeit mit römisch-katholischen, jakobinischen, Goebbelschen und leninistisch-maoistischen Prozeduren zur Konformitätserzeugung nicht zu verkennen“ (S. 202). Römisch-katholisch, Goebbels, Lenin, alles wird in einen Eintopf geworfen. Solches erzeugt bei einem noch differenzierenden Leser doch etwas „Thymos“, würde Sloterdijk sagen, also durchaus berechtigt: Wut.
Die zweifellos zu kritisierenden Reformatoren Luther und Calvin und ihre Gnaden-Erwählungslehren beschreibt er so: „Die moderne Welt (der Reformatoren, CM) war anfangs nichts anderes als ein Netzwerk von schnellen Brütern für Erwählungsideen“ (304). Und man(n) soll wohl zur Abwechslung beim Lesen ins Schmunzeln geraten, wenn Sloterdijk über die Mutter von Kaiser Konstantin schreibt: Helena sei, so wörtlich, „eine postmenopausich frömmelnde Mutter“ gewesen (S 160).
10.
An diesen Albernheiten werden sich einige LeserInnen erfreuen…Und Religionen albern finden…
Wer das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ aber ins kritische Nachdenken einbezieht, muss tiefer ansetzen. Es geht um die schwierige Frage nach dem schöpferischen, auch Religionen und religiöse Texte „schaffenden“ Menschen. Es gibt bekanntlich eine breite philosophische Tradition, die schöpferisches Tun (der Musiker, der Dichter, der religiös Kreativen) nicht einseitig nur als Tat des Menschen versteht, sondern auch als Gabe, als Geschenk, „Geschick“ „des Himmels“ bzw. des Gottes. Mit anderen Worten: Im schöpferischen Tun, auch im Schaffen von Religion, wirkt auch Göttliches mit. Dies ist eine Erkenntnis, die etwa Hegel in seinem ganzen Werk der Geist – Philosophie zentral setzte. Die Voraussetzung dafür war wohl die Erkenntnis, dass ohne eine Art “Schöpfer“ der evolutive Gesamtzusammenhang der Welt und der Menschen nicht zu verstehen ist. Kurz und gut: Hegel zeigte, dass im Menschen als Geist – Kreatur das Unendliche, das Göttliche, wie auch immer man diesen nicht definierbaren, d.h. total zu umfassenden Bereich nennt, anwesend und mit-wirksam ist im Tun und Handel der Menschen. Aber Sloterdijk weist diesen Gedanken sicherlich – wieder zynisch ? – als spinös zurück, so wie er, wenn er in dem Buch von Hegel spricht, dessen Denken verkürzt. Nur ein Beispiel: Im Zusammenhang mit dem Leiden am Karfreitag behauptet Sloterdijk, Hegel habe sozusagen nur die, so wörtlich, „hinfällige Individualität“ gesehen. Der Mensch müssen also, wieder wörtlich, „den unendlichen Schmerz über sich empfinden“ (S. 30) und dabei ausharren. Aber Sloterdijk unterlässt es, darauf hinzuweisen, dass Hegel in seiner Philosophie, auch in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, bei dieser Position nicht stehen bleibt! In dem auch von Sloterdijk zitierten Band 17 der Suhrkamp-Gesamtausgabe der Hegel Werke heißt es auf S. 269: Das Subjekt sei gerade nicht hinfällig, weil es in sich die „unendliche Kraft der Einheit“ (mit Gott) weiss“. Der Mensch, das Subjekt, ist also die „unendliche Kraft der Einheit“ (von Gott und Mensch), es ist alles andere als die „hinfällige Individualität“, als die sie Sloterdijk festlegen will. Hegel denkt die innere wesentliche Einheit von Mensch und Gott, aber die schließt Sloterdijk aus. Insofern übersieht er wohl gern die Hegelsche Aussage.
11.
Der Mensch ist auch für Sloterdijk, wie so oft gesagt wird in der banal wirkenden Formulierung des „nichts anderes als“ ein von jeglichem Göttlichen getrenntes Wesen. Es ist der Mensch ohne Mysterium, dem nichts als Zynismus übrig bleibt in seiner Situation.
Der große Literaturwissenschaftler George Steiner, wahrlich alles andere als ein kirchenfrommer Theologe, vertritt in seinem Buch „Grammatik der Schöpfung“ die Erkenntnis: Es kann nur ein Miteinander von Göttlichem und Menschlichem im schöpferischen Prozess geben, also in der Poiesis. „Über die Gott-Hypothese lässt sich nicht ohne Kosten spotten“ (S. 343), sagte der umfassend gebildete George Steiner in den genannten Buch, (München 2004).
12.
Viele Hinweise Sloterdijks zu den Verirrungen der Kirche, um nur bei dieser Religion zu bleiben, sind zweifellos richtig. Dennoch muss doch der Objektivität wegen ein starres Schwarz-Weiß-Schema aufgebrochen werden. Das mit der Kolonialherrschaft verbundene Missionssystem etwa der Spanier seitdem dem 16. Jahrhundert war eine Katastrophe, eine Katastrophe, was die Lebensrechte der „indianischen“ Bevölkerung angeht. Mission als Teil der spanischen Kolonisation war insofern auch Teilnahme am Morden. Aber es muss auch der Ausnahmegestalten gedacht werden, die sich – wie begrenzt auch immer – für die Menschenrechte der „indianischen Bevölkerung“ eingesetzt haben, ich nenne nur Pater Bartolomé de Las Casas, er überzeugte sogar mit seiner humanen Botschaft den spanischen Hof, aber der konnte sich bei den selbstherrlichen Eroberern nicht durchsetzen. Deswegen wurde weiter gemordet.
Das Christentum und die Kirchen waren also nie nur ganz total schwarz-weiß malend Mörderbanden.
Was waren denn die Forscher und Mathematiker etwa unter den Jesuiten des 17. Jahrhunderts für Menschen, die tatsächlich als Wissenschaftler anerkanntermaßen Großes leisteten? Haben die „Poeten“, also etwa auch die Schöpfer von barocken Kunstwerken oder die Komponisten von Messen und Oratorien etc., nicht oft genug von sich selbst gesagt, dass inmitten des schöpferischen Prozesses doch etwas „anderes“ („Göttliches“) und Geschenktes in ihnen mit dabei tätig war? Warum hören manche Leute noch voller Begeisterung diese Musik? Sind diese musikalischen Leistungen von Bach, Mozart, Beethoven etc. Ausdruck von Wahn oder „Delirium“? Wer solches behaupten würde, wäre selbst nicht mehr ganz auf der Höhe…
13.
Sloterdijks Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ ist im wesentlichen religionswissenschaftliches Feuilleton, es ist kein Buch, das auch die aktuelle Entwicklung der Religionen berücksichtigt und diese in die Analyse einbezieht. Sloterdijk sieht nicht den tiefen Wandel im Christentum. Er sieht nicht und weiß nicht oder will es nicht wissen, dass etwa in Lateinamerika viele katholische Kreise, auch Bischöfe, entschieden die Menschenrechte verteidigen, aber auch in Afrika und Asien. Da lebt eine christliche Religion, die eben kein Delirium ist. Von Theologie der Befreiung hat Sloterdijk offenbar nie etwas gehört, nichts von christlichen Friedensbewegungen, von katholischen Menschenrechtsaktivisten, die im Engagement für die Armen ihr Leben lassen. Sloterdijk hat offenbar nichts von der Diakonie oder Caritas gehört, die etwa in den Slums der USA nach wie vor Millionen Menschen mit Essen versorgen, von Suppenküchen und Kleiderkammern von Klöstern in Europa hat er nichts gehört, nichts davon, dass viele Klöster so beliebt sind, dass dort Menschen Ruhe und Meditation suchen und finden.
Damit will ich keine Apologetik betreiben, sondern nur der gebotenen Objektivität willen sagen: Selbst in Kirchen, die sich heute noch auf eine göttliche Wirklichkeit, auf ein ungreifbares und nicht machbares Lebensgeheimnis in aller Offenheit beziehen, lebt sehr viel humane und vernünftige Energie, für die Menschenrechte ALS „göttliche Gebote“ einzutreten.
14.
So bleibt nach der Lektüre die Frage: Warum wurde eigentlich dieses Buch geschrieben? Die alten Thesen von Feuerbach und Co. sind ja bekannt. In seinem 20., dem Schlusskapitel, überschrieben „Religionsfreiheit“, deutet Sloterdijk, diesmal recht knapp und kurz, an: Religion ist für ihn „Beihilfe zur Auslegung des Daseins… bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen“ (S. 331). Religion geht darin auf, gemachte, „poietische“ (poetische) Funktion der Menschen zu sein. Aber, damit er nur ja nicht der Religion eine allzu wichtige Rolle zuweist, betont Sloterdijk schon mehrfach zuvor: Und das ist wohl der Sinn all der über 300 Seiten des Buches: Religion ist in der säkularen Welt nichts als ein kleiner „Rest“. Ein Rest, der „nach Abzug von alldem übrigbleibt, was in die Wissenschaften und in alle nur denkbaren Bereiche von Weltgestaltung „abgewandert“ ist (S. 330). Vielleicht verschwindet beim Fortschritt der Wissenschaften etc. dann auch Religion? Die Religion ist also NOCH der verschwindend kleine Rest, der, so betont Sloterdijk, selbstverständlich frei gelebt werden kann. „Religion ist überflüssig wie Musik“, schreibt Sloterdijk tröstend all jenen, die noch diesem letzten Rest, wie er schreibt, dem letzten Rest aus den „archaischen und hochkulturellen Weltbildern“ (S. 330) anhangen. Aber wie Musik ist für Sloterdijk Religion „Luxus“ (S. 335). Aber er muss doch zugeben als ein Zitat von einem Ungenannten: “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“. Aber weil nun einmal Religion, so wörtlich, Luxus ist, also kein Grundnahrungsmittel für die meisten, ist ihre Leistung auch „durch weltliche Prägungen substituierbar“, wie er schreibt (S. 335). Substituierbar bedeutet bekanntlich „austauschbar“, „ersetzbar“.
Was aber kann dieser religiöse Luxus heute noch sein? Sloterdijks Antwort: Es sind die „Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen“ (S. 336). Möge also der einzelne als einzelner, offenbar außerhalb jeglicher Gemeinschaft, aus den Verlegenheiten des Daseins herausfinden. Von dem „Berührtsein“ von einer außerhalb des Menschen wie gleichzeitig IN ihm unbedingt sich zeigenden „Kraft“ des Mysteriums ist keine Rede. Aber gerade davon lebt ja bekanntlich die Musik, auf die sich Sloterdijk in seinem Hinweis auf die Ähnlichkeit mit Religion bezieht. So endet also das Buch mit einer doch wieder noch viel zu kurz greifenden „Auslegung der Existenz“. Aber gerade dann hätte das Buch wichtig werden können. Alles andere ist tausendmal gesagt.
15.
Und was soll der Titel des Buches wohl bedeuten? Kommt irgendwann ausführlich „der Himmel zum Sprechen“? Werden also naheliegend Gedichte und Psalmen, Lieder und Gebete, selbst unter der Sloterdijkschen Prämisse, dass es Gott nicht gibt, ausführlicher und angemessener vorgestellt und interpretiert? Eher nicht! Es werden einzelne Bibel-Verse gedeutet, etwa die Hiob-Geschichte, auch Psalmen werden kurz erwähnt und sogar das Kirchenlied „Großer Gott wir loben dich“ wird „abgehandelt“. Aber im ganzen darf man von dem Buch keine ausführlichen Hinweise zur Poesie und Lyrik und Gedichten „im engeren Sinne“ erwarten.
16.
Wer dieses umfassende Thema vertiefen will, auch die Frage nach dem schöpferischen Miteinander und Ineinander von menschlichem und göttlichem Geist, sollte das inhaltlich viel differenziertere Buch von George Steiner lesen, “Grammatik der Schöpfung“, DTV, 2004, 351 Seiten, 12,50 Euro.

Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theospoesie. Suhrkamp Verlag, 3. Aufl. 2020, 344 Seiten, 26 Euro.
Das Buch enthält weder ein eigentlich zu erwartendes Stichwort-Register noch eine Liste der zitierten Bücher. Das erschwert ungemein die kritische Arbeit am Text. Aber auch in den anderen Bücher Sloterdijks fehlen die für kritische Auseinandersetzungen üblichen Stichwort-Register und Listen der zitierten Bücher. Dieses Fehlen unterstreicht nur den „Feuilleton-Charakter“ der Schriften von Sloterdijk.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Edgar Morin wird 100: Ein universaler Geist. „Ich bin immer störend gewesen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf einen Denker, der endlich auch in Deutschland bekannt werden sollte! Siehe unten den Hinweis auf das Edgar Morin Forschungszentrum.

(ARTE sendet in der Nacht vom 8. zum 9.Juli, um 1.15 nachts einen einstündigen Film über das Leben und das Werk von Edgar Morin).

Wie Edgar Morin die Beziehungen sieht von Poesie und Philosophie, LINK

1.
Wie können die äußerst vielfältigen Interessen und Forschungen des Philosophen, Anthropologen, Soziologen und politisch Engagierten Edgar Morin zunächst an einem Beispiel deutlich werden?
2.
Wieder einmal verwirrten antisemitische Gerüchte in Frankreich die Geister. In Orléans und anderen Kleinstädten, wird 1969 (und später noch) das Gerücht verbreitet: In Geschäften jüdischer Eigentümer würden plötzlich junge Frauen entführt, sie verschwinden „einfach so“. Die jüdischen Inhaber der Läden werden aufs übelste beschimpft und bedroht. Die Polizei ist machtlos… und sie kann keine verschwundenen Personen melden.
Es gibt einen Soziologen, der diesen Wahn mit einer Equipe genau untersucht und seine Forschungsergebnisse publiziert hat: Edgar Morin. Seine Studie hat den Titel „La Rumeur d Orléans“ „Das Gerücht von Orléans“: Auch wenn sich der „alte“ Antisemitismus mit den üblichen rassistischen Klischees (Juden haben eine komische Nase, sind geldgierig etc.) 1969 nicht mehr öffentlich zeigt, ein anderer Antisemitismus macht sich breit: Im Focus des Hasses steht etwa der Jude als jüdischer Geschäftsmann, der zwar jedem anderen Franzosen gleicht, der also integriert ist, der aber doch „als Jude“ bekannt ist und trotz der Integration diffamiert wird. Dies ist auch das heutige Problem in Europa: „Der“ Jude scheint integriert, wenn nicht assimiliert zu sein, er/sie wird aber immer noch als „anders“ wahrgenommen und wegen der Andersheit drangsaliert und verfolgt.
3.
Das Buch „La Rumeur d Orléans“ ist eines von (tatsächlich) 115 Büchern, (gezählt auf der französischen wikipedia-Seite), des französischen Universalgelehrten. Sein Werk wird in Frankeich zurecht „monumental“ bezeichnet, seine Studien wurden in 28 Sprachen übersetzt und 42 Ländern verbreitet. In Deutschland ist Edgar Morin eher noch unbekannt, keine deutsche Universität hat ihm einen Dr. hc. verliehen. Von seinen 115 Büchern sind sechs Bücher auf Deutsch erschienen LINK. Manchmal wundert man sich sehr über die Grenzen des deutsch-französischen Kulturaustausches. Als sein Hauptwerk gilt das sechs Bände umfassende Werk „La Methode“ (erschienen in den Jahren 1977 bis 2006).
4.
Am 8. Juli 1921 wurde Edgar Morin in Paris 1921 als Kind säkularer jüdischer Eltern (ursprünglich aus Saloniki stammend) geboren unter dem Namen Edgar Nahum, der Tod seiner viel geliebten Mutter 1931 war für das Kind eine Katstrophe.
Wegen seiner Mitarbeit in der Résistance (als Mitglied des PCF 1942) gab sich Nahum den Decknamen Morin, den er seitdem behalten hat. 1951 wird er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Morin kam immer wieder auf seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs zu sprechen. Für sehr viele (bis heute prominente) französische Intellektuelle während und nach der Okkupation war eine Mitgliedschaft in dem PCF eine Art sich humanistisch verstehende Protesthaltung gegen den Faschismus, verbunden mit einer naiven Idealisierung der Sowjetunion und einer begründeten Abscheu vor dem Kapitalismus.
Morins politische Option blieb auch nach dem Ende seiner Tätigkeit in den intellektuellen Zirkeln der KP links. Er gründete 1956 die Zeitschrift „Arguments“, damals sehr angesehen, unter seiner Chefredaktion wurde der Stalinismus analysiert und kritisiert. Das Erscheinen von „Arguments“ wurde leider 1962 eingestellt.
In seinem Buch „Autocritique“ (1959) reflektiert Morin seine vor allem auf intellektueller Ebene durchaus beträchtliche Mitwirkung in der Kommunistischen Partei. 1983 erschien sein Buch „Was war der Kommunismus“. Die Antwort Morins: „Kommunismus war auch ein religiöser Glaube, eine große Religion mit Heiligen, Helden, Schlächtern, Märtyrern, Eiferern, war eine irdische Heils-Religion“.
5.
Morin ist bestimmt von dem Willen, sich persönlich zu befragen und politisch zu verändern, vor allem: zu lernen: Als Professor war er viele Jahre an dem berühmten Studienzentrum CNRS (=Forschungszentrum der Wissenschaften) tätig. Mit ihm ist Morin immer noch, auch publizistisch verbunden: https://lejournal.cnrs.fr/articles/edgar-morin-ou-leloge-de-la-pensee-complexe. Das CNRS weist zurecht auf die wichtigste Qualität des Wissenschaftlers Morin hin: Er sieht die Komplexität der sozialen, politischen und philosophischen Wirklichkeit, aber er sucht im Komplexen den inneren Zusammenhalt.
Seit vielen Jahren ist Ökologie eines seiner Hauptthemen, mit dem französischen Öko-Aktivisten Pierre Rabhi hat er beispielsweise ein Buch herausgegeben. Auch die Enzyklika von Papst Franziskus („Laudato si)“ zugunsten eines grundlegenden ökologischen Wandels hat Morin sehr positiv besprochen. „Der Papst verwendet eine Formulierung, wie ein Zitat von Gorbatschow, das Wort von dem Gemeinsamen Haus, in dem die Menschheit lebt. Der Papst zeigt, dass die Ökologie ganz tief heute unser Leben, unsere Zivilisation, unsere Weise zu Handeln und unser denken bestimmen muss“. Es ist die Selbstkritik, die Morin auszeichnet, diese Bereitschaft zu fragen und zu lernen, die auch an seinem Lob für eine päpstliche Enzyklika sichtbar wird. Das ständige Lernen und Sich-Befragen ist förmlich Morins Prinzip…
6.
Das politische Engagement zugunsten der sozialen Gerechtigkeit ist die Leidenschaft im Denken Morins. Sie gilt den armen Menschen in den Ländern der Armut, wie in Lateinamerika. Sie gilt in anderer Form auch in seinem Einsatz zugunsten von Edward Snowden und Julian Assange … mit Stéphane Hessel hat er gemeinsam publiziert. Auch der Dialog mit islamischen Intellektuellen ist ihm wichtig: Selbst mit einem muslimischen Intellektuellen, der umstritten ist, mit Tariq Ramadan, hat Morin im Jahr 2017 das Buch „L urgence et l essentiel“ publiziert: „Ich verabscheue die Polemik gegen Menschen und liebe die Polemik der Ideen“, hat Morin in dem Zusammenhang gesagt.
7.
Das explizit philosophische Werk Morins ist umfassend: Er betont: „Zweifel ist die Basis des menschlichen Lebens“ und sagt gleichzeitig: „Das Leben ist ein Mysterium: Sich verwundern über den Glanz des Lebens und darin die Energie finden gegen alle Greuel“.
Morin nennt sich Agnostiker, er hat aber viel Verständnis für religiöses Suchen nach einer Transzendenz. „Alles, was wir vom Universum gelernt haben, hat ein tiefgründiges Mysterium der Wirklichkeit offenbart. Mysterium des Lebens auf der Erde! So verblüffend bei seinem Entstehen und nicht weniger verblüffend in den Evolutionen: das Mysterium des Menschlichen, das Mysterium des Bewusstseins. Wir sind eingebettet in unergründliche Geheimnisse, die sich verbinden zu einem großen und obersten Geheimnis Die Poesie des Lebens passt zu der Präsenz des Mysteriums“.
8.
In seinem Buch „Mes Philosophes“ (2012) zeigt er zum Beispiel, warum er den Mathematiker und Mystiker Blaise Pascal schätzt, warum er in dem Buch auch von Jesus und Buddha spricht. „Jesus ist eine Art jüdischer Schamane, er hat der Menschheit den Sinn für die Vergebung beigebracht, die in seiner Sicht höher ist als die Gerechtigkeit. Ich bin ebenfalls sehr bewegt von einem Satz des Apostels Paulus: „Ohne die Liebe, bin ich nichts“. Ich glaube nicht an ein himmlisches Heil. Aber wegen der Vergebung und der Lehre von der Liebe fühle ich mich wie eine Art „Neo-Chrétien“, also ein Neu-Christ. Und was Marx angeht: Seine materialistische und eindimensionale Lehre von der Welt ist überholt und vorbei, aber viele seiner Ideen bleiben lebendig und stark. Im übrigen glaube ich, wie der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz, dass jede Kenntnis zu einer neuen Unkenntnis führt. Und alles Licht kommt von einer dunklen Quelle“.
9.
“Was ich glaube”:
Morin lehnt es ab, sich Christ zu nennen, auch wenn ihm die Jesus-Gestalt viel bedeutet und die christliche Mystik (Johannes vom Kreuz) ebenso. In seinem Buch “Mes Philosophes” (Seite 42) schreibt Morin: “Ich bin für eine Religion der Verbindung: Wir Menschen sind verbunden mit dem Leben, mit der Erde, die mit ihrer Sonne verbunden ist, wir sind verbunden mit dem Kosmos. Wir sind schließlich auch mit allen Wesen verbunden, die in uns sind, Vorfahren, Eltern. Und wir müssen uns verbunden mit allen anderen Menschen durch die Bindungen der fraternité. Das ist also eine Religion ohne Idole, aber mit dem Sinn für das Mysterium, in dieser Religion sind Glauben und Zweifel gleichzeitig vorhanden. Dies ist die Religion der verlorenen Menschen, eine Idee, die ich in meinem Buch “Evangile de la perdition” ausgedrückt habe. Wir Menschen sind zusammen verloren, wir haben keine strahlende Zukunft der Vorsehung. Aber wir sind gemeinsam verbunden in einem unbekannten Abenteuer, das ungewiss ist und geheimnisvoll”.

10.
WIDERSTEHEN!
Edgar Morin ist überzeugt:
„Wogegen muss man heute Widerstand leisten? Man muss gegen zwei Formen der Barbarei Widerstand leisten: Eine Barbarei kennen wir alle: Sie zeigt sich im so genannten Islamischen Staat mit ihren Attentaten und dem Wahn. Die andere Barbarei ist kalt, eisig, die Barbarei des Kalküls, des Geldes, der Zinsen. Gegen diese beiden Formen der Barbarei müsste jedermann heute Widerstand leisten“.

Wer Französisch lesen kann, dem empfehle ich dringend als Einführung in das Denken Edgar Morins sein Buch “Mes Philosophes”. Reihe “Pluriel” im Verlag Editions Germina, 185 Seiten, 7,50 Euro.

Es gibt eine offizielle website mit einer kompletten Bibliographie, gestaltet vom “Centre Edgar Morin”: LINK
https://www.iiac.cnrs.fr/spip.php?page=rubrique&id_rubrique=2

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Zu Peter Sloterdijk: Kritik des zynischen A-Humanismus: Von Herrenmenschen und solchen, „mit denen man fast nichts gemeinsam hat“.

Eine Meinungsäußerung zu Ausführungen Peter Sloterdijks in dem Blatt CICERO

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin am 3.3.2016.

Dieser Beitrag wurde noch einmal am 27.6.2021 publiziert, um eine gewisse Ernüchterung zu fördern angesichts der zum Teil euphorischen Bewertungen des Sloterdijk Buches “Den Himmel zum Sprechen bringen” (Suhrkamp, 2020).

In dem vor 5 Jahren publizierten Beitrag wurde irrtümlich Sloterdijk als Philosoph tituliert. Diesen Titel lehnt Sloterdijk aber selbst ab, so etwa in seinem Vortrag “Absoluter und kategorischer Imperativ” (Paris, 2009, in: “Nach Gott”, 2018, Seite 300). Dort nennt sich Sloterdijk, ausnahmsweise bescheiden, “Autor philosophischer Arbeiten”. Und in dem Buch “Das Sloterdijk-Alphabet” von Holger Freiherr von Dobeneck, (Würzburg, 2006), wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Sloterdijk kein Philosoph ist, sondern eher ein “philosophischer Zeitdiagnostiker und Ideenhistoriker als ein kritisch-systematischer Philosoph” (Seite 269).

Das Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk in der bekanntlich eher sehr rechts stehenden Monatszeitschrift CICERO, Februar 2016, Seite 19 ff., hat viele Kommentare gefunden. Zum Teil wurden die Aussagen Sloterdijks schlichtweg für unverschämt, polemisch, viel zu pauschal, hetzend usw. empfunden. Diese Meinungsäußerungen sind im Großen und Ganzen sicher treffend.

1.
Tatsächlich sind die Ausführungen Sloterdijks für philosophisch interessierte Leser seiner Bücher ein gewisser Schock. In welchen Kreisen fühlt sich Sloterdijk nun wohl?
Nebenbei muss gefragt werde: Sind die eigenen schriftstellerisch-philosophischen Äußerungen Sloterdijks auch von seinem Zorn und seiner Laune, je nach dem, bestimmt? Wie stark sind bei ihm nicht weiter überprüfte Glaubenshaltungen, etwa im Fall der beiden jüngsten Bücher zur Gottesfrage: Schlicht die leitende Überzeugung, dass es eine göttliche Wirklichkeit nicht “gibt”?

2.
Einerseits weckt Slozerdijk beim Lesen des CICERO-Interviews Sympathien, wenn er zu Beginn angesichts des Terrors zu „Gelassenheit“ auffordert als einer „moralischen Aufgabe“, also für den reflektierten d.h. doch wohl kritischen Abstand vom Ereignis (Terror) wirbt. „Wir haben keine anderen Waffen als Aufklärung und Ruhe“, heißt es auf Seite 20 oben. Treffende Worte für einen Philosophen. Wenn er nur das Thema vertieft hätte….
Aber diese Einsichten werden förmlich von Sloterdijk selbst zerstört, wenn er sich zu pauschalen und unbegründeten Aussagen hinreißen lässt. Man fragt sich dann, ob er die Mahnung zu Ruhe und Aufklärung zuvor überhaupt ernst gemeint hat.
Unsinnig und unbegründet ist es, wenn er behauptet, dass der Islam „von seiner inneren Gestalt her nicht wirklich staatsfähig ist“, Seite 20. Warum soll denn „der“ Islam sich nicht entwickeln, wie einst das gar nicht so demokratie-staatsfähige Christentum? Warum ist es ausgeschlossen, dass der islamische Glaube als private Frömmigkeit in einer Demokratie gelebt wird? Wer will darauf verzichten zu hoffen (und daran zu arbeiten), wenn denn diese Welt noch eine insgesamt friedliche und tolerante Zukunft haben soll?

3.
Woher weiß Sloterdijk, dass, so wörtlich, der Islam „fast ohne Theologie auskommt“? Er will „den“ Islam offenbar für blöd erklären, für frommes Gesäusel halten und eine Sache der Gewalt… Dass es islamische Mystik, also eine Form der Theologie, gibt, hat er wirklich nie gehört? Hat Sloterdijk von den zahlreichen theologischen Schulen etwa seit dem 10. Jahrhundert gehört, ohne die christliche Theologie (und Philosophie !) später kaum möglich wäre? Hat er erfahren, dass es heute in vielen europäischen Ländern muslimische TheologInnen und entsprechende Lehrstühle an Universitäten gibt? Woher kommt diese Ignoranz? Warum verbreitet eine Zeitschrift wie CICERO unbesehen und ohne Korrektur so viel Unsinn? Will sie mit diesen falschen Behauptungen die LeserInnen aufhetzen? Will sie ihrem Ruf, sehr rechts und sehr konservativ zu sein, einmal mehr entsprechen? Diese Fragen sind Meinungsäußerungen!

4.
Über die klug zwischen den Zeilen angedeutete Vorliebe Sloterdijks für Carl Schmitt (gegen den jüdischen Philosophen Walter Benjamin) wäre vieles zu sagen. Schlimm ist, wenn ein doch eigentlich reflektierender Philosoph wie Sloterdijk die wirre Behauptung, sehr ähnlich den populistischen Sprüchen von Pegida und AFD, in die Welt setzt: “Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveranitätsverzichts der Überrollung preisgegeben“ (Seite 21). Wir werden also überrollt? Herr Sloterdijk sollte also besser auswandern, um sein Leben zu retten vor den muslimischen Horden, am besten zu seinen Gesinnungsgenossen unter den Regierenden in Ungarn oder Polen? Im Ernst: Wir werden zerstört, vernichtet, bloß weil die Kanzlerin früher einmal, jetzt schon wieder, die Menschenrechte aller, aber auch aller Menschen Recht auf Leben und Schutz höher schätzte als die materiellen Wohlstands-Interessen der eigenen Nation? Menschenrechte stehen über den Gesetzen einer jeden Nation, das sollte ein Philosoph eigentlich wissen. Aber Sloterdijk denkt offenbar die Gedanken des 19. Jahrhunderts, als alle Welt die Nationen so toll fand, die Staaten, mit ihren Grenzen, um die man national(istisch) selbstverständlich kämpfen muss, siehe Erster Weltkrieg: Die Verteidigung des alten und stets zur Kriegshetze neigenden eng umgrenzten National-Staates lässt sich Sloterdijk nicht entgehen. Er liebt die Grenze, die Staaten von Staaten trennen: Man wehrt sich von einander ab, man hasst sich, man ist neidisch, man führt ganz selbstverständlich um der Grenzen willen Krieg. Führende AFD Damen sprachen bereits konsequenterweise vom Schusswaffen-Gebrauch an der deutschen Grenze gegen Flüchtlinge, selbstverständlich nicht gegen Kinder, sondern humanerweise nur gegen die Mütter. Eigentlich sollte es für Sloterdijk hoch blamabel sein, sich de facto in solchen Kreisen zu bewegen.

5.
Über den grundlegenden philosophischen Sinn von Grenzen wäre weiter zu sprechen, bekanntlich gab es für den Philosophen Hegel und andere Philosophen die Grenzen nur, um sie zu überschreiten. Das eingegrenzte, d.h. eingepferchte Dasein in eine Art Insel des Eigenen ist purer philosophischer Blödsinn. Wir leben als nun einmal zwar als individuell-begrenzte endliche Menschen, sind aber doch immer auch grenzenlos: Allein schon durch die Sprache, die wir mit allen Menschen teilen, durch die gemeinsame Kunst, die Kommunikation, in der wir über uns hinauswachsen, uns transzendieren, also Grenzen überschreiten.

Wahrlich verstörend und eine Beleidigung für Humanisten sind die Sätze auf Seite 22, zweite Spalte, in denen der Philosoph Sloterdijk offenbar in der ihm zugewiesenen Rolle des großen Meisters und Alles-Wissers pauschal die Integration für ein „unerreichbares Ziel“ hält, so wörtlich. Er plädiert für eine gleichgültig nebeneinander her lebende „Koexistenz“, „eine freundliche Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass es zu viele Leute gibt, mit denen fast nichts gemeinsam hat“. Von friedlicher Koexistenz sprach man zu Zeiten des Kalten Krieges, als es Feindbilder gab.

Der Leser denkt: Mit diesem Sloterdijk will ich nichts gemeinsam haben. Bestenfalls diese von ihm beschriebene Koexistenz. Aber schwerwiegender ist die Arroganz des besseren, des wervolleren Menschen, des Herrenmenschen, der da spricht: Etwa: Mit diesen blöden Leuten, den Flüchtlingen, den Muslims, den anderen, den Ungebildeten und Armen, Kranken, Stinkenden, will ich bitte schön fast nichts gemeinsam haben und eben in einer Koexistenz nebeneinander her leben, nebeneinander, d.h. in Ignoranz, in Verachtung ohne Tätlichkeiten, bloß nicht im Dialog, schon gar nicht in Hilfsbereitschaft. Dieser zentrale, verstörend-unvernünftige Satz ist zu deuten als Ausdruck eines zynischen A-Humanismus. Von christlichen Traditionen, den guten, den wahrlich humanen trotz aller Verfehlungen, wollen wir nicht reden. Dafür hatte Sloterdijk pauschal ja nie viel übrig in seinem Denken. Dem sich im Menschen zeigenden Gottes-Bezug entspreche keine Wirklichkeit, dies ist nichts anderes als GLAUBENSBEKENNTNIS des Philosophen Sloterdijk.

6.
Heftig wird der Schlusssatz der genannten Sloterdijk Äußerung, der sich auf den elitär-herrschaftlichen Autor Stefan George beruft und noch einmal zeigt, wie tief die Verachtung Sloterdijks für die Flüchtlinge (und ihre dummen Helfer und ihre menschlich denkenden, vielleicht noch christlich angehauchten Politiker) ist: Sloterdijk sagt tatsächlich: “Wer kennt nicht die Momente, in denen man mit Stefan George sagen möchte: `Schon eure Zahl ist ein Frevel`? Eine antihumane Ungeheuerlichkeit! Aus der esoterischen Sprache Stefan Georges übersetzt: „Ihr Flüchtlinge seid schon in eurer großen Anzahl ein Frevel für uns Herrenmenschen. Ihr nehmt uns unseren Luxus. Ihr stört. Weg mit euch, Ihr Armen, Gequälten, Geschundenen. Geht zurück, nach Syrien, in den Iran usw. Lasst euch dort oder auf dem Rückweg und Hinweg erschießen, ist doch egal. Ersauft doch im Mittelmeer. Ihr frevelhaft Überzähligen. Wir haben als Herrenmenschen mit euch nichts gemein”.
Sloterdijk, der ja immer noch eine gewisse Beachtung findet in der Öffentlichkeit, wirkt mit seinen Hetzreden in der Zeitschrift CICERO in die Regierungskreise, CDU-CSU vor allem, hinein. Die ängstlichen, auf Wählerstimmenden schielenden Politiker haben längst begonnen, ihre Grenzen zu sichern, sich einzumauern, Angst zu verbreiten und den alten Nationalstaat wieder auferstehen zu lassen. Wie es mit den auf Grenzen fixierten Nationalstaaten einmal zuging, möge man bitte den Geschichtsbüchern entnehmen, und vorzugsweise die Jahre 1914 bis 1918 studieren oder 1933 bis 1945.

7.
Schon in dem oben genannten Buch “Sloterdijk-Alphabet” (2006) gibt es eine kurze Erläuterung zum Sloterdijk Stichwort “arabische Kultur” (S.154 f.). Der Autor dieses Buches, der Philosoph Holger Freiherr von Dobeneck schreibt: “Sloterdijk bezieht sich in seiner Charakterisieung der arabischen Kulur auf die Kulturmorphologie Spenglers. Nach ihm bildet die arabische Kultur einen tiefen Gegensatz zur Kultur des Westens, so dass eigentlich der islamische Kulturkampf gegen den Westen immunitätspolitisch in der Tiefenstruktur dieser Kultur schon angelegt ist….”.

8.
In dem “Sloterdijk-Alphabet” gibt es auch ein Stichwort “Visionen”. Sloterdijk “fordert die Einrichtung eines Büros für Visionen”. Dann fährt der Autor des “Sloterdijk-Alphabets” fort: “Ansatzeise gibt es das (also die Visionen) schon im Institut für Staatspolitik im Rittergut Schnellroda…”(Seite 260). Das Rittergut zu Schnellroda in Thüringen ist bekanntlich das Zentrum des sehr rechstlastigen Götz Kubitschek und seines Antaios Verlages, mit dem der rechtsextreme Politiker der AFD, Björn Höcke, eng verbunden ist. Und in der bekannten, für alles sehr Rechtslastige offenen “Bibliothek des Konservatismus” in Berlin sind 32 Werke von Sloterdijk, selbstverständlich möchte man sagen, vertreten.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon

Verlassene Kirchen: Aufgegeben. Verfallen. Christentum im Übergang

Meditative Foto – Studien von Francis Meslet.
Ein Hinweis als Buchempfehlung von Christian Modehn, zuerst 2020 publiziert.

Reisezeit ist für viele auch Zeit der Kirchenbesichtigungen, der gotischen Kathedralen oder der romanischen Dorfkirchen. Oder eben auch, wer realistisch ist, der Kirchenruinen, die sich vor allem in Frankreich, Spanien, Italien geradezu massenwesie befinden. Auch im Land Brandeburg wird man da findig… Wer sich – vielleicht als Fan von Casper David Friedrich oder Carl Blechen – für Kirchenruinen aus kunsthistorichen Motiven interessiert, sollte auch den aktuellen Fotoband von Francis Meslet “Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall” nicht übersehen und meditativ betrachten.

1.
Ein kultureller Bruch ist in ganz Europa sichtbar: Immer mehr „Gotteshäuser“, wie Katholiken sagen, in denen noch gebetet wird und Gottesdienste gefeiert werden, verschwinden allmählich. Eine altersschwach gewordene Kirche und Konfession zeigt auf diese Weise ihre Altersschwäche, im Verfall von Kirchengebäuden, Kapellen, Klöstern. Noch stehen diese verlassenen Gebäude, noch. Es ist jetzt die Zeit des Übergangs, vom einst Lebendigen zum Verschwindenden, dann zu Verschwundenen, zum Toten.
2.
Der Enthusiasmus der Frommen einst schuf „heilige Gebäude“ in Hülle und Fülle, in strahlender Schönheit oder in merkwürdigem Kitsch. Seit Jahrzehnten ist dieser Enthusiasmus in Europa dahin, entschwunden, aufgegeben. Neue Kirchen werden nur selten gebaut, manchmal von so genannten Stararchitekten, wie Mario Botta. Aber in wie vielen neuen Stadtvierteln werden heute noch Kirchen gebaut? Äußerst selten, man sehe sich nur einmal in Berlins Neubauvierteln um.
Verlassene Kirchen als Zeugnisse des Übergangs. Spiritualität lebt (wahrscheinlich) anderswo. Aber die alten und nun ehemaligen christlichen „Gotteshäuser“ bleiben noch in der Landschaft stehen, Ruinen sind es ja nicht, die Mauern sind noch stabil. Nur der Schutt und Dreck überall im Raum, die zerstörten Heiligenfiguren, die zertrümmerten Sitz-Bänke, die verwahrloste Orgel deuten an: Bald werden die verlassenen Kirchengebäude verschwunden sein, zerfallen als Ruinen oder sie werden abgerissen.
So wird auch das kulturelle Gedächtnis eingegrenzt. Das kulturelle und religiöse Gedächtnis braucht Sichtbarkeiten. Noch sind die verlassenen und langsam verfallenden Kirchen da. Schauen wir sie an, als Zeugen einer untergehenden Epoche. Auch einer untergehenden religiösen und kirchlichen Kultur? Wahrscheinlich ist das so. Die heutigen vielen katholischen Ultra – Mega-großen – Pfarreien werden sich um eine oder zwei große Kirchen gruppieren, so wollen es die Bischöfe, die sich nur mit einem (hoffentlich zölibatären) Priester eine Gemeinde und damit eine gepflegte Kirche vorstellen können. So werden die Bischöfe und ihr mittelalterliches Kirchenrecht mit der Klerus–Fixierung mittelfristig dafür verantwortlich sein, dass es immer mehr verlassene und dann abgerissene Kirchen geben wird.
3.
Es ist ein großes Verdienst des französischen Fotografen und Fotokünstlers Francis Meslet, dass er in einem neuen Buch sein Können zeigt und sich die Mühe machte, verlassene, aufgegebene Kirchen vor dem definitiven Verschwinden und Einebnen zu fotografieren. Er hat zu seinem umfangreichen Fotobuch (das in mehreren Sprachen erschienen ist) eine Einführung geschrieben über seinen persönlichen Weg zu dem Thema. Er betont ausdrücklich, dass die vielen fotografisch dokumentierten verfallenen Kirchen nicht mit Ortsangaben ausgestattet sind. So soll ein möglicher „Ansturm“ von interessierten Touristen verhindert werden, sie könnten den Verfall beschleunigen…Francis Meslet hat einige französische Autoren eingeladen, anlässlich der Fotos zu jeweils einer verlassenen Kirche Meditationen oder Beobachtungen oder poetische Bemerkungen zu verfassen. Die Titel zu den einzelnen Fotos regen die Phantasie an, manche sind verstörend, viele sehr treffend. Religionssoziologische Studien oder theologische Reflexionen darf man in dem Buch nicht erwarten. Francis Meslet weist aber (S.7) darauf hin, dass es in Frankreich eine staatliche „Beobachtungsinstitution für das religiöse Erbe“ gibt, das „Observatoire du Patrimonie religieux“, OPR, in Paris. Auf dessen Website werden ständig lange Listen aktuell bedrohter Kirchen genannt, also alte Gotteshäuser, die als ganze oder hinsichtlich bestimmter Bauteile vom Verfall oder Einsturz bedroht sind. Allein für den Monat Oktober 2020 werden 20 Kirchen genannt, darunter auch 2 protestantische, die als „édifices menacés/fermés“ genannt werden. Für Kirchengebäude, die vor dem Jahr 1905 errichtet wurden, ist der französische Staat verantwortlich, jedenfalls für das äußere Mauerwerk, nicht aber für Gestaltung im Innern, so schreibt es das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat vor.
Francis Meslet weist darauf, dass auch Kirchen von aktuellen Vandalismus angegriffen und zerstört wurden und werden. Vandalismus gegen Kirchen ist bekanntlich vor allem in Frankreich ein weit verbreitetes Vergehen extrem fundamentalistischer oder krimineller Kreise. Der Fotograf erinnert auch an Gemälde, die den Kirchenabriss vor langer Zeit dokumentieren, etwa ein Gemälde aus dem Jahr 1800 mit dem Titel „Abriss der Kirche von Saint-Jean-en-Grève“, gemalt von Hubert Robert, es ist im Pariser Musée Carnavalet zu sehen. Dieser Hinweis ist wichtig: Viele Kirchen wurden im Umfeld der sich radikalisierenden Französischen Revolution, der „Entkirchlichung“, geplündert und zerstört.
4.
Die Fotoserien in dem Buch „Verlassene Kirchen“ beziehen sich auf 37 verschiedene Kirchengebäude aus unterschiedlichen Epochen (vom 11. bis in 19. und sogar 20. Jahrhundert: Diese verlassenen „Gotteshäuser“ – nun, in diesem Zustand, auch von Gott verlassen? – entdeckte Francis Meslet vor allem in Frankreich, aber auch in Italien, Portugal, Belgien und 2 Kirchen sogar in Deutschland.
Oft sind bis zu 10 verschiedene Fotos auf ein Gebäude bezogen. Und wie gesagt, die manchmal poetischen Texte der Einstimmung lassen der Phantasie der Leser freien Raum. Abgesehen von den zahlreichen Texten von Francis Meslet schätze ich besonders die Beiträge des Historikers und Autors Christian Montesinos: Sie sind oft auf aktuelle, letztlich auch religiöse oder sogar theologische Fragen bezogen. Nebenbei: Es ist schon bemerkenswert, dass Francis Meslet keinen Theologen als „Kommentator“ zu seinem Buch eingeladen hat, ist das etwa „typisch französisch“ für die „laicité“?
In seinem Hinweis zu einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert in Burgund erinnert Christian Montesinos eher nebenbei daran, dass im 19. Jahrhundert in Frankreich mehr Kirchen neu gebaut wurden „als in allen Jahrhunderten zuvor“. Ich ergänze: In der politischen Restauration nach der Revolution blühte förmlich der katholische Glaube wie eine Art Volksreligion auf, er zeigte förmlich eine Leidenschaft fürs Bauen und fürs Klosterleben.
5.
Die Betrachtung der großen, ganzseitigen Fotos (im Querformat) weckt die Stimmung der Melancholie, besonders bei denen, die den Verfall nur als Verlust deuten. Wichtig sind die Bemerkungen von Sylvie Robic zu einer verlassenen Kirche in Okzitanien aus dem 19.Jahrhundert: „Mit Blick auf das Meer“ ist der Titel. Diese Kirche kannte die Autorin persönlich gut, selbst nachdem gar keine Gottesdienste mehr stattfanden zog es sie dorthin. „Wenn ich mich recht erinnere, ging das so bis zu dem großen Sturm 1977, als so viele Boote nicht zurückkehrten. Wir fühlten uns verraten. Ja, es muss 1977 gewesen sein, als das Dorf die Kapelle aufgab“ (S. 72). Mit anderen Worten: Die Fischer sind mit ihren Booten im Meer versunken. Und die Gemeinde, die Pfarrer, fanden keine passenden Worte des Trostes. Auch deswegen verfallen Kirchengebäude! Die Fotos bestätigen die Aussage: Der kleine 2. Altartisch steht noch, den man nach dem 2. Vatikanischen Konzil brauchte, damit der Priester die Messe dem Volk zugewandt lesen konnte. Voller Staub und Spinnweben zwar stehen auch noch die Bänke. Dazu die ironische (?) Bildunterschrift „Es ist nie zu spät“… Wird diese Kirche noch einmal genutzt werden für Gottesdienste? Wohl kaum. Sie ist wie viele andere Kirchen in diesem Buch aufgegeben worden – auch weil die Gemeinde den Glauben verlor, weil ihnen eine religiöse Lehre vorgesetzt wurde, die kaum noch jemand verstand, die auch das Herz nicht berührte. Mein Eindruck: An den verlassenen Kirchen ist auch die Kirchenführung schuld.
6.
Jetzt stehen die beschädigten Gipsfiguren der Heiligen wie kleine banale Ruinen da, Zeugnisse einer Zeit, als die Kirche mit allerlei Volksfrömmigkeit und Kitsch und grellen Wandgemälden meinte, religiöses Bewusstsein zu fördern, das den Geist der Menschen prägt.
7.
Über dieses Buch, seine hervorragenden Fotos, seine inspirierenden Texte, sollten theologische Debatten und Vorlesungen veranstaltet werden, auch in Kirchengebäuden bzw. katholischen oder evangelischen Akademien. Immer auch unter der Frage: Sind die Gebäude, in denen wir jetzt noch sitzen, in einigen Jahren auch verlassene Kirchen und verlassene Kirchengebäude? Die Antwort heißt wohl mit JA – mindestens “sehr wahrscheinlich”. Weil die verlassenen Kirchengebäude immmer auch mit den von allen guten kritischen Geistern verlassenen Dogmen der Konfessionen verbunden sind, wie etwa dem Wahn des Erbsündendogmas oder der Bindung an christologische Dogmen aus dem 4. Jahrhundert.

Werden die Kirchen heute zu solchen Debatten, etwa anlässlich des Buches „Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall“, den Mut haben? Ich vermute nein, denn die oberste Tugend der (katholischen) Kirchenleute und Theologen ist bekanntlich Angst, Angst vor den fernen Autoritäten, etwa im Vatikan. Sie reden den Glaubenden ein, als selbsternannte, niemals demokratisch gewählte Autoritäten allmächig und unfehlbar zu sein.

Francis Meslet, “Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall”. Editions Jonglez, Versailles. 2020. 224 Seiten, viele ganzseitige meisterhafte Fotos. 35 Euro. In Deutschland erreichbar unter Mairdumont in Ostfildern bzw.:buchcontact@buchcontact.de

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Die 4. unerhörte Frage: Warum haben Menschen das deutliche Kriterium für die Qualität ihres Lebensstils (ihrer Moral) vergessen?

Von Christian Modehn: Die 4. Frage unserer Reihe „Unerhörte Fragen“: Warum haben wir den „Kategorischen Imperativ“ vergessen?

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Über Moral und Ethik kann man natürlich ewig diskutieren und dann sagen: Ja, ja, jeder und jede hat irgendwie recht. Also soll jeder – auch politisch und ökonomisch – so leben, wie es ihm passt. Egal, was dann weiter passiert.

Immanuel Kant hat die menschlichen, die sozialen und politischen Gefährdungen dieser simplen Haltung erkannt und ihr mit Gründen vernünftiger Einsicht, die DEN Menschen auszeichnet, widersprochen.

Kant wusste: Mit äußeren Befehlen und Gesetzen ist einer banalen moralischen Haltung allein nicht beizukommen. Einzig die innere Überzeugung, also eine Leistung der Vernunft, hilft auf Dauer weiter und führt zu einer menschenwürdigen und freien Gesellschaft, also einer, in der alle Menschen ihrer Würde entsprechend leben können. Dass Moral dabei nicht den Mief einer spießbürgerlichen Sexualmoral hat, ist sowieso klar.

2.

Man sollte sich fragen, warum die verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs von Kant so wenig bekannt und noch viel weniger respektiert werden? Sie sind doch so einfach zu verstehen. Liegt die Unkenntnis an dem etwas schwierigen Titel? Liegt es an der allgemeinen Unbildung vor allem auch in Fragen der vernünftigen Lebensgestaltung, und dies ist ja die Philosophie? Wahrscheinlich ist das so. Indem man Philosophie als „schwierige Disziplin“ in die Ecke des Marginalen stellt, entledigt man sich auch der Grundsätze einer universalen humanen Lebensgestaltung.

Zwei Formulierungen des „Kategorischen Imperativs“ von Immanuel Kant, die sich auf die Grundsätze der individuellen Lebensgestaltung beziehen, folgen gleich.

Zunächst: Diese unbedingt (also kategorisch) geltenden Imperative beziehen sich auf die zahllosen Maximen, also die Leitlinien individueller Lebensgestaltung, die jeder und jede, irgendwie, mehr oder weniger bewusst, „hat“ und lebt.
Heute wäre eine aktuelle Maxime etwa: „Zuerst muss ich mich als Teil der reichen Länder um mein eigenes materielles Wohlergehen kümmern“.
Oder: „Die Frage der Klimapolitik überlasse ich künftigen Generationen“.
Oder: „Wir als deutsche Unternehmer (etwa Bayer) haben moralische Doppelstandards und akzeptieren, dass unsere Gifte für den Acker (mit Pestiziden) im reichen Europa nun verboten sind, um so mehr sind wir dankbar, dass wir unsere Gifte an anderen Orten, etwa im armen Lateinamerika, auf den Markt bringen können.“
Oder: „Ich als Agrar-Unternehmer (etwa in Spanien) brauche für meine Obstplantagen Menschen, die als Ungelernte und zudem noch als Flüchtlinge aus Afrika eben schlechter als andere bezahlt werden dürfen und in eher primitiven Unterkünften leben können“.
Jeder und jede kann weitere, seine eigenen Maximen formulieren. Diese Maximen hätten im Denken der Vernunft, im Sinne Kants, keinen Bestand in der Moral.

Kant macht es uns insofern einfach, als er für die denkbare Fülle von Maximen Kriterien hinsichtlich ihrer Vernunft formuliert, also Prüfsteine ihrer moralischen und allgemein menschlichen Qualität,

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Oder:
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
In heutige Alltagssprache übersetzt könnte man diesen Kategorischen Imperativ so verstehen: „Handle so, dass du die allgemeine menschliche Würde aller Menschen sowohl für dich selbst und für jeden anderen Menschen niemals instrumentalisierst. Du sollst dich selbst und auch keinen anderen Menschen als Mittel, als Ding, verstehen und behandeln. Sondern: Du selbst und jeder andere Mensch ist Selbstzweck, hat also unendlichen Wert an sich selbst. Kein Mensch darf für irgendetwas wie ein Instrument behandelt werden“.

Werden diese Imperative mit den jeweiligen Maximen verbunden, kann die Qualität der Maxime beurteilt werden. Aber die Erkenntnis stellt sich der Freiheit eines jeden, der Erkenntnis zu folgen.

3.

In sehr vielen religiösen Kulturen setzte sich die so genannte „Goldene Regel“ durch: Als Sprichwort ist sie sehr weit verbreitet, etwa:
„Was du nicht willst, dass man es dir tut, das füg auch keinem anderen zu“. Oder auch „moderner“ formuliert:
“Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“.

Über diese traditionsreichen „Goldene Regel“ wurde viel geschrieben, oft wurden die Grenzen dieses Weisheitsspruches dargestellt. Etwa etwas spitzfindig: „Wenn ich geschlagen werden will, dann kann ich auch andere schlagen“…

Wegweisend ist die aktuelle Formulierung des Kategorischen Imperativs durch den Philosophen Hans Jonas: Er hat einen ökologischen Imperativ vorgeschlagen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Oder auch: „Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben.“

Jeder kann sich weitere kategorische Imperative überlegen, auch: „Welche Maxime ist mir wichtig?

Für die Bildungspolitiker könnte man formulieren: „Handle so als Bildungspolitiker, dass die SchülerInnen ethische Grundkenntnisse wie den Kategorischen Imperativ nicht nur auswendig lernen, sondern auch für ihr Leben verstehen. Denn moralisches Leben ist ohne Reflexion der Vernunft nicht möglich“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Georg Lukács – was sagt er über die Religionen und seine “Conversion” zum Marxismus?

(Unvollständige) Hinweise von Christian Modehn anlässlich des 50. Todestages von Georg Lukács am 4. Juni 2021.

1.
Vor 50 Jahren, am 4. Juni 1971, ist der Philosoph Georg Lukács in Budapest gestorben, geboren wurde er ebenfalls in Budapest am 13.4.1885. Das sehr umfangreiche Werk des marxistischen Philosophen ist, wie Axel Honneth schreibt (in: Georg Lukács, „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“, Suhrkamp, 2021, S. 7, in den folgenden Zitaten hier nur die Seitenangaben) „voller Höhen und Tiefen“, nicht zuletzt wegen seiner Jahre langen engen Bindung an die Kommunistische Partei Ungarns. Zur Zeit seines Aifenthalts in Moskau (dorthin geflohen seit 1933) fiel er 1941 in Ungnade Stalins …und überlebte trotzdem: „Glück in Katastrophenzeit“, sagte er (G.L. Ästhetik, S. 557).
Lukács hat sich seit 1919 bis zu seinem Tod sehr deutlich als Marxist verstanden. Aber deswegen ist Lukács alles andere als ein Denker, der nur für Historiker des angeblich bedeutungslos gewordenen Marxismus wichtig ist. Im Gegenteil, es gibt bleibende und gültige Erkenntnisse des Marxisten Lukács, man denke nur an den Begriff der „Verdinglichung“, dargestellt in dem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Der Soziologe Hartmut Rosa bezieht sich in seinem viel beachteten Buch „Resonanz“ ausführlich auf die Verdinglichung im Sinne von Lukacs.
2.
In der ersten Phase seines äußerst umfangreichen nicht nur philosophischen, sondern auch literaturwissenschaftlichen Publizierens hingegen war er „vormarxistisch“ (A. Honneth, S.8) orientiert. Seine „Konversion zum Kommunismus“ (so Axel Honneth, S. 13) fand Ende 1919 statt. „Lukács wird 1918 scheinbar urplötzlich Kommunist und zumal orthodoxer Marxist“, ergänzt Rüdiger Dannemann, Lukács Spezialist und Mit-Herausgeber des genannten Buches (S. 24f.). Die Gründe für dieses „urplötzliche Konversion“ wird vielleicht eine sehr ausführliche Biographie erklären können. War es die Erschütterung über die Verwüstungen des Ersten Weltkrieges? Die Flucht in eine Doktrin, die die „Erlösung“ der Menschheit politisch durchsetzen kann?
3.
Der theologisch konnotierte Begriff „Konversion“ macht wie schon die von Lukács selbst verwendete Behauptung von der „welterlösenden Rolle des Sozialismus“ (in: G.L., „Ästhetik…“ S .205) neugierig: Wird eigentlich heute – endlich, möchte man fast sagen – auch gründlich das Thema „Georg Lukács und die Religion“ untersucht?
4.
Nun findet im „Aufbau-Haus“ in Berlin am 4. Juni 2021 eine internationale Lukács Konferenz statt – live gestreamt! Unter den zahlreichen Vorträgen (Höhepunkt dürfte wohl der Vortrag von Axel Honneth sein über „Lukács‘ Gratwanderung zwischen philosophischem Argument und parteilichem Engagement“) sucht man das Thema Religion, jedenfalls explizit, vergebens, vielleicht kommt es ja irgendwie am Rande „implizit“ dann doch noch vor. Die Frage nach der Religion im philosophischen Denken ist keineswegs ein persönlicher „Spleen“. Dieses Interesse entspricht nicht nur den Traditionen philosophischen Denkens, sondern im Fall von Georg Lukacs selbst gibt es allein schon in dem genannten Buch einige zum Teil kurze, zum Teil ausführlichere Hinweise zur Bedeutung der Religion in seinem Denken aus allen unterschiedlichen „Denk – Epochen“ von Lukács.
5.
Für mich ist sehr aufschlussreich der kurze Text über „Jüdischen Mystizismus“ von 1911, also noch aus der vormarxistischen Phase. Der kurze Text ist eine Buchbesprechung zu den „Geschichten des Rabbi Nachman“ aus der mystischen Chassidim-Bewegung, in einer Übersetzung Martin Bubers. Interessant ist, welche Kenntnisse der Mystik Lukacs in dem kurzen Text (Seite 108 und 109) zeigt. In einem gewissen kritischen Abstand spricht er nicht von Mystik, sondern von Mystizismus, was auf seine Distanz hinweist. Aber Lukács weiß auch, dass „Mystizismus“ wenig an etablierte Religions-Systeme gebunden ist, er weiß, dass es sozusagen interreligiöse inhaltliche Übereinstimmungen zwischen verschiedenen „Mystizismen“ gibt. Im Jahr 1933, als Marxist und Kommunist, kommt Lukács noch einmal auf „Mystik“ zurück. In seinem inzwischen etwas berühmten Aufsatz „Grand Hotel Abgrund“ behauptet er, dass ein skeptischer Relativismus eine nicht-kommunistische, liberale und sozialdemokratische intellektuelle „Elite“ hinübergleiten lässt in eine „reaktionäre Mystik“, (so wörtlich S. 333). Diese reaktionäre Mystik im Sinne von Lukács hält sich nicht mehr an die „objektive Wirklichkeit“ in seinem Sinne, also an die alles bestimmende Macht der materiellen Gegebenheiten. Diese reaktionäre Mystik gleitet in ihrer Ignoranz ab „in das fingierte Absolute des religiösen Mythos“ (332). Also, man könnte sagen: Wer nicht als Kommunist die Partei ergreift für die Unterdrückten, ergreift Partei für die Unterdrücker und gleitet ab in einen religiösen Glauben, der förmlich nur über allem Materiellen schwebt.
6.
Der christliche Begriff des Märtyrers als „Blutzeugen“ ist Lukács natürlich bekannt. Darum kann er in seiner Hommage für Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1920 (!) diese ja durchaus Lenin-kritische Sozialistin eine „wahre Blutzeugin“ nennen (S. 294). Ist dies eine Art säkularer Heiligsprechung der Blutzeugin Rosa Luxemburg?
7.
Seine Studien über den jungen Hegel hat Lukacs auch in Moskau unter Stalin fortgeführt. Und Axel Honneth schreibt wohl sehr treffend: „Es fällt ein bestürzend erbarmungsloses Licht auf die Widersprüchlichkeiten, in die sich Lukacs inzwischen bei seinem Versuch verstrickt hat, gleichzeitig Partei für den Geist (also Hegel, CM) und Partei für die Partei zu ergreifen“( 21). Vorher, 1922, hatte Lukács schon einen Beitrag „Die Jugendgeschichte Hegels“ verfasst. Der „junge Hegel“ ist sozusagen ein Dauerthema für Lukács. In diesen Arbeiten ist – wie es sich für Hegel gehört – auch von Religion die Rede. Darin sieht er Hegel auf einer Linie mit der bürgerlichen Klasse, die sich damit abgefunden hatte, die feudalen Reste der Gesellschaft zu akzeptieren. Auf die Religion im Sinne Hegels bezogen: Hegel wollte nur noch das bestehende, gegebene „positive“ Christentum durch die Vernunftreligion rechtfertigen. Er wollte als Bürgerlicher aber nicht das Christentum abschaffen zugunsten nur einer Vernunftreligion. (S. 304). Das hätte Lukács treffend gefunden
8.
Sehr religiös klingen einige Formulierungen, wenn Lukács, 1918 also noch sehr kurz vor seiner Konversion zur kommunistischen Partei, von der erlösenden Kraft des Proletariates schwärmt: Das „Wollen“ einer demokratischen Weltordnung durch die Sozialisten (also SPD) „macht das Proletariat zum sozialistischen Erlöser der Menschheit“ (S. 205). Kann man sich, philosophisch gesehen, Erlösung in einer engeren, begrenzteren Definition vorstellen?
9.
In seinem Aufsatz von 1933 „Grand Hotel Abgrund“ fordert er hingegen die Abkehr von der Sozialdemokratie, er fordert den mutigen „Sprung“ angesichts des politischen Abgrundes dieser Welt in die kommunistische Partei. Diesen Sprung nennt er hübsch „salto vitale“ (S. 329). Lukács verwendet tatsächlich den Begiff „Sprung“, (S. 328) um die entscheidende Leistung des zum Kommunismus Entschlossenen zu beschreiben. Dieser Begriff Sprung erinnert mich daran, was Kierkegaard oder der Theologe Karl Barth für die entscheidende Leistung des Glaubenden hielten. Sie müssen gegen alle Vernunft in den Glauben und seine Dogmen springen. Über den Begriff Sprung sehe ich eine intime Nähe der kommunistischen Religion zur dogmatischen Religion der christlichen Kirche. In beiden Religionen muss „gesprungen“ werden. Und der Begriff „salto vitale“, also ein lebendiges, wenn nicht erst gar Leben spendendes salto, erinnert mich von fern an den „Sprung „des Menschen, wenn er sich zur Taufe entschließt, und ursprünglich in das tiefe Taufbecken einst gestoßen wurde.
Für viele Kommunisten, zumal unter Stalin, wurde ihr „salto vitale“ dann doch zu einem salto mortale, für Millionen anderer Menschen ebenso, die dieses sich nur im „Glauben“ zu erschließende kommunistische „salto vitale“ aus Vernunftgründen gar nicht vollziehen konnten und wollten. Sie wurden zu tausenden dann auch in den Lagern Stalins oder der sozialistischen „Bruderländer“ gequält, ausgebeutet als Arbeitstiere und umgebracht
10.
Ausführlich über das Christentum spricht Lukács in der Einleitung seiner Studie „Zur Ontologie des gegenwärtigen Seins“(von 1964) (S. 458 ff.). Darin weist er nicht nur auf das Eingebundensein des Christentums in die antike und mittelalterliche Philosophie hin, er zeigt sich dabei als Kenner der Kirchengeschichte, wenn er etwa sagt: „Paulus, der das Christentum über die engen Schranken einer jüdischen Sekte hinausführt“ (S. 459).
11.
Die Erinnerung an Georg Lukács also bleibt zwiespältig: Für mich stellt sich die Frage: Wie kann man sozusagen bleibende Erkenntnisse (etwa „Verdinglichung“) aus dem Gesamtkorpus seines nun einmal seit 1919 kommunistischen, später aber in jedem Fall sozialistischen Denkens „herausbrechen“? Und eine Debatte über das „Bleibende“ und nach wie vor „Inspirierende“ des Sozialismus ist heute alles andere als obsolet.
12.
Eine Frage bleibt: Wie hat Georg Lukács den Antisemitismus und den Holocaust verstanden und beschrieben, auch den Antisemitismus in den kommunistischen Parteien (Polen, Ungarn, DDR) nach 1945?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin