„Im blinden Glauben an die Patriarchen“. Der Philosoph Hegel kritisiert die orthodoxen Kirchen: „Sie blieben im Traum des Aberglaubens“!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.3.2022

1.
Kann Hegel, als “Philosoph der Religion“ und „Philosoph der Geschichte“, inspirierend sein für ein aktuelles kritisches Verständnis der orthodoxen Theologie und der orthodoxen Kirchen? Also auch zum Verstehen jener Kirche, die sich in Russland befindet und sich russisch-orthodoxe Kirche nennt?
Diese Frage kann jeder für sich prüfen angesichts der hier vorgestellten Erkenntnis Hegels. Sie trifft sicher wichtige Aspekte der orthodoxen Kirchen.
2.
Zunächst einige Vorbemerkungen:
Seine „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ hat Hegel fünfmal in Berlin seit 1822 gehalten. Und dabei wird im Dritten Teil innerhalb der frühen Kirchengeschichte auch die Ostkirche erwähnt, bei Hegel unter den Titel „Das byzantinische Reich“ (in der Hegel-Suhrkamp Ausgabe von 1970, S. 406-412).
Entscheidend ist: Hegel weiß seit 1822: Selbst wenn er über theologische und politische Zustände dieser „Ost-Kirche“ im 4. und 5. Jahrhundert spricht, sind die dort schon sichtbaren Strukturen bis in Hegels eigene Gegenwart gültig. Darum kann Hegel betonen: „Die Christen des byzantinischen Reiches (also die Orthodoxen) BLIEBEN in dem Traum des Aberglaubens versunken, im blinden Gehorsam gegen die Patriarchen und die Geistlichen verharrend“ (S. 411).
3.
Heute können wir diese Erkenntnis Hegels gut verstehen: In einer allgemeinen Einschätzung der so genannten Orthodoxen, also der „rechtgläubigen“ Kirchen im Osten Europas, ist deutlich: Die orthodoxen Kirchen, in Russland, aber auch Serbien, Griechenland, Georgien usw. waren und sind in einer so engen Verflochtenheit mit dem jeweiligen Staat und der Regierung bzw. dem so genannten Volksgeist, dass diese Kirchen außerstande waren und sind, die universalen Menschenrechte als oberstes Prinzip kirchlichen Handelns zu akzeptieren. Es muss nun in aller Deutlichkeit betont werden: Diese orthodoxen Kirchen und ihre Patriarchen waren und sind gut bezahlte Staatsdiener ihrer jeweiligen Länder. Dass damit nicht gesagt ist, die westlichen Kirchen, also der Katholizismus und der vielfältige Protestantismus, seien immer entschiedene Verteidiger der Menschenrechte, steht fest. Aber um diesen Aspekt geht es jetzt nicht.
Andererseits ist heute auch deutlich: Es gibt vereinzelte in Russland lebende russisch-orthodoxe Priester und Theologen, die sich heute gegen die Verbundenheit ihres Patriarchen Kyrill mit Putin öffentlich wehren. Kirchenkritische russisch-orthodoxe Theologen, wie Prof.Cyril Hovorun (Stockholm), leben ist immer außerhalb des Machtbereichs der Patriarchen. Der kirchenkritische Dichter Leo Tolstoi hat sich von dieser Kirche abgewandt, bis heute ist diese Kirche nicht bereit, sich mit ihm zu „versöhnen“. Tolstoi bleibt exkommuniziert!
4.
Hegels Ausführungen zu den so genannten Ostkirchen, den „Orthodoxen“, sind ziemlich knapp, aber wertvoll hinsichtlich der mitgeteilten Perspektiven. Er spricht von dem Bilderstreit und der orthodoxen Vorliebe für die Anschaulichkeit Gottes, Christi, Marias der „Gottesmutter“ und der Trinität in den Ikonen. Hegel kennt alte Kirchenväter wie Gregor von Nazianz und zitiert ihn aus der berühmten Textsammlung „Migne“(S. 410); er zeigt, wie es bei den Auseinandersetzungen über dogmatische Sonderfragen „zu blutigen Kämpfen” unter den Orthodoxen kam; wie sie zwar von „der Idee des Geistes“ sprachen, dieses Dogma aber „völlig geistlos behandelten“ (S. 410). Das heißt für Hegel: Die Orthodoxen haben viel vom heiligen Geist gesprochen, aber nicht verstanden, was Geist meint, also kritisches Selbstbewusstsein der Menschen, sie haben also geistlos vom Geist gesprochen.
5.
Hegel wehrt sich gegen die übliche Vorstellung, im oströmischen Reich, also im Gebiet der Orthodoxie, drehe sich alles Denken und Tun um die behauptete Wahrheit und Reinheit (also „Orthodoxes“) des Christentums. Vielmehr handelt es in Hegels Sicht und Forschung um „eine tausendjährige Reihe von fortwährenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Charakterlosigkeit, das schauderhafteste Bild…“ (S. 409).
Hegel denkt dabei an die religiösen Führer, die Bischöfe und Patriarchen.
6.
Worin sieht Hegel den Grund für das völlig unchristliche Verhalten? Die orthodoxe Theologie bleibt „abstrakt“, sagt der Philosoph. Und „abstrakt“ meint für ihn: Die Lehre der Orthodoxie verhält sich sozusagen „abgekapselt“, also: „rein und in sich nur geistig“, und das heißt für Hegel: Diese christliche Kirche hat kein Interesse, den Geist des Christentum, die universale Menschlichkeit, also die im Evangelium ausgesprochene Gleichheit aller Menschen, in die politische Wirklichkeit zu „überführen“, also dafür zu sorgen, dass die politische Welt nach gerechten Gesetzen regiert wird. Die orthodoxe Kirche also verhält sich nur „rein“, wie in einer heiligen Sonderwelt; sie kritisiert nicht die politische Welt, und sie bleibt „in sich geistig“, d.h. sie feiert ihre so genannten göttlichen Liturgien in Kirchen, die den Himmel schon symbolisieren sollen in altertümlichen Sprachen, die keiner versteht. Dem stellt Hegel die Aufgabe der Kirche gegenüber: „Der Staat muss eine vernünftige Organisation haben, „das Rechte muss zur Sitte, zur Gewohnheit werden“ (S. 409), auch durch den Beitrag der Kirche! Aber das geschieht nicht in der orthodoxen Kirche.
7.
Ist diese politische „Abstraktheit“ sozusagen der äußere Aspekt, so ist auch innerkirchlich für Hegel die Orthodoxie erstarrt. „Die Besetzung des Amtes der Patriarchen zu Konstantinopel, Antiochien und Alexandrien sowie die Eifersucht und Ehrsucht dieser Patriarchen untereinander verursachte ebenfalls viele Bürgerkriege“ (S. 411). Man denke aktuell nur daran, mit welcher Wut der Patriarch von Moskau und Putin Vertraute, Kyrill I., das Oberhaupt der Orthodoxie, den Patriarchen von Konstantinopel, kritisierte: Dieser hatte den russisch-orthodoxen Erzbischof von Kiew anerkannt, als er sich von der Herrschaft des Moskauer Patriarchen kürzlich befreite.
8.
Hegel bietet in seiner „Vorlesung über die Philosophie der Geschichte“ kein geschichtswissenschaftliches Kompendium. Er deutet auch die Geschichte und Gegenwart der Kirchen normativ, und die Normen entnimmt er den Prinzipen seiner Philosophie: Und deswegen erkennt er auch in der Geschichte der Religionen und Kirchen einen langsam sich durchsetzenden Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Mit anderen Worten: Die orthodoxen Kirchen lebten für Hegel in einer sehr unterentwickelten, unfreien Theologie des Christentums. Sie dachten und denken und handeln „abstrakt“, wie ich oben erläuterte.
Über den Katholizismus kam dann das christliche Denken im Sinne Hegels erst im Protestantismus zum vollen Bewusstsein der christlichen Freiheit, prinzipiell jedenfalls. Freiheit ist nun die geistige Verbundenheit des einzelnen Menschen mit Gott als Geist, also lebt der Mensch in einem Geist zu Geist-Verhältnis der Freiheit. Und die wesentliche religiöse Gleichheit aller Menschen soll in den Gesetzen des modernen Staates ihren Ausdruck finden. Erst mit der Reformation wird die Erkenntnis formuliert: Zu diesem göttlichen Geist hat der Mensch – ein Teilhaber an diesem göttlichen Geist – ein Verhältnis der Freiheit.
9.
Die Orthodoxie ist also auch eine Art Ansammlung von eifersüchtigen und ehrsüchtigen Patriarchen, die gern die Gläubigen im Aberglauben (Ikonen-Kult, Bilder-Kult) belassen oder im Nichtverstehen der Gebete in der unverständlichen alt-slawischen Sprache während der „heiligen Liturgie“ belassen? Hegel sieht das jedenfalls so!
10.
Die Führung der Russisch-orthodoxen Kirche ist meilenweit davon entfernt, eine wirksame oppositionelle Kraft gegen den Diktator Putin zu sein. Sie könnte die einzige große Opposition gegen Putin sein. Diese Orthodoxie in Moskau ist aber heute meilenweit davon entfernt, eine politisch-kritische Bedeutung zu haben, etwa so, wie sie die Evangelische Kirche in der DDR in den Jahren vor der Wende 1989 hatte. Gar nicht daran zu denken, dass die russischen Kirchen und äußerst geräumigen Kathedralen zu Orten des politisch – kritischen Beten und Diskutieren werden. Dies wäre doch mal ein test, ob Putins Soldaten in die Kirchen eindringen und auch dort Betende während des Gottesdienstes verhaften? Das wird nie passieren, weil der Patriarch vom Putin System auch materiell profitiert. Wer die so genannten Predigten von Patriarch Kyrill I. jetzt, in Kriegszeiten hört, muss erkennen: Dieser Herr, der sich allen Ernstes immer noch als „Seine Heiligkeit“ ansprechen lässt, ist ein Kriegstreiber. Welch ein Wahn, diese Heiligkeit – einst zudem, nachgewiesen, KGB-Mitarbeiter wie Putin – in ökumenischen Gremien auch des Westens noch zu belassen. Auch das muss man der Ehrlichkeit wegen sagen. Kyrill I. macht in seinen Aussagen einen ziemlich verkalkten Eindruck, etwa wenn er behauptet: „Homosexuelle sind schuld am Krieg in der Ost-Ukraine“.
Nietzsche stellte einst die richtige Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Im Falle der russischen Orthodoxie und ihrer Patriarchen muss man leider den Eindruck haben. Diese Kirchenführung in Moskau glaubt, folgt man ihren Worten und Taten, nicht an den Gott des Evangeliums, den Gott des Friedens.
11.
Zu einer deutlichen kritischen Analyse der Orthodoxie kann jeder auch ohne die hier mitgeteilten Inspirationen Hegels kommen.

Aber manche tröstet es dann doch, dass schon ein bedeutender Philosoph seit 1822 eine treffende Kritik an der Orthodoxie vortrug. Man findet sich also als Kritiker der russischen Orthodoxie in guter Gesellschaft. Und auch diese Frage: Welcher deutsche oder französische Theologe hat 1822 schon eine deutliche Kritik an der (russischen) Orthodoxie formuliert?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.2.2022.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK:

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nicht nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die notwendige Verweltlichung des Christentums.

Eine aktuelle Erkenntnis des Philosophen G. W. F. Hegel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Das Christentum nur als spirituelle Religion, unter Führung des Klerus, zu verstehen und zu gestalten, ist für Hegel nur das „halbe Christentum“. Für ihn steht fest: Die zentrale der Idee der universalen christlichen Freiheit (modern: der Menschenrechte) muss sich in Staat und Gesellschaft realisieren, dies ist genauso wichtig wie alles Innerliche, Spirituelle, Kirchliche.
Die drängende Frage ist: Hat das Christentum Frieden und Gerechtigkeit gebracht in seiner 2000 Jahre dauernden Geschichte? Global beantwortet: Eher nicht. Denn das Christentum ist meist eine Ansammlung spiritueller, dogmatischer, moralischer Gemeinden geblieben. Die Idee der universalen Freiheit und Gerechtigkeit hat sich nicht durchgesetzt. Um so dringender, an einen Vorschlag Hegels zu erinnern. Es geht ihm um die notwendigen„Verweltlichung des Christentums“.

Dazu einige Vorbemerkungen:

1. Zunächst eine Erinnerung an die gegenwärtige Krise des Katholizismus in Europa, den USA und Lateinamerika. Die Statistiken der Religionssoziologen sind eindeutig: Der dortige Katholizismus wird alsbald nur noch als ein institutionell bestehendes Gerüst, man könnte sagen, Skelett vorhanden sein, wenn auch finanziell noch sehr gut ausgestattet. Der tausendfache und noch längst nicht umfassend erforschte sexuelle Missbrauch durch Priester, Ordensleute und verantwortliche Laien erdrückt wie eine riesige Lawine das Leben und Überleben dieser Kirche. Auch deswegen steigt die Zahl der „Unkirchlichen“ und „aus der Kirche Ausgetretenen“ kontinuierlich. Diese „ehemaligen“ (?) Katholiken verstehen sich wahrscheinlich nicht immer als Atheisten. Sie wurden vielmehr von der Kirchenleitung aus der Kirche vertrieben. Manche sagen, sie sind religiös heimatlos geworden. Gibt es neue Möglichkeiten eines spirituellen, eines umfassend christlichen Engagements? Hegels Antwort: Es ist die Teilnahme an der „Einfügung“ der Idee universaler Freiheit in die Welt…

2. Zu diesem Niedergang des Katholizismus gehört, dass in einigen Ländern noch so genannte „synodale Wege oder synodale Prozessen“ unternommen wurden, um Reformen in der Lehre und den Kirchengesetzen einzuklagen, im Vatikan, beim Papst natürlich, also oft bei Kleriker-Bürokraten, die sich traditionell gegen Reformvorschläge einer Kirche eines Landes wehren. Dass diese so genannten „Synoden“ (sie beraten nur, dürfen aber nichts entscheiden!) in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie Holland, der Schweiz, der Bundesrepublik, also seit 1967, nichts an tiefgreifenden Reformen für die Kirche dieser Länder bewirkt haben, ist eine Tatsache. Insofern sind die heutigen Sitzungen und Debatten in synodalen Prozessen wie damals schon eher eine Art Freizeitbeschäftigung oder auch Beschäftigungstherapie für frustrierte Laien und Priester der Basis. Und Rom freut sich, dass noch Leben da ist…

3. Wie kann in der Situation noch das Wesentliche des Christentums im Rahmen der katholischen Kirche gerettet werden? Mit dieser Frage sind wir genau bei Hegel, dessen gesamte Philosophie vom religionsphilosophischen Thema geprägt ist. Darin stimmen wesentliche Hegel-Forscher überein, wie Michael Theunissen oder Walter Jaeschke. Hegel wollte zu seiner Zeit begrifflich klare Aussagen zu dem Thema machen, weil ein Christentum bloß des Gefühls sich im Protestantismus breit machte und im Katholizismus eine Ende der autoritären Klerus-Herrschaft nicht absehbar war. Hegel zeigt in seinem Werk, dass er als Philosoph das Christentum sehr gut verstanden hatte: Seine Erkenntnisse entwickelt er ausführlich in seinen vier, unterschiedlich akzentuierten Berliner „Vorlesungen über die „Philosophie der Religion“ (1821, wichtig dann: 1824, 1827 und 1831).

4. Zum Wesen des Christentums gehört für Hegel: Gott ist Geist. Und der Mensch ist Teilhaber dieses einen göttlichen Geistes, er bezieht sich auf Gott in einem Verhältnis der Freiheit, d.h. der Mensch ist in der Beziehung zu Gott auch bei sich selbst! Und diese Überwindung des „Fremden“ und Entfremdenden auch Gott gegenüber ist wesentlich Freiheit.
Diese Erkenntnis von der Freiheit ist die Grundlehre des Christentums, sie muss um der Freiheit der Menschen will auch als gesetzlich gefasste Freiheit in Gesellschaft und Staat greifbar werden.

5. Diese Freiheit ist Zentrum der Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes: Und es ist der Philosoph Hegel, der diese zentrale Botschaft der Religion in die Begriffe der Philosophie, also ins Denken, überführt, Hegel sagt „aufhebt“.
Das Reich Gottes wird repräsentiert in der Gestalt Jesu Christi, dessen zentrale Lehre sich in den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit zusammenfassen lässt. Und Hegel zeigt in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen: „In der Religion des Christentums an sich ist das (nur) Herz versöhnt“, (S. 330 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band II, Suhrkamp 1969). Es gibt also, in der Geschichte Jesu Christi sichtbar, bereits eine spirituelle, geistige Versöhnung von Gott und Welt/Mensch, also die spirituelle „Erlösung“. Sie ist „an sich“ schon Gegenwart, sie muss nur noch gestaltet, „hineingebildet werden in die Welt“, wie Hegel sagt.
Diese Erlösung ist dann die Gegenwart des Reiches Gottes in Staat und Gesellschaft, eigentlich haben dafür die Gemeinde, die Kirchen, einzutreten. Aber aufgrund der Begrenztheit ihrer Theologien können Kirchen diese Vermittlung nicht leisten, also die „Hineinbildung“ der Ideen des Reiches Gottes in die Welt. Die Gemeinde/Kirche würde zudem der Versuchung unterliegen, sich gegenüber Staat und Gesellschaft als „Herrscherin“ zu etablieren, wie einst im Mittelalter. Weil die Kirchengemeinde in der Begrenztheit theologischer Begriffe lebt, wird die Philosophie wichtig: Sie kann als Philosophie, die die Wirklichkeit in allgemeine und für alle nachvollziehbare Begriffe fasst, auch diese Lehren vom Reich Gottes der Welt vermitteln. Sie kann in weltlicher Sprache helfen, diese Lehren sozusagen zu säkularisieren und in Gesetze zu überführen.
Anders gesagt: Die politische Wirklichkeit in Staaten und Gesellschaft muss von den sich stets weiter entwickelnden Weisungen der universalen Menschenrechte bestimmt sein, und dabei ist die an keine Konfession gebundene Philosophie behilflich, wenn sie säkular die Lehre der christlichen Freiheit darstellt.

6. Das Reich Gottes muss also aus dem Herzen in die Gesellschaft/den Staat treten und dessen Struktur und Gesetze bestimmen. Die Gemeinde als Ort der Frömmigkeit und der Gottesdienste (Kultus sagt Hegel) bleibt aber bestehen. Die Kirche muss aber anerkennen: Das aktive Gestalten der Freiheit in der Welt in Staat und Gesellschaft, ist genauso wie das Spirituelle der zentraler Auftrag der Kirche. Mit der Verwirklichung der Grundideen des Reiches Gottes als humaner Freiheit, kann man auch von einem Ende der (alten, bloß innerlich-frommen) Religion des Christentums sprechen.
(Siehe auch in Fußnote 1 eine etwas ausführlichere Vertiefung).

7. Hegel kann also von einem Ende der bloß spirituellen christlichen Religion sprechen, weil seine Philosophie in der Lage ist, die wesentlichen Inhalte dieser Religion begrifflich für alle Menschen nachvollziehbar zu bewahren und denken.
Der in der Philosophie bewahrte, „aufgehobene“ Geist des Christentums darf sich für Hegel nicht in der Philosophie „verstecken“. Er muss sich äußern, d.h.für Hegel: Ent-äußern in die Welt. Der Hegel-Spezialist Prof. Walter Jaeschke schreibt in seinem empfehlenswerten „Hegel Handbuch“ (Metzler-Verlag, 2016, S. 436): In Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen in Berlin „tritt seit dem zweiten Kolleg der Entwurf einer progressiven Realisierung des geistigen Gehalts der Religion, also seiner Ein-Bildung (d.i. Verwirklichung, CM) in die Weltlichkeit“.
Der geistige „Gehalt“, die „Substanz“ des Christentums, muss in die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft hineingestaltet, Hegel sagt „eingebildet“, werden. Hegels Schüler C.L. Michelet übersetzt diesen Begriff der „Einbildung“ treffend mit „Verweltlichung“, also als Welt – Werdung des Christentums. Und der Hegelianer R.Rothe nennt dann 1837 diese Verweltlichung im Sinne von Welt-Werdung die „Säkularisierung“ des Christentums. „Säkularisierung ist allerdings hier nicht als Entfremdung oder als Entwendung religiöser Substanz gedacht, sondern als ihr Eingehen in die Weltlichkeit und ihr Aufgehen in dieser Weltlichkeit“( Jaeschke, a.a.O, S. 437).

8. Folgt man diesen Erkenntnissen Hegels, dann bleibt für die Kirchen heute auch der wichtigste Auftrag, die Idee der universalen Freiheit und damit die Idee der Menschenrechte in der Welt, der Gesellschaft, dem Staat zu fördern. Das allein ist der zentrale Auftrag der Kirche in der Moderne: Die Menschenrechte in der Welt, in den Gesellschaften, den Staaten, zu pflegen, zu fördern, zum Ausdruck zu bringen. Auf die aktuelle Situation 2022 bezogen: Vielleicht könnten sich in diesem Projekt auch Menschen wiederfinden, die aus der Kirche ausgetreten sind, um sozusagen eine weite säkulare Ökumene zu bilden. Dies ist schon ein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Erkenntnisse Hegels.

9. Der Impuls, die universale Freiheit, die Geltung der Menschenrechte, in der Welt durchzusetzen, hat leider keinen Vorrang unter den religiösen und kirchlichen Aktivitäten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesem „Politischwerden“ des Christentums entsprechen wollen, sie wurde aber weitgehend von konservativen Kirchenführern unterdrückt, gerade weil die Befreiungstheologie angeblich nicht dogmatisch korrekt und fromm genug sei…Dabei ist allen kritisch gebildeten Theologen klar: Wer nach dem Kern des Evangeliums fragt, lese in dem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu oder seine „Endzeitreden“. Mit anderen Worten: Schon Jesus von Nazareth war ein heftiger Kritiker der Religion, wenn sie nur den Kultus liebt, aber nicht die Humanität an die erste Stelle stellt. Feierliche Gottesdienste, Kultus usw., klerikale Gesetze haben im Sinne Jesu von Nazareth nur Sinn in ihrer Hinordnung auf das auch politisch zu verstehende Reich Gottes.

10. Verweltlichung des Christentums und Bonhoeffer.
In seinen Briefen aus dem Gefängnis Tegel (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ post mortem veröffentlicht) hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (geboren am 4.2.1906 in Breslau, als expliziter Feind der Nazis hingerichtet im KZ Flossenbürg am 9.4.1945) einige Einsichten mitgeteilt zur Zukunft des Christentums. Ich sehe darin gewisse Verbindungen zu Hegels Einsicht von der Verweltlichung des Christentums.
Dietrich Bonhoeffer sah schon um 1943 deutlich, wie die alte, vertraute dogmatisch geprägte Gestalt der Kirche in Europa zusammenbricht, verschwindet, weil sie in ihrer Sprache und frommen Praxis die Menschen nicht (mehr) bewegt. Bonhoeffer sprach deswegen davon, ein religionsloses Christentum zu denken und zu entwerfen. Und dieses Projekt berührt die Erkenntnis Hegels zur „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ des Christentums.
Bonhoeffer schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ („Widerstand und Ergebung“, DBW8, Gütersloh 1998, 558). „Worauf es im letzten ankommt: Es ist das Beten und TUN DES GERECHTEN“ (WE 157). Noch einmal: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Bonhoeffer lobt die Weisheit des Alten Testaments „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem ? (WE 144).
Mit dem „Tun des Gerechten“ ist genau die Forderung Hegels gemeint: Die universale Freiheit und die Menschenrechte in der Welt durchzusetzen. Und was könnte man als Hegelianer unter Beten verstehen? Dieses ist ein Geschehen der inneren geistigen Verbindung mit der Weisheit der Bibel.

11. Franz Rosenzweig und das Ende der Religion.
„Religionsloses Christentum“: Mit dieser These nähert sich Bonhoeffer auch einem Gedanken des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (…) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154).

12.
Das Christentum und die Kirchen können in Europa überleben…… wenn sie religionslos werden.
Das ist Hegels Überzeugung: Wenn das Christentum also das klare begriffliche Verstehen (und nicht nur die Liturgien, Gebete etc.) pflegt und Philosophie respektiert, um die gesellschaftliche Freiheits-Praxis zu fördern, hat es noch eine Chance, auch heute inspirierend zu sein. Dann könnten viele Energien frei gesetzt werden, um Krieg und Nationalismus zu überwinden und das Hungersterben von Millionen Mitmenschen weltweit zu beenden…

Fussnote 1:
Hegels Rede vom „Ende der Religion“ ist eingebunden in seine Philosophie. Und diese ist bestimmt von der dialektischen Entwicklung des absoluten Geistes, also dessen, was Hegel der christlichen Tradition folgend, Gott nennt, Und dieser eine Geist (in Gott wie auf eigene Weise in den Menschen) drückt sich in Hegels Philosophie aus: Der absolute Geist wird erkennbar, besser „erkennt sich selbst“ in der Kunst, dann in der Religion und als Höhepunkt am deutlichsten und begrifflich im Denken der Philosophie. Sie ist die „Spitze“ in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Rede vom Ende der Religion ist also darauf bezogen, dass die Religion, sozusagen als noch unreife Stufe des absoluten Geistes, selbst nicht zu den klaren Begriffen findet, die in der Philosophie (Hegels) erreicht werden. Das bedeutet für Hegel aber nicht, dass Kunst und Religion faktisch nicht mehr weiter bestehen. Sie leben weiter, auch im Umgang der Menschen mit den Künsten und Religionen. Aber, und dieses Aber ist entscheidend: Die Religion bzw. das Christentum, also die Kirchen in Europa, sind nicht auf der Höhe der Entwicklung des sich selbst verstehenden absoluten Geistes, wenn sie die kritische Philosophie scheuen oder verachten (wie Muther). Denn Gott wird für Hegel treffend und “adäquat“ nur in der Philosophie, (seiner) Philosophie, begrifflich im Denken erschlossen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Houellebecqs Roman „Vernichten“: Von katholischem Erzbischof gelobt.

Pascal Wintzer (Poitiers) als Literaturkritiker
Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.2.2022; siehe auch den ausführlicheren Hinweis LINK.

1.
Es geschieht nicht gerade häufig, dass ein katholischer Bischof sich über einen neu erschienenen Roman eines umstrittenen Autors ausdrücklich „freut“: Erzbischof Pascal Wintzer (Poitiers) hat am 3.2.2022 in der Tageszeitung „La Croix“ (Paris) wie auch auf der Website des Erzbistums Poitiers (LINK: https://www.poitiers.catholique.fr/michel-houellebecq-aneantir/ ) eine ausführliche Leseempfehlung publiziert: Sie gilt dem kurz zuvor erschienen Roman „Anéantir“ („Vernichten“) von Michel Houellebecq. Das Buch hat eine Startauflage von 300.000 Exemplaren in Frankreich. Das Interesse ist enorm! Und Bischof Wintzer hat schon recht, wenn er Houellebecq „einen der ersten französischen Autoren von heute“ nennt, es gibt längst eine breite Houellebecq-Forschung in Frankreich.

2.
Bischof Wintzer sagt ausdrücklich, dass „man“ auch in dem neuen Roman das wiederfindet, was „man“ (also auch Wintzer) an Houellebecq schätzt: Der Autor „stellt uns vor die großen Verstörungen („dysfonctionnements) der Gegenwart“: Etwa die schlimmen Verhältnissen in den Pflegeheimen für alte und behinderte Menschen. Aber er zeigt in dem Roman auch die Kraft der familiären Bindungen, betont der Bischof. „Wie üblich, ist dies ein Roman einer inkarnierten, fleischlichen Menschlichkeit. Die Körper haben in dem Roman ihren Platz, auch das Vergnügen, der Schmerz und das Leiden…Houellebecq plädiert für das, was einzig den Menschen ehrt, die Beziehung“. Soweit der Bischof, der sogar noch schreibt: „Es ist wahrscheinlich übertrieben, Houellebecq einen Propheten zu nennen, die Zeitung Charlie Hebdo qualifizierte Houellebecq als einen Magier“. Und dann auch dieses persönliche Bekenntnis: „Warum liebt man es, Michel Houellebecq zu lesen, oder auch seinen Auftritten im Fernsehen zu folgen? Weil er Vergnügen bereitet. Zuerst das Vergnügen der Lektüre – und das ist ja auch das, was einen Geschmack am Leben schenkt, aber auch das Vergnügen an seinem schlauen und spöttischen Blick auf die Gesellschaft und auf den Leser selbst. Der Roman Anéantir (Vernichten) erfüllt diese Erwartungen!“

3.
Und am Ende seines lobenden Beitrags zu Houellebecq neuem Roman muss der Erzbischof doch noch einmal seiner Freude Ausdruck geben, den dieser wichtige Autor schreibe doch auch vieles über Religion bzw. die katholische Kirche. Und der Erzbischof zitiert aus einem gerade erschienen Sammelband über den Glauben im Werk Houellebecq, darin definiert er sein Katholischsein: „Ich bin Katholik in dem Sinne, dass ich das Entsetzen über eine Welt ohne Gott ausdrücke … aber einzig in diesem Sinne bin ich katholisch.“

4.
Erstaunlich bleibt, dass ein Erzbischof eine gewisse Berufung als Literaturkritiker entdeckt. Und dann noch seine Begeisterung über einen ja auch politisch zweifelsfrei umstrittenen Autor ausdrückt. Und dabei sogar übersieht, dass Houellebecq in einem Interview mit „Le Monde“ seine geistige Nähe und Verbundenheit mit theologisch – traditionalistischen und politisch reaktionären Kreisen offen bekannte. Dass diese Zusammenhänge Pascal Wintzer übersah, finde ich erstaunlich. Und genauso, mit welcher Leichtigkeit er als Bischof einer nicht gerade erotisch/sexuell-freizügigen Kirche dann doch die „fleischliche Lust“ einiger der Roman-Protagonisten offenbar richtig findet. Dies ist immerhin eine erfreuliche Einschätzung eines katholischen Bischofs.

5.
Bischof Pascal Wintzer wurde am 18. Dez. 1959 geboren, seit Januar 2012 ist er Erzbischof von Poitiers.

6.
Der genante Sammelband mit Studien zu Houellebecq: Misère de l’homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi. Champs, Essais, Flammarion, 2022, das Zitat ist auf S. 366.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der neue Roman von Houellebecq: „Vernichten“. Bekenntnisse eines Reaktionären.

Über den neuen Roman und die Religion Houellebecqs

Ein Hinweis von Christan Modehn.  Siehe auch: Ein katholischer Erzbischof lobt “Vernichten”: LINK

1.

Der neue Roman von Michel Houellebecq liegt jetzt auch auf Deutsch vor. „Vernichten“ ist der Titel. Was oder wer vernichtet wird, erscheint erst am Ende des umfangreichen Romans, der Titel lässt Schlimmstes erahnen. Der Titel “Vernichten” bedient sich eines Verbs, einer Tätigkeit, der Eindruck ist: Es handelt sich um ein Geschehen, eben Vernichten, das zwangsläufig geschieht, schicksalsmäßig. Ein Ausrufungszeichen als Befehl findet sich hinter “Vernichten” nicht. Ein Befehl würde noch Freiheit der Täter voraussetzen.

Dabei liest sich das neue Opus des „Stars“, manche sagen „Popstars“ der gegenwärtigen Literatur auch ausnahmsweise, möchte man sagen, manchmal wie eine Art Familiengeschichte mit Einsprengseln einer Art von „Liebesroman“ und kurzen Szenen einer Naturmystik und politischen Irritationen durch Terroranschläge… wobei das Elend der menschlichen Beziehungen selbstverständlich – wie üblich – weit ausgebreitet wird.

Es ist eine elende Welt vornehmlich der Reichen, die da vorgeführt wird, elend hinsichtlich der seelischen Verfassung, der Langeweile, des Scheiterns im Miteinanderleben in Beziehungen und Ehen. Dabei ist es keine Frage: Die sprachliche Gestalt, die „Komposition“ des Romans, der Mix aus Reportage und Elementen philosophischer Reflexion, diese Analysen des seelischen Zustandes einer gewissen Oberschicht können die LeserInnen an das umfangreiche Buch durchaus binden.

Der Roman enthält viele Fakten, das ist evident…Wenn Houellebecq etwa Kirchengebäude nennt, dann sind diese nicht fiktiv, sondern real; wenn er das Kapuzinerkloster der Traditionalisten in Morgon nennt (siehe die ausführlichen Hinweise in Fußnote 1, unten), dann gibt es dieses Kloster wirklich; wenn er von der katholisch-rechtsextremen Bewegung “Civitas” Bewegung spricht, dann gibt es diese wirklich. Er kennt diese Leute! Man denke bloß nicht, dieser Text, Roman genannt, sei im ganzen Fiktion. Dieser Roman hat auch den Charakter eines religionskritischen Sachbuches. “Die Ordnung der Welt ändet sich also gerade” (S. 225) könnte als Leitwort gelten.

2.

In Frankreich ist „Anéantir“ seit dem 7.1. 2022 in den Buchhandlungen, Startauflage 300.000. Auch Raubkopien hat es vorweg gegeben. Das Interesse an Houellebecqs Werk ist enorm, trotz oder auch wegen seiner oft ins politisch Rechte und Rechtextreme abdriftenden Statements. Es ist ja bekannt, dass sich Houellebecq etwa in seinen als Essays titulierten Schriften deutlich absetzt vom Geist der modernen Aufklärung, auch vom Protestantismus und der Renaissance, so etwa erneut in seinem vierten Essayband „Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen“(2020). „Die Linken“ sind die Feinde des Autors, das bekam einmal mehr deutlich zu spüren Daniel Lindenberg (Prof. für Politologie und Mitglied der Sozialistischen Partei P.S.), als er in seinem Buch „Le rappel à l ordre“ („Der Ruf zur Ordnung“) von 2002 Houellebecq ein diffuses reaktionäres Denken nachweisen konnte. In seiner Erwiderung anlässlich der Annahme des „Schirrmacher Preises“ 2016 fand Houellebecq äußerst scharfe und polemische Worte gegen Daniel Lindenberg. Houellebecq ist eben nicht nur Literat, schon gar nicht ein „klassischer Dichter“. Er hat sich einem gesellschaftlichen Projekt mit aller Kunst und Leidenschaft und Ironie verschrieben, und das Projekt heißt: Rückkehr zu den alten Werten, etwa der „intakten“ Familie, dem Respekt der religiösen (nicht nur der politischen!) Lehren des traditionellen Katholizismus. Das wird etwa deutlich in einem langen Interview, das Houellebecq dem Journalisten Geoffroy Lejeune von der extrem rechten Wochen-Zeitschrift „Valeurs Actuelles“ im Jahr 2019 gab. Darin sagte Houellebecq offenbar allen Ernstes: „Zu den Zeiten, als der Islam verborgen war, wo es einen Islam im Keller gab, da lief alles gut. Jetzt, machen die Muslime Probleme. Weil man ihnen sagt, sie könnten sichtbar sein. Um das zu regeln, wäre es besser, die katholische Religion würde stärker werden („reprenne le dessus“)“.

Der Schriftsteller Thomas Lang schreibt dazu: „Bemerkenswert scheint mir einerseits der grundlegende Konsens zwischen dem Journalisten und Houellebecq in der Sehnsucht nach einer unangreifbaren Institution, die im Besitz der Wahrheit ist und Trost spenden kann. Andererseits findet sich auch wieder die Konfrontationsstellung unterschiedlicher Richtungen. Rechts gegen links, christlich gegen muslimisch, das sind die besten Voraussetzungen für die Ausweitung einer Kampfzone“ (zit. in „Volltext“, Wien, Heft 4 (2020, S. 7). Die katholische Kirche braucht Houellebecq für seine politischen Ideen und Nostalgien als Stützen der Moral und des Staates. Das ist die alte, aber immer noch nicht vergessene  französische Konzeption der „Action Francaise“, die sich zu Beginn der Zwanzigsten Jahrhunderts als politische Ideologie katholischer Franzosen etablieren wollte, die keinen religiösen und biblisch geprägten Glauben hatten, wohl aber eine politische Liebe zur Institution Kirche als Hüterin der alten Ordnung. „Jesus Nein, hierarchische Kirche Ja“, war die Devise, die auch Houellebecq zentral findet, Jesus ist ihm viel zu links, viel zu revolutionär…(Siehe dazu: Yann du Cleuziou: Apologie du catholicisme dans les romans de Houellebecq, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02296265/document).

3.

Der maßgebliche Literaturkritiker von „Le Monde“, Jean Birnbaum, hat im Dezember 2021 mit Houellebecq einige Stunden in dessen Arbeits-„Studio“ in Paris sprechen dürfen. Auf drei Seiten berichtet er ausführlich von dem Besuch, der ganz dem  neuen Buch gilt (Le Monde, 7. Janvier 2022,  Seite 1-3 in der Abteilung „Le Monde des Livres“). Der Titel des Beitrags sagt schon Entscheidendes über den neuen Roman: „Houellebecq, die Versuchung des Guten“.  Dazu passend, auf Seite 1, ein Zitat des Schriftstellers: „Mit guten Gefühlen macht man gute Literatur“. Diese Aussage mag überraschen! Houellebecq sagt: „Es gibt (bei mir) kein Bedürfnis, das Böse zu feiern, um ein guter Schriftsteller zu sein. Und es gibt wenige Übeltäter in dem Roman „Anéantir“. Damit bin ich sehr zufrieden. Der größte Erfolg wird sein, wenn es überhaupt keine Übeltäter mehr gibt“.

Während des Gesprächs mit dem Redakteur von „Le Monde“  fällt Houellebecq plötzlich ein, so heißt es dann in der Zeitung:  „Das ist verrückt, seit vier Stunden diskutieren wir und man hat noch immer nicht von Zemmour (einem der rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten 2022) gesprochen“. Darauf der Redakteur: „Das ist stimmt. Man kann es immer noch tun“. Aber wollen Sie das wirklich?  „Non“ antwortet Houellebecq sehr knapp „a mi-voix“, heißt es, „halblaut“. Dem Journalisten fällt nichts anderes ein als das eine Wort zu sagen: „Bon“, also: “Na gut“. Keine Nachfrage also, eine verpasste Chance mehr Klarheit über die Beziehung Houellebecq – Zemmour zu erfahren.

4.

Jean Birnbaum erwähnt im Gespräch auch die ihn emotional berührenden Aussagen im Roman. Houellebecq antwortet darauf mit einem Hinweis zum eigenen Erleben beim Schreiben: „Jene Passagen im Roman, die Sie berührt haben, die habe ich nicht gedacht, die haben sich mir aufgedrängt. Wenn Sie das ernst nehmen, was ich schreibe, dann muss man eine irrationale Voraussetzung annehmen, nach der die Personen im Roman wie von selbst handeln… Oft glaubt der Autor, die Persönlichkeiten im Roman zu kontrollieren, aber die Persönlichkeiten drängen ihr Sein dem Autor auf“. Houellebecq erlebt sich offenbar wie einer Art „Diktat“ ausgesetzt. Aber: Wer „diktiert“ da eigentlich? In den biblischen Schriften, die ja auch manche für „inspiriert“, säkular gesagt von anderem „diktiert“ halten, war es Gott, der da die Feder führte…. In jedem Fall sieht sich Houellebecq offenbar wie ein Meister der Weisheit, der Gesehenes, Gehörtes, kundtut.

5.

Über seine spirituelle Suche hat Houellebecq oft gesprochen, auch über seine Versuche, sich in den katholischen Glauben zu vertiefen. Auch in dem Roman „Vernichten“ ist oft von der Bedeutung des katholischen Glaubens die Rede: Cécile, die Schwester des Protagonisten Paul Raison, ist eine tief-fromme praktizierende Katholikin, der es sogar gelingt, ihren eher skeptischen Bruder zur Weihnachtsmesse in die Dorfkirche im Beaujolais mitzunehmen. Die Reflexionen Pauls über die Bedeutung Gottes angesichts des menschlichen Leidens könnte man wohl auch als persönliche Fragen Houellebecqs denken (S. 261)..

Der Katholizismus ist jedenfalls immer ein Thema bei Houellebecq, auch wenn er in „Vernichten“ durch ausführliche Beschreibungen des Wicca-Kultes wohl andeutet: Es könnte auch eine andere, eine neue (alte) Religion in Europa wichtig werden. Bekannt ist zudem, dass er die Gastfreundschaft der Benediktinermönche von St. Martin de Ligugé (bei Poitiers) erlebt hat (im Gästezimmer 11). Die Mönche berichteten später, sehr aufmerksam die Romane Houellebecqs zu lesen.  Und die Zeitschrift „Le Point“ schrieb  am 21.4.2015, in ihrer Klosterbuchhandlung hätten die Mönche auch die (damalige) Neuerscheinung des Houellebecq Romans „Soumission“  („Unterwerfung“) zum Kauf angeboten.

Für den Redakteur von Le Monde berichtet Houellebecq: Zu Weihnachten (2021) hätten ihm, so wörtlich, “reaktionäre Katholiken”, „die Freunde geworden sind“, Grüße und Nachrichten geschickt. „Darin sagten sie, dass sie für mich gebetet hätten, das ist bewegend, finden Sie nicht auch? Es gibt Leute, die interessieren sich für meine Seele. Das deute ich als Zeichen von sehr starker Freundschaft. Sie hoffen, dass ich von der Gnade berührt werde“. Bemerkenswert ist, dass Houellebecq selbst offenbar ohne ironischen Unterton (ohne ein “so genannte”) von seinen “reaktionären katholischen Freunden” spricht. Diese Haltung dieser Katholiken findet er offenbar gut, in diesem Freundes-Milieu fühlt er sich wohl. Hat Houellebecq endlich seine katholische Ecke gefunden, wo er sich wohlfühlt?

Ob die reaktionären Katholiken, auch in moralischer Hinsicht nicht gerade liberal, mit Houellebecqs Satz (gesprochen vom Protagonisten Paul) einverstanden sind: “Dafür waren Nutten da, um einem wieder Leben einzuhauchen” (S. 307)? Wahrscheinlich sehen reaktionäre Katholiken auch über die Sex-Szenen im Roman “Vernichten” hinweg, wichtig ist ihnen die politische Haltung Houellebecqs, da ist er wohl einer der ihren…

Tatsache ist: Reaktionäre Kreise im französischen Katholizismus sehr viel zahlreicher und “bunter” und einflußreicher als etwa im deutschen Katholizismus.  Es sind in Frankreich nicht nur die zahlreichen traditionalistischen Pius-Brüder von Mgr. Lefèbvre und deren Gemeinden, es sind die Katholiken aus den Kreisen “Manif pour tous”, von der Zeitschrift Valeurs Actuelles, die Katholiken, die von “Bevölkerungsaustausch” wegen der Muslime in Frankreich schwadronieren usw., von “Civitas” war schon die Rede.

6.

Der Schriftsteller Thomas Lang hat in der Zeitschrift VOLLTEXT manche Aussagen Houellebecqs zur Politik treffend „schwammig“ (S. 6) genannt. Schwammig sind auch einige Ausführungen des Schriftstellers in dem genannten Gespräch mit Jean Birnbaum von Le Monde. Darin ist erstaunlich, wie milde Houellebecq die bekannten Nazi-Autoren der Okkupationszeit bewertet. Er sagt: „Man war im 20. Jahrhundert fasziniert von der Transgression, dem Bösen. Von daher auch das Wohlgefallen gegenüber Autoren wie Morand, Drieu, Chardonne. Und dann das Urteil Houellebecqs: „Autoren, die ich mittelmäßig finde“.

Morand und Drieu waren von ihrer formalen schriftstellerischen, sprachlichen Leistung her gesehen sicher viel mehr als mittelmäßig. Aber sie waren viel weniger als mittelmäßig, nämlich schändlich, in ihrer antisemitischen Nazi-Ideologie. Von der Nazi-Ideologie der Autoren spricht Houellebecq vornehmerweise nicht. Oder „Le Monde“ zitiert unvollständig.

7.

Was oder wer ist also „Vernichtet“, um den Titel des neuen Romans aufzugreifen? Das werden die LeserInnen entdecken. Aber betrachtet man die Grundüberzeugung und die herrschende „Stimmung“ von Houellebecq dann steht fest: Vernichtet ist die alte europäische Ordnungswelt. PolitikerInnen, die angeblich noch diese alte Werte bzw. Unwerte -Ordnung reanimieren wollen, werden von Houellebecq in „Vernichten“ freundschaftlich mit dem Vornamen angespochen, eben Marine Le Pen, im Jahr 2022 Chefin der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (früher „Front National“). Sie heißt im Roman nur freundschaftlich „Marine“.

Wichtiger als Ergänzung zum Thema „Vernichten“ dürften die Ausführungen Houellebecqs sein anlässlich der Verleihung des „Oscar-Spengler Preises“ 2018, ein Preis, der auch stark von rechten CDU und auch AFD Politikern inszeniert und finanziert wird. Bei der Entgegennahme des Preises in Brüssel sagte Houellebecq: „Bezogen auf die Demographie und die Religion ist es evident, dass ich zu den exakt identischen Schlussfolgerungen wie Spengler komme: Der Westen befindet sich in einem Zustand sehr fortgeschrittenen Niedergangs.“ Das hat man schon oft gehört von Houellebecq…

8.

… Es ist das Jammern des Reaktionären heute…Ob es weiterhilft in der umfassenden Krise der Gesellschaften und Staaten ist sehr fraglich, meine Antwort heißt nein. Trotzdem werden wieder viele tausend Menschen auch den neuen, den etwas freundlicher gestimmten Houellebecq-Roman lesen. Weiterführende Impulse für eine humanere Welt (der Menschenrechte) werden sie von dem umfangreichen Buch nicht erhalten. Politische Prognosen eines „Weisen“ oder gar prophetische Perspektiven wird man auch diesem Houellebecq – Roman nicht entnehmen können. Da verbreitet ein “weltberühmter Autor” nur auf seine Art “Stimmung” für eine autoritäre Gesellschaft und einen entsprechenden Staat der “uralten Werte”. Und viele, werden dies, leider, glauben.

Fußnote 1:

Im November 2017 hatte Houellebecq ein Interview („Testament“ genannt), ursprünglich für den SPIEGEL gegeben, das dann von der reaktionären Wochenzeitung „Valeurs actuels“ übersetzt  wurde . LINK Houellebecq betont in dem Interview: „Die Integration der Muslime könnte nur funktionieren, wenn der Katholizismus (in Frankreich) wieder Staatsreligion (Religion d Etat) wird“.  Diese Forderung „Katholizismus als Staatsreligion“ wird von der rechtsextremen Partei „Civitas“ vertreten. Ein Kapuziner aus dem traditionalistischen Kloster in Morgon ist offizieller „Partei-Kaplan“ (aumonier genannt) von „Civitas“.   Von diesem Kloster ist in „Vernichten“ die Rede, Houellebecq kennt diese Leute offenbar. Es lohnt sich, zum Studium die website dieser Mönche anzusehen! LINK: Das Houellebecq-Zitat zur katholischen Staatsreligion ist auf Deutsch erreichbar (gelesen am 15.1.2022): LINK

Die reaktionären und traditionalistischen Katholiken von Civitas gehören auch zu den heftigen „Impfgegner“ in Frankreich, sie nennen die staatliche Impfkampagne „Plandémie satanique“. Diese Tatsachen werden ausführlich ausgebreitet in der religionswissenschaftlich-politologischen Studie „Le Nouveau Péril sectaire“, von Jean-Loup Adénor und Timothée de Rauglaudre, erschienen in den Editions Laffont, 2021, 21,50 EURO.

Michel Houellebecq, “Vernichten”. Roman.  2022, Dumont – BuchVerlag Köln. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. 621 Seiten, 28 Euro. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die zerstörte KIndheit: Farhad Alsilo berichtet von der Verfolgung durch den “IS”, von Flucht, Zuflucht und neuem Leben.

Ein junger Jeside aus Nord-Irak erzählt seine Geschichte.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Ein Buch des Grauens und… ein Buch der Zuversicht. Eine reale Geschichte, in der ein junger Mann von der mörderischen Gewalt gegen sein Volk berichtet, die Jesiden im Norden des Irak. Die Mörderbanden nennen sich „Islamischer Staat“. Sie haben mindestens 5000 Mitglieder seines Volkes getötet, auch seinen Vater und nahe männliche Verwandte. Im Kampf mit dem “IS” wird ein Jesside verletzt: “Als seine Waffe leer war, griffen ihn zwei der IS-Kämpfer, schnitten seinen Kopf ab und legten ihn auf seinen Bauch, und das alles geschah unmittelbar vor meinen Augen als Kind von elf Jahren“ (S. 35). Bis heute werden noch etwa 2000 jesidische Mädchen und Frauen vermisst seit den Vernichtungsaktionen des IS im Jahr 2014.

2. Farhad Asilo, 19 Jahre alt, hat ein Zeugnis seines jugendlichen Lebens geschrieben. Ein Zeugnis des Leidens, der Ängste, der Flucht, durch die glühend heiße Wüste sowie durch das unwegsamste Sindschar-Gebirge bis nach Kurdistan, immer am Rande der Verzweiflung, des Verdurstens, des Hungers. „Durchs Sindschar-Gebirge: Das Schlimmste war die Kälte. Es war so kalt, dass wir kaum reden konnten und unsere Augen tränten. Ohne Decken und Kissen waren wir schutzlos ausgeliefert, und keiner konnte uns helfen. Da kam meine Heldin, meine kreative und liebe Mama, auf die Idee, ihr weit geschnittenes Kleid, wie fast jede jesidische Frau eines trägt, über uns drei Kinder zu ziehen, damit es uns ein wenig vor der Kälte schützt…Für Mutter hieß das wieder einmal wachbleiben, so wie alle anderen Nächte zuvor…“ (S. 49).

3. Der junge Autor Farhad Alsilo hat ein „bewegendes“ Buch geschrieben. Es führt auch zu der Frage: Warum hat die Bundesrepublik Deutschland noch immer nicht den Völkermord an den Jesiden offiziell als Völkermord anerkannt, wie dies etwa Belgien, die Niederlande und das EU-Parlament längst getan haben. Abgesehen von dieser Irritation: Erfreulich bleibt, dass das Bundesland Baden-Württemberg im Rahmen eines „Sonderkontigents für verfolgte Jesiden“ auch Farhad Alsilo, seiner Mutter und seinen Geschwistern Asyl geboten hat. In dem Buch erzählt der junge Autor auch von den Schwierigkeiten beim Neubeginn in Deutschland im Jahr 2015. Farhad Alsilo, der deutschen Sprache als Elfjähriger  überhaupt nicht mächtig, ist mit aller Energie zu einem auf Deutsch schreibenden Autor geworden, der auch von den Chancen erzählt, in Deutschland die eigene intellektuelle Begabung frei entwickeln zu können; in den Schulen immer mit den besten Noten erfolgreich. Ein jesidisch – deutscher Autor kann sich hier frei zu Wort melden, was für eine Chance zugunsten eines kulturellen Austausches, einer Erweiterung der Perspektive, über alle Traditionen und Religionen hinaus.

4. Der Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume, der 2015 die Leitung des „Sonderkontingents Baden-Württemberg für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ übernahm, hat ein Vorwort zu dem Buch geschrieben: „Die Leser werden in dem Buch von Farhad Alsilo vieles, aber keinen Hass finden. Farhad liebt die Menschen trotz allem sehr. Aber sogar über den Vernichtungswillen der IS-Terroristen und den bitteren Rassismus mancher Deutscher ist er hinausgewachsen… Farhad ist ein Gewinn für unser Land, für unsere gemeinsame Zukunft. Weil er aufklärt und mitnimmt, in diesem Buch und auch auf YouTube…“ (S. 12)

5. Das Buch bietet zudem einige wichtige Hinweise zur hierzulande eher noch unbekannten Kultur, Religion und Spiritualität der Jesiden. „Sie gehören zur Volksgruppe der Kurden, sie sind jedoch keine Muslime, sondern bilden eine eigene historische gewachsene Religionsgemeinschaft mit multiethnischen Anhängern“ (S: 119).  Weltweit gibt es schätzungsweise mehr als eine Million Jesiden… die größte Diaspora ist heute in Deutschland“ (S. 36). Die spirituelle Lehre der Jesiden wird man mit Erstaunen studieren, etwa: „Am Anfang (der Welt) war nichts. Dann schuf Gott eine Perle“….“Danach schuf Gott die Seele und die Musik. Nach jesidicher Schöpfungsmythologie war am Anfang des menschlichen Lebens: MUSIK“ (S. 122). Zur religiösen Praxis:“ Beten ist keine Pflicht. Jedem Gläubigen ist aber freigestellt, wie oft und wo er betet. …Wer beten möchte, wendet sich zur Sonne, er stellt sich vor die Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick aus seinem Herzen spricht. Vielleicht sind dies die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht hat“, so wird der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal (1923-2015) zitiert, S. 133.

6. Dringende Aufgaben für demokratische Staaten bleiben: „Auch im Sindschar-Gebirge harren noch immer Tausende Jesiden in schwer zugänglichen provisorischen Lagern aus…(S.36). Von den gewaltsamen Attacken, Bombenangriffen, des Nato-Mitgliedes TÜRKEI auf Zufluchtsgebiete der Jesiden in Nord-Irak im Dezember 2021 ist in dem Buch keine Rede, da lag das Buch schon gedruckt vor. Um so dringender: Die Aggressionen der Türkei gegen die Jesiden sollten verurteilt werden, forderte die jesidische Organisation „Nadias-Initiative“, gegründet von der jesidischen Nobelpreisträgerin (im Jahr 2018) Nadia Murad.

Farhad Alsilo, Der Tag, an dem meine Kindheit endete. Mit einem Vorwort von Düzen Tekkal. Trabanten Verlag, Berlin, 2021, 150 Seiten, 14 Euro.

 Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

In Galizien und der Bukowina: Jüdisches Leben und Leiden.

Zu einem neuen Buch von Marc Sagnol.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Warum sollte man sich erneut mit dem vernichteten jüdischen Leben in Galizien, Lodomerien und der Bukowina beschäftigen?

1. Es waren Deutsche, SS-Leute, Militärs, in enger Zusammenarbeit mit ukrainischen Faschisten, die Juden in den genannten Gebieten töteten.

2. Autoren, oft gelesen in Deutschland, wie Joseph Roth, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, Stanislaw Lem, Paul Celan, Simeon Wiesenthal, Rose Ausländer und viele andere stammen aus Galizien und der Bukowia. Wer diese AutorInnen schätzt, sollte sich für deren Herkunft interessieren.

3. Es gab einst in Berlin ein Viertel im Zentrum, zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (damals „Bülowplatz“), in dem, seit 1900 , viele Juden Zuflucht fanden vor den Pogromen in ihrer Heimat Galizien. Berlin ist mit Menschen aus Galizien eng verbunden, mit den früheren Bewohnern muss man sagen: Denn Juden suchten Zuflucht und fanden letztlich Vernichtung.

4. Im Dezember 2021 ist ein neues Buch über jüdisches Leben, über Verfolgung und Auslöschung der Juden in Galizien sowie in der Bukowina erschienen. Es handelt sich natürlich nicht um eine „bunte Reisereportage“ mit den üblichen Ausblicken auf Natur und Geschichte dieser Region, es handelt sich auch nicht um einen Guide für Touristen etwa durch die angeblich noch vorhandenen „Schtetlt“.Es ist auch keine erschütternde Foto-Dokumentation, selbst wenn das Buch etliche beachtliche Schwarz-Weiß-Fotos, vom Autor realisiert, enthält: MARC SAGNOL hat über viele Jahre dieses Gebiet immer wieder besucht, er hat die Städte und Dörfer, intensiv studiert, mit Menschen gesprochen in dem Gebiet, das einst zur österreichischen Monarchie gehörte. Und dann zu Polen und zur Ukraine, ab 1945 zu Polen und der Sowjetunion. Nach 1989 gehört es wieder zu Polen und der Ukraine.

Marc Sagnol,1956 in Lyon geboren, hatte nach Studien der Germanistik und Philosophie auch Kenntnisse des Polnischen und Russischen erworben, er war u.a. als Kulturattaché in Moskau tätig und später auch als französischer Kulturbeauftragter in Erfurt. Sagnols Interesse fürs jüdische Leben in dieser Region ist auch durch die Geschichte der eigenen Familie motiviert. Sein Großvater z.B. hat seine Kindheit in Czernowitz und Kossow verbracht.

5. Der Autor beschreibt (und kommentiert zurückhaltend) das jüdische Leben in den Städten und Dörfern, er nimmt die LeserInnen mit auf seine ausführlichen Rundgänge dort. Sie beginnen in Ostgalizien, führen über Grodek und Lemberg sowie viele andere Ortschaften dann nach Brody und Kossow, er erreicht die südlicher gelegene Bukowina mit Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und Sadagora, um dann noch einmal nach Lemberg bzw. Lwow, Lwiw oder auch Leopolis, der „Löwenstadt“ zurückzukehren (S. 185-235, wiederum mit zahlreichen Fotos).

6. Die Rundgänge des Autors sind alles andere als unterhaltsam. Sie informieren in nüchterner Sprache und wecken dennoch Erschütterung, Zorn, Trauer im Angesicht der ausführlich beschriebenen Untaten, der grausamsten Quälereien und Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung. An diesem Massenmord waren nicht nur Deutsche beteiligt: Die Nazis fanden willigste und grausamste Helfer in Kreisen der ukrainischen Nationalisten und Faschisten. Sagnol erwähnt, dass noch heute an den ukrainischen Nazi Stepan Bandera öffentlich sichtbar erinnert wird, seine Statuen und Denkmäler sind nicht zu übersehen. Man tut so, als handle es bei Bandera um eine Art unbescholtenes Vorbild (vgl. S. 40, S. 230, dort zeigt ein Wandgemälde Bandera, das Foto hat Sagnol 2018 aufgenommen).

Von den vielen Informationen des Buches nur diese: Man liest etwa, dass es im Lager Janowska ein Lagerorchester gab, „das von Leonid Stricks geleitet wurde. Das Lagerorchester musste Operettenmelodien wie „Die lustige Witwe“ von Franz Lehar oder Werke von Mozart und Beethoven spielen, um das Geräusch der Schüsse und Scheie während der Exekutionen zu übertönen“ (S: 218).

In Lemberg entfesselten die Deutsche gemeinsam mit dem ukrainisch-natonalistischen Bataillon Nachtigall sowie der OUN (der Ukraininisch-Nationalistischen Organisation) ein Pogron vom 30. Juni bis 3.Juli 1941, „in dessen Verlauf die Lemberger Juden dem besinnungslosen Hass einer entfesselten Bevölkerung ausgesetzt waren (S. 206). Von den ukrainischen Nationalisten wurden die Juden als Sündenböcke hingestellt, für schuldig erklärt, mit den Sowjets zu kollaborieren“. Eine Überlebende erinnert sich. “Wir sind mit ihnen (also den so genannten Christen, CM) zur Schule gegangen, tanzen gegangen und mit einem Mal waren wir für sie keine Menschen mehr“ ( S. 211)

Das antisemitische Nationalist Bandera konnte sich nach dem Krieg bis 1959 in München unter dem Namen Stefan Popel verstecken, vom KGB wurde er dort entdeckt und erschossen.

7. Und heute? Das Interesse der ukrainischen Bevölkerung (und des Staates) am Erhalt wichtiger jüdischer Gebäude als Erinnerung an jüdisches Leben einst, ist alles andere als bedeutend. Man liest mit Entsetzen, dass kulturell und architektonisch bedeutende Synagogen dem systematischen Verfall überlassen werden, so etwa in Brody (S.124 f.) oder Berezhany (S. 61). Besonders schlimm ist er Verfall der einst prachtvollen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert in Zolkiew bzw. Schowkwa bei Lemberg (S. 44). Marc Sagnol bemerkt treffend: „Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Verschleppung der Restaurierung dieser Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“. Mit Hilfe von Juden aus dem Ausland konnte die große chassidische Synagoge in Sadagora im Jahr 2016 in alter Pracht wieder eröffnet werden, in der Sowjetzeit wurde sie als Metallfabrik genutzt.

8. Von den Chassidim (also den Mitgliedern einer mystischen Strömung, die oft als ultra-orthodox bezeichnet wird), ist auch die Rede, etwa beim Besuch in dem geradezu von Legenden umwobenen Städtchen Bels. Interessant auch die Darstellungen zum Leben der Chassidim in Sadagora, Bukowina: Hier hatten die Rabbis (bzw. Rebben ode Zaddik) ihre Zentren für Gebet, Beratung, Belehrung und auch überschwängliche Verehrung des Rabbis (S.180).

9. Was Sagnol über das verbliebene jüdische Getto in Lemberg schreibt, gilt für die Region dort: „Außer den wenigen Überresten von Gebäuden der Vergangenheit gibt es kein jüdisches Leben mehr“. Der Tötungswahn der Deutschen, der Nazis, des Militärs sowie der ukrainischen Faschisten war total und hat sich total durchgesetzt. In Polen leben jetzt noch etwa 12.000 Juden, in der Ukraine wird der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung prozentual angegeben mit 0,05 Prozent! Viele Juden, die in die Ukraine als Touristen reisen, berichten von einem für sie immer noch gefährlichen Land.

Das Buch bietet in zahlreichen Fußnoten Hinweise zu spezielleren Studien.

Leider fehlt in Marc Sagnols wichtigem Buch ein Namens-Register.

Das Buch verdient weite Beachtung.

Marc Sagnol, Galizien und Lodomerien. Kulturverlag Kadmos, Berlin, 2021, 238 Seite, 24,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.