Der religiöse Beethoven – ein Meister für heute und morgen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.12.2020

Die Geburtstagsfeiern zu Ehren Ludwig van Beethovens werden ins kommende Jahr 2021 verlängert. Das steht fest angesichts der Corona – Beschränkungen in diesem Jahr. Also können sich auch alle philosophisch und theologisch Interessierten weiterhin auf den „religiösen Menschen“ Beethoven beziehen. Im „Blick zurück“ ist eine heutige Perspektive leitend: Beim geistigen Zusammenbruch der alten christlichen Konfessionen in Europa (der sich als Zusammenbruch aber noch lange hinziehen kann) gilt es, sich religiöser Gestalten zu erinnern, die sich als „freie Geister“ in religiösen Fragen zeigten. Da muss Ludwig van Beethoven genannt werden! Als selbstbewusster Überwinder konfessioneller Üblichkeiten, zugunsten einer Spiritualität, die Musik als Weg zur Transzendenz entdeckt. Genau deswegen ist die philosophische und theologische Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Werk ( 772 Werke sind es!) so wichtig. Er gehört als „freier Geist“ in unsere Zeit.

Dieser Hinweis kann nur ein bescheidener Impuls sein für jene, die in der Musik und durch die Musik die Tiefe ihres Daseins erleben und, gelegentlich wohl, im Hören (oder im schöpferischen „Nach“-Schaffen der Musik), das Göttliche als das gleichermaßen Tragende und Bergende sowie als das Herausfordernde und Unheimliche erleben.

1.
Auf ausführliche biographische Hinweise will ich hier verzichten.Nur so viel: Schon mit 13 Jahren spielt Beethoven die Orgel in der Bonner Hofkirche. Dort hört er („berufsbedingt“, möchte man sagen) viele Predigten, auch von Universitätsprofessoren, er lernt also die populären Darstellungen katholischer Dogmatik und Moral kennen. Angesichts der vielen Messen an vielen Orten in Bonn und sogar in Siegburg ist er als Organist ausgelastet und muß sich wohl gegen die religiöse Routine wehren, die alle überkommt, die berufsmäßig mehrfach am Sonntag Orgel spielen müssen oder, im Falle der Priester, beten und lesen und predigen müssen, eben in der Routine der immer selben liturgischen Formen der Messe. Das führt bekanntlich zu spirituellen „Abnutzungserscheinungen“. Hat die Routine der vielen Messen, an denen der junge Beethoven teilnehmen musste, hoch oben, an der Orgel, seinen Abstand vom offiziellen Katholizismus befördertet? Das ist wohl so.

2.
Mit 22 Jahren zieht Beethoven als freier Musiker und Komponist nach Wien. Dort geht er auch religiös seinen eigenen Weg! Er entwickelt sich allmählich zu einem „multireligiös denkenden und empfinden“ Musiker, lässt sich also nicht auf eine einzige Glaubenshaltung und auf die angestammte (katholische) Konfession festlegen. Es gibt eine Notiz in einem seiner „Konversationshefte“, die er wegen seiner Ertaubung nutzen musste: „Sokrates und Jesus waren mir Muster“. Und er bezieht sich dabei auf seine große Messe, an der er viele Jahre arbeitete…
Auch Sokrates war für ihn ein Vorbild in spirituellen Fragen. Genauso wie Kant. Und Jesus schätzte Beethoven mehr als die ferne und nur erhabene Christus-Gestalt.Jesus war für ihn ein Mensch, leiblich, greifbar, voller Emotionen. In seinem Oratorium „Christus am Ölberge“ will Beethoven Jesus als Menschen näherbringen …und wahrscheinlich das eigene Leiden an der Taubheit mit dem Leiden Jesu von Nazareth vor seinem Tod zu verbinden.

3.
Explizit religiöse Kompositionen hat Beethoven in nur geringer Zahl geschaffen. Er hat etwa neben dem Oratorium „Der Sieg des Kreuzes“ eine „kleine Messe“ in C Dur als Auftragsarbeit 1807 geschrieben: Dies ist keine Messe, die der volkstümlichen Frömmigkeit in „bewährter Manier“ dienen soll, also in einer Gestalt, wie sie noch Haydn pflegte. Vielmehr zeigt Beethoven in der Komposition dieser Messe seinen eigenen individuellen Glauben, er lässt hören, was ihm persönlich wichtig ist. Glaube kann also sehr treffend nur als Wechselspiel zwischen dem einzelnen und den objektiv vorgegebenen Texten bzw. Organisationsformen verstanden werden. Bei Beethoven kommt meines Erachtens sein einzelnes Fühlen und Denken in gebührender und starker Weise zum Ausdruck. So soll es ja sein, weil Glauben nur als „mein Glauben“ überhaupt möglich ist, diesen Imperativ hat die offizielle Kirche in ihrer Bevorzugung des Objektiven, „Amtlichen“, „Dogmatischen“ allzu oft vergessen. Jan Assmann, der bekannte Ägyptologe, den als Protestanten die Theologie “am meisten interessiert”, hat eine große Studie über Beethovens Missa solemnis geschrieben “Kult und Kunst” (C.H. Beck Verlag). In einem Interview mit der Zeitung Christ und Welt, Heft 53/2020, Seite 3 sagt Assmann kurz und bündig, aber sicher treffend, bezogen auf das Benedictus der missa solemnis:“Beethoven schwelgt in der Präsenz Gottes. Das zeigt mir, dass er den Gottesdienst nur noch musikalisch feiern will. Er braucht keine Priester mehr”.

4.
Ein Wort zur Vielfalt der Bedeutungen, die für Beethoven das Wort Gott hat: Beethoven spricht auch von Gottheit, von dem Vater oder dem Allerhöchsten, dem Himmel oder dem Schöpfer. Diese transzendente, aber gleichermaßen in der Seele lebendige Wirklichkeit kann für Beethoven nicht nur in der Musik, sondern auch in der Natur vor allem erfahren werden.
Auf seine Krankheiten hat Beethoven musikalisch geantwortet. Man denke an das Opus 132, das späte Streichquartett aus dem Jahr 1825, der 3. Satz hat den Titel „Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, in der lydischen Tonart“, also in der Oktavgattung des altgriechischen Systems. Theologisch gesehen beachte man: Beethoven nennt diesen Satz eine Dankgesang an die „Gottheit“. Im Jahr 1825 war der Komponist von einer schweren Krankheit heimgesucht worden.
Seine Verzweiflung inmitten des Lebens hat er auf Gott bezogen: „Ich habe schon oft den Schöpfer und mein Dasein verflucht“ (Brief vom 29. Juni 1801). Er war auch empört über die groben Missverständnisse seiner Verwandten: Davon schreibt er in dem „Heiligenstädter Testament“, das er allerdings niemals als Brief absandte. Angesichts der Feindseligkeit und der Verletzungen gesteht er: „Es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben.. Nur die Kunst, sie hielt mich zurück“.

5.
Für unser Interesse ist die „Missa solemnis“ wichtig: Sie ist eigentlich als eine wirkliche Konkurrenz zu einer Messe gemeint, die in einer Kirche während des katholischen Gottesdienstes, der Messe, aufgeführt wird. Im 19. Jahrhundert entstanden die Konzerthallen in Berlin und Wien, in denen auch religiöse Musik aufgeführt wurde, etwa in der „Singakademie“, dem heutigen Gorki Theater in Berlin. Die christliche Musik wurde aus den Kirchenräumen befreit und erreichte dadurch ein anderes Publikum, das die Messe eher als religiöses Ereignis der individuellen Gefühlswelt wahrnahm denn als Vertiefung in die vorgegebene dogmatische Lehre der Kirche. Die große Weitung der Spiritualität gelingt dann Beethoven in seiner 9. Symphonie, vor allem im Schlusschor, der Ode „An die Freude“ von Friedrich Schiller. Ein Bekenntnis zur Freundschaft unter den Menschen, ein Bekenntnis zur Menschlichkeit, das über alle konfessionellen (und ideologisch – politischen) Bekenntnisse als gemeinsame und universale humane Basis hinausweisen kann. Und sollte. Aber was hat die Musik „bewirkt“? Darf man so fragen? Was haben alle die vielen tausend, wenn nicht Millionen Hörer „gemacht“ mit ihrem Erleben der Ode „An die Freude“. Hier wird die Beziehung von ästhetischem Erleben zur ethischen Praxis berührt. Wie wird ein Ästhet zum Ethiker? Eine grundlegende Frage.

6.
Beethoven bleibt für spirituell Interessierte gegenwärtig. Er ermuntert durch sein Beispiel, den eigenen spirituellen Weg zu gehen. Die so „eigene“ errungene Spiritualität zu leben und zu denken und dann auch anderen zu sagen, darauf kommt es wohl an. Wer die eigene Spiritualität sagt, sucht den Dialog, nimmt teil an der Lebendigkeit des Geistes, der sich überall „Ausdruck schafft“ und damit die Kultur belebt. So könnte die Kirche eine große Gesprächsgemeinschaft werden, die den spirituellen Austausch lebt und alle bequeme Routine von sich weist. Die Hörer der Ode „An die Freude“ in aller Welt hätten sich viel zu sagen. Sie müssten nur die starre Haltung des „Kulturkonsumenten“ aufgeben.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Weihnachten: „Christus, der Retter, ist da…“ Oder: „Jesus der Retter ist da” ?

….diese Frage ist alles andere als nur theologisch subtil…
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, sich in (angeblich) altbewährte Traditionen zu flüchten, wenn sie sich denn nicht gleich Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien hingeben.
Um beim Weihnachtsfest zu bleiben: Es gibt das Bedürfnis in unserer „durchrationalisierten“ und digitalisierten Welt der totalen Ernüchterung, in die „verzauberte“ Welt der Kindheit, der Märchen und Legenden einzutauchen, um dort – wie im Traum – etwas Halt und seelische Wärme zu empfinden: Weihnachten ist der Inbegriff der Ergriffenheit, der Traditionspflege, des „Einst war es doch so schön“. Der ganze Kommerz–Wahn zu Weihnachten hat diese Wunschvorstellung nicht nur nicht kleingekriegt, der Kommerz hat diffuse Sehnsüchte wohl noch beflügelt…

2.
Also bleiben wir realistisch: Man kann wirklich nicht sagen, dass die Weihnachtsgefühle inklusive der obligaten Weihnachtslieder tatsächlich eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht haben. Man hat „Christus der Retter ist da“ viele Male gesungen, vielleicht mit Tränen in den Augen voller Wehmut, der Kindheit gedenkend … und ist dann drei Tage später wieder in die übliche Alltagsroutine zurückgefallen, die Alltagsroutine aus Egoismus, Hass, Neid, Gier und Krieg, siehe die orthodoxe Kirche in Pution -Russland und ihres Patriarchen Kyrill…

Weihnachten mit seiner humanen Botschaft hat selten (und kaum nachzuweisen) zu einer Neuorientierung, zur Abkehr vom üblich gewordenen Inhumanen geführt. Das über alle Jahrzehnte und Jahrhunderte empirisch zu belegen, wäre eine tolle Aufgabe. Die Kirchen würden solche Forschungen bestimmt nicht unterstützen…Also: Wer will im Ernst der Erkenntnis widersprechen, dass Weihnachten (gefeiert und Weihnachtslieder gesungen) wenig spürbar zu einer menschlicheren Welt beigetragen hat. Das ist die traurige Bilanz einer Religion, die sich als Heil, als Rettung selbst versteht. Bestenfalls fand diese Erlösung, Rettung, dann im Innern der privaten Seele statt. Aber die Wirkungen nach außen, politisch, sozial im Sinne universaler Gerchtigkeit, blieben aus.

3.
Manche „Optimisten“ werden auf die Bereitschaft zum Spenden hinweisen für „Brot für die Welt“ oder „Adveniat“. Aber Spenden für die Armen sind der hilflose Ausdruck dafür, dass „wir Erlöste“ -angeblich – strukturell die Welt nicht verbessern können oder verändern wollen: Der Hunger von Millionen Menschen weltweit besteht weiter  seit Jahren, die Kriege sind Alltagsrealität, die Rüstungsindustrie floriert, die Zahl der Milliardäre nimmt zu, die Anzahl von diesen Leuten Armgemachten ebenso… Da sind Spenden ein Alibi für die Hilflosigkeit der Kirchen, wirklich praktisch und politisch und sozial spürbar durchzusetzen, dass „dieser Christus der Retter wirksam da ist“. Es blieb und bliebt also beim Singsang. Wirkungslos.

4.
Mein Vorschlag zu einer wirklichen wirksamen Bedeutung von Weihnachten: Singen wir und sagen wir nicht länger „Christus, der Retter ist da“, sondern „Jesus, der Retter ist da“. Das ist mehr als eine theologische Spitzfindigkeit. Da geht es um Wesentliches. Aber das muss erklärt werden.

5.
Mir geht es um ein Thema, das nicht nur religionsphilosophisch Interessierte bewegt: Wenn der christliche Glaube, auch im Falle von Weihnachten, im Leben des einzelnen noch eine Rolle spielen soll, dann ist Glaube sinnvoll nur zu definieren als eine Form der Lebensorientierung, als eine Gestalt einer Lebensphilosophie. Der christliche Glaube als Lebensphilosophie mit der entsprechenden Lebenspraxis: Dann ist immer – wie bei jeder Philosophie – gemeint das vernünftige Verstehen, das Reflektieren, also auch die Kritik der „Inhalte“ dieser Lebensphilosophie, die da als kirchlicher Glaube verbreitet wird.

6.
Wer die uralten Weihnachtslieder betrachtet oder singt und eben darin einen hilfreichen Ausdruck seiner Lebensphilosophie sehen will, sollte sich also fragen: Was singe ich da eigentlich, welche Inhalte singe ich oder summe ich dann mit? Wenn es mir auf den Inhalt, den „Text“ der Lieder gar nicht mehr ankommt und diese für mich verständlicherweise veraltet wirken, dann reicht es, einige Weihnachtslieder einzig instrumental zu inszenieren. Und ich kann beim Hören der Melodie mir meine eigenen Gedanken machen jenseits von „O Kindelein von Herzen“ und den „himmlischen Heeren, die Ehre jauchzen“ usw. Nebenbei: Eines der wenigen, auch vom Inhalt her noch singbare alte Weihnachtslied ist für mich noch das Lied von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“…

7.
Das beliebte Lied „Stille Nacht…“ verdient eine besondere kritische Aufmerksamkeit. Da heißt es in der 2. Strophe: „Christus der Retter ist da“? Christus ist der Retter. Und er soll also „da“ sein.
Wer das singt, hat, irgendwie verschwommen, einen oder seinen „Christus“ vor Augen, eine Art hoheitlicher Heilsgestalt, einen Gottessohn, der sich am Ende seines Lebens blutend und leidend für die Sünden der Menschen hingibt und dadurch seinen zornigen Vater(gott) versöhnt. Ist diese Überzeugung von Christen aus dem Mittelalter heute noch glaubwürdig und nachvollziehbar? Wie viele andere Theologen und Religionsphilosophen sage ich Nein. Es geht Weihnachten um Jesus von Nazareth, geboren als Kind von Obdachlosen in der Krippe zu Bethlehem, im Stall, inmitten seiner Eltern Maria und Josef. Dann war Jesus in Nazareth als Tischler tätig, später als Prophet und Prediger. Und er wurde umgebracht und später wussten seine Freunde: „Dieser Mensch ist der „Auferstandene“.

8.
Und jetzt kommt in meiner Sicht – ein theologisches Ereignis! Ein spiritueller Umbruch. Dabei geht es nur dem Schein nach um etwas Subtiles für „Spezialisten“: Es geht um den Unterschied zwischen „Christus“ und „Jesus“. Christus wird kirchlich verkündet als der himmlische Herr, die zweite Person der Trinität oder der Sühne leistende Sohn Gottes. Dies gilt in den Kirchen, selbst wenn oft von „Jesus Christus“ die Rede ist: Da tritt aber die Gestalt des Menschen Jesus immer in den Hintergrund gegenüber dem allmächtigen Christus. Das Konzil von Nikäa (325!) und die folgenden Konzilien haben diese Tendenz absolut verstärkt. Leider!

9.

Jesus von Nazareth hingegen ist der jüdische Mann mit einer bestimmten Geschichte, mit einem Lebensentwurf, einer bestimmten Lebensphilosophie. Er ist ein Mensch mit einem Gesicht, einer Geschichte, er wird zum Propheten, den viele für einen Lehrer, einen Weisen, halten. Als ein solcher Weisheitslehrer mit einer bestimmten Lebensphilosophie kann er dann als der “Christus”  bezeichnet werden, der über den begrenzten jüdischen Raum hinausweist: Ein Weisheitslehrer für viele Menschen vieler Kulturen, für Menschen, die sich seinen Werten anschließen wollen. Jesus als Person, mit einem Gesicht, einer Geschichte, mit seiner Liebe zur Gemeinschaft, zum gemeinsamen Speisen, seiner Praxis der Meditation und des gelegentlichen Rückzugs in die Wüste, mit seiner Liebe für die Frauen, seiner Liebe zu seinem “Lieblingsjünger Johannes” usw.: Dieser Mann Jesus weckt neue Einsichten, inspiriert zum Leben in Gerechtigkeit.

10.
Man denke daran, dass der große katholische Theologe Edward Schilllebeeckx (Nijmgen, NL) von Jesus als dem erlösenden Vorbild sprach. Insofern befinde ich mich hier in bester theologischer Gesellschaft. Und Jesus als Vorbild führt weiter zu der argumentierenden Frage: Wo sind heute weitere Vorbilder? Wahrscheinlich Gandhi oder Martin Luther King? Oder Bonhoeffer? Oder Erzbischof Romero aus El Salvador? Oder bestimmte Werke der Musik, vielleicht die Missa Solemnis von Beethoven? Oder manches von Literaten oder von Malern, etwa von van Gogh? Wie auch immer: „Jesus der Retter ist – in gewisser Hinsicht – da“.

Rettung – dieses große Wort – erhält so ein Angesicht, eine historische Konkretheit. Rettung ist dann etwas anderes als ein transzendentes, als ein nur innerliches Geschehen der Versöhnung, das sich abstrakt „himmlisch-irdisch“ zwischen Gott – Vater und seinem „eingeborenen“ Sohn „abspielt“.

11.
“Rettung der Welt”, ökologisch, friedenspolitisch, im Sinn der Menschenrechte… wird zur Aufgabe der Menschen, die Weihnachten feiern. Aber dies nicht als Last, nicht als Fremdbestimmung, sondern als Form, das eigene menschloche Wesen zu leben, lebendig zu sein.

Weihnachten ist das „Eingedenken“ an Jesus von Nazareth, den universalen Lehrer der Weisheit, den Propheten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)

Meinungsfreiheit und damit auch Blasphemie als Kunst sind normal in einer Demokratie! Und die Menschenrechte sind etwas “säkulares Heiliges”

Gott oder ein Prophet lässt sich von Menschen überhaupt nicht ärgern. Woher sollten Menschen das auch wissen?

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Frankreich, meint Prof. Thomas Römer, Direktor des „College de France“ (Paris) in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung vom 9.11.2020, könnten jetzt „Glaubenskriege“ ausbrechen: Also gewalttätige Auseinandersetzungen fundamentalistischer, völlig unberechenbar agierender „Islamisten“ gegen die absolute Mehrheit der Franzosen und ihre Republik. Zu dieser Mehrheit der Franzosen gehören sicher auch die vielen moderaten Muslime, einzelne Imame, wie in Drancy oder Bordeaux haben sich explizit zur Republik und ihren Werten bekannt.
Die tödliche Gewalt islamistischer Kreise in Europa und anderswo hat viele Ursachen. Eine Ursache ist sicher begründet in ihrer Unfähigkeit dieser (nach außen hin) Frommen, satirische künstlerische Darstellungen des Propheten in französischen Zeitungen eben als Satiren wahrzunehmen. Diese Mörder geben an, ihr Glaube an Gott und den Propheten sei verletzt. Und. „Gott selbst will Rache“. Manche kritischen Beobachter sagen zurecht, dass auf diese Weise die Verbrecher ihre tötende Gewalt förmlich religiös entschuldigen. Und von den eigentlichen mörderischen Motiven ablenken.
Die meisten Franzosen (wie wohl die meisten Menschen in Europa) können doch wohl unterscheiden: Handelt es sich bei den satirischen Darstellungen um künstlerische Kritik gegen einzelne, heute lebende Personen? Solche satirischen Darstellungen sind abzulehnen! ODER: Handelt es sich um allgemein gehaltene Satiren gegen bloß ideale Wesen wie Gott/Göttin/Ewiges bzw. Personen der Vergangenheit, wie etwa Propheten oder Politiker oder Päpste. Im französischen recht ist es so, dass es rechtlich möglich ist, eine Religion als solche, ihre Gestalten und ihre Symbole satirisch zu beleidigen, hingegen ist es verboten, konkreter Anhänger/Mitglieder einer Religion persönlich zu beleidigen (vgl.: https://www.institutmontaigne.org/blog/le-blaspheme-en-france-et-en-europe-droit-ou-delit).
Die Kultur der Satire gibt im guten Sinne zu denken, zu fragen, zu relativieren usw.. Man muss dann erkennen, dass die meisten Menschen diese Unterscheidungsgabe („Kritik der Urteilskraft“ würde Kant sagen) hinsichtlich des Phänomens Blasphemie wohl erworben haben.
Noch einmal: Wenn also Künstler oder Satiriker ein höchstes Wesen, Gott genannt, kritisieren, wird dieses höchste Wesen als solches, Gott, eben NICHT verletzt, sondern nur die immer relativen und oft albernen Bilder des höchsten Wesens werden in Frage gestellt, zugunsten eines besseren Verstehens! Die Unterscheidung zwischen „Gott an und für sich“ und dem Gott, den Göttern, in immer neuen, relativen Bildern setzt natürlich ein bestimmtes Niveau der Bildung und der Reflexion voraus. Auch viele Christen, so muss man leider sagen, haben dieses Niveau nicht erreicht. Man denke an die orthodoxen Kirchen und ihre Kirchenführer, die Satire in der genannten Form der Blasphemie pauschal für eine Lästerung Gottes selbst halten. Diese Herren Patriarchen in Moskau z.B. meinen im Ernst, der Ewige würde sich durch endliche Menschen beleidigen lassen und so richtig böse werden. Theologie haben diese Herren leider nicht umfassend studiert, aber trotz ihrer Unbildung hohe kirchliche Funktionen erreicht und politischen Einfluss leider erlangt.
Ähnliche Entwicklungen hin zu Fanatismus gibt es bekanntermaßen auch im Judentum oder im Islam oder im Buddhismus…
Es sei also ein für alle Mal, als evidente Erkenntnis, die es selten auch in der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt, gesagt: Das höchste Wesen, der himmlische Gott, der Ewige, der Absolute, wie auch immer man „Gott“ hilflos nennt, kann gar nicht von menschlicher Seite beschädigt werden,

2.
Zurück zu Frankreich heute: Der Hass so vieler Muslime in Frankreich auf Frankreich, das sie als ein nach außen hin christliches Land oder einen säkularen Staat verstehen, ist auch durch die soziale und damit auch politische Ausgrenzung von Bürgern muslimischen Glaubens bedingt. Die heutige Gewalt islamistischer Kreise und der befürchtete „Krieg“ sind also nicht nur explizit religiös im engeren Sinn begründet! Zu diesem Thema wurden geschätzte 1000 soziologische, politologische oder psychologische Studien verfasst. Wer dabei tatsächlich kritisch forschte, musste zu der inzwischen allgemein geteilten Erkenntnis kommen: So sehr es auch zahlreiche erfolgreiche und damit reiche Geschäftsleute, Künstler, Autoren, Ärzte etc. mit einem muslimischen Hintergrund in Frankreich gibt: Die meisten Menschen mit arabischen oder , türkischen oder „schwarzafrikanischen“ Wurzeln sind diskriminiert. Diskriminiert in der Qualität ihrer Bildung, ihrer Wohnung, der Wahl ihrer Berufe usw. Und dies gilt auch, wenn die genannten Muslime die französische Staatsangehörigkeit haben. Nebenbei: Auch Christen aus „Schwarzafrika“ oder Haiti werden auch in Frankreich diskriminiert. Mit anderen Worten: Die viel gepriesenen Werte der Französischen Republik (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) gelten vorwiegend für weiße Franzosen oder Hochbegabte oder finanziell bestens Ausgestattete aus den „anderen“ Regionen und Religionen der Welt.
Es sei also, ein für allemal, als evidente Erkenntnis gesagt: Das höchste Wesen, kann nicht beleidigt werden.

3.
Die meisten Franzosen sind nicht bereit, auf Errungenschaften ihrer demokratischen Kultur zu verzichten, dazu gehört die Satire und die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst! Diese demokratischen Werte wurden von den Europäern, auch den Franzosen, mit Mühe von den autoritären Machthabern im eigenen Lande erkämpft! Das darf man nie vergessen: Die große richtige Errungenschaft der Meinungsfreiheit und damit auch im letzten der Blasphemie wurde von Franzosen errungen in einem Jahrzehnte langen Kampf gegen dunkle und dumpfe, auch klerikale Mächte im eigenen Land. Man denke an Voltaire, Rousseau, Diderot usw., an die vielen große Denker, die die Französische Revolution in gewisser Weise vorbereiten. Jenes weltgeschichtliche Ereignis also, das mit viel Mühe und langfristig unter vielen Kämpfen die universal geltenden Menschenrechte formulierte und letztlich (!) die Republik über die autoritäre Regierung einzelner Machthaber siegen ließ.
Die demokratischen Bürger haben diese Wahrheit errungen, und diese wollen sie sich nicht von niemandem mehr nehmen lassen. Das hat nichts mit fundamentalistischem Eigensinn zu tun: Die Werte der Demokratie sind als Werte, die selbstverständlich weiterentwickelt, verbessert werden müssen, Ausdruck der Vernunft: Diese Werte garantieren prinzipiell das humane Zusammenleben von Menschen, autoritäre Regime mit ihren Willkürgesetzen hingegen garantieren eben das nicht. Da hat der einzelne überhaupt keine Menschenrechte, die er einklagen kann.

4.
Darum empfinden es heute viele Franzosen als einen Rückschlag, wenn jetzt etwa in Kreisen katholischer Kleriker gefordert wird: Eigentlich sollten wir Katholiken angesichts der abscheulichen Mordtaten und Abschlachtungen der letzten Wochen auf unsere Freiheit der Kritik, auch der Religionskritik und Satire etwa in Charlie – Hebdo verzichten.
Das ist der Ernst der Kleriker (dokumentiert etwa in DIE ZEIT vom 12.11.2020, „Glauben und Zweifeln“) ? Soll man also auf die eigene Kultur der Freiheit, auch der Meinungsfreiheit, verzichten? Würde man damit nicht schon jetzt den Mördern und Schlächtern nachgeben und ihnen sogar recht geben? Wäre der Verzicht auf die Kultur der Meinungsfreiheit und der umfassenden Religionskritik ein Dienst am Frieden in der Gesellschaft? Würden das Morden und Abschlachten dann aufhören? Oder würden sich die genannten fundamentalistischen Kreise andere Objekte ihres Hasses in unserer Gesellschaft suchen, harmloser dem Anschein nach als die bisherigen mörderischen Ziele, eben die Kirchen und Christen, Journalisten und Caféhaus-oder Bar Besucher und die Redakteure einer Satire-Zeitschrift.
Vielleicht würden demnächst diese mörderischen Kreise sich Damenunterwäsche, „Dessous“ – Abteilungen in Kaufhäusern oder Fachgeschäfte für Wein und Whisky aussuchen für ihr mörderisches Tun.

5.
Damit will ich sagen: Um des angeblich lieben Friedens willen mit Islamisten können und dürfen Europäer auf wichtige Inhalte ihrer Kultur nicht verzichten. Die Frage ist nur: Kann man den fundamentalistischen Islam zur Vernunft bringen? Das würde voraussetzen, dass es einen vernünftigen islamischen Glauben gibt, etwa in der allgemein gewordenen Einschätzung, dass sich der Koran nur in der historisch-kritischen Forschung erschließt. In den Moscheen müsste also, wenn es religiös – vernünftig zuginge, gelehrt werden: „Wir Muslime in Europa treten für die Werte der Republik ein. Unser muslimischer Glaube ist unsere private Überzeugung. Sie ist für den einzelnen im privaten Leben, bei Essensvorschriften etwa, gültig, sie kann aber niemals das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft bestimmen“. Diese Erkenntnis ist natürlich auch für Christen und Juden gültig.

6.
Die Beispiele brutaler Herrschaft und mörderischer Unterdrückung gegenüber den angeblich feindlichen „Anderen“ in „anderen Kulturen“ (Indios, Afrikaner, Asiaten, Juden usw.) durch Christen und ihre Kirchenführer sind so überwältigend, das nur noch die Erkenntnis bleibt: Der Umgang mit den „heiligen Texte“ durch die jeweiligen Frommen bleibt auf den privaten Bereich und der Gottesdienste begrenzt.

7.
Worauf läuft diese vernünftige Begrenzung religiöser Macht hinaus? Ich meine, auf eine Art von Mystik, die weiß: Das Wesentliche im Zusammenhang von Gott und Mensch spielt sich im Geist, in der Seele, des Menschen ab! Pflegt also eure Mystik, möchte man philosophisch als Empfehlung geben. Sucht nicht fundamentalistische Einpeitscher auf, sondern weise Lehrer, selbstkritische und an euren Finanzen desinteressierte Meister der Mystik. Und lasst Staat und Gesellschaft mit euren religiösen Prinzipien aus angeblich heiligen Büchern in Ruhe: Der Staat ist und bleibt weltlich, er ist also allein den Menschenrechten verpflichtet und keinem religiösen Buch.
8.
Und wenn Fromme selbstverständlich als Bürger eines demokratischen Staates politisch und gesellschaftlich aktiv werden, dann immer stets in der selbstkritischen Haltung, mit der Frage: Folge ich jetzt meinen begrenzten religiösen Weisheiten oder tatsächlich den vorrangigen Menschenrechten? Religiöse Menschen haben in der Politik wie alle anderen keinen anderen Auftrag, als die Menschenrechten zur universalen Geltung zu bringen. Der Traum von einer kirchlich beherrschten Gesellschaft, von einem vom Koran oder von der Bibel oder den Weisheitsreden Buddhas oder den Weisheitslehren der Upanishaden bestimmten Staat kann nur als Wahn bewertet werden. Das ist evident. So viel Klarheit hat Philosophie, sie ist kein postmodernes permanentes “Sowohl als auch”. Es gibt letzte Evidenzen auch in der praktischen Philosophie.
9.
Und,theologisch betrachtet, sind die Menschenrechte etwas säkulares “Heiliges”. Demokraten entwickeln sie weiter. Und haben – einmal pathetisch gesagt – kein dringenderes Verlangen, als dass die Menschenrechte politisch und ökonomisch gelten, praktisch gelten. Allen frommen Diktatoren, allen antidemokratischen Präsidenten etc. zum Trotz. Die Menschenrechte sind zwar vernünftig betrachtet evident. Aber die Menschen müssen auch an sie glauben. Nur so, mit diesem emotionalen Impuls auch der Empathie, gelangen wir zur Praxis der Menschenrechte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kamala Harris – die „multireligiöse“ Vizepräsidentin der USA

Ein Hinweis von Christian Modehn im November 2020.

1.
Präsident Jo Biden ist gläubiger und praktizierender Katholik, das hat sich allmählich herumgesprochen. Einige katholische Bischöfe der USA haben aber Jo Biden noch in letzter Zeit sein „Katholischsein“ abgesprochen und davor gewarnt, dass Katholiken ihn wählen. Mit „Erfolg“:62 Prozent der Katholiken haben dann als gehorsame Gläubige tatsächlich TRUMP gewählt. Wollten die Bischöfe also behaupten: Jo Biden sei ein verkappter Atheist? Von wegen. Er hat nur die Ursünde für viele konservative und reaktionäre Katholiken begangen, und eben nicht die „Pro Life Bewegung“ zu seinem obersten Gott erklärt, wie es eben die genannten Kreise, auch evangelikaler Prägung, vor allem tun. Für sie ist sozusagen der Kampf für Pro Life der militante Glaubenskampf seit Jahren. Und die Grundsätze von „Pro Life“ sind das oberste Glaubensbekenntnis.
Jo Biden ist hingegen ein gläubiger Katholik, für den der Kampf um die Demokratie und Menschenrechte und Menschenwürde für alle an oberster Stelle steht. Das sind ja ohnehin die einzig möglichen humanen und demokratischen Positionen! Mit religiösen Prinzipien und Sprüchen aus heiligen Schriften lässt sich bekanntlich kein demokratischer Staat machen.
2.
Und was bedeutet der religiöse Glaube der Vizepräsidentin Kamala Harris? Diese Frage zu stellen ist in den USA normal, obwohl offiziell Kirchen und Staat getrennt sind. Aber im Unterschied zur radikaleren Laizität in Frankreich: Dort ist es eher ungehörig wissen zu wollen, was glaubt dieser oder jene Mensch, Nachbar, Kollege, Politiker, welcher Konfession gehört er an, geht er zur Kirche, zur Synagoge, zur Moschee etc…? So etwas darf man und will man in Frankreich, durch die Verfassung festgelegt, gar nicht wissen, darum gibt es auch keine präzise Religionsstatistik in Frankreich!
3.
Und das ist nun wirklich hoch interessant für alle religionswissenschaftlich oder auch theologisch Interessierten: Eine multireligiös lebende höchstrangige Politikerin in den USA: Diese Situation ist kein Wunschtraum mehr, sondern Realität: Was Prof. Perry Schmidt-Leukel in Deutschland oder die Theologin Manuela Kalsky in den Niederlanden (Amsterdam) seit Jahren fordern und selbst leben: Die multireligiös Religiöse: Das ist Wirklichkeit – bei Kamala Harris, der US Vizepräsidentin. Dieser Aspekt ist natürlich nur einer von vielen Aspekten, die wichtig sind, um Kamala Harris zu verstehen.
4.
Die Mutter von Kamala Harris , Shyamala Gopalan Harris, gestorben 2009, stammt aus Indien (Chennai, Madras), sie war eine gläubige Frau gemäß hinduistischer Spiritualität – auch als sie in den USA
lebte…und für die Menschenrechte kämpfte. Während ihrer Reisen in Indien nahm Kamala Harris an Riten in hinduistischen Tempeln teil.
Der Vater Donald Harris stammt aus Jamaica und war mit der Baptistenkirche verbunden. Kamala Harris Ehemann Dougles Emhoff ist mit jüdischen Gemeinden verbunden, und sie bekennt „mit dem ich die Traditionen und Feiern des Judentums teile“, berichtet die Tageszeitung La Croix, Paris.

In San Francisco ist Kamala Harris eng verbunden mit der Bapistengemeinde von Pastor Amos C. Brown. Er sagte über Kamala Harris in der Zeitschrift „Sojourners“: „In meiner Sicht verkörpert sie einen Satz aus dem Jakobus-Brief des Neuen Testaments, dort heißt es: „Ein Glaube ohne Taten und Werke ist tot“ (Jak. 2,26). Ein erstaunliches, sehr treffendes Wort eines berühmten US-Theologen und Kämpfers für die Menschenrechte, ist doch der Jakobus Brief von Martin Luther aufs heftigste kritisiert und abgewiesen worden, gerade weil im Jakobus Brief das TUN so betont wird als Weg der Erlösung. Dieser irrigen Interpretation Luthers folgen leiden heute immer noch viele Protestanten, aber dies ist ein anderes Thema. Kamala Harris bestätigt die Aussage ihres Pastors: „Ich habe schon in der Jugend in der Baptistenkirche von Oakland damals gelernt: Den Glauben haben bedeutet: Er ist eine Aktion. Wir müssen ihn leben und in Taten verleiblichen“. Im Pressedienst „Protestinter“ sagte sie: „Der Gott, an den ich glaube, ist der Gott der Liebe. Er will, dass wir den anderen dienen und im Namen derer sprechen, die weder reich noch mächtig sind. Dabei ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ganz zentral für mich“. Kamala Harris geht soweit, sich öffentlich auch zum privaten Gebet zu bekennen, „um Kraft und Schutz zu erbitten, gute Entscheidungen zu treffen“…

5.
Kamala Harris lebt außerhalb rigider religiöser Identitäten. Dies kann eine gute Voraussetzung sein, um ein Land, das ideologische Barrieren und religiöse Eindeutigkeiten über alles pflegt, etwas mehr zu versöhnen, d.h. zur Vernunft zu bringen, Vernunft ist bekanntlich etwas den Menschen Gemeinsames und Allgemeines. Nur sie, verbunden mit Empathie, kann eine Demokratie aufbauen. Und es ist keine Frage: Wer sich in diesem durch Mr. Trump verwüsteten Land verändern muss, sind zu allererst die meisten Republikaner. Ihre führenden Politiker und Parteimitglieder haben 4 Jahre zugesehen, offenbar aus eigenem finanziellen Interesse, wie dieser korrupte Mann, Mr.Trump, die demokratischen Werte zerstörte und die Lügen zur allgemeinen Unkultur zu etablieren suchte. Die Versöhnung der Menschen in den USA wird heftig werden. Auch die Kirchen sind innerlich politisch zerrissen. Wo sind die neutralen Vermittler, die Mediatoren?

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Dieser Hinweis verdankt einige Information der Tageszeitung La Croix, vom 9.11.2020, dort der Beitrag von Claire Lesegretain.

Was hält uns am Leben? Ein Interview in Zeiten der Krise mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin
Von Christian Modehn

1.
Manche meinen mit vielen Gründen zurecht: Die Krise der Mensch-heit sei heute ziemlich total: Um nur krasse Beispiele zu nennen: Die Klimakatastrophe, die Zunahme autoritärer Systeme, Kriege, Flücht-lingselend … und Corona. Bleiben wir bei der Corona-Pandemie: Da wird Abstandhalten, also körperliche Distanz, „bloß nicht berühren oder umarmen“, als Schutz vor Ansteckungen – zurecht – genannt. Das bedeutet: „Meidet die leibliche Nähe!“ Sollte man daraus sinn-vollerweise schließen: Steigern wir unsere geistigen Kräfte, Sprache, Vernunft, Mitgefühl? Sollte man sich und anderen förmlich als Trost sagen: Auch wenn die körperliche Kommunikation momentan sehr reduziert sein muss, fördern wir um so mehr unser geistiges Mitei-nander? Und: Wie kann das gelingen?

Natürlich ist es für alle eine große Belastung, dass wir jetzt schon so lange diese Kontaktbeschränkungen erleiden müssen. Im Moment werden die Maßnahmen, die uns voneinander fernhalten, erneut ver-schärft. Die Politik bereitet uns bereits auf ein „einsames Weihnach-ten“ vor. Da fällt es gewiss nicht leicht, aus dieser Not eine Tugend zu machen und darauf zu verweisen, dass wir ja doch die fehlende kör-perliche Nähe durch gesteigerte geistige Verbundenheit ersetzen könnten. Gerade wenn wir an die Menschen in den Krankenhäusern und Seniorenheimen denken, aber auch an die vielen Menschen, die allein leben und sich jetzt vielleicht in besonderer Weise einsam und verlassen fühlen!

Und doch, so denke ich, haben Sie Recht, dass wir dieser Pandemie ebenso wenig hilflos ausgeliefert sind, wie all den anderen Bedro-hungen, Krisen und moralischen Katastrophen, die Sie ansprechen. Das genau ist es, was für uns Menschen den Unterschied ausmacht, angesichts unserer natürlich-organischen Verfassung, die wir mit al-len anderen Lebewesen teilen. Es ist das, was wir „Geist“ nennen. Mit „Geist“ meinen wir die Fähigkeit, die uns von anderen Tieren unter-scheidet, obwohl sie uns nur in Verbindung mit unserer natürlich-organischen Verfassung zur Verfügung steht. Aber unsere Geistbega-bung sorgt dafür, dass wir auf überlegte Weise, sinn- und zielorien-tiert, damit auch ethisch verantwortlich, mit den Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen und mit den Krisen, in die wir geraten, umgehen können. Wir können uns auf bewusste Weise zu dem ver-halten, was uns betrifft, bewegt und belastet, herausfordert und nie-derdrückt, erfreut oder traurig macht, ängstigt oder gar in die Ver-zweiflung treibt.

Statt vom Geist, der uns Menschen in besonderer Weise qualifiziert, kann man auch davon sprechen, dass es die Vernunft ist, die uns aus-zeichnet. Aber die Rede vom Geist bringt besser die transzendente Dimension zum Ausdruck, in die unsere Geistbegabung uns versetzt. Die Vernunft ist ein unseren Selbst- und Weltumgang qualifizierendes Vermögen. Der Geist ist eine Kraft, die uns zwar auch individuell zu-kommt, aber doch nur dann, wenn sie über uns kommt und uns, von jenseits unserer selbst her, ergreift.

Wo der Geist uns erfüllt, sind wir voll Begeisterung bei einer Sache und zugleich bei denen, die unsere Begeisterung mit uns teilen. Geis-tesgegenwärtig sind wir ganz bei uns selbst wie bei der Aufgabe, die unseren Einsatz fordert. Zugleich fühlen wir die Verbundenheit mit anderen, die unser Engagement teilen. Wir suchen die Nähe zu de-nen, die desselben Geistes sind, mit denen wir uns verstehen, die für die gemeinsame Sache streiten. Das gilt, so möchte man schnell hin-zufügen, leider in jeder Hinsicht. Auch für Hassbotschaften, Ver-schwörungsmythen und faschistische Ideologien. Auch der Ungeist menschenverachtender Bewegungen sucht in diesen Zeiten, in denen wir weitgehend auf soziale Kontakte in leiblicher Präsenz verzichten müssen, gesteigert danach, sich weltweit zu vernetzen.

Die internetbasierte Kommunikation durch die „sozialen Medien“ schafft Verbundenheit und soziale Nähe, was eine ambivalente Ange-legenheit bleibt. Aber auch viele gute Erfahrungen können gerade jetzt durch die virtuelle Kommunikation gemacht werden. Menschen teilen z.B. ihre Trauer über Twitter oder Facebook mit. Sie bekom-men daraufhin viel mehr Anteilnahme selbst von entfernten Bekann-ten als dies sonst zu erwarten gewesen wäre. Die weltweite Jugend-bewegung zur Durchsetzung der Klimawende „Fridays for Future“ wäre ohne das Internet ebenfalls nicht vorstellbar.

Die Digitalisierung schafft die Voraussetzungen für virtuelle und d. h. eben von körperlicher Präsenz unabhängige Kommunikation. Wir se-hen, dass technische Mittel zur Verfügung stehen, die helfen, die Kommunikation, in die der uns erfüllende Geist drängt, auch zu ver-wirklichen. Der Geist schafft Verbundenheit! Und bei Licht besehen ist alles, was Verbundenheit schafft, geistiger Natur: Liebe und Ver-trauen, Glauben und Wissen, Angst und Hoffnung. Allerdings auch Hass und Hybris, Egoismus und Feindschaft.

Deshalb ist, sofern wir auf die Steigerung der Verbundenheit im Geist setzen, zugleich die Unterscheidung der Geister so wichtig! Auch sie aber setzt Kommunikation voraus und ist nur durch diese möglich. Die Verbundenheit im Geist ist nie nur eine private Angelegenheit. Sie sucht die Öffentlichkeit – und sie geschieht heute vor allem durch die sozialen Medien, durch Podcasts oder auch Internetauftritte wie sie der „Religionsphilosophische Salon“ und viele Initiativen zur Er-möglichung von Kommunikation über das uns als Zeitgenossen gleichermaßen Betreffende und zum Handeln Herausfordernde reali-sieren. Sobald wir an dieser virtuellen Kommunikation teilnehmen, sehen wir, wie sehr wir einander brauchen, gerade in der Suche nach Lösungen für die Probleme, die Sie zu Beginn ihrer Frage angespro-chen haben.

Es ist vollkommen klar, dass uns viel Lebensqualität verloren geht durch die Kontaktbeschränkungen, die wir pandemiebedingt in Kauf nehmen müssen. Aber richtig ist auch, wie Sie sagen, dass wir gestei-gert die Kräfte zum Einsatz bringen können, die uns als Menschen zur Verfügung stehen – und das ist nicht zuletzt die Offenheit und Emp-fänglichkeit für die Geistbegabung.

2.
Wenn man also den Krisen zum Trotz auf die „Trotzmacht“ des Geis-tes“ setzt (wie der Therapeut Viktor E. Frankl sagt), muss man ja nicht in die uralte Falle des Dualismus stolpern, der da vorgibt: Das Materielle, Leibliche, sei bedeutungslos gegenüber dem Geist. So sind doch wohl auch nicht die Weisheiten im Neuen Testament zu verstehen, wo es heißt: „Der Geist macht lebendig“ (Joh. 6.63) oder „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig“ (2 Kor.3,6)? Die Fra-ge ist entscheidend: Wie können wir dieses lebendig machenden Geistes innewerden?

Viktor Frankls treffliche Rede von der „Trotzmacht des Geistes“ weist darauf hin, dass der uns Menschen ergreifende und in glücklichen Momenten ganz erfüllende Geist höher ist als unsere menschliche Vernunft. Der Geist ist es, der uns dazu befähigt, auch noch gegen ei-ne bedrückende und niederschlagende Wirklichkeit anzugehen, im Glauben daran, dass sie nie schon das Ganze und nicht unsere Be-stimmung ist. Der Geist bewahrt uns davor, in eine letzte Verzweif-lung zu geraten, er lässt uns immer noch auf eine Wende zum Guten hoffen. Der Geist macht es, dass die Liebe nicht aufhört, selbst dort nicht, wo der Hass und die Bosheit unter den Menschen uns den Glauben an die Menschlichkeit rauben wollen. Der Geist ist die uns Menschen über alles Trennende hinweg verbindende Kraft. Das ist er, weil er uns Menschen nicht nur untereinander, sondern zugleich mit dem göttlichen Ursprung unseres Daseins verbindet. In der Sprache des christlichen Glaubens ist dies so ausgedrückt, dass alle Menschen Gottes Geschöpfe, ja, seine geliebten Kinder sind.

Wir können die über uns Menschen hinausreichende und ins Dasein rufende Macht des Göttlichen selbst nur als geistig verfasst denken. So ist dann Gott der unendliche Geist, der uns Menschen an seinem Geist Anteil gibt. Die Bibel redet immer wieder, wie Sie schon zitiert haben, von dem uns lebendig machenden und lebendig erhaltenden Geist Gottes. Der Geist, der es macht, dass wir uns zu uns selbst, zu unseresgleichen wie zur Welt auf verantwortliche, sinn- und zielori-entierte Weise verhalten können, ist Geist von Gottes Geist.
Gottes Geist ist umfassender und höher als unser menschlicher Geist, aber gerade deshalb befähigt uns unsere Teilhabe an Gottes Geist zu dieser „Trotzmacht“ unseres menschlichen Geistes. Dazu, dass wir in der Kraft unseres Geistes uns einsetzen für das Gelingen des Lebens, das Gott mit der Schöpfung der Welt im Sinn hatte – auch dann und dort noch, wo wir angesichts der Größe der Aufgabe und der Wider-stände, die sich in den Weg stellen, resignieren möchten.

Die Frage bleibt jedoch, wie das zugeht, dass wir mit dieser Geistes-kraft erfüllt werden. Dazu braucht es ganz offensichtlich dies, wie Sie selbst sagen, dass wir der uns erfüllenden Kraft des göttlichen Geistes innewerden. Wir müssen zur Einsicht finden, dass unser endlicher, begrenzter menschlicher Geist tatsächlich Geist von Gottes Geist ist, wir an Gottes unendlichem Geist teilhaben. Genau daraus erwächst uns die Fähigkeit, unserer Begrenztheit und Endlichkeit, unserem Versagen und allen Widerständen zum Trotz, doch im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zu bleiben – und, ja, das auch, nach univer-sal geltenden, alle Menschen gleichermaßen in ihrer unverletzlichen Würde anerkennenden und ihnen gerecht werdenden Prinzipien zu handeln.

Ich will den Bibelstellen, die Sie schon genannt haben, noch ein mir sehr wichtiges Wort aus dem Johannesevangelium hinzufügen: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (Joh 4, 24) Hier ist dies zum Ausdruck gebracht, nicht nur, dass wir uns Gott als Geist zu denken haben, auch nicht nur, dass er uns an seinem Geist Anteil gibt, sondern auch, dass wir, um in dieses Geistgeschehen aktiv einbezogen zu werden, uns zu diesem ins Verhältnis setzen müssen. In der Wahrheit erst, im Eingeständnis also dessen, wie es um uns in Wirklichkeit steht, im Eingeständnis unserer Endlichkeit und Begrenztheit, unserer Schwachheit und Bedürftigkeit, unserer Fehlbarkeit und unseres Versagens, gewinnt die Bitte um den Geist ihre Kraft. Dann erst, wenn wir selbst leer werden, will und kann der Geist uns ganz erfüllen. Dann erst gewinnen wir den Mut, aus der Kraft des Geistes zu leben. Dann erst finden wir in diese an-dere Einstellung dem Leben gegenüber. Dann erst geben wir das ei-gene Leben und er recht die krisengeschüttelte Welt auf keinen Fall verloren.

3.
Wenn man also in Krisenzeiten besonders auf den Geist, die Vernunft, setzt, sollte dann nicht immer auch der kritische politische Geist ge-meint sein, den es zu pflegen gilt? Also der Geist im emphatischen Sinne, der sich den universalen Menschenrechten verpflichtet weiß? Wie kann es gelingen, dass wir in diesen „Corona – Zeiten“ nicht nur auf uns (in Deutschland, Europa) schauen, sondern die Weite des Mitgefühls finden mit den Leidenden weltweit?

Ja, „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ (Römer 8, 26), um noch einmal den Apostel Paulus zu zitieren (und die wunderbare Mottete von Johann Sebastian Bach zu assoziieren). Die Pandemie fordert alle unsere Kräfte. Sie ist nicht nur mit Kontaktbeschränkungen, sondern für viele auch mit harten ökonomischen Verlusten verbunden. Da kommt es leider viel zu oft vor, dass die Not derer, die in den Flücht-lingslagern, an den Rändern Europas oder in den Kriegs- und Krisen-gebieten des Nahen und Mittleren Ostens und in vielen Ländern Afri-kas um ihre Existenz kämpfen, aus unserem Blick gerät.

Umso dringender brauchen wir den Geist, diese unwahrscheinliche Kraft, die uns untereinander und mit dem Göttlichen über alles Tren-nende hinweg verbindet, ja, der recht eigentlich diese zerrissene Welt doch immer noch im Innersten zusammenhält. Unsere Bitte um diesen Geist, unser Ruf „Veni Creator Spiritus!“, dass er doch unsere Schwachheit vertreiben und über uns kommen möge, der schöpferi-sche, uns zum Handeln befähigende Geist, er verbindet uns zugleich mit all denen, die um ihr Lebensrecht betrogen werden. Er treibt uns dazu, ein europäisches Grenzregime anzuklagen, dass die Menschen-rechte allenfalls für diejenigen, die über einen europäischen Pass verfügen, gelten lässt.

Dieser Geist, der unserer Schwachheit aufhilft, ist politisch, eine öf-fentlich wirksame Kraft des Protestes gegen die Missachtung der für alle gleichermaßen geltenden Menschenrechte – in der Sprache des Geistes genau deshalb für alle geltend, weil alle Geschöpfe Gottes und seine geliebten Kinder sind.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Leo Tolstoi als Philosoph. Anläßlich seines Todestages am 20. November 1910

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Ist Leo Tolstoi (1828–1910) ein Philosoph? Was für eine Frage! Sie kann nur mit einem Nein beantworten, wenn als Philosoph nur gelten kann, der an einer Universität oder Hochschule lehrt und ein möglichst perfektes Denk – System errichtet. Aber, unnötig zu betonen: Philosophie ist zunächst Philosophieren, lebendiges, selbstkritisches Frgen. Und diese Praxis des kritischen Denkens und Zweifelns findet überall statt, z.B. auch in der Literatur, unter den Schriftstellern.
Natürlich ist Leo Tolstoj ein Philosoph, der in seinem äußerst umfangreichen Werk sich voller philosophischer Vorschläge äußert, selbst wenn er Philosophie sozusagen als „wissenschaftliche und strenge Disziplin“ dann doch eng findet.
2.
Immerhin widmet Wilhelm Goerdt in seinem umfangreichen Buch „Russische Philosophie“ (Karl Alber Verlag, Freiburg, 2002, 686 Seiten) fünf Seiten dem „Philosophen Tolstoi“ (S. 534 ff.). Goerdt betont gleich am Anfang, dass man die politischen und sozialen Überzeugungen Tolstois in die Nähe des Anarchismus stellen könnte. Tolstois zentrale Einsicht ist: Gewalt(herrschaft) verschwindet nicht, wenn neue Gewalttäter die Herrschaft übernehmen. Die Erneuerung des „inneren Menschen“, also die Veränderung des Bewusstseins in Richtung Liebe und Gewaltverzicht, ist die Voraussetzungen einer gelingenden humanen Welt.
Tolstoi hat sich mit vielen Lebensentwürfen auseinandergesetzt, z.B. mit dem Glauben an den Fortschritt oder dem Glauben an die dogmatischen Kirchenlehren oder dem populären Glauben der einfachen Bauern: Übrig bleibt für ihn nach all dem Suchen die Frage: Wozu ist das alles sinnvoll? Und für Tolstoi die entscheidende Frage: Was ist der Tod, was kommt nach dem Tod?
3.
In Tolstois Leben und Denken geht es darum: Das beständige Hinterfragen zu üben, das Verlassen vertrauter Positionen, die Bindung an Eigentum, an Wohlstand, es geht ihm um das ewige Weitersuchen, das Misstrauen gegen schnelle Lösungen…Letztlich, so Tolstoi, muss die wahre, das ist die an allem zweifelnde Philosophie, ihr Nichtwissen eingestehen. Hier deutet sich an, dass Tolstoi in eine Haltung gerät, die man nur Glauben nennen kann. Aber es ist ein Glaube, der in sich selbst die Kraft der Vernunft bewahrt. Mit der Vernunft verwirft Tolstoi die Lehren der Kirche, die Macht der Kirche bekämpft er ohnehin. Übrig bleibt bei der vernünftigen Religionskritik die Hochschätzung der Bergpredigt Jesu (Siehe dazu etwa Tolstois Werk „Worin besteht mein Glaube, 1883, auf deutsch: https://www.projekt-gutenberg.org/tolstoi/glaube/chap001.html)
4.
Wichtig ist der Text: „Das Reich Gottes ist in euch!“ Damals in Russland verboten, 1894 in Deutschland erschienen, meines Wissens leider auf deutsch jetzt nicht greifbar. Hier wird wohl die Mitte seines christlichen Denkens erreicht, freilich in einer wörtlichen Interpretation der Bibel-Texte. Aber diese bezieht sich auf die politisch relevanten Texte des Neuen Testaments. Auf andere Weise meinte Tolstoi wohl kaum, die umstürzlichere, die „anarchistische“ Kraft des Evangeliums deutlich machen zu können, oder besser: praktisch werden zu lassen. Sein Buchtitel bezieht sich auf das Lukas Evangelium, Kap. 17, Vers 21. Die Orthodoxe Kirche deutete Tolstoi richtig als Staatskirche, die nichts für den Frieden tut und die jesuanische Forderung der Gewaltlosigkeit ignoriert.
Tolstois Grundsätze heißen: „Du sollst nicht zürnen. Du sollst deine Frau nicht verlassen. Du sollst nie, nichts und niemandem schwören. Du sollst dem Bösen nicht gewaltsam Widerstand leisten. Du sollst Menschen anderer Völker nicht für deine Feinde halten“.
5.
Gandhi kannte dieses Buch Tolstois: „1908 schrieb Tolstoi einen Leserbrief an eine indische Zeitung (A Letter to a Hindu), in dem er die Meinung vertrat, dass das indische Volk die britische Kolonialherrschaft nur durch passiven Widerstand auf der Basis von Nächstenliebe zu Fall bringen könne. Im Jahr darauf schrieb Gandhi an Tolstoi mit der Bitte um Rat und für die Genehmigung, A Letter to a Hindu in seiner eigenen Sprache Gujarati zu veröffentlichen. Tolstoi antwortete und es folgte eine andauernde Korrespondenz bis zu seinem Tod im Jahr 1910. Die Briefe enthalten unter anderem praktische und theologische Anwendungen der Gewaltlosigkeit.[4] Tolstois Idee wurde schließlich durch Gandhis Organisation landesweiter gewalt freier Streiks und Proteste in den Jahren 1918–1947 realisiert“ (wikipedia, gelesen am 19.10.2020). Tatsache ist, dass Tolstoi Gandhi hochschätzte, wenn nicht bewunderte. (vgl.: https://www.asthabharati.org/Dia_Oct%20010/y.p..htm)
6.
Zentral bleibt für den freien Denker und Philosphen Tolstoi: Er war trotz – oder wegen – seiner Vorliebe für einzelne Aussagen des Neuen Testaments (das er auch auf Altgriechisch lesen konnte) ein Kritiker der Kirche, er lehnte die verfasste Institution Kirche ab. „Die kirchlichen Riten wurden in Tolstoijs Beschreibung zur Farce, zu einer Lüge, auf der das gesamte menschenfresserische System gründete“ (Lew Tolstoj, Rowohlt Monographie, 2010, S. 111). Und er lebte seine eigene Spiritualität, wobei er traditionelle Dogmen (wie die „Göttlichkeit Jesu“) ablehnte.
7.
Tolstoi hatte schon als junger Mann im Jahr 1855 in sein Tagebuch geschrieben, was er als seine Lebensaufgabe ansehen will: „Die Idee ist die Gründung einer neuen Religion, die der Entwicklung der Menschheit zum Segen gereicht, eine Religion Christi, die jedoch gereinigt ist von Aberglaube und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht künftiges Heil verspricht, sondern Heil auf Erden zu geben vermag“ (zit. in „Lew Tolstoj“, Rowohlts Monographie, von Ursula Keller und Natalja Sharandak, S. 69).

Hinweise zu „Tolstoi und der christliche Anarchismus“ finden sich auch in dem Sammelband „Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung“, hg. on Sebastian Kalicha, Verlag Graswurzelrevolution, 2013, 192 Seiten.

Copyright: Christian Modehn.www.Religionsphilosophischer-Salon.de