Der katholische Glaube könnte eigentlich modern sein! Karl Rahners Beitrag für einen zeitgemäßen „katholischen Modernismus“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.2.2023

Karl Rahner 1974, (c) Wikipedia, Kirtap
Karl Rahner 1974, (c) Wikipedia, Kirtap

Zur Einführung:

Auf dieser website hat Christian Modehn schon mehrfach auf den international geschätzten Theologen Karl Rahner hingewiesen, etwa am 24.3.2014.
Dieser neue Hinweis wurde im Februar 2023 veröffentlicht. Es handelt sich um den Versuch, als Diskussionsbeitrag, Rahners umfangreiche katholische Theologie als eine moderne, und, durchaus gewagt formuliert, aber treffend, als eine „liberale katholische“ Theologie und als eine zaghafte „modernistische katholische Theologie” zu erweisen. Dass Rahner auch sehr explizit viele „katholisch-dogmatische Themen“ dargestellt hat, steht außer Frage. Aber es kann doch in einigen zentralen Texten und in der Grundform des Denkens eine Dimension freigelegt werden, die man liberal-theologisch bzw. vor allem modernistisch nennen könnte. Ich weiß, die meisten RahnerinterpretInnen, und sie sind meist katholisch, würden dieser genannten Dimension der Rahnerschen Theologie nicht zustimmen.
Aber vielleicht hilft ein ungewohnter Blick, Neues zu entdecken. Dabei ist klar, dass für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin „theologisch-liberal“ und „modernistisch“ wertvolle, sogar erstrebenswerte, positive Dimensionen jeder Theologie sind. Liberal-theologisch und modernistisch sind für uns also keine Schimpfworte, wie so oft bis heute in konservativen katholischen Kreisen, und die meisten, einflussreichen Kreise der katholischen Kirche sind dogmatisch-konservativ und klerikal. Und werden es wohl ohne eine wirkliche Reformation, die mehr ist als ein paar Reförmchen, bleiben.
Dieser Hinweis hat einen praktischen Zweck: Er will den heute und seit langem schon an ihrer Kirchenführung verunsicherten KatholikInnen (vor allem den zurecht an ihrer Kirche verzweifelten Frauen) Mut machen, von Rahners genannten Ideen inspiriert, das Wesentliche im menschlichen Leben zu entdecken und das Wesentliche im christlichen Glauben zu leben. Alle Debatten über Inner-Kirchlich-Katholisches und Strukturelles sind dann sekundär. Und mit Rahner wird man wohl sagen können: Menschlich leben und christlich glauben kann man auch außerhalb der katholischen Kirche. Dann wird vielleicht das (religiöse) Leben etwas leichter und freier.

1.
Lässt sich Katholizismus und moderne Lebenswelt verbinden? Darüber wird auch jetzt wieder gestritten in den weltweiten Debatten um einen „synodalen Weg“ in der katholischen Kirche, also um eine moderate, sehr bescheidene Form der Demokratie in dieser Klerus-Männer-Kirche. Für die meisten ist und bleibt „Katholizismus und moderne Lebenswelt“ also sicher ein Widerspruch, aber das Thema ist in jedem Fall eine Herausforderung fürs (geistige) Überleben dieser Kirche. Und damit sollte sich die kulturell interessierte Öffentlichkeit befassen.
Dieser Hinweis zeigt in der gebotenen Kürze: Es gibt eine katholische Theologie, die den Katholizismus aus der theologischen Sackgasse mittelalterlichen, erstarrten neu-scholastischen Denkens herausführen könnte. Der Initiator dieses zeitgemäßen Denkens ist der katholische Theologe Karl Rahner. Seine – von manchen revolutionär genannten – Einsichten sind heute weiten Kreisen kaum bekannt, seine Vorschläge haben sich noch längst nicht innerhalb der katholischen Kirche durchgesetzt, obwohl einige Bischöfe wahrscheinlich die theologischen Entdeckungen Rahners verstanden haben (wie einst Kardinal Karl Lehmann). In den evangelischen, diesen philosophisch-theologischen Spekulationen eher abgeneigten Kirchen, fand Rahners Theologie kein großes Echo, schon gar nicht in den in vielfacher Hinsicht theologisch nach wie vor erstarrten orthodoxen Kirchen.
Es ist also Zeit, an Karl Rahner zu erinnern. Der äußere Anlass: Sein Geburtstag (am 5.3.1904) oder auch sein Todestag 80 Jahre später (am 30.3.1984). Biographische über wikipedia als Erstinformation.
2.
Karl Rahner SJ ist ein katholischer Theologen der „besonderen“ Art: Er war immer auch Philosoph bzw. immer philosophierender Theologe, man denke an seine Studien „Geist in Welt“ (1939) oder auch „Hörer des Wortes“ (1941). Nur in der spekulativen Kraft seines philosophischen Denkens konnte Rahner ein hervorragender Theologe werden, der endlich Eigenes, Neues, zu sagen hat.
Rahner gebührt zweifellos das Prädikat „einer der bedeutendsten“ Theologen des 20.Jahrhunderts: Nur dies als eine knappe Begründung: Er hat die uralten Fixierungen erstarrter katholischer Theologie aufgebrochen, überwunden zugunsten einer grundlegenden Reform der Kirche. Er hat die katholische Theologie mit einer ungewöhnlichen Denkform vertraut gemacht, die man treffend „liberal theologisch“ und sogar „modernistisch“ genannt hat (1). Solche – katholisch immer umstrittenen – Prädikate einem katholischen Theologen zuzuweisen, bedeutet nicht, ihn „einzuordnen“, sondern nur aufmerksam zu machen: Wie mutig dieser Theologe war, sich auf offiziell, katholischerseits verachtete und verfolgte Denkformen der Moderne und der philosophischen Aufklärung einzulassen.
Nichts war und ist bis heute verwegener, schlimmer, skandalöser, als wenn Rom einen Theologen mit dem Titel „Modernist“ (2) diskriminiert(e) (3). Also als einen Theologen „qualifizierte“, der die subjektiven Glaubenserfahrungen des einzelnen zum Schlüssel und zum Mittelpunkt allen katholischen Glaubens macht. Und so musste Rahner sich hüten, um des eigenen Überlebens willen, mit allzu großer Deutlichkeit diese seine „modernistische“ oder auch „liberale“ Denkform plakativ zu vertreten. Er musste sogar bei seinen mehr als 4000 Publikationen uralte Themen bearbeiten und publizieren, die in die katholischen „Steinzeit“ gehören, wie etwa die Lehre von Ablass. Diese wie bestellt wirkenden Beiträge (auch gegen Hans Küngs Neuverständnis der päpstlichen Unfehlbarkeit) verfasste Rahner wohl, um in dem kontrollierenden System überleben zu können und seine aktuelle „modernistische“ Theologie weiter zu bearbeiten. Das ist eine sich aufdrängende These, wenn man die Zurückhaltung, wenn nicht Angst in den 1950-1960 Jahren denkt, mit der Rahner seine eigentlichen theologischen Neuerungen vortrug.
3.
Der „Modernismus“ war eine breite und vielfältig ausgeprägte theologische Bewegung innerhalb der katholischen Kirche von ca. 1890 bis 1940), vor allem in Frankreichs, Englands und Deutschlands Kirche. Kurz zusammengefasst: Die Modernisten (ein Titel, der ihnen von Rom, dem Zentrum der Feinde des modernen katholischen Denkens, gegeben wurde) deuteten den katholischen Glauben „als die Wahrnehmung des im menschlichen Bewusstsein wirkenden Gottes; dieses lässt das Dogma entstehen, das sich also in einer vitalen Entwicklung aufgrund der Verarbeitung dieser Erfahrung durch den menschlichen Geist bildet“, schreibt der katholische Historiker Prof. Roger Aubert (4). Diese Beschreibung des „Modernismus“ ist in dieser Kürze wohl treffend, auch wenn Auberts Lexikonbeitrag eher die kirchen-offiziell gewünschte Kritik am „Modernismus“ durchblicken lässt.
4.
In diesem Hinweis wird kurz, aber angemessen, eine besonders neue, auffällige Dimension im Denken des ungewöhnlichen Karl Rahner vorgestellt. Diese Gestalt seines Denkens ist zunächst unter dem Stichwort „anthropologische Wende“ bekannt geworden. Diese Wende zum Menschen, die als Ausgangspunkt aller theologischen Reflexion die menschliche Lebenswelt nimmt, leitet heute prominente Autoren, wie Pater Anselm Grün aus Münsterschwarzach oder auf andere Art auch Eugen Drewermann.
Anthropologische Wende bedeutet, kurz gesagt, für Rahner: Des Menschen geistiges Leben, wie etwa Lieben, Solidarität, Auseinandersetzung mit Verzweiflung, mit Tod, verweisen von sich aus auf eine transzendente Dimension, auf eine Bindung des menschlichen Geistes an etwas absolut Geltendes, das man Gott nennen kann, so benennt die klassische Theologie den Unendlichen und Ewigen.
Diese von Rahner inszenierte anthropologische Wende hat weitreichende Konsequenzen: Sie sprengt sozusagen die enge Bindung an einen immer wieder vermittelten amtlichen Dogmen-Glauben, der nur als Gehorsam gegenüber Dogmen etc. verstanden wird. Der offizielle „Katechismus der katholischen Kirche“ von 1995 hat fast 800 Seiten der „zu-Glaubenden“ Sätze, d.h. Wahrheiten! Welch ein Wahn! Rahner hingegen erkennt: Auf den bewussten Vollzug geistigen Lebens kommt es an, auf die Reflexion über das lebendige geistvolle Leben inmitten des Alltags: Da und nur da wird Gott erfahren. In der Lebenspraxis, die immer Praxis des Geistes, der Vernunft ist, zeigt sich einem jedem die Verbundenheit mit dem Ewigen, Absoluten, Göttlichen (5). So kann Rahner ausführlich begründet: zeigen Nächstenliebe ist Verbundenheit mit Gott, ist „Gottesliebe“. Und darauf kommt alles an im menschlichen Leben.
5.
Von dieser Einsicht aus zeigt sich für Karl Rahner eine ungewöhnliche Hochschätzung der Mystik. Denn in der Mystik wird die Trennung von Göttlich-Menschlich überwunden. Mystik „macht“ den Menschen also nicht zu einem Gott, sondern sie erfährt und benennt dann auch die Anwesenheit des Göttlichen im endlichen, begrenzten Menschen. Über die Mystik wird erneut Rahners Interesse an einer „modernistischen und liberalen katholischen Theologie“ deutlich. Grundlage ist seine zentrale, auch heute ständig zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein“ (6). Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Lebensform und Interpretation des Glaubens. Eine historische Erinnerung: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Universellen, dem Transzendenten, mit Gott“. (7)
6.
Wenn Rahner von Gott spricht, dann immer nur von dem “unendlichen Geheimnis”. Geheimnis meint dabei nichts Mysteriöses, Hinterweltliches oder gar Spinöses, sondern eine alles grundlegende geistige Wirklichkeit, die sich im Denken und Handeln erschließt, die aber nur berührt, niemals umfasst und definiert oder gar beherrscht werden kann. Die Naturwissenschaften haben es mit „Rätseln“ zu tun, die sie im Laufe der Forschungen immer wieder annähernd beantworten können. Philosophien und Theologie haben es hingegen mit einem niemals durchschaubaren, aber ansatzweise erfahrbaren, berührbaren und in Poesie ahnungsweise nennbaren Geheimnis zu tun. Die alles grundlegende Wirklichkeit wird Gott genannt, aber Gott immer als als Geheimnis. Und damit stört Rahner alle besserwisserische Alltags-Theologie, die mit Gott umgeht wie mit einem Gegenstand und ihn in albernen Liedern, Gebeten etc. besingt und in höchsten Tönen preist oder aber ihn ideologisch, politisch missbraucht.
Diese Relativierung aller menschlichen Definitionen von Gott ist eine Art Revolution für die römische Kirche. Rahner denkt radikal und lässt sich von kirchenamtlichen Kritikern nicht beirren: Gott ist absolutes Geheimnis. Aber noch einmal: Dieser Gott als Geheimnis ist eine ungreifbare, aber in allen geistigen Vollzügen des Menschen anwesende Kraft, der unendliche Horizont des Denkens, der nie greifbare Urgrund, der alles gründet und belebt. Damit steht Rahner in der Tradition der Mystik. Er erwähnt in seinen Aufsätzen etwa Meister Eckart oder Theresa von Avila.
Mystik ist also nur die andere Seite der anthropologischen Wende der Theologie. Mystik ereignet sich „immer schon mitten im Alltag, verborgen und unbenannt“ (8). An vielen Beispielen aus den „konkreten Lebenserfahrungen“ zeigt Rahner die Anwesenheit des Geistes, des Heiligen Geistes, die Anwesenheit von Mystik (9), diese gut nachvollziehbaren Beschreibungen der Mystik im Alltag sind absolut lesenswert! Er spricht von Erfahrungen der Freiheit, von dem Nahesein der Finsternis des Todes, vom Trost angesichts von Verzweiflung…Und aus der Beschreibung geistvoller Lebenserfahrung in jedem Menschen zieht Rahner eine radikale Konsequenz. Radikal deswegen weil sie das enge Kirchendenken und die Herrschaft der Kirche über den einzelnen überwindet. Rahner notiert zu diesen geistvollen Alltagserfahrungen: „Da haben wir auch faktisch die Erfahrung des Übernatürlichen (also Gottes) gemacht“ (10). Und diese erfahrene, aber nie fassbare Nähe Gottes, des Ewigen wie auch immer , ist das alles Entscheidende für den Theologen Karl Rahner. Jetzt versteht man, warum er ein neuer „Modernist“ ist. Er reduziert die „Glaubenslehre“ auf Wesentliches, auf Humanes!
7.
Es muss nun hingewiesen werden auf die kreative „modernistische“ Leistung Karl Rahners: Es handelt sich um seine „transzendentale Theologie“. Der Begriff transzendental erklärt den Grund, die subjektive „Basis“ des religiösen, auch des mystischen Erleben des einzelnen Menschen.
Mit dem Begriff „transzendental“ bezieht sich Rahner auf den Philosophen Immanuel Kant. Er hatte „transzendental“ seine damals neue, alles entscheidende Frage genannt, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Menschen (im Subjekt) fragt. Diese Bedingung der Möglichkeit des Erkennens liegt – populär gesagt – in der Vernunft des Menschen, in seinem Geist. Dem folgt Rahner gegen die Überzeugungen der versteinerten katholischen Theologie der fünfziger und sechziger Jahre, und er sagt: “Die transzendentale Frage in der Theologie bedeutet: Welche Bedingungen müssen im Geist des Menschen gegeben sein, damit das Wort der Bibel überhaupt verstanden wird?” Rahner geht noch weiter: „Der Mensch kann die Bibel nur deswegen verstehen, weil Gott, als göttliche Gnade, bereits im Menschen anwesend ist, als innere, als subjektiv erlebte, als „transzendentale Offenbarung“ , schreibt Rahner. Er will zeigen, dass „der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz auffinden, wo er schon wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben satzhaft reflektieren“ (11).Und an anderer Stelle schreibt Rahner: „Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen (an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch) schon gegeben ist“.
8.
Mit der „transzendentalen Offenbarung“ ist die Anwesenheit Gottes im Geist, in der Seele des Menschen, und zwar JEDES Menschen, gemeint. Dabei werden universale Perspektiven wichtig! Das Denken wird befreit aus der engen Kirchenwelt des dogmatischen Klerus. Dieser Gott ist im Geist und der Seele und im Fühlen und Denken eines jeden Menschen grundsätzlich wirksam, lebt im Menschen, und der Mensch äußert seinen subjektiven Glauben selbstverständlich auch in Worten. Die zur anregenden Glaubenseinsicht auch für andere werden können. Dieser „innere“, der subjektive Gott ist der Ursprung der in der Geschichte sich äußernden Wort/Schrift-Offenbarung mit ihren biblischen Texten. Die „objektive“, sozusagen „außen“ greifbar sich zeigende, in der Geschichte sichtbare Offenbarung als Text ist nur in dieser engen Verbindung zur inneren Anwesenheit Gottes in jedem Menschen zu verstehen. Damit wird Entscheidendes gesehen: Wenn der Mensch den weisheitlichen Weisungen der Bibel folgt, die man als göttliche Offenbarung (Buch) nennt, dann folgt er zugleich seinen eigenen inneren Weisungen, die ihm auch seine eigene Vernunft erschließt. Es gibt also keine Fremdheit mehr gegenüber der Weisheit, die dem religiösen Menschen in den Texten der Bibel begegnen. Rahner schreibt: „Man soll aus der Erfahrung des eigenen Daseins heraus erfahren, ob das Christentum die Wahrheit des Lebens sei“ (12)
9.
Nun kann bei dieser Einsicht für den Glaubenden nicht jeder Satz der Kirchenlehre die gleiche Bedeutung, Würde und Dringlichkeit haben. Es gibt also ein Kriterium, mit dem der Glaubende Wichtiges von Unwichtigem in der riesigen katholischen dogmatischen -ethischen- rechtlichen Glaubenslehre findet.
In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (13) zeigt Rahner das wahre, und das ist das einfache (also von der Überfülle der Lehren und Sätze befreite!) Zentrum des Glaubens auf. Letztlich hat die eine alles entscheidende Mitte einen Namen: Die Nächstenliebe, die auf die Gottesliebe zugleich verweist und die Erkenntnis, dass der Mensch in seinem Leben auf ein unendliches Geheimnis (Gott genannt) bezogen ist und sich von diesem unendlichen Geheimnis getragen wissen kann.
10.
Karl Rahner wusste das er sich das Leben und Arbeite als katholischer Theologe nicht leicht macht mit seinen tatsächlich neuen Erkenntnissen. Er weist sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom auf die für ihn zentrale, aber trotz Neuinterpretation orthodoxe Gnadenlehre hin (14). In Fußnote 1 dort heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gnade im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“.
Wer die Geltung subjektiver Wahrheit, ja subjektiver Offenbarung im Glauben des einzelnen als Bedingung objektiver christlicher Wahrheit herausstellt, hat es also nicht leicht in der auf objektive Lehren fixierten Kirche. Kein Wunder also, dass Rahner sich schützen musste. Man sollte bedenken, dass Rahner seit den fünfziger Jahren immer unter der Kontrolle des “Heiligen Offiziums” in Rom stand und sogar noch 1961 vom Vatikan mit einem Schreibverbot bedroht wurde. Man möchte denken, dass die tatsächlich oft schwierige Sprache Rahners nicht auch sein Schutz ist, um seine Erkenntnis vor oberflächlichen Dogmatikern zu schützen! Tatsächlich sind manche Artikel Rahners eine gewisse sprachliche Zumutung, etwa sein wichtiger Beitrag über „Transzendentaltheologie“ ,ausgerechnet in dem eher doch wohl für breite Kreise bestimmten „Herders Theologisches Taschenlexikon“ Band 7, Freiburg, 1973, Seite 324-329.
Trotz dieser unerfreulichen, feindlichen Situation etwa in Rom fühlte sich Rahner doch immer frei, zumal nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, also in den siebziger Jahren, kirchenpolitisch öffentliche Kritik zu äußern. Es gibt viele Stellungnahmen, Interviews, Zeitungsbeiträge Rahners, die seine Ablehnung des römischen Herrschaftssystems belegen: So nannte er vatikanischen Theologen „Bonzen“, (16), im Sinne von ideologisch verblendeten Partei-Bonzen oder Partei-Genossen.
Seine Kritik an der bürokratischen, der möglicherweise den „heiligen Geist auslöschenden Kirche“, ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der etablierten Kleriker ist bekannt. Seine radikalen Vorschläge für eine praktische „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) fanden nicht das gewünschte Echo. Denn Rahner sagte tatsächlich: Abendmahls/Kommuniongemeinschaft unter Protestanten und Katholiken ist möglich, und zwar jetzt! Wenig Interesse zeigte sich die in ständigen Variationen doch immer gleichbleibende bürokratische Kirche an Rahners radikalen Vorschlägen, die er in seinem wichtigen Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973, machte.
Nebenbei: Ich erinnere mich noch gern, dsss sich Rahner 1977 auf ein ihm durchaus neues Thema einließ und ein Vorwort schrieb zu dem von mir (und Hans Zwiefelhofer) herausgegebenen Buch „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag), also über die Theologie der Befreiung in Lateinamerika.
11.
Warum also Rahner als modernen Theologen lesen und seinen Impulsen folgen? Das wird eingestanden: Nicht alles von ihm Veröffentlichte hat heute (2023) Relevanz für viele, etwa seine Äußerungen zum Zölibat oder zu Details der Dogmengeschichte.
In zentralen Aufsätzen hingegen hat Rahner die unaufgebbare Bedeutung und das grundlegende Recht des Glaubens des einzelnen, des Subjekts, des Menschen, im Ganzen des Glaubens verteidigt und begründet! Rahners Denken in seinen zentralen und aktuellen Veröffentlichungen befreien, weil sie auch überkonfessionell, ökumenisch, das Wesen des christlichen, also auch katholischen Glaubens zeigen, und dieses Wesen des Glaubens ist inhaltlich einfach und universal: Die Nächstenliebe und das Erspüren, dass menschliches Leben mit einem unendlichen Geheimnis zu tun hat. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht. Dieses von Rahner mehrfach herausgestellte Zentrum des christlichen Glaubens erinnert an Kant, an seine Religionsschrift. Aber das ist keine Kritik in meiner Sicht. Das ist gut so. So wird deutlich, dass Rahner auf die Herausforderung der modernen Philosophie, des modernen Denkens, antworten wollte. Und auf die Spuren Hegels in Rahners Denken wäre eigens hinzuweisen, also auf die Erkenntnis, dass der subjektive Geist auch die Formen des objektiven Geistes und damit auch des absoluten Geistes (Religion) prägt und in der lebendigen Geschichte zur Darstellung bringt. Und auf die Inspirationen, die Rahner von Heideggers Existenzanalysen in „Sein und Zeit“ empfangen hat, wurde schon mehrfach hingewiesen. Hier soll nur noch einmal betont werden: Rahner hat sich auf seine Art, angstvoll manchmal, den Herausforderungen der Moderne gestellt.

Zum Schluss ein Wort Rahners:
„Das Christentum ist die „universale Botschaft, die nichts verbietet als die Selbstverschließung des Menschen in seine Endlichkeit. Das Christentum ist die universale Botschaft, die nichts verbietet, als dass der Mensch nicht glaubt, dass er mit der radikalen Unendlichkeit des absoluten Gottes begabt ist”. (16).
———————————
Belege der Zitate:
(1) Rahner als liberaler und modernistischer Theologe: Beleg beim englischen Theologen Philip Endean SJ in „Stimmen der Zeit, Spezial 1, 20004, Karl Rahner“. Karl Rahner als liberaler Theologe dort S. 67, 68, 69. Karl Rahner als Modernist S. 67: „Karl Rahners Vorhaben war im Grunde genommen dasselbe wie das ihre (der Modernisten)“ , S 67.

(2) Zum Modernismus, eine kurze Einführung: Prof.Peter Neuner, „Erfahrung und Geschichte. Die bleibende Herausforderung des Modernismus“, Orientierung Zürich, 1979, S. 2-6. Dieser Text kann noch im Archiv der Orientierung nachgelesen werden.

(3) Der viele Jahrzehnte gültige Antimodernisten-Eid, den alle Priester ablegen mussten, wurde 1967 von Papst Paul VI. abgeschafft, siehe den Beitrag „Antimodernisteneid“ in wikipedia.
Eine moderatere Form des Antimodernisteneids wurde aber von Kardinal Ratzinger bzw. Papst Johannes Paul II. 1998 wieder eingeführt: „Als dann in den streckenweise chaotischen Jahrzehnten nach dem Konzil anstelle des Modernismus ein Relativismus, also eine gewisse Beliebigkeit in Glauben, Liturgie und Lehre Einzug hielt, versuchte wieder ein Papst, mit einem Eid gegenzusteuern. Johannes Paul II. (1978-2005) führte 1998 einen vom damaligen Kurienkardinal Joseph Ratzinger formulierten Treueid verbindlich ein.Er enthält im Wesentlichen eine feierliche Wiederholung des “normalen” Glaubensbekenntnisses aller Gläubigen, darüber hinaus aber auch Formeln wie diese: “Fest glaube ich auch alles, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt.” Auch gegen diesen Eid gab es zunächst Proteste und Polemik. Eine tiefgreifende Krise wie der Antimodernisteneid vor 100 Jahren löste die neue, deutlich gemäßigtere Formel indes nicht aus.“ (Quelle: DOM RADIO, Beitrag von Ludwig Ring-Eifel 31.8.2010.)

(4). Lexikonbeitrag „Modernismus“ in „Herders Theologisches Taschenlexikon“ Band 5 (1973), Seite 100.

(5). Aufsatz „Einheit von Gottes- und Nächstenliebe“ In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2014 hg. Albert Raffelt, S. 408 ff.

(6). Christ ist Mystiker… Siehe: Karl Rahner: „Frömmigkeit früher und heute“, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. VII, Einsiedeln u.a. 1966, 22f.

(7) Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

(8) Karl Rahner, , siehe Fußnote 5, S. 257.

(9) ebd. S. 258 ff.

(10) ebd. S. 261

(11), Karl Rahner, „Ich glaube an Jesus Christus“, Benziger Verlag, 1968, S. 29.

(12) : in „Gegenwart des Christentums“, Freiburg 1963, S. 51, dort der Aufsatz „Über die Möglichkeit des Glaubens heute“, 1960 geschrieben
(13), veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“, Seite 153 ff.
(14). ebd. auf Seite 153 in Band VIII.
(15) In“ Gegenwart des Christentums“, S. 51.
(16) Die Kleriker, die in ihrer rigiden Haltung Rahner viel Leid, viele Probleme, zufügten nannte Karl Rahner schon 1962 „gräßliche Bonzen“, Leute, die sich eines Spitzel – und Zuträgersystems bedienten. In: Herbert Vorgrimler, „Karl Rahner verstehen“, Topos Taschenbücher 2002, S. 117.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Was heißt „philosophisch fasten“? Die 12. „der unerhörten Fragen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4.3.2023.

Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
Hat Philosophie zum Fasten und zur „Fastenzeit“ etwas Konstruktives, Weiterführendes, Kritisches beizutragen?
Wenn man Philosophien als Interpretationen des geistvollen Lebens versteht: Dann ist das gar keine Frage. Nur: Diese Frage wurde bisher kaum gestellt, kaum gehört, bleibt unerhört.
2.
Schon im Blick auf die neuzeitliche Geschichte des Philosophierens zeigt sich: Mit dem Fasten haben sich Philosophen, etwa Kant und Nietzsche, immerhin, mit knappen Aussagen, beschäftigt. Sie haben dabei Fasten im engeren Sinne, der kirchlichen Tradition folgend, als Verzicht auf üppige (fleischliche) Nahrung verstanden. Nietzsche wetterte in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) gegen das Fasten als eine Form des „Pharisäismus“, und er kritisierte die Bereitschaft der Fastenden, sich selbst Leiden und Schmerzen (durch Hungern) anzutun. Und Kant sah im katholisch geprägten Fasten nichts als eine „Mönchs-Asketik“, die „mit abergläubischer Furcht vor Gott verbunden ist“ (so in der „Metaphysik der Sitten“, 1797).
Kant nennt eher beiläufig das entscheidende aktuelle Stichwort, auf das wir uns – nach einleitenden Überlegungen – konzentrieren: Kant sprach von „Askese“, d.h. von „geistiger und körperlicher Übung“, im Lateinischen „Exercitium“ genannt, dies sind die zentralen Leitbegriffe griechischer und römischer Philosophen der Antike in ihrer Suche nach „Lebenskunst“.
3.
Heute gilt Fasten jenseits religiöser, spiritueller und philosophischer Traditionen als ein gesundheitlicher, auch medizinischer Wert. Fastenzeit im „säkularen Sinn“ ist dann nicht mehr als eine besondere (finanziell oft teure) Phase in der üblichen Pflege des eigenen Wohlbefindens, der eigenen guten Figur.
4.
Gelegentliches Fasten (in „Fastenzeiten“ oder Fastenkuren gegen das Übergewicht etc.) hat in der reichen Welt sozusagen dialektisch viel mit andauerndem „Fasten“ als dem ständigen Hungern (oft auch Verhungern) von Millionen Menschen im armen Süden dieser Welt zu tun. Sie müssen „fasten“ aufgrund des ungerechten Weltwirtschaftssystems. Wenn das so ist, dann hat das von unserer Ökonomie erzwungene Dauer-Fasten der Armen viel mit „Fasten“ der (häufig übergewichtigen) Reichen in den „Wachstumsgesellschaften“ zu tun. Beide Arten zu fasten sind zwei Gesichter der herrschenden neoliberalen „(Un)-Ordnung“ und ihres Dogmas des „ständigen Wachstums“.
Ein historischer Hinweis: Im Mittelalter fasteten die ohnehin stets gut versorgten Mönche und Nonnen, sie verzichteten auf Fleisch, aßen viel Fisch und tranken starkes Bier. Sie blieben also gut versorgt und … beleibt. Die arme Bevölkerung, die Frommen, die für das Kloster arbeiteten, fasteten das ganze Jahr über…
Aber es gibt heute bei vielen Menschen im „reichen Norden“ doch ein Unbehagen an dieser Situation der ungerechten Verteilung der Güter. Sie entdecken darum ihr Fasten auch als geistigen Prozess, als Suche nach dem eigenen, dem wahren Leben inmitten eines falschen, d.h. ungerechten Lebens.
5.
Und damit sind wir beim philosophischen Thema: Gibt es ein besonderes Fasten, das als kritisches Nachdenken gestaltet wird? Das also ein „Denk-Fasten“ ist, natürlich nicht als Verzicht aufs Denken, sondern gerade als neue Einübung des eigenen Denkens. Ein Fasten also, das als kritische Selbstbesinnung geschieht. Ein Fasten, in dem das Gewissen geprüft wird, und Nachdenkliche über das richtige Leben sprechen.
6.
Was heißt das? Wer in dieser Weise philosophisch fastet, versucht konkret, seine Gedanken, seine Werte, seine Ideologien, seine Urteile und Vorurteile selbstkritisch zu betrachten, Abstand von den eigenen Denk-Üblichkeiten zu nehmen, in Distanz zu sich selbst zu treten. Das eigene kritische Denken soll in der Lage versetzt werden, die eingefahrenen Denk-Üblichkeiten bzw. Denkzwänge zu erkennen … und zu korrigieren und zu überwinden.
Voraussetzung dafür ist, dass das Leiden an den bisherigen eigenen Denk-Gewohnheiten und das sind Lebens-Gewohnheiten, so groß ist, dass dass Verlangen nach einem authentischen humanen Leben nicht mehr unterdrückt werden kann. Das falsche Leben zeigt sich als solches etwa bei kritischer Achtsamkeit auf tiefsitzende „Sprüche“, wie: „Es hat ja alles kein Sinn“, „Es gibt sowieso keine Wahrheit“, „Alles ist relativ“, „Die Politiker lügen nur“, „DIE XY …Leute sind alle blöd“, „ich bin zu alt, um das noch zu machen“, „ich kann die Welt doch nicht verbessern“ usw.
7.
Wer philosophisch fastet, will also nicht länger hinnehmen, in seinem Geist von vielen sich widersprechenden Ideen, eigentlich leeren Sprüchen, Slogans, Dogmen, bestimmt zu sein. Philosophisch fasten bedeutet sozusagen ein Aufräumen im eigenen Geist, Befreiung von Schrott-Gedanken, philosophisch fasten bedeutet den Versuch, Wichtiges von Unwichtigem, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und dann auch zu trennen. Dabei entsteht die Frage: Was sind denn die Kriterien, um meinen Gedankenschrott als solchen zu erkennen, um danach zu einem befreiten, humaneren, gerechteren, ökologisch hilfreichen Lebens kommen? Können als Kriterien nur „meine“ subjektiven, nur mir guttuenden Werte gelten? Ich bin immer eil der einen Menschheit, also an allgemeine, für mich und für alle anderen geltenden Menschenrechte und Menschenpflichten gebunden. Da sind die Kriterien zu suchen.
8.
Philosophisch fasten ist ein Projekt für mein ganzes Leben, ein Projekt, das nie an ein Ende kommt. Philosophie, wörtlich übersetzt, ist Liebe zur Weisheit, und Liebe gelangt nie an ein Ende. „Die Liebe hört niemals auf“, heißt es im Weisheitsbuch „Die Bibel“, diese Erkenntnis gilt auch für die Liebe zur Weisheit, zur Philosophie. Und Liebe ist nie vollendet. Menschliches Leben, das allen Werten oder gar Idealen entsprechend irgendwann einmal perfekt und makellos dastehen will, lässt sich nicht verwirklichen. Dieser Wunsch hätte etwas Zwanghaftes.
9.
Nicht nur der innere, der Dialog mit sich selbst, auch der Dialog mit anderen gehört zum philosophischen Fasten. Man könnte auch an „philosophische Gemeinschaften“ oder „Gemeinden“ denken, die nicht Diskutierclubs der Rechthabenden sein sollten, sondern Gruppen, in denen die TeilnehmerInnen miteinander geduldig den Weg der Befreiung von belastenden Denk-Zwängen, Ideologien etc. zu gehen bereit sind. Philosophen hatten in der griechischen Antike meist ihre eigenen Schulen, d.h. Orte, Häuser, gemeinsamen Lebens. Auch die Kirche verstand sich im 2. Jahrhundert als eine „Philosophie“, als eine unter vielen philosophischen Schulen. Die Kirche hat später, zur Staatskirche geworden, die anderen philosophischen Schulen verdrängt und die so eingeschränkte Philosophie zur „Dienerin der Theologie“ degradiert. Es wäre an der Zeit, Philosophie wieder als „Schule des Lebens“ zu entdecken und zu verwirklichen. Zum Thema “Kirche als ohilosophische Schule”: LINK
10.
Die philosophische Fastenzeit kennt keine zeitliche Begrenzung etwa auf 40 Tage, wie in den Kirchen. Philosophische Fastenzeit ist immer möglich und nötig. Auch wenn sie, wie oben beschrieben, eine Zeit des Verzichts ist, des Loslassens, des Nein zu bisherigen Üblichkeiten ist: So ist Gelassenheit, ist Zuversicht, als Stimmung entscheidend. Man soll jedenfalls nicht „sauer aussehen“, wie der fastende Weisheitslehrer Jesus von Nazareth seine Jünger belehrte. Man muss diese Worte Jesu nur aktuell übersetzen. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinschauen wie die Heuchler, denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten“, sagte Jesus (Matth. 6, 16 „nach der Luther-Übersetzung“). Jesus, der Weisheitslehrer, empfiehlt hingegen: „Salbe (beim Fasten) dein Haupt und wasche dein Gesicht“ (Vers 17). Also das heißt: „Mach dich schön, für dich und andere, freu dich deines Lebens gerade im (leiblichen) Fasten und natürlich auch beim philosophischen Fasten. In diesen Kriegs-Zeiten ist diese Aufforderung wahrlich eine Provokation…
11.
Das philosophische Fasten sollte von einer zuversichtlichen, fröhlichen Stimmung beherrscht sein. Bestimmt von der Freude darüber, dass ich, dass wir, unseren geistigen Schrott selber ausmisten können, wegwerfen können all diese dummen Ideologien und Verschwörungstheorien, alle diese Sprüche der Boulevardpresse, die nur gezielt verblöden wollen, um uns unmündig zu halten. Alle diese katholischen Dogmenberge gilt es zu beseitigen und den autoritären Wahrheits-Wahn, in tausend Büchern über das Kirchenrecht mitgeteilt von klerikalen Wächtern und oft pädo-sexuellen Tätern…
Es gilt also, die von der Vernunft gesteuerten Entrümpelungen, Befreiungen des eigenen Geistes als Fest zu feiern, froh darüber, dass wir mit unserem kritischen Geist in der Lage sind, uns selbst vom Übel, d.h. vom Gedankenschrott, zu befreien und unser kurzes Leben sinnvoller zu gestalten
12.
Der Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hat sich selbst, als er (klassisch, also hungernd) fastete, zurückgezogen in die Wüste. Auch ein interessantes Bild, das die Bibel mitteilt.
Übersetzen wir diesen seinen zeitlich begrenzten Ausstieg aus der Welt des Alltags ins philosophische Fasten: Wer wieder selbstkritisch denken will: Der oder die ziehe sich regelmäßig zurück aus dem Trubel des Alltäglichen, lerne in der Stille und Einsamkeit wieder selber zu denken, habe den Mut seine eigenen Gedanken ernst zu nehmen. Und das kann man und muss man üben …in der eigenen „Kammer”, die jeder für sich – wenigstens als geistiges Refugium – errichten sollte.
13.
Es muss zum Schluss – leider viel zu kurz – noch einmal auf griechische und römische Philosophen hingewiesen werden. Ihnen verdanken wir die bis heute gültigen Begriffe Askese (Übung, Verzicht, auch als Fasten) und Exerzitien (geistliche, geistige Übungen, oft in eins mit leiblichem Fasten).
Die Wieder-Entdeckung dieser ständigen Dimension griechischer und römischer Philosophie der Antike und Spätantike, vor allem der Stoa, des Platonismus und Epikurs, verdanken wir dem großen französischen Philosophen Pierre Hadot. Andere, wie Michel Foucault haben von ihm enorm profitiert. Foucault etwa in seinen Studien über die „Sorge um sich selbst“ oder auch der deutsche philosophische Schriftsteller Wilhelm Schmid mit seinen zahlreichen Publikationen zur Lebenskunst.
14.
Welche Impulse können wir von Pierre Hadot mitnehmen auf der Suche nach den Möglichkeiten philosophischen Fastens? Leider sind nur wenige Werke Hadots ins Deutsche übersetzt, halten wir uns an sein Buch „Philosophie als Lebenskunst“ (Fischer Taschenbuch Verlag, 2002, für viel Geld ist dieses wichtige Buch noch antiquarisch zu haben, eine Schande, dass es keine Neuauflage des Verlages gibt).Zu Hadot:  LINK
Hadot legt wert darauf, dass philosophisches Fasten als Askese nur möglich ist, mit einer geistigen, einer spirituellen (aber nicht religiösen, nicht konfessionellen) Praxis. Askese ist eine „Arbeit des Ichs“ (S. 180), die ihre alltägliche Übung in der „Gewissenserforschung“ findet, eine Übung, die von Philosophen empfohlen wurde, gerade als Befreiung, wie wir sagten, von Schott der uns eingebläuten ideologischen Sprüche etc.
Zur philosophischen Übung im philosophischen Fasten gehört für Hadot auch die Vertiefung in zentrale philosophische Erkenntnisse und Weisheiten, also die Lektüre, des Bedenken der Texte, lernbereit, aber auch kritisch.
Noch wertvoller ist das Buch Hadots „La Philosophie comme manière de vivre“, (Albin Michel, Paris, 2001, auch als „Livre de poche“). „Die Philosophie als Art zu leben“, liegt leider nur in französischer Sprache vor. Darin zeigt Hadot ausführlich, dass der auch in katholischen Kirchenkreisen bekannte Begriff der „geistlichen Exerzitien“ (ein Begriff, der durch Ignatius von Loyola katholische Bedeutung bekam) seinen Ursprung hat in der antiken Philosophie. Pierre Hadot verweist auf entsprechende Studien von Paul Rabbow, der zeigt. „Das Wort Exerzitien war nicht religiös geprägt, es hat einen philosophischen Ursprung.“ (S. 152).
15.
Philosophie könnte durch die Praxis „philosophischen Fastens“ wieder für weite Kreise relevant werden. Philosophie wird dann aus den Seminaren der Universitäten befreit, sie ist kein Sonderthema für Spezialisten, sondern wird Ausdruck der Suche der Menschen nach einem guten (d.h immer auch gerechten) Leben.
16.
Wir leben in Kriegszeiten. Sehr viele Menschen in den meisten Ländern sind auf unterschiedliche Art betroffen von dem durchaus „total“ zu nennenden Angriffskrieg des Diktators Putin gegen die Ukraine. Total ist dieser Krieg, weil er die die meisten humanen Grundlagen von Sicherheit, Ökonomie, Ernährung, Solidarität usw. weltweit verwirrt, stört und zerstört. Weil dieser Krieg Putin mit einer kalten, verbrecherischen Selbstverständlichkeit viele tausend Tote in der Ukraine wie auch in Russland in Kauf nimmt. Das heißt ja nicht, dass Putin der einzige Politiker im 20./21. Jahrhundert ist, den man als Verbrecher bezeichnen muss.
17.
Bundeskanzler Scholz hat gleich nach Kriegsbeginn diese Erfahrung einer neuen Situation in Zeiten des totalen Krieges auf den Begriff gebracht: Es ist die „Zeitenwende“.
Ein Wort, das dazu auffordert, philosophisch etwas ausführlicher bedacht zu werden. „Zeiten-Wende“ meint: Umbruch der Lebensverhältnisse, Umbruch der Strukturen dieser Welt und der Gesellschaften, Wende der Zeiten als Epochenwende. Das will sagen: Nichts bleibt so, wie es einmal war. Die bisherigen Koordinaten wurden verändert. Die in der westlichen Welt vertraute Zeit, also unsere Epoche, hat sich „gewendet“ und wurde nach der Wende beendet.
18.
Aber es ist nicht nur eine philosophische Liebe zu Nuancen, wenn man genauer fragt: Was heißt denn „wenden“: Wenden bedeutet auch: Ich wende eine Seite eines Buches, nach vorn oder nach hinten. Wenden heißt auch Umdrehen, Herumdrehen, Weiterdrehen. „Tourner“ heißt das vieles Bedeutende französische Verb.
Aber auch das Rückwärts-Gewandte (Gewendete) ist mit „Wende“ immer mit-gemeint: Ich wende mich um, blicke in die Vergangenheit, ich stehe aber in der Gegenwart im Blick auf die erinnerte, ferne Vergangenheit. Mit ihr muss ich mich auseinandersetzen, und fragen, was ist alles falsch gelaufen, dass es zu dieser globalen Wende kommen konnte? Die „aktuelle Bewältigung“ der Wende darf den kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit nicht blockieren…
19.
In Deutschland hat sich das Wort „Wende“ seit dem Ende der DDR 1989 sozusagen „eingebürgert“. Bekanntlich wurde der Beitritt der DDR und der DDR Bürger zur BRD als Wende bezeichnet. Die DDR „wendete“ sich, d.h. sie wandte sich der BRD zu, auch auf Druck der BRD. Die DDR wurde in dieser Wendung Teil der BRD, was manche DDR Bürger als Übernahme, wenn nicht „Einverleibung der BRD durch die DDR“ erlebten und deuteten.
Manche hätten lieber von Umbruch gesprochen, einige sogar von Revolution als der Vertreibung der DDR- Herrscher durch das Volk. Aber letztlich meinen viele doch, wenn sie von der Wende 1989 sprechen, ein positives Ereignis. Die DDR Diktatur wünscht sich fast niemand zurück.
Hat das Wort Wende in der „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz eine positive Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Europa und die wenigen verbliebenen Demokratien stehen einem Block von autoritären Regimen gegenüber. Und die Religionen? Sind sie in dieser Epochenwende hilfreich? Sie zeigen ihre ganz spirituelle Schwäche, sie sind nicht in der Lage, sich religiös nennende Menschen wirklich zu einem humanen und vernünftigen Verhalten anzustiften. Die katholische Kirche ist nur mit Eigenem, Strukturellen, Kirchenrechtlichen befasst. Katastrophal ist die Situation der russisch-orthodoxen Kirche. Sie wird von dem
Kriegstreiber und Putin Freund Patriarch Kyrill von Moskau beherrscht. Er fordert in seinem nationalistischen – religiös – reaktionären Wahn das todbringende Opfer der russischen Soldaten in diesem Krieg.Und man muss sich fragen und sollte diese Frage bald vertiefen: Was hat dieser Theologe und sich Christ nennende Patriarch Kyrill eigentlich in all den Jahren vom christlichen Glauben gelernt, als er im „Ökumenischen Weltrat oder Kirchen“ (ÖRK) in Genf ein und ausging als „angesehenes Mitglied“ dieser Vereinigung. Man möchte antworten: Gar nichts hat er in den vielen, so oft hoch gepriesenen Dialogen und Konferenzen in Genf und anderswo gelernt. Und muss dann weiterfragen: Welchen Sinn haben dann eigentlich diese theologischen Debatten auf hohem Niveau, etwa in Genf?
20.
Was bleibt als vorläufige Erkenntnis: So sehr sich auch das Wort Zeitenwende einzubürgern scheint: Dieses viel zitierte Scholz-Wort vom 27.2.2022 trifft die reale Situation der Welt jetzt (4.3.2023) nicht mehr: Man sollte eher von Umsturz der bisherigen Welt-Ordnung sprechen, von Epochen-Umbruch, von Umwälzung, Umsturz, von radikalem Einschnitt. Aber diese Worte sind nicht so griffig, nicht so gefällig und zugänglich wie „Zeiten-Wende“.
„Zeitenwende“ klingt da eher neutral und wirkt so noch etwas beruhigend. Zurecht?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Putin wird auch in Afrika kirchlich unterstützt: Die Russisch-orthodoxe Kirche wird auch in Südafrika aktiv

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die meisten Südafrikaner und ihre PolitikerInnen freuen sich jetzt über Putins Beistand. Nun können sich diese Leute in der Republik auch Putins russisch-orthodoxer Staatskirche in Südafrika anschließen. Die Macht Putins über ein Land muss eben total sein. Und dieser Griff des russischen Herrschers nach Afrika ist auch Teil seines Angriffskrieges gegen die Ukraine und die Demokratien des Westens.

1.
Im Zusammenhang der aktuellen Bindung der Regierung der Republik Südafrika an Putins Russland hat auch die Putin-treue und Putin-hörige Russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchen Kyrill I. offiziell in Johannesburg eine Diözese errichtet, gleichzeitig eine weitere russisch-orthodoxe Diözese in Kairo.
Dies hatte die „Heilige Synode“ des Moskauer Patriarchats schon am 29.12. 2021 beschlossen. Außerdem wurden mehr als 100 Priester aus acht afrikanischen Ländern, die bisher dem (griechischen) Patriarchen von Alexandria unterstanden, in die russisch-orthodoxe Kirche übernommen, auf deren „Wunsch“, wie es in Moskau heißt. (Quelle: https://www.cath.ch/newsf/le-patriarcat-de-moscou-accompagne-la-presence-russe-en-afrique/)

2.
Wegen der aktuellen politischen Ambitionen Russlands in der Republik Südafrika wird hier nur auf die Etablierung des russischen Bistums Johannesburg hingewiesen.

Bislang waren auch orthodoxe Kirchen in Afrika als Missionare tätig, wie die Katholiken, die Protestanten, die Evangelikalen, Pfingstler und so weiter. Aber diese orthodoxen Missionen wurden vor allem von der griechisch-orthodoxen (!) Kirche geleitet, vor allem in Kenia gibt es eine große orthodoxe Kirche.
Dass nun die russisch-orthodoxe Kirche die Tätigkeit der griechisch-orthodoxen Kirche offenbar in ganz Afrika zurückgedrängt, hängt auch mit inner-orthodoxen Streitereien zusammen. Denn die griechisch-Orthodoxen (unter der Leitung des Patriarchen von Alexandria) unterstützen offiziell die Ukraine und die dortige von Russland unabhängige ukrainisch-orthodoxe Kirche. Das kann die Putin-hörige russisch-orthodoxe Kirche nicht hinnehmen. Zwei orthodoxe Kirchen kämpfen also um den Einfluß in Afrika, siegreich ist die russisch-orthodoxe. Sie wird nie mehr ihre Präsenz in Südafrika aufgeben…Jede orthodoxe Kirche, die – wie die Griechen – die Ukraine unterstützt, wird drangsaliert von dem Putin Freund, dem russischen Patriarchen. Wie Putin, ein KGB Mitglied (einst).

3.
Aber dies ist nur ein Motiv für die Etablierung einer russisch-orthodoxen Institution in Südafrika. In diesem Staat geht es auf die Dauer um die Etablierung einer südafrikanisch-russischen Partnerschaft.

Das neue Exarchat in Afrika Ist der Bischof von Jerewan in Armenien, Leonid Gorbacev.

Leonid Gorbacev ist nun derneue russisch-orthodoxe Bischof für Afrika, er ist schon dabei, in Südafrika neue, mächtige Kirchen zu bauen oder einzuweihen: Wie etwa die Pfarrei „Saint John of The Ladder“, gegründet 2022, https://www.theladderon136.com/blank-page.

Schon im Januar 2022 hatte der ökumenische „Südafrikanische Kirchenrat“ die „Russisch-orthodoxe Kirche in Südafrika“ herzlich willkommen geheißen. Die Provinz Gauteng (mit Johannesburg und Pretoria) sei wohl der beste Platz für die Russen, meinte der Generalsekretär dieses offiziellen südafrikanischen ökumenischen Dachverbandes, Bischof Malusi Mpumlwana. Er hat sich auch offen „für eine Mitgliedschaft der Russen im südafrikanischen Kirchenrat“ ausgesprochen. (Quelle: https://www.urdupoint.com/en/world/south-african-council-of-churches-recognizes-1447731.html). Und er zeigte sich angesichts der allgemeinen Sympathie Südafrikas für Putins Russland optimistisch und hilfsbereit: „Als Mitglied in unserem Kirchenrat kann die russisch-orthodoxe Kirche uns ansprechen, welche Ratschläge sie benötigt“, sagte Bischof Malusi Mpumlwana.

4.
Der neue, für Südafrika zuständige Bischof Leonid Gorbacev hat jedenfalls seit langem Verbindungen zu privaten russischen Militärgruppen – darunter die „Firma Wagner“. „Diese Wagner-Leute kämen dem Projekt des Bischofs zugute, weil er damit einflussreiche Fürsprecher und auch eine Schutzmacht habe“, sagt Natallia Vasilevich. (Quelle: https://www.evangelisch.de/inhalte/209622/16-12-2022/orthodoxe-kirchen-im-konflikt-russische-kirche-will-afrika-expandieren, 16.12.2022). Natallia Vasilievich war Leiterin des Zentrums “Ecumena” in der belarussischen Hauptstadt Minsk.

5.
Und die Konsequenz in Südafrika: Fast niemand will es sich mit einer russisch-orthodoxen Kirche anlegen, die solche Verbündete hat, sagt die Frau Vasilevitch, Spezialistin für orthodoxe Kirchen, jetzt lebt sie in Bonn als Dozentin an der Universität.
Vielleicht gilt diese Angst vor kritischen Äußerungen gegenüber der Putin-Kirche auch für Südafrikaner, die z.B. im Ökumenischen Weltrat der Kirchen (ÖRK) in Genf arbeiten. Werden die Südafrikaner in Genf eher nationalen, südafrikanischen Gefühlen folgen oder werden sie erkennen, dass die Führung der russisch-orthodoxen Kirche sich soweit von christlichen Grundsätzen entfernt hat, dass für sie kein Platz in einem „Weltrat der CHRISTLICHEN Kirchen“ sein kann.

6.
Nicht nur Putin, auch die Putin-Kirche mit ihrer „Mission“ in Afrika wird die Welt noch lange beschäftigen. Wie sagte doch der für Südafrika zuständige Bischof, jetzt mit dem Titel geehrt „Metropolit Leonid von Klin“ (alias Gorbacech), am 12.1.2022, der offiziellen Website des Moskauer Patriarchats „Russian Orthodox Church“: „Jetzt arbeiten wir an einem voll-umfänglichen Programm nicht nur für die Entwicklung der Pfarreien, sondern auch zur Sicherstellung einer vollwertigen Präsenz des Russisch-orthodoxen Kirche auf dem afrikanischen Kontinent, das schließt liturgische, erzieherische und humanitäre Komponenten ein“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophioscher Salon Berlin

 

Der Sehnsucht einen Namen geben. Über den Poeten und Theologen Huub Oosterhuis (Ra­dio­sen­dung RBB 2003).

Eine Ra­dio­sen­dung im RBB 2003,von Chrhistian Modehn
(Die Darstellung des Textes entspricht den Formen der Hörfunk-Produktion. )

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Übersetzer und Zitator

20 O TON Zuspielungen,.
10 musikal. Zuspielungen.

1.SPR.:
Sonntag morgen im Amsterdamer Grachtenviertel. Aus den Kabinen ihrer Hausboote treten junge Leute ins Freie und reiben sich die Augen. Die Stadt ruht noch. Ein paar japanische Touristen stehen staunend vor 400 Jahre alten Giebelhäusern, schmal und schief, aber immer standfest. Kein Autolärm stört die Stille. Einige Menschen eilen über die kleinen Brücken an der Brouwersgracht…

Pünktlich um 11 wollen sie im Kulturzentrum “De rode hoed” (de rode hut) sein, ein schönes Haus aus Backstein an der Keizergracht. Im großen Saal haben 200 Menschen, junge und alte, haben Platz genommen. In der Mitte steht ein Altar. Rechts daneben erheben sich gerade die 40 Sängerinnen und Sänger des Kirchenchors. Der Gottesdienst beginnt.

musikal. Zusp.,

2. SPR.:
Streck deine Hände nach mir.
Streck dein Wort nach uns aus.
Ein Mensch hat von dir gesagt:
Du bist kein Gott der Toten.
Alle leben doch durch dich.

1. musikal. Zusp., noch einmal 0 10″ freistehen lassen.

1. SPR.:
Mitten unter den Gläubigen sitzt Huub Oosterhuis. Er ist der Leiter der Gemeinde, die seit 15 Jahren einen Konzertsaal für den Gottesdienst mietet. “De Rode Hoed”, auf Deutsch: ” Der rote Hut”, ist ein angesehenes Kulturzentrum; das Prädikat “rot” sagt alles über die politische Orientierung des Hauses. Während der Woche finden Lesungen und Podiumsdiskussionen statt, Ra­dio­sen­dungen werden life übertragen. Aber sonntags von 11 bis 1 kommt eine multi-konfessionelle Gemeinde zusammen: Protestanten und Katholiken, Gläubige, Skeptiker und Humanisten feiern zusammen Gottesdienst. Sie gehören zur “Studentenecclesia”, zur Studentengemeinde, ein traditionsreicher Name, der bis heute beibehalten wird, auch wenn die meisten Mitglieder längst ihre Studien abgeschlossen haben. Sie kommen vor allem wegen der Poesie und der Lieder, die ihr Gemeindeleiter Huub Oosterhuis geschrieben hat:

1. musikal. Zusp.noch mal ca.0 10″ freistehen lassen.

1. SPR.:
Huub Oosterhuis, 69 Jahre alt, ist einer der bekanntesten holländischen Dichter. Sein literarisches Werk umfasst mehr als 30 Bücher. Seine Gedichte, Psalmen und Meditationen sind auf 25 CDs versammelt. Kürzlich wurde er von der theologischen Fakultät der Freien Universität in Amsterdam mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Geehrt wurde ein Theologe, der nicht abstrakt, schon gar nicht historisch oder systematisch von Gott und der Bibel spricht, sondern poetisch: Huub Oosterhuis:

1. O TON ZUSP.: Ca. 0 28″.
2. SPR.:
Die Poesie ist die älteste liturgische Sprache. Und Poesie ist von selbst rituell gestaltet und musikalisch. In allen alten Liturgien lebt die Poesie, man denke nur an die Litaneien, die Bittgesänge. Die Bibel selbst besteht zu 90 Prozent aus Poesie.

2. musikal. Zusp.

2. SPR.:
Hör mich,
sei nicht Totenstille,
gib Antwort,
Gott: Sieh uns.
Welt voller Gewalt,
Fronten, Gettos.
Sieh uns.

2. musikal. Zusp.

1. SPR.:
Poesie im Gottesdienst. Abgenutzte Begriffe und religiöse Floskeln können die frommen Leute im Roten Hut nicht ertragen. Sie lieben die zum Fragment verkürzte Sprache; sie schätzen die Worte des Dichters, der das tastende Suchen nach dem Unendlichen mehr liebt als die überlieferten Bekenntnisformeln. Huub Oosterhuis spricht in Bildern, die zu Denken geben. Für unkritische Frömmelei gibt es hier keinen Platz.

2. musikal. Zusp., noch einmal 0 10″ freistehen lassen.

1.SPR.:
Die Komponisten Antoine Oomen)und Tom Löwenthal haben den Texten von Huub Oosterhuis ihre musikalische Form gegeben, auf hohem Niveau! Sie orientieren sich an Vorbildern des 20. Jahrhunderts, wie Kurt Weill, und an Traditionen der Romantik. Das Trallala des Sakro-Pop hat hier keine Chance. Es ist ernste, vielleicht schwermütige spirituelle Musik. In jedem Fall: Es sind Melodien, die bewegen und berühren. “Der Gott in uns verborgen” wird angesprochen und voller Sehnsucht erwartet:

3. musikal. Zuspielung.

SPR.:Mindestens 7 Lieder werden während eines Sonntags-Gottesdienstes im Roten Hut gesungen, die Bibel wird vorgetragen, Brot und Wein werden gereicht in einer schlichten Abendmahlsfeier, zu der selbstverständlich Christen aller Konfessionen eingeladen sind. Die Predigt steht im Mittelpunkt, immer geht es Huub Oosterhuis um eine zeitgemäße Deutung des Alten und des Neuen Testaments:

2. O TON ZUSP.:
2. SPR.:
Unser Ausgangspunkt ist die Bibel. Das war doch die grosse Entdeckung des 20. Jahrhunderts, dass die Bibel der wichtigste Quelle ist noch vor allen kirchlichen Sonder-Traditionen. Früher haben die Kirchen diese Quelle eher verstopft und blockiert; jetzt bringen wir sie wieder zur Geltung. Aber es ist selbstverständlich, dass wir die Bibel nur als Ausgangspunkt für unsere Poesie nehmen. Wir deuten die Bibel doch nicht fundamentalistisch! Denn die Menschen von heute bringen ihre eigenen Gedanken mit, ihre Philosophie, ihre Lebenserfahrung. Das zählt doch auch. Der moderne Mensch soll sich in den Liedern wiederfinden. Darum sage ich: Die Bibel bleibt ein Eckpunkt, aber sie nicht das Ein und Alles. Es kann doch nicht sein, dass wir nur noch Worte verwenden, die in der Bibel vorkommen.

1. SPR.:
Eine Position, die auch in den traditionsreichen christlichen Kirchen der Niederlande Zustimmung findet, etwa bei den Lutheranern. Ilona Fritz ist deren Synoden-Vorsitzende:

3. O TON Zusp., Ilona Fritz.
“Was mich bei Huub Oosterhuis anspricht ist, dass er eine Sprache gefunden hat, die an der einen Seite Jesus näher bringt. Auf der anderen Seite findet er durch die poetische Sprache auch einen Rahmen, in dem das Geheimnis des Glaubens noch gewahrt bleibt. Und das finde ich das Starke an Huub Oosterhuis.

3.musikal. Zusp.:

1. SPR.:
Nicht nur in Amsterdam, in vielen Kirchen-Gemeinden der Niederlande werden seit 30 Jahren an jedem Sonntag Gedichte und biblische Texte von Huub Oosterhuis gelesen oder gesungen. Wenn der Begriff nicht so altertümlich wäre, könnte man ihn einen holländischen “Kirchen-Vater” nennen, so groß ist sein Einfluss. Der Katholische Pastor Ricus Dullaert (sprich Ricüs Düllart) aus Amsterdam erzählt gern eine kleine Anekdote:

4. O TON Zusp. Ricus Dullaert. 0 29″.
Es gibt einen Ausdruck in Holland: Warom hebt uw uit mijn huis een Oosterhuis gemaakt? Das heißt: Warum hast du aus meinem Haus ein Oosterhaus gemacht? Das heißt, dass in fast alle Kirchen in Holland, katholische Kirche, holländisch-reformierte Kirche, reformierte Kirche, was auch für eine Kirche, werden die Lieder von Oosterhuis gesungen. Das sagt so, dass man aus Haus Gottes ein Oosterhaus gemacht hat.

1. SPR.:
Das “Oosterhaus” ist ein besonders feines und anspruchsvolles: Hier wird das persönliche Gebet als literarische Form gepflegt. Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet in Amsterdam Beten als kultureller Wert wieder-entdeckt wird: Die niederländische Hauptstadt gilt als gottlos, nur 10 Prozent der Einwohner sind noch Mitglied einer Kirche. Aber Beten, als persönliche Poesie, wollen viele: Beten ist die innere Sammlung des Menschen vor Gott, das “Sich zu Wort melden” vor dem Unendlichen. In einem der wenigen Interviews, die er jemals in deutscher Sprache gab, beschreibt Oosterhuis seine grundlegende Überzeugung:

5. O TON Zusp., Oosterhuis, 0 32″.
“Worte sind Lebensrettung. Ich würde mich selber verlieren, ich würde verwelken und chaotisch werden, verschüttet unter der schweigenden Mehrheit und der wortlosen Gewalt, wenn ich nicht mehr aussagen kann, wer ich bin. Wer darauf verzichtet, sich selbst und andere auszusagen, kommt niemals mehr zu Wort, ist verloren, ist namenlos.

1. SPR.:
Wer betet, entwickelt seine persönliche Mystik. Der lebendige Mensch steht im Mittelpunkt, nicht der Sieger, nicht der Held oder der Erfolgreiche. Zu Wort kommt der Kleine, der Unbedeutende, der Leidende. Ihm soll Gerechtigkeit widerfahren! Eine Perspektive, die Pierre Valkering hilfreich findet. Er ist Pastor in Amsterdam:

6. O TON Zusp., Valkering 0 36”.
Ich erkenne wieder in den Texten von Huub Oosterhuis: der Mensch in der Wüste, also der ungeborgene Mensch auf der Suche nach Geborgenheit, nach Gott. Aber verunsichert. Wir sind nicht erlöst, viele Gefahren von allen Seiten auf sich zukommen sieht und von dort aus Gott sucht. Also, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es Gott gibt. Also in die Lieder von Huub Oosterhuis erkenne ich wieder Zweifel.

1. SPR.:
Den Zweifelnden und Skeptikern innerhalb der christlichen Gemeinde Raum geben: Eine Aufgabe, die angesichts der vielen “unkirchlichen Menschen” in Holland besonders wichtig ist. Auch Prinz Claus aus der königlichen Familie der Niederlande fühlte sich als “Suchender am Rande der Kirche”. Er hatte noch Wochen vor seinem Tod mehrmals längere Gespräche mit Huub Oosterhuis führen können. Schließlich bat er ihn noch darum, bei seinem Totengedenken, dem Abschiedsgottesdienst, das Wort zu ergreifen. Am 15. Oktober 2002 hielt Huub Oosterhuis in der Amsterdamer Nieuwe Kerk eine viel beachtete Predigt.

7. O TON. 0 46″ .
2. SPR. :
Claus war kein regelmäßiger Kirchgänger. Das Wort Gott kam nie über seine Lippen. Jede dogmatische Festlegung war ihm fremd. Er hatte mehr Fragen als Antworten, so, wie viele außerhalb der Kirche lebende Christen auch. Über schwierige religiöse Erfahrungen sprach er nicht. In seinen späteren Jahren hatte er aber doch Kontakt gesucht mit dem Buch der Bibel, er hat Verbindung zu ihm gefunden und er erkannte die große Geschichte der Bibel.

1. SPR.:
Ein theologischer Poet, der Brücken baut; der den richtigen Ton findet für Menschen, die sich von dogmatischen Bindungen befreit haben, aber an der Botschaft der Bibel festhalten wollen. Zornig sein und wütend werden über Gott- auch das hat bei Oosterhuis einen Platz: Tom Löwenthal setzt diese Erfahrung musikalisch um:

4. musikal. Zusp., Die zegt God te zijn.

2.SPR.:
Der da sagt, Gott zu sein.
So lass er doch zum Vorschein kommen
was wir denn an seinem Namen haben.
Soll er doch auftreten, damit wir ihn sehn.
Die Stimme aus der Feuerwolke in der Ferne
reicht nicht aus
für diese Erde aus Scherben und Rauch
wo uns kein Leben gegönnt wurde.

4. musikal. Zusp.

1.SPR.:
Seit mehr als 20 Jahren werden die Gebete von Huub Oosterhuis auch in deutscher Sprache gesungen; im “Gotteslob”, dem katholischen Gesangbuch für den deutschsprachigen Raum und auch im Evangelischen Gesangbuch sind drei seiner frühen Lieder vertreten. Und die Schola der “Kleinen Kirche” von Osnabrück sorgt heute dafür, daß immer mehr neue, auch provozierende Lieder des theologischen Poeten hierzulande im Chor einstudiert und in den Gottesdiensten gesungen werden.

5. musikal. Zusp., 0 15″ freistehen lassen, und wirklich AUSBLENDEN, um Kürzungsmögl. zu schaffen:

1.SPR.:
Unmittelbar neben dem Dom von Osnabrück befindet sich die “Kleine Kirche”. Seit 30 Jahren treffen sich hier Katholiken und auch einige Protestanten, die sich in ihren Ortsgemeinden nicht mehr zu Hause fühlen; sie finden in den Gottesdiensten der “Kleinen Kirche” eine zeitgemässe Verkündigung sowie eine verbindliche Gemeinschaft der Gottesdienstbesucher untereinander. Günter Doetsch ist dort einer der Kirchenmusiker:

8. O TON Zusp., 0 30″.
“Die Kleine Kirche bedeutet für mich ein Ort, wo ich getrost zur Kirche gehen kann und mich nicht immer ärgern muß über vieles, was in anderen Kirchen passiert. Da stört mich, dass die Musik, der ich ja besonders verbunden bin, in den meisten Kirchen nur schmückendes Beiwerk ist. Die Musik überbrückt irgendwelche Leerläufe in der Kirche. Während die Musik in unserer Kirche mit Liturgie ist, sie gehört dazu, sie ist Bestandteil des Gottesdienstes.

1.SPR.:
Zur Schola gehören 30 Frauen und Männer. Sie stehen hinter dem Altar im Halbkreis: Chor und Gemeinde können sich in die Augen sehen, sie sind miteinander verbunden. Klassische kirchenmusikalische Traditionen werden zwar auch gepflegt, aber die Lieder von Huub Oosterhuis werden an jedem Sonntag in der “Kleinen Kirche” gesungen. Vor allem jüngere Chormitglieder sind darüber froh. Birgit Eilers:

9. O TON Zusp., 0 30″.
“Bis Mitte Zwanzig Jahre habe ich gern auch Sacro-Pop gesungen, ich denke, das passt auch zu seinem eigenen Alter dann. Ich singe auch gern jetzt mit den Kindern Kinderlieder, geistliche Kinderlieder. Aber irgendwann mit 25, 30, überlegt man sich: Passt das noch zu einem. Und da bin ich eben in die Schola der Kleinen Kirche gekommen und mit Oosterhuis Gesängen auf das gestoßen, was jetzt als Nächstes kommen kann, was mich auch den Rest meines Lebens begleiten kann. Ich kann viele Lieder jetzt nach 10 Jahren natürlich auswendig singen.

6. musikal. Zusp., auf Deutsch, “Siebenmal”.

2.SPR.:
Siebenmal neugeboren
kleingekriegt und ausgeworfen
wird ein Mensch, um Mensch zu werden.
Siebzigmal sieben Bäume
werden blühen, wo wir wohnen…
Licht wird auf dem Wasser strömen….

6. musikal. Zusp. noch einmal ca. 0 15″ freistehen lassen.

1. SPR.
Ein Lied der Hoffnung: Die tödlichen Mächte werden nicht das letzte Wort haben. Die musikalische Gestalt entspricht dem Inhalt; von der typisch beschaulichen Sanftheit eines traditionellen Chorals ist keine Spur. Günter Doetsch:

10. O TON Zusp., 0 26″.
“Am letzten Samstag war eine Taufe, da haben wir das Lied gesungen: Halt mich am Leben. Da habe ich also Tagelang nachgedacht, was heißt eigentlich Leben, ist es das körperliche Leben, ist es das geistige Leben? ist es Lebendigkeit. Und wenn so ein kleines Kind getauft wird und die Gemeinde singt Halt mich am Leben, was steckt dahinter, wie steht die Gemeinde zu diesem Kind. Also, das hat mich in der letzten Woche durchaus maßlos beschäftigt.

1.SPR.:
Huub Oosterhuis und sein Komponisten-Team haben die Liturgie maßgeblich geprägt. Verglichen damit sieht die zeitgenössische Szene der deutschsprachigen Kirchenmusik eher bescheiden aus, meint der Leiter der Schola Ansgar Schönecker:

11. O TON Zusp., 0 40”.
“Es gibt meiner Ansicht nach schon zwei Leute, die man nennen könnte, das sind Lothar Zenetti und sicher Kurt Marti. Aber Texte und die dazugehörigen Kompositionen klaffen meiner Ansicht nach unglaublich auseinander. Weil die Liedkompositionen nicht das wiedergeben, was eigentlich diese Texte nun wirklich an Aussage bedeuten. Da gibt es ganz ganz wenige Leute, die das adäquat machen können. Aber dieses Gesamtkonzept, was es in Amsterdam gibt, die Dichtung und dazugehörig Komponisten, die was von ihrem Fach verstehen und das dann umsetzen und zwar für die Gemeinde umsetzen. Das ist etwas Einmaliges. (Stimme oben)

1.SPR.:
Bemerkenswert ist auch die theologische Wirkungsgeschichte der Lieder von Huub Oosterhuis: Die Gemeinschaft der getrennten Christen wird betont; konfessionelle Eigenheiten bleiben außen vor, etwa die Heiligenverehrung, der Lobpreis der Kirche oder gar des Papstes. Thielo Zwartscholten ist Lutheraner und eifriges Mitglied der katholischen Kleinen Kirche zu Osnabrück:

12. O TON Zusp., 0 17”.
“Ich finde mich in den Oosterhuis Gesängen wieder, hab damit überhaupt keine Probleme. und bin auch in dieser Gemeinde herzlich willkommen. Und sehe in jeder Hinsicht ökumenische Tendenzen. Ich denke über Ökumene dann gar nicht nach, über unterschiedliche Konfessionen, das macht mir Oosterhuis so sympathisch.

7. musikal. Zusp., bleibt ca 0 15″ freistehen,

1. SPR.:
Größer als das Herz der Menschen ist Gott: Ein Lied wie dieses weitet das Denken, es führt zum Wesentlichen, zur Gottesfrage. Einige andere Gemeinden in Deutschland folgen diesem Impuls. Karin Gastell ist Kantorin der katholischen Hedwigs-Gemeinde in Bremen:

13. O TON Zusp., 0 50”.
“Es ist so, dass das Repertoire ja so groß ist, dass man wirklich für jeden Sonntag etwas finden kann. Die Resonanz ist sehr gut. Ich glaube, dass es ein Bedürfnis gibt, das im Augenblick durch keine andere Musik in Deutschland auch aufgegriffen wird. Ich glaube, daß die Gemeinde an die Musik auch höhere Ansprüche stellt. Sie will nicht nur in eine bestimmte Stimmung gebracht, sondern auch für den Kopf zum Nachdenken mit nach Hause nehmen. Viele Texte erschließen sich ja auch nicht beim ersten Lesen oder beim ersten Singen, sondern oft auch erst nach einigen Jahren, wenn man an bestimmte große Gesänge von Karfreitag oder Ostern denkt. Diese Musik verbraucht sich nicht. Man kann sie auch nach Jahren mit neuen eigenem Erleben und Inhalten auch füllen.

1.SPR.:
Huub Oosterhuis übermalt alte Glaubens-Bilder, ahnungsweise werden neue Bedeutungen sichtbar. Er schafft Fragmente, wo früher ein perfekt durchdachtes Glaubenssystem stand. Er liebt den Essay, den Versuch, mehr als das fertige Werk. Der katholische Pfarrer Hans Kessler hat Oosterhuis in Deutschland bekannt gemacht:

14. O TON ZUSP., 1 01”.
“Was er versucht, ist, feste Klischees, wie allmächtig, allwissend, allgütig, allbarmherzig, allgerecht, das in Frage zu stellen. Und wenn er das in Frage stellt, wie kann man das, was damit gemeint sein könnte, wie kann man das heute noch ausdrücken. Und mit allmächtig: Ja, angesichts der Welt, kann man das Wort so nicht gebrauchen. Wenn ich die Welt begucke, wie sie ist. Da fällt das Wort allmächtig einem heutigen Zeitgenossen schwer, das über die Lippen zu bringen. Mit fällt das schwer, anderen fällt da auch schwer. Ist damit aber das, was damit gemeint war, ist das erledigt? Das glaube ich nicht. Aber wie drückt man das Nichterledigte aus? Und da meine ich, da kommen wir in den Texten zu Wendungen und Ausdrucksmöglichkeiten, die vieles von dem retten und auch wieder neu sagen.

1. SPR.:
Auch in Berlin werden einige Oosterhuis-Lieder im Gottesdienst gesungen, zum Beispiel in der evangelischen Kirche zum Heiligen Kreuz im Stadtteil Kreuzberg: Reinhard Hoffmann ist der Kantor:

16. O TON, auf Deutsch.
Das ist eine Musik, die wir hier nie zustande bringen, sie hat eine andere Tiefe. Er hat eine ganz eigene musikalische Sprache. man spürt die Weltläufigkeit. Das ist verblüffend. Das ist so anspruchsvoll, das kann man nicht ohne weiteres vom Blatt spielen, muss man schon genauer hingucken”. (Stimme oben)

1. SPR.:
Beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin hat der Chor aus Osnabrück Lieder von Oosterhuis präsentiert. Kees Kok, ein enger Mitarbeiter der Studentenecclesia in Amsterdam, war dabei:

17. O TON Kees Kok.
“Die Leute, die da waren in der Kirche, das waren zweimal 250 Leute, die waren alle Fans. Vielleicht hundert, die sowie schon Oosterhuis kennen, die anderen waren von Kirchentag, aus ganz Deutschland natürlich. Mein Eindruck war, dass sie ehr beeindruckt waren. Die haben auch ziemlich applaudiert, die hörten nicht auf. Ich denke nicht, dass es etwas typisch Holländisches ist. Ich denke, das ist etwas ganz Universales. Das habe ich in Berlin so erfahren.

8. musikal. Zuspielung. !!, als “Rückkehr” nach Holland. bleibt ca. 0 20″ freistehen.

1. SPR.:
Huub Oosterhuis ist sozusagen ohne Konkurrenz. Längst werden seine Lieder auch in Skandinavien und den USA gesungen. Und in seiner niederländischen Heimat kann keine Kirchen-Gemeinde mehr auf ihn verzichten. Dabei wissen Holländer aller christlichen Konfessionen, dass der Amsterdamer Dichter-Theologe alles andere ist als ein Mann der offiziellen katholischen Kirche:
Huub Oosterhuis, 1933 in Amsterdam geboren, trat nach dem Abitur in den Jesuitenorden ein. Er studierte Theologie, als junger Priester gehörte er seit 1965 zum Team der Amsterdamer Studentenseelsorger. 1970 entschied sich der Jesuit Huub Oosterhuis zu heiraten. Die Studentengemeinde und die übrigen Pastoren waren überzeugt, dass er auch als verheirateter Priester weiterhin der Leiter der Eucharistiefeier sein könne. Aber Rom untersagte das Experiment des verheirateten katholischen Studentenpfarrers. Doch der beugte sich nicht römischen Befehlen! Die Wege trennten sich: Oosterhuis und die “Studentenecclesia” sind seit 1970 nicht mehr Teil der offiziellen römisch-katholischen Kirche. Oosterhuis ist nun ein freier Theologe und Dichter. Ohne jegliches Reglement von offizieller Seite kann er seine theologische Poesie entwickeln und seine Liturgie gestalten. Einige katholische Gemeinden der Niederlande sind seinem Weg gefolgt, sie haben sich zu unabhängigen ökumenischen Gemeinden entwickelt und von Rom gelöst.
In einem seiner biografischen Bücher, dem niederländischen Werk “Twee of drie”, auf Deutsch “Zwei oder drei”, schreibt er:

2.SPR.:
Ich mache mir keine Illusion, dass man die offizielle Kirche von innen heraus erneuern könnte. Wir gehören als Studentenecclesia zum Netzwerk der Basisgemeinden und Kritischen Gemeinden, die am Rande, wenn nicht außerhalb der Institution stehen. Durch diese Selbständigkeit haben wir viel Energie frei bekommen.

1. SPR.:
Die Entwicklung der römischen Kirche betrachtet Oosterhuis mit kritischer Gelassenheit. Er kann sich zentralistisch geleitete Kirchen, die Gesetze und Normen für die ganze Welt festlegen, schlechterdings nicht mehr vorstellen. Dabei weiß er sich mit der urchristlicher Tradition verbunden:

18. O TON: Oosterhuis
2. SPR.:
Die Gemeinde ist immer eine bestimmte Ortsgemeinde. An einem bestimmten Platz kommen Menschen zusammen, mit einem ganz bestimmten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hintergrund. Unsere Situation ist doch ganz anders als die einer Gemeinde in Rom oder Nordafrika. Wir haben die Rechte der Ortsgemeinde wiederbelebt, dabei haben wir unsere eigenen Weise, dem Glauben eine Form zu geben. Das ist einer der ältesten theologischen Gedanken.

1.SPR.:
Die Amsterdamer Studentenecclesia lebt von Spenden. Und es ist wohl typisch für Holland, dass ausgerechnet katholischen Ordensgemeinschaften dieses Projekt einer “freien ökumenischen Gemeine” finanziell unterstützen. Oosterhuis` Gemeinde ist seit Anbeginn für die Friedensbewegung engagiert, soziale Projekte in Nicaragua werden unterstützt, ein breites Netzwerk aus der Öko- und Solidaritäts-Arbeit wurde geschaffen. Mit diesen Menschen fühlt sich die Studentenecclesia verbunden: Schon 1969 schrieb Oosterhuis im Blick auf die vielen engagierten Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen:

2.SPR.:
Es gibt in dieser Welt auch eine verborgene Gemeinde. Eine Gemeinschaft Geist-verwandter Menschen, die wachsam ist und betet und die Gerechtigkeit liebt. Diese Gemeine ist überall und nirgends. Aber die Menschen erkennen einander als Geist-Verwandte, sie haben dieselben Visionen.

1.SPR.:
Dieser Geist des Miteinanders und der Solidarität wird sichtbar im Ritus des Teilens von Brot und Wein, so nennt Oosterhuis die Eucharistie bzw. das Abendmahl; Das Brot brechen und den Wein reichen: Ein Zeichen für eine gerechte Welt, eine Gesellschaft aus Gleich-Berechtigten.

Es sind nicht die amtlich anerkannten und offiziell ordinierten katholischen Priester, die in der Studentenecclesia den Gottesdienst leiten, sondern aus dem römischen System entlassene Pfarrer, wie Huub Oosterhuis, oder Laien-Theologen, wie Kees Kok. Wo andernorts “Geistliche” und ordinierte Pfarrer die sogenannten Einsetzungsworte sprechen, singen sie mit der Gemeinde zusammen den Kanon, also die Gesänge, die unmittelbar auf die Eucharistie bzw. das Abendmahl bezogen sind.

9. musikal. Zusp. ca. 015″ freistehen lassen.

1.SPR.:
Diesen Gesang nennt Oosterhuis “Tafelgebet”: In zahlreichen Kirchen der Niederlande wird es während des Ritus von Brot und Wein gesungen. Theologischer Kernpunkt ist: Der Chor “verwandelt” mit der Gemeinde das Brot in den Leib Christi. Als 1985 der Papst die Niederlande besuchte, hatten Katholiken es gewagt, bei einem landesweiten Treffen ein Tafel- bzw. Tisch-Gebet von Oosterhuis zu verwenden: Pastor Ricus Dullaert erinnert daran:

19. O TON Zusp., 0 25″.
“Er hat ein sehr schönes Tischgebet geschrieben, das ist wunderbar. Natürlich, die Bischöfe lieben das nicht, denn das ist nicht der offizielle römische Kanon. Aber in diesem Tischgebet wird wunderbar gesungen und auch gebetet für Flüchtlinge, für Fremde, für all diese Leute, die zu leiden haben und die werden verbunden mit dem Opfer, das Christus gebracht hat. Aber das ist viel Krach drüber gewesen.

1.SPR.:
Doch die Aufregung hat sich wieder gelegt. Oosterhuis` Tafelgebete werden auch in katholischen Gemeinden gesungen, mögen jetzt auch einige Bischöfe noch so sehr darauf dringen, dass seine Lieder in der römischen Messe keinen Platz mehr haben dürfen! Aber viele holländische katholische Gemeinden scheren sich nicht um diese Verbote: “Typisch niederländisch” könnte man denken…

XII.. musikal. Zusp. noch einmal 0 10″ frei stehen lassen.

1. SPR.:
Das religiöse Interesse in Holland hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Die alten Traditionen der Gregorianik werden wieder beliebt, und bei etlichen jungen Leuten kommt auch Sacro-Pop wieder gut an. 
Aber: Zu Huub Oosterhuis gibt es heute keine ernsthafte Alternative. Pastor Ricus Dullaert:

20. O TON Zusp., 0 18″. Deutsch
Poesie ist stärker als Ideologie oder Dogma. Er weiss, das Herz der Leute anzurühren. Seine Poesie natürlich, in Art ist er einer der Größten, oder der Größte, den die holländische Kirche hervorgebracht hat.

10. musikal. Zusp., ca. 0 10″ freistehen lassen.

Der Streit der Kirchen um die rechte Auslegung dogmatischer Traditionen interessiert Oosterhuis nicht mehr. Er glaubt, den EINEN Mittelpunkt der biblischen Botschaft erkannt zu haben, den einen Kern einer menschenfreundlichen Glaubenslehre:

21. O TON, Oosterhuis,

2. SPR.:
Am Anfang war das Wort, das ist keine philosophische Aussage, sondern eine prophetische Stimme, die uns sagt, dass wir einander respektieren sollen und uns menschenwürdig begegnen. Hab lieb den Menschen, der neben dir ist; Liebe, nicht gemeint nicht als warmes Gefühl, sondern als praktische Solidarität. Dass man einen anderen Menschen nicht im Stich läßt, nicht zerbrechen, läßt, dass man alles tut gegen das Verhungern, Martern, Verschwinden. Hab lieb den Fremden, der dir gleichwertig ist; er ist ein Mensch wie du.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Katholizismus gehört nicht zur Moderne“ Der protestantische Theologe Ernst Troeltsch konnte den Katholizismus nicht mehr ernst nehmen

Ein Hinweis von Christian Modehn anläßlich des 100. Todestages des Theologen und Philosophen und Soziologen Ernst Troeltsch

Das Vor – Wort:
Die zentrale Erkenntnis des Theologen, Philosophen, Historikers und Soziologen Ernst Troeltsch (1865-1923) zum Katholizismus: Die römisch – katholische Kirche ist als machtvolle Institution der Prototyp des dogmatisch – hierarchischen Christentums. Als eine „dogmatische Heilsanstalt“ gehört der Katholizismus nicht mehr in die demokratische Moderne, selbst wenn die katholische Kirche faktisch als „Altertum“ unter den christlichen Konfessionen noch fortbesteht. Davon war der umfassend Gelehrte Ernst Troeltsch zumal angesichts der Verurteilungen und Verdammungen der Päpste, Gregor XVI. und Pius IX., überzeugt.
Eine gewisse Zukunft des Christentums in der demokratischen Moderne konnte sich Troeltsch insgesamt eher in kleinen Gemeinschaften vorstellen, in freien (ökumenischen) Zusammenschlüssen. Er verwendete in dem Zusammenhang den inhaltlich neutralen Begriff „Sekten“. Und abgesehen von diesen kleinen Gemeinschaften sah er eine Zukunft des Christentums in der Mystik als der lebendigen „inneren“ Frömmigkeit der einzelnen.
Diese Erkenntnisse können heute zur Diskussion anregen und zu denken geben, vor allem angesichts der geradezu verzweifelten Versuche progressiver katholischer Laien weltweit, einen „synodalen Weg“ (nicht etwa eine Synode als demokratisches Organ auch mit mitentscheidenden Laien!) in der Papstkirche durchzusetzen. Die progressiven Katholiken wollen also trotz aller Widerstände der mächtigen und einflußreichen Konservativ-Erstarrten eine leicht reformierte katholische institutionelle Form gegenüber dem Vatikan „erkämpfen“ , eine katholische Kirche also, die ein bißchen Demokratie realisiert. Und sie wollen vor allem dafür sorgen, dass endlich Frauen alle Rechte in dieser Kirche erhalten. Dies also ist der aktuelle Ausgangspunkt.

1.
An Gedenktagen (100. Todestag von Ernst Troeltsch) kritisch zu denken, hat also nur Sinn, wenn ein aktueller Ausgangspunkt formuliert ist und eine bestimmte Frage leitend ist.

Ernst Troeltsch wurde am 17.2.1865 in der Nähe von Augsburg geboren. Vor 100 Jahren, am 1.Februar 1923 ist er in Berlin gestorben. Er war, summarisch aber treffend gesagt, eine wahre Geistesgröße, nicht nur zu seiner Zeit, sondern anregend auch heute. Sein Werk ist äußerst umfangreich, zur Biographie siehe etwas Wikipedia oder die neue große und empfehlenswerte Studie von Friedrich Wilhelm Graf.

2. Was denkt Troeltsch über den römischen Katholizismus?
Bei dem Protestanten Troeltsch wird man bei dem Thema zuerst auf die Reformation Martin Luthers verwiesen. Er sieht in Luthers Tat NICHT schon den definitiven Sieg eines modernen christlichen Glaubens. Luther ist für ihn die zentrale Gestalt des „Altprotestantismus“, ein Titel, den er verwendet wegen Luthers Bindung an die „alte (katholische) Zeit kirchlicher Autoritätskultur mit ihrer Heils – und Erlösungslehre“ (Wilhelm Gräb, 17) und dem dann entstehenden typisch lutherischen „Staatskirchentum“ (ebd. 22). Zweifellos hat Luther das Individuum und die private Frömmigkeit geschätzt, er hat gegenüber der Klerus – und Papstherrschaft das „allgemeine Priestertum“ der „Laien“ herausgestellt und verteidigt. Aber er war doch theologisch noch in mittelalterlichen Welten befangen (Teufelsglaube etc.)

3.
Dieser „Altprotestantismus“ des 16. und 17. Jahrhunderts hat also NICHT die Moderne entscheidend gefördert oder gar hervorgebracht. Erst die spätere Verbindung protestantischer Theologie mit den Lehren der Aufklärung machte den Protestantismus in Deutschland, d.h. dessen Universitäts-Theologie, zu einer modernen Religion. Troeltsch spricht dann von „Neuprotestantismus“. Das Programm des Neuprotestantismus seit dem 18. Jahrhundert „besteht in der Suche nach einer der neuzeitlich-modernen Rationalität und Autonomie nicht widersprechenden, sondern dem neuzeitlichen Bewusstsein angemessenen Gestalt von Lehre und Leben des reformatorischen Christentums“ (Prof. Christian Albrecht), LINK.

Das Verhältnis von Vernunft und Religion wird also im „Neuprotestantismus“ neu bestimmt. Es ist die Vernunft, die historisch-kritische, wissenschaftliche Vernunft, die jetzt hilft, die Bibel angemessen zu verstehen. Und: Das Christentum hat nicht mehr die nur im Glauben anerkannte Sonderstellung der „absoluten, einzig wahren Religion“, das Christentum wird vielmehr Teil der allgemeinen Religionsgeschichte.

4.
Diese Erkenntnis, nun auf den Katholizismus bezogen, verlangt zunächst eine unbefangene, objektive Beschreibung des Zustandes dieser Kirche in der Sicht von Troeltsch: Der Katholizismus kennt kein allgemeines Priestertum aller, also auch der Laien, das allgemeine Priestertum hat selbstverständlich gegenüber dem besonderen Priestertum des Klerus und des Papstes eine Gleichberechtigung. Der Katholizismus weigert sich, mindestens bis ca.1960, die Bibel als einen Text zu lesen und zu erforschen, der nur mit der historisch-kritischen Forschung adäquat verstanden werden kann.

5.
Troeltsch kennt einige vernünftig gesinnte Katholiken innerhalb der römischen Kirche, sie werden aber als so genannte Modernisten von den Päpsten verfolgt und ausgegrenzt, wie etwa der „Modernist“ Freiherr von Hügel, mit dem Troeltsch etliche Jahre korrespondierte. Im Oktober 1905 verfasste Troeltsch einen Brief an diesen vatikanischen „Ketzer“, den „Modernisten“, Friedrich von Hügel (1852-1925), einen von 23 Briefen an ihn): „Meiner Empfindung nach ist Ihr Katholizismus so wenig katholisch als mein Protestantismus protestantisch; wir haben beide die Christlichkeit der modernen Welt.“ Der Historiker Andreas Lindt schreibt: Bei aller Sympathie Troeltschs für die katholisch verfolgten Modernisten „konnte und wollte man zur Papstkirche (!) als moderner liberaler Protestant keine ernsthaften innere Beziehung finden“ (zit. In „Theologische Berichte IX“, Benziger Verlag 1982, Seite 81).
Es geht für Troeltsch also um eine neue, offene Ökumene. Prof. Friedrich Eilhelm Graf betont: „In kritischer Distanz zur latenten Kulturkampfmentalität im liberalprotestantischen Milieu war Troeltsch davon überzeugt, dass sich eine religiöse Erneuerung des Christentums nur durch einen die Grenzen der Kirchen überschreitenden, insoweit ökumenischen Austausch ernsthaft Gläubiger fördern lasse“, betont Prof.Friedrich Wilhelm Graf, LINK . Das aber bedeutet: Nur freie Zusammenschlüsse von Christen verschiedener Konfessionen passen noch in eine demokratische Welt mit demokratischen Mentalitäten.

6.
In seinem äußerst umfassenden und umfangreichen theologischen Hauptwerk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (veröffentlicht 1912) hat Troeltsch eine herausragende Leistung vollbracht. Soziologische Kategorien wendet er zum Verständnis der christlichen Konfessionen an. Er schreibt: Der Katholizismus hat „in steigendem Maße die Innerlichkeit, die Persönlichkeit und die Beweglichkeit der Religion der festen Objektivierung in Dogma, Sakrament, Hierarchie, Papsttum und Infallibilität (Unfehlbarkeit des Papstes) geopfert“ (S. 980). Darum können eher kleine christliche Gruppen (er spricht von „Sekten“) das christliche „Reich der Liebe“ leben, die großen Kirchen, wie der Katholizismus, können als Massenbewegungen die Radikalität des Evangeliums kaum realisieren. Troeltsch nennt als positives Beispiel des Christentums die individuell gelebte Mystik, aber die sei fast nur noch in den Ordensgemeinschaften lebendig. Troeltschs eigene Spiritualität war wohl von der mystischen Dimension bestimmt. Nebenbei: Man denke daran, dass der katholische Theologe Karl Rahner (1904 – 1984) sagte 1966: „„Der Fromme der Zukunft wird ein ‘Mystiker’ sein, einer, der etwas ‚erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ — Karl Rahner, Frömmigkeit heute und morgen. In Geist und Leben 39 (1966), S. 335
Das hätte der Protestant Ernst Troeltsch genauso sagen können. Vielleicht hat diese Erkenntnis Rahner aber bei Troeltsch gelesen? Wäre ja zu wünschen…

7.
Für Troeltsch ist die Zeit der großen institutionell machtvollen, hierarchischen Kirchen vorbei. Am Ende seiner großen Studie schreibt er:
„Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt. Die Selbstverständlichkeiten der modernen Lebensanschauung fallen mit denen der Kirche nicht mehr zusammen.“.

8.
Der Historiker Andreas Lindt beendet seine Hinweise mit Anmerkungen, die auch heute aktuell sind:
„Die Sympathien protestantischer Theologen für die katholischen Modernisten haben meist etwas Wehmütig-Resigniertes: Hier wäre Hoffnung gewesen auf eine Auflockerung des starren vatikanischen Systems, aber diese Hoffnung scheiterte am harten Einspruch Roms und letztlich an der inneren Logik der von der kurialen Kirchenleitung propagierten konsequenten Selbstisolierung. So haben bekannte evangelische Kirchenhistoriker wie Karl Holl in ihren Äußerungen zu den innerkatholischen Entwicklungen jener Zeit in absehbarer Zukunft keine Wende zum Besseren mehr erwartet, – aber trotzdem daran festgehalten, auf lange, sehr lange Sicht werde die Geschichte den Modernisten einmal recht geben“ (ebd.).

9.
Ernst Troeltsch hat sich seit 1918 für die bedrohte Republik eingesetzt, vor allem als Berliner „Spitzenkandidat“ der linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP).In seinen Briefen machte er „seine Verachtung für das Versagen der Eliten des alten monarchischen Systems deutlich, die in ihrer politischen Blindheit und Arroganz Deutschland und Europa in eine Katastrophe gestürzt hätten“, schreibt Friedrich Wilhelm Graf, der Autor der neuen großen Troeltsch Biographie, in einem Beitrag der Zeitschrift der Bayer. Akademie der Wissenschaften, 2020, Seite 55.

Literatur:
-Wilhelm Gräb, „Vom Menschsein und der Religion“, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2018.
-Friedrich Wilhelm Graf, “Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont“. C.H.Beck Verlag, 2022.
-Andreas Lindt, in: „Theologische Berichte IX“, Benziger Verlag 1982.
-Karl Rahner SJ, Frömmigkeit heute und morgen. In Geist und Leben 39 (1966), S. 335.
– Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. IN: Gesammelte Schriften. Scientia, Aalen 1977 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1922).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bertolt Brecht – Dimensionen seines (Un)Glaubens

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Das fromme Elternhaus

Zum 125. Geburtstages von Bertolt Brecht (am 10.2.2022) ist uns die Frage wichtig: Welche Aspekte von Glauben, religiös bzw. christlich oder atheistisch bzw. kommunistisch, zeigen sich in Brechts Leben und in seinem Werk?
Dass sich Bertolt Brecht nicht gerade als kirchlicher Christ verstand, ist bekannt. Aber was ist Brechts eigene Spiritualität, diese Wort kann man wohl verwenden, trotz einer Philosophie, die man materialistisch nennen kann. Brecht ist skeptisch, kirchenkritisch und atheistisch geprägt, auch wenn er, der spätere Dichter („Stückeschreiber“) aus einer christlichen Familie in Augsburg stammt: Vater katholisch, Mutter protestantisch, als Kind evangelisch getauft … und später greift er immer wieder Motive der christlichen Tradition in seinen Stücken auf. Offenbar hat ihn auch die fromme protestantische Mutter mit ihren biblischen Geschichten bleibend geprägt.

2. Die Bibel

In der Evangelischen „Barfüßerkirche“ in Augsburg nahm der junge Brecht an Gottesdiensten teil. Die Bibel schätzte er auch später als Sammlung literarischer und poetischer Texte, als Anregung fürs eigene Dichten.
An „Brechts über Jahrzehnte biblisch durchsetzte Sprache, in Anspielung, Ironie, Satire, Überstieg“ erinnert der Literaturkritiker Paul Konrad Kurz (Orientierung, Zürich, 1978, S 57). „Brecht hat die Lutherbibel tatsächlich zeit seines Lebens fleißig, ordentlich und aufmerksam studiert, ihrer Bedeutung und ihrer Sprachform nach“, schreibt Thomas O. Brandt in “Brecht und die Bibel“ , (Zeitschrift PMLA, Vol. 79, No. 1 (Mar., 1964), pp. 171-176 Published by: Cambridge University Press).
Der Brecht – Spezialist Prof. Jan Knopf betont: „Die Bibel wurde ihm auch – und wohl ganz wesentlich – durch seine Großmutter mütterlicherseits (Friederike Brezing) auf nacherzählende Weise vermittelt. Die genauere Luther-Bibel-Lektüre dürfte erst in die Zeit des Halbwüchsigen und dann auch jungen Mannes fallen, der die Bibel nicht als Gottes Wort, sondern als Geschichten-Buch rezipierte und vor allem deshalb schätzte, weil sie vor allem im Alten Testament brutal und offen ins volle Menschenleben griff und deshalb von ihm auch als „böse“ u. a. eingeschätzt wurde: eine Fundgrube an Stoffen, Menschenschicksalen und Menschentypen (Archetypen), die er – wie später auch andere Stoffe und Ereignisse – in seinen Werken umsetzte“. (https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/5842-bertolt-brecht-und-die-religion-die-bibel-als-geschichtenbuch/?cat_id=328)

3. Kirchenkritik

Brecht wusste von dem mörderischen Wahnsinn des 1. Weltkrieges, er hat auch später über die Kriegsbegeisterung der Kirchen reflektiert. Und auch die politisch-reaktionären Kräfte in den Kirchen nach 1919 waren ihm bekannt. Der „Atheismus“ von Brecht ist also, biographisch gesehen, Widerspruch zu den sich mehrheitlich politisch reaktionär verhaltenden Kirchen. Man muss Brechts Ablehnung des kirchlich-dogmatischen Glaubens an den Kirchen-Gott also im Kontext sehen. Er lehnt ein ideologisch geprägtes Gottesbild ab, das verbreitet wird vom herrschenden Klerus zugunsten der (kapitalistisch) Herrschenden. Brecht lehnt die Bindung an ein Bild einer göttlichen Wirklichkeit ab, weil sie nicht (die Armen) befreit, sondern unterdrückt. „Die Kirche kollaboriert mit weltlichen Herrschaftsinteressen. Ihr Gott dient als Lückenbüßer, als Tatsachenverschleierung, als Handlungsersatz. Mit Gottesbildern vertrösten die Herrschenden die Beherrschten auf ein fernes Jenseits“ (Paul Konrad Kurz, Brechts Kritik an Gottesbildern, Orientierung, Jesuitenzeitschrift, Zürich, 1978, S.57). Aber auch dies ist wichtig: „Brecht hat die Person des armen Jesus von Nazareth nie ins Blickfeld bekommen“, ders. in: „Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart“, Freiburg 1979, S. 49).

4. Gottesfrage

„Brecht war auf alle Fälle kein Atheist, denn die Atheisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehr als alle Gläubigen dauernd von Gott reden, weil sie offenbar ein Bedürfnis haben, ihn abzuschaffen. So lässt sich etwa auch Nietzsche besser verstehen, der ständig von etwas redete, von dem er behauptete, das gäbe es gar nicht“, betont Prof. Jan Knopf. (a.a.O).
Brecht fühlte sich durchaus befreit und entlastet, als er ein göttliches Gericht im Jenseits ablehnte. In seinem Gedicht „Gegen die Verführung“ (1925) gibt es keine Angst mehr vor der Hölle, denn „es gibt kein Morgen mehr“. Auf die Hoffnung der Auferstehung zu verzichten ist sozusagen der Preis, um nicht mehr länger an die Hölle gebunden zu sein. Um so heftiger ist sein Plädoyer für das Leben jetzt: “Das Leben ist am größten, es steht nichts mehr (Weiteres, CM) bereit“. Dann wird Brecht allerdings dogmatisch, wenn es am Schluß dieses Gedichtes heißt: „Ihr sterbt mit allen Tieren, und es kommt nichts nachher“. Auch dies eine Aussage eines Glaubens, woher seine Überzeugung stammt, sagt Brecht nicht.
Brecht legte aber doch wert auf die religionskritische Differenzierung: In seinem Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ als einem Stück zur Praxis des Klassenkampfes, stehe nicht „die Existenz Gottes, der Glaube zur Diskussion, sondern (nur) das Verhalten des religiösen Menschen“ (in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden Suhrkamp. Frankfurt/Main 1967. Band 17: Schriften zum Theater 3. S. 1021.)
Als Johanna Dark von den „Schlachthöfen“ sich von ihrem Glauben abgewandt hat, sagt sie am Ende des Stückes: „Die aber unten sind, werden unten gehalten, damit die oben sind oben bleiben…“ Und unmittelbar danach sagt Johanna:
„Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind“ . Das Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ konnte als gekürzte Hörspielfassung noch 1932 aufgeführt werden, Theaterinszenierungen wurden von den Nazis danach verboten.

5. Alte chinesische Weisheit

Was bedeutet Brecht die offensichtliche Verbindung mit alten chinesischen Philosophien und Weisheitsbüchern, eine Nähe, die etwa in dem Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches des Taoteking…“ deutlich wird … oder auch noch heute zu sehen ist in der Ausstattung seiner Ost-Berliner Wohnung (Chaussseestr. 125) mit klassischen „chinesischen Rollbildern“?
Die „Spiritualität“ Brechts ist vielschichtig. Aber sie hat eine Mitte: Sie ist gebunden an das Bekenntnis, für die Sache der Unterdrückten mindestens vor allem verbal, mit den Mitteln der Dichtung und des Theaters, einzutreten. Er konnte als Stückeschreiber eben nur mit seinen Stücken „praktisch“ wirken, selbst in Ost-Berlin lebte er vergleichsweise privilegiert, ein österreichischer Pass bot ihm eine gewisse Sicherheit vor möglichen Einschränkungen des DDR – Staates. Es gab also eine gewisse “DDR-Skepsis” bei Brecht!

6. Spiritualität bei einem Materialisten

„Spiritualität” als eine Philosophie des eigenen Lebens wird bei Brecht anschaulich in seinen Äußerungen zugunsten des (theoretischen) Mitleidens mit den Armen. Davon spricht Hanna Arendt ausdrücklich: „Brecht litt an der Leidenschaft des Mitleids“, schreibt sie, das Mitleid leuchte aus seinen Theaterstücken hervor. Brechts Interesse und Leidenschaft fürs Mitleid mit den Armen führten ihn, so Arendt, zu einer sehr deutlichen Sympathie für die kommunistische Ideologie, selbst wenn er kein „Marx-Spezialist“ war, aber Marx und Engels doch als die „Klassiker“ bezeichnete. Aus seiner (theoretischen) Leidenschaft für die Armen wird, Arendt, verständlich, „der Entschluss, sich der kommunistischen Partei anzunähern, der Entschluss wird nicht nur verständlich, sondern beinahe selbstverständlich“, „wo anders hätte er denn sonst unterkommen können?“ (Arendt, S. 297). Nebenbei gefragt: Er hätte sich ja die Frage stellen können, ob er nicht auch in der SPD (oder in der etwas radikaleren USPD) hätte „unterkommen“ können, aber die waren eben nicht „richtig“ revolutionär… Immerhin gab es aber auch seit 1920 christlich-sozialistische Gruppen, etwa um den Theologen Paul Tillich, aber davon wusste Brecht wohl nichts.
Was Brecht mit elementarer christlicher Spiritualität grundsätzlich verbindet, ist, „die Wunder des Lebens zu lieben“, darauf weist auch Hannah Arendt ausdrücklich hin (S. 284): Brecht interessierte die elementare Verbindung von Himmel und Erde, die Unschuld des einfachen Lebendigseins. „Den Wundern des Lebens jenseits aller Zivilisation galt Brechts erste Liebe“.

7.  Brechts Kommunismus

Daran hat zumindest Hannah Arendt keinen Zweifel: „Brecht hielt an der kommunistischen Ideologie mit einem oft das Groteske streifenden, doktrinären Eigensinn fest“ (,S. 261). Mitglied der Partei wurde er nicht! Es verfasste aber eine „Lobpreisung Stalins“ (S. 262). Und auch dies: „Unmittelbar nach Stalins Tod schrieb Brecht, dieser sei =die Verkörperung der Unterdrückten von fünf Erdteilen gewesen= (so schrieb Brecht in der Zeitschrift `Sinn und Form`, Ost-Berlin 1953, S. 10), von Arendt auf S. 390 zitiert)…Verstörend auch Brechts Lied „Lob der Partei“ (1930, in: “Die Maßnahme”) … dieses Lied erinnert an das bekannte KP-Kampflied „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ (von Louis Fürnberg, 1949)

8. Skepsis

Jan Knopf nennt einen entscheidenden Mittelpunkt von Brechts Lebensphilosophie: “Das Sichere ist nicht sicher” (und noch nicht einmal das ist sicher) kennzeichnet wohl verbunden mit dem Satz “Die Widersprüche sind die Hoffnungen” am besten Brechts Haltung. (Quelle: https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/5842-bertolt-brecht-und-die-religion-die-bibel-als-geschichtenbuch/?cat_id=328)
Dazu gehört auch das (selbstkritische) Bewusstsein, das in dem Stück „Aufstieg und Untergang der Stadt Mahagoni“ zum Ausdruck kommt. Nachdem von Fressen und Saufen und sinnlichen Genüssen in dieser Stadt der Oberflächlichkeiten die Rede ist, kommt der Satz: „Aber etwas fehlt“.
Skepsis lehrte Brecht auch gegenüber der unbegrenzten Begeisterung fürs ungebremste Forschen: Im „Leben des Galilei“ sagt der verfolgte Forscher: „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. …Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tage so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte. (Suhrkamp S. 537).

9. Der Mittelpunkt

Die Skepsis mag ein entscheidender Mittpunkt in Brechts Lebensphilosophie sein. Aber bekanntlich kann jeder der eigenen Skepsis skeptisch gegenüberstehen. Und was zeigt sich dann dem skeptischen Skeptiker, welche erste, alles grundlegende Gewissheit? Bei aller Skepsis denkt Brecht zugunsten des leidenschaftlichen, aber theoretischen Interesses an der Befreiung der Unterdrückten, der arm Gemachten, er denkt und schreibt und arbeitet als „Stückeschreiber“, dass ihnen Gerechtigkeit zuteil wird. Es ist das Engagment eines “Aktivisten des Wortes”.
Ein Ausgegrenzter, ein Verfolgter, insofern ein Leidender, war Brecht selbst in der Zeit seiner Vertreibung aus Deutschland, aber materiell elend erging es ihm in diesen Jahren vergleichsweise nicht. Es war das Leiden an den politischen, den faschistischenVerhältnissen, das ihm zusetzte.
Aber wie kommt es eigentlich, dass wir von einem linken Dichter und „Stückeschreiber“ sozusagen eine makellose Übereinstimmung von theoretischer Erkenntnis und praktischem Lebensstil erwarten? Also höhere moralische Erwartungen haben, als die, die man bei rechten, bürgerlichen, „liberalen“ Autoren äußert? Vielleicht enthält das Bekenntnis eines Autors , kritisch, links oder gar revolutionär gesinnt zu sein, eine sich fast von selbst einstellende Vermutung: Der Typ müsste dann doch eine Art “Held” sein, könnte sogar doch ein authentischer Christ sein – trotz aller eigener gegenteiliger Behauptungen. Christsein ist bekanntlich nicht automatisch mit einer dogmatischen Kirchenbindung verbunden. Und : “Gott ist kein Christ“, wie der südafrikanische Bischof Tutu einmal treffend sagte, Gott ist der Gott der Gerechtigkeit.

Mit anderen Worten: Wer für Gerechtigkeit eintritt, auf seine ihm individuell mögliche Art, und sei es die des “Stückeschreibers”, ist, wenn man den Begrif mangels besserer Begriffe noch will, mit Gott oder “Gott” oder der “Gottheit” verbunden. ( Desmond Tutu, Gott ist kein Christ. Mein Engagement für Toleranz und Gerechtigkeit, Ostfildern 2012. Siehe dazu auch Wilhelm Gräb, „Vom Menschsein und der Religion, Tübingen 2018, S. 215. )

Literaturhinweise:

„Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band“, Suhrkamp, 1978.

Hanna Arendt, „Menschen in finsteren Zeiten“, München 2012, Kapitel über.Brecht, 2012, als Vortrag im BR 1969 gesendet.

Karl-Josef Kuschel, „Im Fluss der Dinge“. Hermann und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Lotse und Zen, 2008.

Merle Clasen, „Wie hast du s mit der Religion,“ (über Brecht, https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2008030720662/DissertationMerleClasen.pdf?sequence=10&isAllowed=y

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Willkommen im Religions-Philosophischen Salon Berlin

Der Religionsphilosophische Salon Berlin. Einige Hinweise von Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus am 3.2.2025. Der zweite Vorname Johannes (Modehn) wird verwendet, um Verwechslungen vorzubeugen.

Wer sich zunächst für die Vielfalt der Themen interessiert, die wir in unserem “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” besprochen und diskutiert haben: LINK

1.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist seit 2007 eine Initiative von Christian (Johannes, 2.Vorname!)  Modehn und Hartmut Wiebus. (Biographische Hinweise: Fußnote 1.)
 Übliche, also öffentliche Salon – Veranstaltungen fanden monatlich von 2007 – 2020 statt. Jetzt gestalten wir philosophisch – theologische Gespräche in kleinerem Kreis. Regelmäßig werden neue Beiträge als Hinweise zur philosophischen und theologischen Debatte auf unserer Website publiziert, bis jetzt sind es 1.800 Beiträge, “Hinweise” genannt, Stand 26.9.2025.

2.
 Titel und „Sache“ eines „(religions-)philosophischen Salons“ sind alles andere als verstaubt. Das Interesse an philosophischen Gesprächen und Debatten in überschaubarem Kreis, in angenehmer Atmosphäre eines Salons, ist evident. Das gilt, selbst wenn viele Interessierte beton(t)en, „Philosophie“ sei schwierig. Das ist sie vielleicht, nicht aber Philosophieren: Es ist das Lebenselement eines jeden Menschen.
 In unserem religionsphilosophischen Salon wird das möglichst eigenständige Philosophieren (kritische Nach – Denken) geübt.
 Philosophische Religionskritik gehört elementar zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Philosophische Religionskritik kann zeigen, welche Form einer vernünftigen Religion bzw. Spiritualität heute zur Lebensgestaltung gehören kann.

3.
 Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es nur im Plural, die (Religions-)Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika dürfen nicht länger als „zweitrangig“ behandelt werden. In welcher Weise Religion dort zum „Opium“ wird angesichts des Elends so vieler Menschen, ist eine relevante Frage, auch angesichts der Zunahme von christlichem und muslimischem Fundamentalisten. Dringend ist die Frage: Inwieweit ist philosophisches Denken Europas eng mit dem kolonialen Denken verbunden?

4. 
In unseren Gesprächen wird oft erkannt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien bieten in ihren vielfältigen Entwürfen unterschiedliche Hinweise zur Fähigkeit der Menschen, ihre engen Grenzen zu überschreiten und sich dem im Denken zu nähern, was die Tradition Gott oder Transzendenz nennt.

5.
 Uns ist es wichtig uns zu zeigen, dass Menschen im philosophischen Bedenken ihrer tieferen Lebenserfahrungen das Endliche überschreiten und das Göttliche, das Transzendente, erreichen können. Das Göttliche als das Gründende und Ewige zeigt sich dabei im Denken als bereits anwesend und dieses denkende Transzendieren ermöglichend. Die auf das Wesentliche reduzierte Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie von Kant gilt uns als wichtige Inspiration für eine heutige vernünftige (!) christliche Spiritualität.

6.
 Insofern ist Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auch eine subjektive Form der Lebensgestaltung, d.h. eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie kennt keine Dogmen, sicher ist nur das eine Dogma: Umfassend selbstkritisch zu denken und alle Grenzen zu prüfen, in die wir uns selbst einsperren oder in die wir durch andere, etwa durch politische Propaganda, durch Konsum und Werbung im Neoliberalismus, eingeschlossen werden. Der Widerspruch und der Kampf gegen alle Formen des Rechtsradikalismus (AFD, FPÖ, Le Pen, usw.) und Antisemitismus muss zum Mittelpunkt nicht nur unserer, sondern der philosophischen Arbeit insgesamt werden. Es gilt, die Demokratie zu retten.

7.
 Die „Entdeckungsreisen“ der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können angestoßen werden durch explizit philosophische Texte, aber auch durch Poesie und Literatur, Kunst und Musik, durch eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, durch die politische Analyse der vielfachen Formen von Unterdrückung, Rassismus, Fundamentalismus, Kapitalismus. Mit anderen Worten: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie findet eigentlich immer – oft umthematisch – in allen Lebensbereichen statt.

8.
 Wo hat unser religionsphilosophischer Salon seinen „materiellen“ Ort? Als Treffpunkt, als Raum, eignet sich nicht nur eine große Wohnung oder der Nebenraum eines Cafés, sondern auch eine Kunst – Galerie. In den vergangenen 7 Jahren fanden wir in der Galerie „Fantom“ in Charlottenburg freundliche Aufnahme. Zuvor in verschiedenen Cafés. Kirchliche Räume, Gemeinderäume etwa, sind für uns keine offenen und vor allem keine öffentlichen Räume.

9. 
In unserem religionsphilosophischen Salon sind selbstverständlich Menschen aller Kulturen, aller Weltanschauungen und Philosophien und Religionen willkommen. Unser Salon ist insofern hoffentlich ein praktisches Exempel, dass es in einer Metropole – wie Berlin – Orte geben kann, die auch immer vorhandenen „Gettos“ überwinden.

10.
 Darum haben wir in jedem Jahr im Sommer Tagesausflüge gestaltet, mit jeweils 10 – 12 TeilnehmerInnen: Etwa nach Erkner (Gerhart Hauptmann Haus), Karlshorst (das deutsch-russische Museum), Jüterbog als Ort der Reformation, das ehem. Kloster Chorin, Frohnau (Buddhistisches Haus), das Dorf Lübars… Außerdem gestalteten wir kleine Feiern in privatem Rahmen anlässlich von Weihnachten. Auch ein Kreis, der sich mehrfach schon traf, um Gedichte zu lesen und zu meditieren, hat sich aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entwickelt. Aber alle diese Initiativen waren (und sind wohl) mühsam, u.a. auch deswegen, weil letztlich die ganze Organisation von den beiden Initiatoren – ehrenamtlich selbstverständlich – geleistet wurde und wird. Das ist der Preis für eine völlige Unabhängigkeit.

11.
 Anlässlich der „Welttage der Philosophie“, in jedem Jahr im November von der UNESCO vorgeschlagen, haben wir größere Veranstaltungen mit über 60 TeilnehmerInnen im Berliner AFRIKA Haus gestaltet, etwa mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb, dem Theologen Michael Bongardt. Der Berliner Philosoph Jürgen Große hat in unserem Salon über Emil Cioran gesprochen, der Philosoph Peter Bieri diskutierte im Salon über sein Buch „Wie wollen wir leben?“, die Politologin Barbara Muraca stellte ihr Buch „Gut leben“ vor, Thomas Fatheuer von der Heinrich – Böll- Stiftung vertiefte das Thema; der evangelische Pfarrer Edgar Dusdal (Karlshorst) berichtete über seine Erfahrungen in der DDR; der Theologe der niederländischen Kirche der Remonstranten, Prof. Johan Goud (Den Haag), war zweimal bei uns zur Diskussion, öfter dabei waren Dik Mook und Margriet Dijkmans-van Gunst aus Amsterdam…

Die Liste unserer Gäste und Refernten: Zu unseren Gästen, auch als Referenten, gehören  Theologe Prof. Wilhelm Gräb, die Soziologin Prof. Barbara Muraca, Pfarrer Edgar Dusdal (Berlin), der Studienrat für Kunst Gerd Otto (Berlin), der Theologe und Kulturwissenschaftler Prof. Johan Goud (Den Haag), der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich (Leipzig), der Philosoph Prof. Lutz von Werder (Berlin), der Philosoph Dr. Jürgen Große (Berlin), der Buddhismus-Lehrer Michael Peterssen (Berlin), der Komponist Joachim Gies (Berlin), Dr. Dorothea Hasskamp vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst (Berlin)……

12.
 Es ist uns leider deutlich, dass innerhalb der philosophischen Studiengänge an Hochschulen und Universitäten nicht im entferntesten daran gedacht wird, auch das Berufsbild eines Leiters, einer Leiterin besser „Inspiratorin“ philosophischer Salons zu entwickeln. Damit PhilosophInnen freilich ,als Salonnières arbeiten können, müsste die Kulturpolitik entsprechend handeln. Aber die interessiert sich offenbar absolut vor allem für die so genannte Hochkultur der Oper und der Theater, nicht aber für eine Form der „Basis-Philosophie“ als Möglichkeit, vor Ort unter den vielfältigen Menschen tiefere Kommunikation zu ermöglichen.
Eigentlich bräuchte es etwa in Berlin in jedem Stadtbezirk mindestens einen philosophischen Salon, besser noch ein philosophisches „Haus“ mit öffentlich zugänglicher kleiner Fach – Bibliothek , Lesezimmer, Meditations- Denk-Raum und Tee/ Kaffee-Stube.Viele leerstehenden Kirchen könnten entsprechend umgestaltet werden. Dass dort auch philosophisch – literarische Debatten oder Diskussionen zu Grundfragen der Politik, der Kunst und Musik und Spiritualität stattfinden können, ist keine Frage.

13.
 Die Bilanz: Einige wenige Interessenten außerhalb von Berlin haben die Idee des religionsphilosophischen Salons aufgegriffen. Aber wir können nicht sagen, dass etwa im kirchlichen Bereich, evangelisch wie katholisch, die Idee des freien und undogmatischen und offenen Salon-Gesprächs aufgegriffen und realisiert wurde.
Je mehr Christen aus den Kirchen austreten, um so ängstlicher und dogmatischer werden die Kirchen(führer), also auch ihre Pfarrer usw. Der Weg der Kirche in ein kulturelles Getto scheint vorgezeichnet zu sein, zumindest für die katholische Kirche. Tatsächlich haben sich über all die Jahre unserer Arbeit sehr sehr wenige “Vertreter” der großen Kirchen für unsere Initiative überhaupt interessiert. Wir haben diese Ignoranz auch als Freiheit erlebt.

14.
 Hinweis zu unseren Themen:
Eine Übersicht unserer Themen im Salon von Februar 2020 bis 2015 finden Sie hier. Die Themen von 2009 bis 2015 werden demnächst dokumentiert. Die religionsphilosophischen und religionskritischen Hinweise von Christian Modehn, publiziert auf der Website www.religionsphilosophischer-salon.de, wurden bisher mehr als 2.300.000 „angeklickt“, was immer das inhaltlich auch bedeuten mag. (Stand 3.2.2025).

15.
 Unser letztes öffentliches Salongespräch vor der Corona – Pandemie fand am Freitag, den 14.Februar 2020 , wie immer um 19 Uhr, statt, über das Thema: “Das Kalte Herz”. Mehr als ein Märchen (von Wilhelm Hauff). „Das kalte Herz“ offenbart die “imperiale Lebensweise”. 22 TeilnehmerInnen waren dabei. Leider mussten wir – wie öfter schon – acht Interessierten absagen, weil der Raum eben klein ist und nur eine überschaubare Gruppe eine Gesprächssituation ermöglicht. Aber das große Interesse, ohne jede öffentliche Werbung, allein im Internet, und ohne jede Finanzierung von außen, ist immer wieder bemerkenswert. Für einige vertiefende Hinweise zur imperialen Lebensweise: Beachten Sie diesen LINK.

16. Zu unseren Gästen, auch als Referenten, gehören etwa: Der Philosoph Prof. Peter Bieri, der Philosoph und Theologe Prof. Michael Bongardt, der Theologe Prof. Wilhelm Gräb, die Soziologin Prof. Barbara Muraca, Pfarrer Edgar Dusdal (Berlin), der Studienrat für Kunst Gerd Otto (Berlin), der Theologe und Kulturwissenschaftler Prof. Johan Goud (Den Haag), der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich (Leipzig), der Philosoph Prof. Lutz von Werder (Berlin), der Philosoph Dr. Jürgen Große (Berlin), der Physiker Dr. Hans Blersch (Berlin)…

17. Wir haben unsere philosophischen, religionsphilosophischen und theologischen Gespräche im Salon als Ausdruck der Spiritualität der freisinnigen protestantischen Remonstranten – Kirche (in Holland) verstanden. Dabei haben wir, ebenfalls der offenen, freisinnigen Theologie der Remonstranten entsprechend, keine Werbung für diese protestantische Kirche “betrieben”.

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Dieser Hinweis vom 7.2.2023 wurde am 3.2.2025 überarbeitet.

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FUßNOTE 1: 
Gründer und Initiatoren des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“:

Christian (Johannes, 2. Vorname) Modehn,  1948 in Berlin (Ost) – Friedrichshagen geboren, nach dem Abitur am Goethe – Gymnasium in Berlin – Wilmersdorf, Studium der katholischen Theologie (Staatsexamen nach 6 Jahren Studium in München, und St. Augustin bei Bonn und der Philosophie (Magister Artium in München, über Hegel). Christian Modehn war einige Jahre Mitglied einer katholischen Ordensgemeinschaft.  Christian Modehn arbeitet seit 1973 immer als freier Journalist über die Themen Religionen, Kirchen und Philosophien, für Fernseh- und Radiosender der ARD, sowie früher auch für die Zeitschrift PUBLIK – FORUM: LINK, sowie auch für “Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt” (Hamburg), “Informations Catholiques Internationales” (Paris), “de bazuin” (Utrecht)  usw.. Zur Information über einige Hörfunksendungen und Fernsehdokumentationen und zu einigen Buchpublikationen: LINKSeit 2010 ist Christian Modehn Mitglied der freisinnigen protestantischen Kirche der Remonstranten (Niederlande). 

Hartmut Wiebus, 1944 in Seehausen/Altmark geboren, hat in Berlin (F.U.) Pädagogik (Diplomarbeit über Erich Fromm) und Psychologie studiert, und vor allem als evangelischer Klinikseelsorger gearbeitet. Er hat u.a. viele unserer Themen angeregt und immer als Moderator die Gespräche begleitet.

Copyright: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. Religionsphilosophischer Salon Berlin