Wenn die Menschenrechte mobil machen

Wenn die Menschenrechte mobil machen
Copyright: Christian Modehn

-Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 26.8.2011-

Von einer Welle der Gewalt wurden einige Städte Englands erschüttert. Junge Leute ließen sich in maßloser Wut zu zerstörerischem Hass hinreißen. Unter den Randalierern sind zweifellos viele Kriminelle, sie werden bestraft. Auch Jugendliche aus „gutem Haus“ haben besinnungslos geplündert und geklaut. „Aber dieser Aufstand war auch ein sozialer Aufstand“, sagt der Sozialarbeiter Konstantin Argeitis. Er kennt die „Szene“ in den „Problemvierteln“ von Manchester genau. „Wir holen uns zurück, was man uns genommen hat“, hört er immer wieder. „Die Krawalle sind eine direkte Folge der neoliberalen Regierung Camerons“, betont auch der in London lehrende Soziologe Richard Sennett, „viele soziale Leistungen für junge Leute wurden gestrichen. Und die Ursachen liegen für mich darin, dass diese Regierung die Zivilgesellschaft und die zivilen Institutionen zerstört hat“.
Die Demokratie muss grundlegend verändert, wenn nicht neu begründet werden: In allen Teilen Europas werden diese Stimmen laut. In Spanien z.B. agieren viele tausend „Indignados“,„Empörte“, ohne Gewalt, aber voller Energie: Sie versammeln sich seit 4 Monaten ständig zu öffentlichen Debatten auf den großen Plätzen. Mitte Juni demonstrierten Hunderttausende in Madrid gegen die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union mit der Forderung: „Es kommt auf die Achtung der Grundrechte an, auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Beteiligung für jeden. Wir fordern eine freie Entwicklung der Persönlichkeit“. In Athen, Lissabon und Paris solidarisieren sich Tausende, eine neue politische Bewegung außerhalb der etablierten Parteien entsteht. Diese Aktivisten beziehen ihre Power aus einem eher abstrakt formulierten Dokument, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. In Artikel 22 heißt es: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit … in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind“.
Diese abstrakten Formulierungen inspirieren heute zu der Frage: Warum soll es nicht in absehbarer Zeit das Menschenrecht auf demokratische Kontrolle der Finanzmärkte geben mit der Einführung eine Finanztransaktionssteuer? Neue Menschenrechte können prinzipiell „entdeckt“ und formuliert werden. Immer schon wurden Menschenrechte „geboren“, wenn Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Für den Philosophen Francois Jullien (Paris) sind der „basale Aufschrei“ und der „Protest gegen das Untragbare“ entscheidend. Es waren die Schrecken der Nazi – Barbarei und des Weltkrieges, die zur Menschenrechtserklärung der UNO 1948 führten. Seitdem gilt absolut: Jeder Mensch hat eine unverletzbare Würde, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Alle Wesen, die Menschenantlitz tragen, sind Menschen.
Im 18. Jahrhundert waren es die Bürger und der niedere Klerus, die nicht länger die maßlosen Privilegien der Könige und den Hunger der Bevölkerung hinnehmen wollten. Aus einer Protest -Bewegung entstand die Französische Revolution. Und aus demselben Geist wurde im August 1789, gut einen Monat nach dem „Sturm auf die Bastille“, die damals sensationelle „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ verabschiedet. Ausdrücklich wurde – zeitlos gültig – betont, „dass die Unkenntnis und die Missachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen für die öffentlichen Missstände und die Verderbtheit der Regierungen sind“. Die neue politische Ordnung muss respektieren, dass jeder Mensch als Mensch unantastbare Rechte hat: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“ (Artikel 1). Das Zeitung „Journal de la Ville“ (Paris) schrieb wenige Tage nach dieser „Déclaration“: „Zum ersten Mal erlebt die Welt, wie ein aufgeklärtes Volk die Gedankenarbeit eines ganzen Jahrhunderts in die Menschenrechtserklärung hineinschreibt und in seinen Beratungen fünfzig Jahre Philosophie mit der Forderung Freiheit für alle zusammenfasst“.
Tatsächlich haben Philosophen der englischen und französischen Aufklärung (Hobbes, Locke, Rousseau, Diderot) mit ihrer Kritik an der gesetzlosen Unordnung des Absolutismus die Idee der Menschenrechte in der öffentlichen Debatte gefördert. Sie hatten Vorbilder, vor allem die Philosophen der Stoa: “Niemand ist vornehmer als andere“, schreibt Seneca (1 bis 65 n.Chr.), und er betont: „Dies sei eine klare Vernunfterkenntis“. Denn alle Menschen haben als Menschen an der „vernünftigen Weltseele“ (dem Ursprung) teil; deswegen haben alle auch gleiche Würde und gleiche Rechte. Darum wehren sich Stoiker auch gegen die Sklaverei. Die Philosophie der Menschenrechte hat durch Immanuel Kant (1724 – 1804) ihre grundlegende Prägung erhalten: Für ihn ist es unbestreitbare Erkenntnis der Vernunft, dass jeder Menschen als Zweck für sich selbst anzusehen sei. Deswegen, und nicht wegen religiöser Überzeugungen, hat jeder Mensch absoluten Wert: Kein Mensch darf bloß als Mittel für egoistische Ziele anderer behandelt werden.
Tatsache ist, dass bis heute „die Menschenrechte“ bestenfalls als ein schönes, aber realpolitisch irrelevantes Dokument angesehen werden. Wenn Staaten Mitglieder UNO werden – fast alle sind es – dann erkennen sie zwar automatisch deren Menschenrechtserklärung an. Aber Amnesty International weist darauf hin, dass es heute in fast allen Staaten schlimme Menschen­rechts­ver­letz­ungen gibt. Und die UNO muss meist hilflos zusehen. In Straßburg kümmert sich immerhin der „Europäische Gerichtshof für Menschenrechte“ um den Schutz dieses höchsten Gutes.
Etliche Philosophen (wie die Expertin Katharina Ceming) empfinden es in dieser Situation als höchst befremdlich, wenn Philosophen, wie Richard Rorty (1931 – 2007) als „Kulturrelativisten“ die rigorose Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in Frage stellen. Rorty möchte die Menschenrechte aus dem Mitgefühl mit anderen Kulturen praktisch begründen und nur aus dem Einzelfall entwickeln. „Wir sollten unsere Menschenrechtskultur nicht als Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen demonstrieren“, meint er: Nur so könnten europäische Besserwisserei und kultureller Imperialismus verhindert werden. Keine Frage: Westliche Politiker haben ihre eigene Machtpolitik z.B. gegenüber der „Dritten Welt“ mit dem Eintreten für die Menschenrechte kaschiert. Der Kampf gegen die Sandinisten in Nikaragua oder gegen Präsident Allende wurde so begründet, tatsächlich aber waren Antikommunismus und ökonomischer Dominanz entscheidend.
Aber darf der politische Missbrauch zur Relativierung der absolut zu schützenden Würde eines jeden Menschen führen? „Die Alternative zum viel geschmähten kulturellen Imperialismus der Menschenrechte entpuppt sich als Kultur- Rassismus, der das Existenzrecht eines Lebens vom kulturellen Kontext abhängen lässt“, betont Katharina Ceming.
Staaten, die heute strikt die absolute Gültigkeit der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 zurückweisen, kennen Menschenrechts – Traditionen. China beruft sich auf den „Lehrer der Harmonie“ (d.h. der Gehorsamshaltung und Unterwürfigkeit) Konfuzius. Aber das Regime übersieht gern, dass Konfuzius´ Meisterschüler, der hochgeschätzte Menzius bzw. Mengzi ( 370 bis 290 v.Chr.), in seinen Lehrgesprächen betont: „Jeder Mensch hat eine ihm angeborene Würde in sich selbst. Diese Würde wurde jedem Menschen vom „Himmel“ verliehen. Deswegen kann ein Machthaber sie weder gewähren noch nehmen. Jede Herrschaft ist daran gebunden“.
Auch in muslimisch geprägten Kulturen ist die Idee des Respekts vor jedem Menschen verbreitet, wenn auch der Koran nicht als Quelle für moderne Menschenrechte herangezogen werden kann. Immerhin, es gibt eine muslimische Hochschätzung der universal gültigen „Goldenen Regel“, die da heißt: „Tu den anderen nur das an, was dir selbst angetan werden soll“. In einer Sammlung von Hadithen (Interpretationen zu Mohammed) aus dem 13. Jahrhundert heißt es: „Keiner ist gläubiger Muslim, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“. Abu Hurayra, ein Gefährte Mohammeds, sagte: „Wünsche den anderen Menschen, was du dir selbst wünschst. Dann erst wirst du ein wahrer Muslim“.
Die meisten „Aufständischen“ in Tunis und Kairo im Januar 2011 ließen sich nicht von religiösen Traditionen inspirieren: „Wir wollen Demokratie“, berichtet der weltbekannte syrische Philosoph Sadiq al Azm. „So denkt die junge Generation dort, es ist die bürgerliche Selbstbehauptung gegen die Macht der Regime“. Sadiq al Azm spricht im Blick auf Nordafrika von „einer Transformation der religiösen Haltung“, es geht – endlich – um Selbstbestimmung, also ansatzweise um Menschenrechte.
Dabei weiß er genau, wie umstritten diese Ansätze sind. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990 wurde noch nicht revidiert. Diesem Dokument zufolge können die Rechte und Freiheiten des einzelnen nicht universell gelten, sie sind vielmehr der Scharia unterworfen.
Religiöse Kategorien begrenzen die Geltung der Menschrechte: Dies ist auch die Rechtsauffassung der katholischen Kirche. Wie im Islam wird die „Würde des Menschen“ einzig von Gott hergeleitet. Ohne einen ausdrücklichen Gottes Bezug kann es keine Menschenrechte geben, darin stimmen islamische und römische Texte überein. Gleichlautend wird die Überzeugung verbreitet, „der Mensch könne ohne die Offenbarung Gottes nicht den besten Weg des Lebens beschreiten“. Diese Lehre kann aber nur Menschen überzeugen, die bereits an Gott glauben. In ihrer inneren Verfasstheit haben die universalen Menschenrechte nicht das letzte Wort. Der „Codex“, das offizielle Gesetzbuch von 1983, bietet viele Beispiele. Wenn Gläubige von der zuständigen Autorität vor Gericht gezogen werden, haben sie auch „Anrecht auf ein Urteil, das nach Recht und Billigkeit gefällt wird“, so § 221, 3. Von Verteidigung und unabhängigen Richtern ist keine Rede. Denn „der kirchlichen Autorität steht es zu, die Ausübung der Rechte, die den Gläubigen eigen sind, zu regeln“, § 223, 2. Der Begriff „Demokratie“ kommt im offiziellen Katechismus von 1993 nicht vor. Demokratie und Menschenrechte sind Produkte der Vernunft. Aber der menschlichen Erkenntnis misstraut die Kirche entschieden. Führung und Gehorsam sollen gelten, nicht Autonomie und Freiheit. Es ist bekannt, dass die Päpste unmittelbar nach der amerikanischen und der französischen Menschenrechtserklärung, also ab 1791, in langen Hasstiraden diese „schlimmsten Übel“ verurteilten. Erst mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurde diese Polemik aufgegeben Aber nun behauptet die Kirche, an der Bildung der Menschenrechte beteiligt gewesen zu sein… Wenn heute Laien und Priester politisch zugunsten der Menschenrechte eintreten, etwa in Lateinamerika und Afrika, bleibt bei aller Anerkennung ihres Engagements die Frage: Wie können sie die Menschenrechte als politisch absolut richtig und gottgewollt vertreten, wenn sie in der eigenen Kirche nicht gelten? Wie kann die Kirche ernsthaft behaupten, die Menschenrechte hätten nichts mit der angeblich göttlichen Ordnung der Kirche zu tun? Wie viel Machtideologie ist da immer noch lebendig? Wie lange nehmen Katholiken diese Situation hin?
Die universalen Menschenrechte, als lebendiger Prozess verstanden, werden erst dann weltweit praktisch von sehr vielen Menschen respektiert werden, wenn politische Willkürregime verschwinden und religiöse Führer die Grenzen ihrer Kompetenz anerkennen. Aber: Das Wichtigste ist getan! Die Menschenrechtserklärung der UNO wird niemand mehr aus den Herzen der Menschen vertreiben können.

Ein Freund des Opus Dei zu Gast in Berlin

Ein Freund des Opus Dei zu Gast in Berlin
— dieser Beitrag gehört zu unserer Rubrik “Religionskritik” —

Von unseren Mitarbeitern in Venezuela erreichen uns einige Informationen zu einem Bischof, der am Gottesdienst anlässlich der offiziellen Einführung des neuen Berliner Erzbischofs Rainer Maria Woelki (27. August) teilnahm. Er wird auf der offiziellen Teilnehmer Liste erwähnt. Auffällig ist die theologisch wie politisch extrem konservative Mentalität des Bischofs aus Venezuela.
Erzbischof Ovido Perez Morales (geb 1932) ist seit 7 Jahren emeritiert. Er war für das Erzbistum Maracaibo von 1992 bis 1999 verantwortlich, danach bis 2004 (Ruhestand) war er Bischof von Los Teques bei Caracas, immer mit dem Titel Erzbischof. Er hatte zahlreiche Leitungsfunktionen in der venezolanischen Kirche inne.
Über die Jahre in Maracaibo hat der Journalist Gaston Guisandes Lopez eine reich dokumentierte Studie verfasst mit dem Titel „El Arzobispo“. Der Autor ist Herausgeber der Zeitung „Que pasa“ in Maracaibo. In dem Buch wird die äußerst rigide „Herrschaft“ von Perez Morales in Maracaibo dokumentiert . Wir bieten ein Zitat aus einer Buchbesprechung auf Spanisch: „Sustentado sólidamente por documentos debidamente confirmados en su autenticidad e información cierta e irrebatible, Guisandes López recoge de manera pormenorizada hechos, situaciones y personajes que, como lo califica el autor, “fraguaron y protagonizaron el peor escándalo vivido por la Iglesia Católica venezolana” durante la gestión de monseñor Ovidio Pérez Morales como jefe de la Arquidiócesis de Maracaibo“.
Weiter wird berichtet, wie der Bischof auf eine Kirche traf, die zuvor durchaus harmonisch lebte, kulturell sehr lebendig durch den Priester Gustavo Ocando Yamarte, „er versuchte, mit Musik, Thetaer und Bildender Kunst das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen aus armen Verhältnissen zu verbessern“, so der Jesuit Jose del Rey Fajardo. Berichtet wird, wie der neue Bischof einige Verwandte auf hohe Posten setzte; wie es zur Spaltung im Klerus kam, wie der Rektor des Priesterseminars zurücktrat, wie die Kirche „in gute und böse“ geteilt wurde. Siehe auch: http://www.vive.gob.ve/imprimir.php?id_not=4684

Die Situation muss für alle Beteiligten so unerträglich gewesen sein, dass Bischof Perez Morales 1999 in ein anderes Bistum wechselte, wechseln musste. Ein nicht gerade häufiger Vorgang in der katholischen Hierarchie.

Interessant ist, dass der Gast aus Venezuela bei der Bischofsweihe von Herrn Woelki mehrfach dokumentierte Verbindungen zum Opus Dei in Venezuela hatte. Zum Beispiel: Im Jahr 2007 (also schon als emeritierter Bischof und damit ohne offizielle Repräsentationsverpflichtungen eines aktiven Bischofs, sondern offenbar aus purer Sympathie) nahm er einer Feier anlässlich des 25. Gründungstages der „Personalprälatur Opus Dei“ in Caracas teil, schon 1992 war er bei Opus Dei Feier zur Seligsprechung des Opus Dei Gründers J. Escrivá in Caracas dabei. Dass Erzbischof Perez Morales seit Jahren ein heftiger Gegner von Staatspräsident Chavez ist, wundert nicht.
Beobachter meinen, Bischof Perez Morales sei sozusagen der halboffizielle Opus Dei Vertreter bei der Amtseinführung Woelkis gewesen.

Ein leidenschaftlicher Theologe. Zur Aktualität von Paul Tillich

Der protestantische Theologe Paul Tillich hat nach wie vor interessante Vorschläge zu machen: Wo kann der Mensch das Unbedingte erfahren? Welche Bedeutung hat die Kultur/haben die Kulturen, wenn es um die Entdeckung des Göttlichen geht? Welche Rolle spielt dabei die Kirche? Welche Bedeutung hat die Philosophie für das vernünftige Reden von Gott? Der folgende Text ist eine längere Fassung eines Beitrags für das Kulturradio des RBB am 21. 8. 2011.

Ein leidenschaftlicher Theologe
Erinnerungen an Paul Tillich
Von Christian Modehn
…Die kürzere Fassung dieses Beitrags wurde im im RBB Kulturradio am 21.8.2011 gesendet…
Copyright: christian modehn

Musikal. Zusp.,

O TON, Christian DANZ,
Grundlegend muss man auch sehen, dass Tillich sehr stark auf moderne Fragestellungen sich bezieht, so dass er relativ breit religiöse Phänomene auch über die Kirchengrenzen und Christentumsgrenzen hinaus identifizieren kann.

1. Musikal. Zusp.,

O TON, Werner Schüssler
Er will dem säkularen Menschen deutlich machen: Wenn er in seine Tiefe vorstößt, dann findet er vielleicht, was man Religiosität nennen könnte.

Musikal. Zusp.,

O TON, Wilhelm Gräb
Er war ein Weltmann, man könnte dann auch sagen, ein Lebemann, der alle frommen Zirkel und bestimmte rigide Normen, die für besonders christlich gehalten werden, sich nicht hat gefallen lassen.

Musikal. Zusp.,

O TON, Gräb, 0 39“
Die große Leistung von Paul Tillich war, und womit er für uns auch heute noch Maßstäbe setzt: Er hat Gott in der Kultur entdeckt. Gott ist nicht nur in der Kirche zu Hause, er ist in erster Linie gerade nicht in der Kirche zuhause, sondern in der Kunst, in der Literatur, in der Musik. Natürlich ist das Kunstwerk nicht selber eine religiöse Wirklichkeit. Aber es bringt mich in Kontakt mit der transzendenten Wirklichkeit, mit einem Sinnzusammenhang, und wo das
geschieht, dort ist für Menschen auch ein gottesdienstliches Geschehen da, das ist gerade nicht an den Ort der Kirche gebunden.

1. SPR.:
Professor Wilhelm Gräb von der Humboldt Universität zu Berlin berichtet über Paul Tillich, einen der außergewöhnlichen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er wurde vor 125 Jahren, am 20. August 1886, in Starzeddel geboren, einem Dorf in der Nähe von Guben; es gehörte damals zur „Provinz Brandenburg“. Sein Vater war dort Pfarrer, ein begabter Theologe, der sich nicht nur mit der Bibel befasste. Er weckte bei seinem Sohn sehr früh schon die Begeisterung für die Philosophie. Im Jahr 1900 zog die Familie nach Berlin. Nach dem Abitur studierte Paul Tillich in Berlin, Tübingen und Halle. An der Philosophie schätzte er die Weite des Denkens und das unablässige Fragen. Nur auf dieser Basis wollte er Theologe sein und den Glauben an Jesus Christus interpretieren. Denken und Glauben sollten nicht länger als Konkurrenten gelten. Tillich wollte Grenzen überschreiten, Getrenntes verbinden. Daran erinnerte er noch 1962, als er in Frankfurt mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wurde.

O TON, Tillich, 0 44“
Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten, ein Zurückkehren, ein Wiederzurückkehren, ein Wieder Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein.

1. SPR.:
Wenn sich Denken und Glauben gegenseitig anregen, entsteht ein „Drittes“, wie Tillich sagt, eine neue, eine moderne Religiosität. Sie lässt sich nicht in enge Mauern der Kirchen einschließen. Mit unverbrauchten Worten will Tillich den Glauben ausdrücken: Anstelle von Sünde spricht er von Seinsverfehlung. Christus nennt er das „neue Sein“; Gott wird zum Namen für das, „was die Menschen unbedingt angeht“.

1. SPR.:
Paul Tillich wird in Theologie und Philosophie promoviert, auch seine Habilitationen sind erfolgreich. 1912 wird er zum Pfarrer der „Brandenburgischen Landeskirche“ ordiniert. Unmittelbar danach beginnt er seinen Dienst als „Hilfsprediger“ in der Erlösergemeinde in Berlin – Moabit. Der dortige Pfarrer Wolfgang Massalsky hat nach den Spuren seines bedeutenden Kollegen geforscht:

O TON, Wolfgang Massalsky, 1 18“.
Es sind wohl ungefähr 20 Predigten in Moabit hier in der Erlöserkirche von ihm gehalten worden. Und diese Predigten konnte ich in einer Abschrift nur in Marburg einsehen. Und diese Predigten haben wir dann auch in einem Arbeitskreis behandelt. Es gibt immer einen Bezug zur Erfahrungswelt der Menschen damals. Dogmatische Fragen, Lehrfragen im eigentlichen Sinne spielten anscheinend gar nicht die große Rolle für ihn. Wichtig war ihm, das Leben in der Gesellschaft, das Leben im privaten Bereich vor allem auch, und sicher auch ein Stückweit das Leben in der Arbeitswelt. Er versucht die biblischen Sätze, die er als Predigttext benutzt, in den Horizont seiner Hörer herein zu bekommen; er versucht aber nicht durch eine Art Indoktrination sie zu gewinnen und sozusagen voll zustopfen mit christlicher Botschaft, sondern aus ihrer Erfahrungswelt heraus einen Zugang zu schaffen zu diesem Gott, der für ihn Jesus Christus greifbar und erlebbar geworden ist.

1. SPR.:
In Moabit gründet Tillich seine „offenen Salonabende“, Gesprächskreise, an denen Gläubige, Atheisten oder auch Anhänger esoterischer Zirkel teilnehmen. 1914 zieht er als Feldprediger an die vorderste Front. Er muss zusehen, wie Soldaten, Freunde wie Feinde, hingeschlachtet werden oder als Krüppel schwerste Verletzungen überlebten. In einem Brief schreibt er:

2. SPR..
Das Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich so tief auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Mir wurde klar: Wenn es eine neue Theologie geben kann, dann muss sie dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht werden. Es ist ein Abgrund der Sinnlosigkeit.

1. SPR.:
Was ist das Leben? Was ist der Tod? Wie ist Frieden möglich? Fragen, die den Theologen und Philosophen sein Leben lang begleiten. In der Weimarer Republik ist er als Dozent und Professor in Berlin, Marburg und Dresden tätig, schließlich wird der nach Frankfurt am Main auf den angesehenen Lehrstuhl für Philosophie berufen. Theodor W. Adorno gehört dort zu seinen Doktoranden. Das Interesse an seinen Vorlesungen ist überwältigend. Tillich gelingt es, mit den Studenten gemeinsam nach dem Sinn des Lebens zu fragen.

O TON TILLICH , 0 22“
Der Mensch unserer Tage ist sich seiner Endlichkeit bewusst. Er kann nicht vergessen, dass er vom Nichts kommt und zum Nichts geht. Auch wenn er zugleich zu einer ewigen Dimension des Seins gehört. Die Angst vor dem Nichts mischt sich in ihm mit dem Mut, Ja zu sagen zum Dasein.

1. SPR.:
Viele Menschen schreiben ihm, berichten von ihrem seelischen Leid, der Suche nach einem tragfähigen Lebenssinn. Tillich, der Vielbeschäftigte, nimmt sich Zeit, auf jeden Brief persönlich zu antworten:

2. SPR.:
Man kann den Sinn finden in kleinsten und größten Dingen. Der Sinn kann niemals definiert, fest umschrieben oder gar griffig gehandhabt werden. Für mich ist Gott das grundlegende Symbol für den Sinn des Lebens. Er ist die Kraft des Seins. Daran glauben wir, wenn wir den Mut haben, Ja zu unserem Leben zu sagen, selbst wenn wir in unseren Worten die so genannte „Existenz Gottes“ verneinen.

1.SPR.:
Ob sich jemand gläubig oder ungläubig nennt, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass jeder Mensch das „Unbedingte“ mitten im Leben erfahren kann, betont Tillich:

O TON, Tillich. 0 21“
Es die Dimension, die sich zeigt, wenn die Fragen gestellt werden: Wofür bin ich da, warum ist irgendetwas da? Was ist der Grund, der Sinn allen Seins, was ist der Sinn meines Seins?

1. SPR.:
Tillich erinnert an das Licht, das sich noch in der Dunkelheit von Sinnlosigkeit und Angst zeigt. Und er fragt: Warum treten wir nicht aus dem Dunkel heraus, wechseln die Perspektive? Dann kann Religiosität entstehen. Über das besondere Glaubensverständnis Tillichs berichtet der evangelische Theologe Wilhelm Gräb von der Humboldt Universität :

O TON, Gräb, 0 55“.
Die Glaubenssprache redet nicht von einer anderen Wirklichkeit, sondern sie wirft einen anderen Blick auf diese Wirklichkeit, die wir hier und heute haben und leben. Sie lässt uns unsere Erfahrungen, die wir so oder so machen, anders deuten; sie bringt sie in eine andere Interpretationsperspektive. Das ist es, was die Sprache des Glaubens leistet. Sie lässt uns eben unsere Erfahrungen, die wir im Scheitern machen, die Erfahrungen, die wir in der Nichtstimmigkeit unserer Beziehung zu uns selbst wie zu anderen Menschen machen, als etwas sehen, das nicht was nicht unbedingt so sein muss, worin wir nicht aufgehen, sondern dass es da etwas gibt, was uns gleichwohl im Innersten zusammenhält, ja was diese Ganze im Innersten zusammenhält.

1.SPR.:
Aber Tillich weiß genau, dass Missgunst und Hass, Krieg und Gewalt „das Geheimnis allen Seins“ auch verdunkeln können. Der Sinn des Lebens muss immer neu errungen werden. Es sind vor allem Künstler, die dazu inspirieren, erläutert Wilhelm Gräb:

O TON, GRÄB, 0 26
Für Tillich waren das insbesondere die expressionistischen Maler, ein Ernst Ludwig Kirchner, Otto Dix, vor allen Dingen diejenigen expressionistischen Maler, die die Katastrophe des 1. Weltkriegs zu verarbeiten unternommen haben. Und eben dieser Appell ergeht, dass es so nicht weitergehen kann wie bisher, sondern Neues geschaffen werden muss.

1. SPR.:
Die neue, die gerechte Welt ist mehr als ein Traum, heißt Tillichs politische Überzeugung. Er fordert: Gerechtigkeit muss jetzt geschaffen werden! Mitstreiter findet er in der „Gruppe religiöser Sozialisten“:

O TON, Tillich, 0 37“
Der deutsche religiöse Sozialismus hatte gegen zwei Fronten zu kämpfen: Einerseits gegen die pessimistische Beurteilung der Geschichte durch das konservativ orthodoxe Luthertum der deutschen Kirche und seine damit zusammenhängende rein jenseitige Gerichtetheit. Andererseits hatte er zu kämpfen gegen die optimistische Beurteilung der Geschichte durch den Sozialismus und seine damit zusammenhängende utopische Diesseitigkeit.

1. SPR.:
Vor allem Pfarrer und Mitglieder der Kirchenleitung reagieren empört, als der religiöse Sozialist Tillich auch die traditionelle Diakonie und Fürsorge in Frage stellt:

2. SPR.:
Wir lehnen jede Form des Christentums ab, die an einer Innerlichkeit festhalten will. Es entspricht dem Geist der Liebe mehr, das Übel selbst auszurotten, als die Leiden, die es immer wieder bringt, durch bestimmte Regeln mildern zu wollen. Es ist ein höheres Ziel, die Voraussetzungen des Almosengebens aufzuheben als die Armut durch Almosen zu lindern.

1. SPR.:
Worte, die lateinamerikanische Befreiungstheologen heute genauso formulieren. Und als die große Wirtschaftskrise Ende der Zwanziger Jahre zum Crash der Banken führte, schreibt Tillich:

2. SPR.:
Es ist ein höheres Ziel, die Möglichkeit des wirtschaftlichen Egoismus zu unterbinden, als diesen wirtschaftlichen Egoismus durch den Appell an die Pflicht patriarchalischer Fürsorge bloß einzuschränken.

1. SPR.:
Die Nazis werden auf Tillich, den sozialistischen Professor aufmerksam, sie machen ihm das Leben schwer; schließlich entfernen sie ihn gleich nach de sogenannten „Machtübernahme“ von der Universität.

1. SPR.:
Aber schon bald zeigt sich für Tillich ein Ausweg: Er wird eingeladen, an der Columbia University in New York zu lehren. Tillich lässt sich darauf ein, obwohl er kaum Englisch spricht. Im Herbst 1933 wandert er mit seiner Familie aus.

musikal. Zuspielung,

1.SPR.:
Bis zu seinem Tod am 22. Oktober 1965 lehrt Tillich in den USA, viel beachtet und hoch geschätzt, lehrt er an verschiedenen Elite – Universitäten in New York und Chicago. Das Magazine TIMES widmet ihm eine Titelgeschichte. Er gilt als DER moderne Theologe. Zu seinen Predigten strömen die Menschen in Scharen. Ein Bestseller wird sein Buch „Der Mut zum Sein“. Nach dem Krieg kommt er regelmäßig zu Vorträgen nach Deutschland. Auch hier bemüht er sich, einem möglichst breiten Publikum Wege zur Gotteserfahrung zu weisen. Seine Hörer und Leser wissen, dass ihnen gedankliche Arbeit zugemutet wird:

2. SPR.:
Wir Menschen entkommen niemals der Notwendigkeit, uns auf die Wahrheit zu beziehen. Auch der Lügner beansprucht noch für sich und die anderen, Wahres zu behaupten. Im Gewissen jedes Menschen meldet sich die Verpflichtung, das Gute zu tun. Dieser Aufforderung können wir niemals entkommen. Noch der größte Bösewicht, glaubt noch in seinen Untaten für sich oder für eine bestimmte Ideologie, Gutes und Richtiges zu tun. Der Mensch ist in seinem Geist gebunden an etwas unbedingt Geltendes, an etwas, das nicht der Verfügung des einzelnen unterliegt. Dieses Unbedingte kennt keine Bedingungen, es lebt von sich aus. Es ist das, was die Tradition Gott nennt.

Musikal. Zuspielung

1. SPR.:
Von Gott als dem Unbedingten kann nur sprechen, wer achtsam mit der Sprache umgeht. Alltägliche Worte und Begriffe können niemals den „ganz anderen“ Gott treffend beschreibend. An diese Erkenntnis Tillichs sollte man sich halten, meint die Berliner Philosophin Petra von Morstein:

O TON, Petra von Morstein, 0 40“
Was sich unserer objektiven Erkenntnis entzieht, das erleben wir ja auf eine gewisse Weise. Und wir drängen danach, was wir auf diese Weise über die Grenzen des objektivierenden Verstandes hinaus erleben, zu artikulieren. Wie artikulieren wir es? Natürlich nicht in Begriffen. Aber wir drücken es symbolisch aus. Und in diesem Sinne wäre Gott der Vater ein Symbol, aber nicht wörtlich zu nehmen. D.h. Gott ist nicht eine Entität, eine Person ganz besonderer Art, deren Kinder wir alle wörtlich sind, aber diese Symbolik trägt uns natürlich.

1.SPR.:
Wer aber Gott festlegt und in Definitionen einfangen will, gelangt schnell zu fundamentalistische Überzeugungen:

O TON, Petra von Morstein, 0 31“
Deswegen wehre ich immer wieder dagegen, wenn Menschen sagen, das Leid und die Kriege der gegenwärtigen Welt liegen an der Religion oder an den Religionen. Die liegen an Dogmen, an fanatisch gestalteten Dogmen, aber nicht an Religiosität. Religiosität führt dazu, die Freiheit in sich selbst und im anderen immer mit einzubeziehen, was ja logischerweise dann Diskriminierung und Unterdrückung unmöglich macht.

1. SPR.:
Tillich hat großen Respekt vor Menschen, die sich Atheisten nennen, weil sie weder den naiven Kinderglauben noch den kämpferischen Fundamentalismus akzeptieren. Er kennt viele Menschen ohne konfessionelle Bindung, die sich für Gerechtigkeit in dieser Welt leidenschaftlich einsetzen. Sie haben die „bessere Welt“ zu ihrem „Unbedingten“, zu ihrem „Lebensprojekt“, erklärt. Sind dann diese Menschen wirklich noch gottlos? Der Tillich Spezialist Werner Schüssler von der Universität Trier:

O TON, Schüssler: 0 30“
Atheismus wäre dann in seinem Verständnis der Versuch, jedes unbedingte Anliegen abzulehnen. Und es ist zu recht die Frage, ob das möglich ist. So wie der Gläubige vom Zweifel bedrängt ist, so wird der Ungläubige auch vom Zweifel bedrängt. Was Tillich sagen will: Atheismus ist vielleicht nur intentional möglich, weil wir immer in der Hand Gottes leben quasi. Er will dem säkularen Menschen deutlich machen, wenn er in seine Tiefe vorstößt, dann findet er vielleicht, was man Religiosität nennen könnte.

1.SPR.:
Gott, die kaum beschreibbare Tiefe im Leben eines Menschen, geheimnisvoll entzogen und doch gegenwärtig. In diesen Worten aus der mystischen Tradition spricht Tillich von Gott. Und er ist empört, wenn das Unendliche und Unbedingte von frommen Christen wie ein bezahlbares Produkt der Warenwelt, etwa als die beste Medizin, angepriesen wird:

O TON, TILLICH, 1 01“
Das Wort Glaubensheilung verbindet das Religiöse mit dem Medizinischen. Aber es ist ein gefährliches Wort. Es kann für eine Praxis stehen, in der die Religion als Quelle für magische Heilungszwecke benutzt wird. Der Glaube wird als Medizin angepriesen und von religiösen Propagandisten verkauft. Solche Methoden haben gewisse Erfolge und gewinnen dadurch Anhänger, aber sie widersprechen dem Sinn des Religiösen, nämlich der Erhebung zu Gott um Gottes willen. Und sie widersprechen den Forderungen ärztlichen und psychotherapeutischen Heilens.
Glaubens – Heilung im unverzerrten Sinn des Wortes, ist Aufnahme des Heils im Akt des Glaubens, nämlich in der Hingabe an etwas, was uns unbedingt angehrt, an das Heilige, das nie in unseren Dienst gezwungen werden kann.

musikalische Zuspielung

1. SPR.:
Paul Tillich hat unmittelbar bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1965 über eine unerschöpfliche Energie verfügt. Es hatte Lust am Leben. Und die war – wie sollte es auch anders sein? – immer auch erotisch geprägt. Der Publizist Eike Christian Hirsch schreibt:

3. SPR.:
Tillich war ein Genie der Freundschaft, der Freundschaft mit Männern und mit Frauen, wobei die Beziehung zu Frauen fast immer einen stark erotischen Charakter hatte. Er ist bis in sein hohes Alter von dieser =Liebeslust= nicht losgekommen…

1. SPR.:
Schon als junger Dozent in Dresden konnte er seine Sehnsucht nach erotischer Nähe ausleben. Zusammen mit seiner Frau Hanna hat er manche Nacht in Tanzlokalen verbracht, erinnert sich eine Freundin von damals:

3. SPR.:
Wenn es ans Tanzen ging, war Tillich in seinem Element. Er wirkte wie elektrisiert. Er tanzte aus Freude an der Bewegung, an Rhythmus und Melodie. Dabei erfand er stets neue Variationen und überraschte durch lustige Einfälle.

1. SPR.:
Später, in reiferen Jahren, war er überzeugt, niemanden in seiner Liebe ausschließen zu dürfen, hat Eike Christian Hirsch beobachtet:

3. SPR.:
Treue bedeutet für ihn, dass man den Partner und die Partnerin nicht als Eigentum behandeln dürfe. Er bezweifelte überdies, dass ein absolutes Gelöbnis der Treue überhaupt möglich sei.

1. SPR.:
Seine Frau Hanna veröffentlichte nach dem Tod ihres Gatten ein Buch, das von erotischen Eskapaden des berühmten Theologen freimütig erzählt. Professor Werner Schüssler hält diesen Bericht nicht für sehr zuverlässig:

O TON: Schüssler , 0 28“
1973 erscheint auch eine kleine Biographie von Rollo May, einem bekannten humanistischen Psychologen in Amerika: „Paulus. A personal portrait of Paul Tillich“. Und Rollo May sagt ausdrücklich, dass Tillich Liebhaber unzähliger Frauen gewesen soll, das stimmt nicht, sagt er. Und dann spricht er davon, dass wir also das große Bedürfnis haben, wichtige Persönlichkeiten zu skandalisieren.

1.SPR.:
Dabei hatte ihn doch seine Frau Hanna hatte in jungen Jahren einen Magier des Herzens genannt. Er sei eine kosmische Macht gewesen, der sich niemand entziehen konnte. Aber offenbar konnte sie sich im Alter ihrer Eifersucht nicht erwehren. Wie dem auch sei: Grundsätzlich darf doch wohl gefragt werden: Warum soll es ehrenrührig sein, wenn Tillich, der weltberühmte Theologe, auch ein leidenschaftlicher Freund der Erotik war? Professor Wilhelm Gräb betont:

O TON, Gräb, 0 42“
Ich sehe darin eigentlich eher auch eine Bestätigung eben dieser Weltzugewandtheit und Offenheit. Er war ein Weltmann, man könnte dann auch sagen, ein Lebemann, der alle frommen Zirkel und bestimmte rigide Normen, die für besonders christlich gehalten werden, nicht hat gefallen lassen. Das sind alles menschliche Versuche, letztendlich Gott in die eigene Tasche zu stecken, ihn klein zu machen, gefügig zu machen, den eigenen engen Moralvorstellungen anzupassen. Und ihn als Hüter eben einer verklemmten Sexual Moral und einer engen kirchentümlichen Welt werden zu lassen.

1. SPR.:
Tillich hat über seine erotische Lebenslust nicht öffentlich gesprochen; zur Überraschung vieler Beobachter hat er aber in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1962 vehement die nicht gerade erotisch aufgeschlossene Welt des Kleinbürgertums offen kritisiert:

O TON, Tillich, 0 49“.
Der Spießer, er kann geradezu charakterisiert werden als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten, nie über das Gewohnte, Anerkannte und Festgelegte zu erheben wagte. Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen, ließ er unverwirklicht; ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können. Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte, und der heimliche Neid wird zum Hass.

musikal. Zuspielung

1. SPR.:
Paul Tillich, der Grenzgänger zwischen Leidenschaft und Liebe, Glaube und Zweifel, Philosophie und Theologie. Im hohen Alter wollte er noch die Grenzen der christlichen Welt überwinden:

O TON, Tillich, 1 06“
Ich war in Japan, wo ich 10 Wochen mit Buddhisten debattiert habe.
Wie beurteilt man eine fremde Religion, wenn man einen solchen Dialog haben will. Man muss verstehen, dass in jeder aktuellen Religion Elemente von dem enthalten sind, was auch in jeder anderen aktuellen Religion vorkommt.
Wenn man darum mit einem Buddhisten spricht, dann spricht man immer zugleich mit sich selbst. Jedes Gespräch, das ich mit buddhistischen Priestern, Philosophen, Theoretikern, Theologen usw. hatte, war zugleich ein Gespräch mit mir selbst. Weil das, was im Buddhismus radikal durchgeführt ist, auch ein Teil meines eigenen protestantischer Christsein, dass das auch in mir war.

1. SPR.:
Denn die letzte Wirklichkeit ist Geheimnis, unsagbar und heilig. In dieser Überzeugung sind Christen und Buddhisten verbunden. Kirchliche Mission im Sinne von Werbung und Bekehrung hat dann keinen Sinn:

O TON, Tillich, 0 33“.
Der, wer bekehren will, nimmt den anderen im Grunde nicht ernst. Der, der von ihm lernen und ihm geben will, aber so, dass er selber auch bereit ist, verändert zu werden, das ist ein echter Dialog. Wo der Dialog in diesem Sinne fehlt, da ist es besser ihn gar nicht anzufangen. Wo er aber da ist, da muss ehrliche Kritik gesagt und angenommen werden.

1. SPR.:
Unter Theologen ist Tillichs Denken immer noch lebendig. Der anglikanische Bischof John Sprong z.B. verweist auf Tillich, wenn er in seinen Büchern Gott die „Quelle der Liebe“ nennt. Pastor Klaas Hendrikse aus Holland ist von Tillich inspiriert, wenn er seinem inzwischen viel beachteten Buch den Titel gab: „Vom Glauben an einen Gott, der nicht besteht“. Dabei will er im Sinne Tillichs Verständnis wecken für den wahrhaften, den „göttlichen Gott“. Selbst in Lateinamerika wird Tillich heute entdeckt. Und im deutschsprachigen Raum? Die Kirchenleitungen wollen Tillich jedenfalls nicht zu einem ihrer Haustheologen erklären, sie sind von der Weite und Großzügigkeit seines Denkens irritiert, betont Christian Danz, Theologieprofessor in Wien und Vorsitzender der Paul Tillich Gesellschaft:

O TON, Christian Danz, 0 27“.
Der Protestantismus kultiviert weiterhin eine hohe Kirchlichkeit, die den Realitäten wohl kaum noch gerecht wird. Das ist das Problem, dass man angesichts von beschleunigter Modernisierung gewissermaßen auf Besitzstandswahrung setzt und dadurch natürlich wichtigen Einsichten kaum Raum gibt. Tillich selbst war stark enttäuscht eigentlich darüber, aber die Kirchen sind an ihm vorbei gegangen, ja.

musikal. Zuspielung

1.SPR.:
Paul Tillichs Urne wurde 1965 auf dem Friedhof von New Harmony, im Bundesstaat Indiana, beigesetzt. In dieser kleinen Stadt hatten sich im 19. Jahrhundert sozialistische und humanistische Gruppen niedergelassen, mit denen Tillich eng verbunden war. Auf seinen Gedenkstein aus rotem Granit ohne Kreuz wurden Worte aus dem 1. Psalm eingemeißelt:

2. SPR.:
Und er soll sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht verwelken, und alles, was er tut, gerät ihm wohl.

musikal. Zuspielung noch mal freistehen lassen.

Einige Buchhinweise:
– Werner Schüssler und Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2007. 278 Seiten.

– Werner Schüssler, Paul Tillich, Becksche Reihe, München 1997.

– Von Paul Tillich selbst ist als Einführung geeignet:
Der Mut zum Sein, de Gruyter, Berlin 1991.

– Eike Christian Hirsch, Mein Wort in Gottes Ohr. Ein Glaube, der Vernunft annimmt. Hoffman und Campe verlag Hamburg 1995, das Tillich Kapitel auf den Seiten 93 ff.

– Die deutsche Paul Tillich Gesellschaft ist erreichbar über: http://www.theo.uni-trier.de/tillich/tillich.html

Wohin führt die Stille? Eine philosophische Meditation

Wohin führt uns die Stille?
Eine „philosophische Meditation“
Von Christian Modehn

Stille ist eine Wirklichkeit, sie ist räumlich und zeitlich.

Wir erleben Stille immer in einem Raum, einem Umfeld, an einem Ort.
Auch wenn wir die Augen von dem Ort abwenden und schließen, erleben wir einen stillen Raum in uns selbst, wenn wir denn auf unsere eigene Stille selbst achten, diese Stille reflektieren.

Stille erleben heißt still werden. Wir „gehen“ immer in die Stille. Das heißt: In eine stille Zeit eintreten. Diese Zeit kennt keine lineare Zeitstruktur.
Es entsteht reine Gegenwart. Der Bezug zur Vergangenheit schwindet, Zukunft hat keine Relevanz.

Stille ist Gegenwart, Präsenz.

Was ist aber Stille? Keine Rede, kein aktives Tun, keine geräuschvolle Bewegung.
Nur die Natur ist noch vernehmbar oder der ferne Lärm des Geschehens, auf den wir keinen Einfluss haben.
In dieser Welt gibt es keine absolute Stille. Selbst der leere Raum, „abgeschottet“, hat noch den Klang der Stille.

Die Stille ist also für die Lebenden keine „Totenstille“.

Stille entsteht im Zur – Ruhe – Kommen, zu dem einen Entscheidenden kommen: Den eigenen Atem wahrnehmen; ihn hören, vielleicht als das einzige Lebenszeichen in der Stille.

Stille ist Zeit des Atmens.

Also Zeit der „ewigen“ Wiederkehr des Einatmens und Ausatmens.

Dies ist der Vollzug des Lebendigen.

Dies ist kein bewusstloser Vorgang.

Im Vollzug des Atmens ist fraglos Bewusstsein, ist Selbst – Bewusstsein, also Sich Wissen.
„Versinken“ in die Stille mag es geben, aber in der Rückkehr ins selbstbewusste Leben erinnern wir uns dann an das „Versunkensein“, können darüber sprechen. Also ist im Versunkensein in die Stille immer auch Selbst – Bewusstsein, „schlummernd – aktiv“.

Sich der Stille bewusst stellen heißt: Sich der eigenen „Tiefe“ innewerden, die im Lärm des Alltags verdeckt ist.

Die eigene Tiefe wird entdeckt, wenn ich mich als Gesetztsein wahrnehme. Ich bin nicht aus mir.

Ich bin gesetzt.

Was setzt mich?
Das, was mich gesetzt hat, lässt mich atmen; „will“ offenbar, dass ich bewusst lebe.
Das, was mich setzt, ist also „lebenswillig“, stiftet Leben.

Ein dermaßen Leben – Setzendes kann selber nur Lebendiges sein. Will Lebendiges weitergeben.

Dieses mich und andere und die Welt Setzende, Gründende, selbst aber schweigt.

Das Gründende ist selbst Stille und wird nur in der Stille als solches wahr – genommen.

Die Stille ist das „Wesen“ , die „innere Kraft“, des Setzenden.

Im Stillwerden „erreiche“ ich das Setzende.
Stille ist wie die „Sprache“ zwischen dem Setzenden (Gründenden) und mir.

Das Setzende, das Schöpferische, hat mich über die Stille an sich gezogen, sich mir gezeigt, als Nähe.

Ich bin mit dem Schöpferischen verbunden – über die gemeinsame Stille.

Ich habe diese schöpferische Stille in mir als „Tat“ des Schöpferischen.

Die Stille spricht also.

Meine Kraft still zu werden, ist die Kraft des Schöpferischen in mir; es gibt mir seine ureigene Lebendigkeit weiter als Stille in mir, wie es mir auch das Atmen und das Bewusstsein gibt.

Diese innere Stille wird in der bewusst gesuchten Alltagsstille lebendig. Es ist die Existenz- Stille. Sie hat in verschiedenen Lebensphasen ein eigenes Gesicht. Sie ist kulturell vielfältig, kennt nicht nur „einen“ Ausdruck, ist nicht dogmatisch.

Die philosophische Meditation eröffnet also Spiritualität:

Ich komme also aus dem Schöpferisch – Lebendigen, das selbst Stille ist.

Ich gehe im Tod in das Stille.

Ist dann Totenstille als Nichts?

Oder ist es Einkehr in die ewig schöpferische und alles gründende lebendige Stille?

Copyright: Christian Modehn 20.8.2011

Heiliger Stuhl, Vatikanstaat, Papst: Was Sie schon immer wissen wollten…

Was Sie schon immer vom “Heiligen Stuhl” wissen wollten…
Eine Neufassung des Beitrags vom 21. Juli 2011.
Immer wieder erreichen uns Fragen, auch anlässlich des Papstbesuches in Deutschland, die wir gern weitergeben …mit einer knappen Antwort vor allem aus Originaldokumenten. Wir verstehen unsere Hinweise lediglich als Beitrag zu einer Philosophie der Aufklärung.

– Ist der Papst Staatschef des Vatikanstaates?
Antwort:
Eigentlich nicht. Denn der Papst repräsentiert als Person den Heiligen Stuhl. Der „Heilige Stuhl“, auch „apostolischer Stuhl“ genannt, bezeichnet den Sitz (Stuhl, „cathedra“, von daher „Kathedrale“) des römischen Bischofs.
Seit Papst Damasus I. (366- 384) verbreiten römische Bischöfe die Idee, nur (!) der Bischof von Rom habe den Anspruch, sich „Heiliger Stuhl“ zu nennen. Unter Papst Siricius (384) setzt sich der Titel „Papa“ (Papst) als Monopol – Begriff für den römischen Bischof durch. Unter Papst Leo I. ( 440-461) wird der Titel „vicarius Christi“, also „Erbe aller Vollmachten Christi“, auf das Papstamt bezogen, Unter Leo I. wird das Papstamt gleichwertig neben das römische Kaisertum gestellt.
Die politischen Machtansprüche des Heiligen Stuhls wachsen: Im 8. Jahrhundert wird das zweifelsfrei gefälschte Dokument verbreitet, die sogen. „Konstantinische Schenkung“, wonach Kaiser Konstantin dem Papst Silvester I. ( 314 – 335) als dem Heiligen Stuhl den absoluten Anspruch auf weltliche Macht“ übergeben hätte, (so der katholische Theologie Professor Josef Imbach in seinem empfehlenswerten seinem Buch „Der Glaube an die Macht und die Macht des Glaubens, Düsseldorf 2005, Seite 107).
Wer an der Echtheit dieses „ominösen Schriebs zweifelte“, so Josef Imbach, wie ein gewisser Johannes Drändorf in Heidelberg, der wurde 1425 noch, als Ketzter (!) verbrannt. Heute sprechen Historiker nur von der „Konstantinischen Fälschung“.
Die Macht des Heiligen Stuhls beruht also auf höchst zweifelhaften Dokumenten und man distranziert sich zumindest nicht offiziell bis heute nicht von diesen merkwürdigen Traditionen.
Denn weiter ging der Ausbau der politischen Macht des „Heiligen Stuhls“, also des Papstamtes, in der sogen. Pippinischen Schenkung“ (754- 756), wonach der zuvor vom Papst zum König gekrönte Pippin dem Papst nicht nur Rom, sondern weite Teile Mittelitaliens – nach der Verdrängung der Langobarden) – „schenkt“. Somit ist der heilige Stuhl auch politischer Herrscher (Vatikanstaat).

In dieser Doppelfunktion handelt der Papst bis heute. Am wichtigsten ist ihm, als Inhaber des Heiligen Stuhls“ zu gelten, als solcher IST der Papst „Völkerrechts – Subjekt“. Dies ist eine einmalige völkerrechtliche Erscheinung. Der Heilige Stuhl (der Papst) ist die höchste Institution der katholischen Kirche, er steht über allen Bischöfen und Konzilien. Man kann seine Macht absolut nennen, von niemandem kontrolliert.
Das Papsttum will aber seine Souveränität auch politisch international sichtbar und wirksam machen, eben durch einen Staat, dies ist heute der heute winzige Vatikanstaat, der mit den Lateranverträgen (mit Benito Mussolini) am 11. 2. 1929 geschaffen wurde.
Der Heilige Stuhl ist also mehr als der faktische Vatikanstaat, er geht nicht in diesem Staat auf. Entscheidend ist, dass der Heilige Stuhl auch heute mit aller Machtfülle ausgestattet sein will. Darum ist er Mitglied in zahlreichen Internationalen Organisationen.
Die Menschenrechtserklärung des Europarats hat er nicht unterzeichnet.

– Sind die „Nuntiaturen“ diplomatische Vertretungen des Vatikanstaates?
Antwort:
Trotz einer immer wiederkehrenden Behauptung auch in journalistischen Kreisen heißt die Antwort: Nein. Die päpstlichen Nuntien sind diplomatische Vertretungen des Heiligen Stuhls. D.h. Der Papst als die höchste Institution der katholischen Kirche meint Botschafter in möglichst allen Ländern, zur Zeit 174, zu brauchen, um das Wohl „der“ Kirche zu sichern, auf die Staaten und Gesellschaften einwirken zu können, möglichst auch durch Konkordate. Diese Nuntien üben auch Kontrollfunktion aus über die Kirche ihres jeweiligen Landes und melden „Missbräuche“ dem Papst und seiner Administration. Man könnte Nuntius also auch mit „Kontrolleur“ und „Geheimdienst“ übersetzen. Innerhalb des diplomatischen Corps hat der Nuntius immer eine Vorrangstellung.

– Welche Regierungsform besteht im Vatikanstaat?
Antwort:
Die klare Antwort gibt der Katechismus selbst:
„Die Regierungsform ist die absolute Monarchie. Staatsoberhaupt ist der Papst, der die absolute gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt inne hat“.
Gewaltenteilung gibt es also nicht.
Quelle: http://www.vaticanstate.va/DE/Staat_und_Regierung/Geschichte/Die_Vatikanstadt_heute.htm

– Will der Papst auf die Politiker Einfluss nehmen?
Antwort:
Wieder gibt der Katechismus eine klare Antwort: „Einzig die göttlich geoffenbarte Religion (also das Christentum und dort die katholische Kirche unter päpstlicher Leitung, CM) hat in Gott, dem Schöpfer und Erlöser, klar den Ursprung und das Ziel des Menschen erkannt. Die Kirche lädt die politischen Verantwortungsträger ein, sich in ihren Urteilen und Entscheidungen nach dieser geoffenbarten Wahrheit über Gott und den Menschen zu richten“. Quelle: Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Nr. 2244.
Man lese parallel das mittelalterliche „dictatus Papae“ von Papst Gregor VII. (1073 – 1085), dort steht der ähnlich klingende Satz: „Der Papst darf von niemandem gerichtet werden“. (Nr 19 des Dictatus).

– Spielt diese Lehre von der politischen Führung des Heiligen Stuhls heute noch eine Rolle?
Antwort:
Selbstverständlich, nur ein Beispiel für viele andere: .
Man lese eine Stellungnahme von Erzbischof Rino Fisichella, (am 30. Juni 2010 ernannte ihn Papst Benedikt XVI. zum Präsidenten des neu errichteten Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung). „Aufgrund seiner demokratischen Verfassung muss der Staat die Auseinandersetzung mit der Kirche nicht nur akzeptieren, sondern er muss etwaige Einmischungen der Kirche auch aufgreifen und erst in einem zweiten Moment zu temperieren wissen…. Die Kirche hingegen, die sich auf Prinzipien beruft, die einen höheren als den menschlichen Ursprung haben (sic), könnte niemals eine irgendwie geartete Einmischung des Staates in ihre Inhalte akzeptieren“.
Quelle. R. Fisichella, Identita dissolta, zit in C. Augias, Die Gehimnisse des Vatikan, 2011, S. 443.)

– Ist der Papst tatsächlich die letztlich alles entscheidende Person im Katholizismus?
Die Antwort bezieht sich auf eine wortwörtliche Interpretation des Neuen Testaments: „Der Herr (also Jesus Christus, CM) hat einzig (!) Simon, dem er den Namen Petrus gab, zum Felsen seiner Kirche gemacht“.
Quelle: Katechismus der katholischen Kirche: (Nr. 881) ….
„Der Römische Bischof (also der Papst, CM) hat kraft seines Amtes, nämlich des Stellvertreters Christi und des Hirten der ganzen Kirche, die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über die Kirche, die er immer frei ausüben kann“ .
Quelle: Das Dokument Lumen Gentium vom 2. Vatikanischen Konzil, im Katechismus zitiert als unter Nr. 882).

– Sind die beiden „Rollen“ des Papstes als geistliches Oberhaupt UND als politisch agierender Chef des Heiligen Stuhl bzw. auch eines Staates klar getrennt?
Antwort:
Nein. „Wenn der Papst das Wort ergreift, ist es fast nie ganz eindeutig, ob er dies als Oberhaupt einer großen Religion oder als Oberhaupt eines souveränen Staates tut, als Monarch, der in seiner Person alle Gewalten,vereint“.
Quelle: C. Augias, Die Geheimnisse des Vatikan, München 2011, S. 8.

– Wie wird im Römischen / päpstlichen Katechismus der Begriff Demokratie behandelt?
Antwort:
Der Begriff Demokratie kommt im Römischen Katechismus nicht vor!
Lediglich Anklänge an das, was die moderne Demokratie meint, gibt es im § 1901. Dort heißt es: „Während die Autorität als solche auf eine von Gott vorgebildete Ordnung verweist (damit wird auf „die“ menschliche Natur verwiesen, CM), muss die Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden dem freien Willen der Staatsbürger überlassen bleiben“.
Interessant ist, dass der Katechismus ausdrücklich dann auch „unterschiedliche Regierungsformen als sittlich zulässig beurteilt“, um welche dann offenbar nicht mehr demokratische Regierungsformen es sich im einzelnen handelt, wird nicht gesagt. Monarchien, Autokratien, Plutakratien, Anarchien?? Offenbar will man sich im Katechismus einen Weg freihalten, um Verständnis zu wecken, dass der Vatikan Staat eben eine „absolute Monarchie ohne Gewaltenteilung“ ist (siehe oben). Allerdings wird im Katechismus zugegeben, das Regierungen, deren Wesen den Grundrechten der Personen widersprechen, “nicht das Gemeinwohl verwirklichen können“ (also aus päpstlicher Sicht abzulehnen sind, CM). An welche Regierungen, etwa absolute Monarchien, dabei gedacht wird, bleibt im Text völlig unklar.

Auch in den Dokumenten des 2. Vatikanischen Konzils kommt – laut Register im “Kleinen Konzilskompendium”, Herder Verlag – der Begriff Demokratie nicht vor.

—Wir weisen auf einen Text hin, in dem sozusagen “typischerweise” deutlich wird, wie der Heilige Stuhl, also der Papst, schwere Menschen­rechts­ver­letz­ungen, etwa in Uganda, ignoriert bzw. aus diplomatisch – taktischen Gründen im Gespräch mit Diplomaten nicht erwähnt!
Pope Benedict commends Uganda
Sunday, 20th December, 2009

By Steven Candia, Quelle: http://www.newvision.co.ug/D/8/13/704876, gelesen am 10.8.2011

POPE Benedict XVI has commended Uganda for the freedom and respect extended to the Catholic Church, enabling it fulfill its goals.

Speaking at the Vatican at a function in which Ugandas Ambassador to the Holy See, Canon Francis Butagira, presented his credentials, the Pope said the cordial relations between the Holy See and Uganda had borne tangible fruits.

The climate of freedom and respect in your nation towards the Catholic Church has allowed her to be faithful to her proper mission.

The fruits of cooperation between the Church and the State, especially in areas related to development, education and healthcare, are widely recognised, the Pope said.

He added that such a solid foundation should promote personal integrity, justice and fairness in local communities and hope for the whole nation, an important factor in stability and growth.

The Pope, however, noted that despite the sound economic growth Uganda has enjoyed lately, there was still need to promote more productive forms of agriculture, the proper use of the countrys resources and the implementation of concrete policies of regional cooperation.

The Pope singled out Northern Uganda, which he said had been devastated by the LRA insurgency and hoped that lasting peace would soon return to the region.

The Pope assured Butagira of the Vaticans continued support.

Wikipedia schreibt:
For its part, the Holy See has maintained excellent relations with Uganda, with Pope Benedict XVI receiving the Ugandan ambassador in December 2009 and commending the climate of freedom and respect in the country towards the Catholic Church. During this meeting, there was no mention of the anti-homosexuality bill.
Quelle:

http://www.google.de/search?q=catholic+church+in+uganda+against+gays&ie=utf-8&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:de:official&client=firefox-a

copyright: christian modehn.

gelesen am 10.8. 2011
Tags: Benedikt XVI. Staatschef oder religiöser Führer, Corrado Augias, Demokratie und katholische Kirche, Heiliger Stuhl und Vatikan, Homosexualität und katholische Kirche, Nuntius, päpstlicher Nuntius, politische Macht der katholischen Kirche

Kommentar wurde abgehakt.

Die “ewige” Mauer des Vatikan. Überlegungen anläßlich des 13. August

Die „ewige“ Mauer des Vatikan
Anlässlich des Gedenktages Berliner Mauer

Am 13. August wurde in Berlin der Menschen gedacht, die sich mit der Beraubung ihrer elementaren Freiheit durch die DDR nicht abfinden wollten und eine Flucht trotz Mauer versuchten … und dabei von DDR „Grenzern“ erschossen wurden oder ertranken.
Bei der Gelegenheit wurde eher beiläufig auch in einigen Medien daran erinnert, dass es auch heute, im August 2011, in einigen Ländern Mauern gibt, die freie Kommunikation und Reisefreiheit unmöglich machen. Erwähnt wurde die Mauer, die von den USA an der Grenze zu Mexiko errichtet wurde, aus Stahldrahtverhauen und einem elektronischen Überwachungssystem. Dadurch soll Menschen aus Lateinamerika die Einreise in die USA erschwert werden. Wir erinnern uns an eine Messfeier, bei der die eine Hälfte des Altares auf USA Terroitorium, die andere Hälfte auf mexikanischem Boden stand. Die Mauer war dazwischen. Die Gläubigen beteten auf beiden Seiten und brüllten sich sozusagen über die Mauer hinweg ihre gemeinsamen Gebete zu. Ein absurdes Bild, das die politische Bedeutungslosigkeit engagierter Christen in den so christlichen USA deutlich macht. Sie können eben keine Mauern verhindern oder wenigstens überspringen. Christlich ist in den USA bei der Mehrheit der evangelikal kämpferischen Christen vor allem der Kampf ums ungeborene Leben.
Mauern und Stacheldraht trennen Nord – und Südkorea. In dem völlig vergessenen Land Westsahara errichtete Marokko einen 2.500 Kilometer langen Sandwall mit Minenfeldern, um die Aktivitäten der Befreiungsbewegung zusammen mit Algerien einzuschränken. Auf den Golanhöhen gibt es einen Stacheldraht Zaun usw…In Rio de Janeiro trennen Mauern die Slums von der Welt der Reichen, in vielen südamerikanischen Städten haben sich die Reichen aus Angst in ihren Villen – Gettos eingemauert usw… Mauern allerorten, und es werden immer mehr.
Einem Freund verdanken wir den Hinweis, dass der älteste Mauer – Staat die Vatikanstadt ist. Die Päpste und ihre Mitarbeiter wohnen und arbeiten seit Jahrhunderten eingemauert. Auch heute wird der Papst beschützt von einer 3.420 Meter langen Festungsmauer, sie umgibt den ganzen Papststaat und wirkt wie eine Art Wall gegen die säkularisierte Welt. An einer Stelle ist die Vatikanmauer fast 20 Meter hoch, das sind etwa 6 Etagen eines Hochhauses, selbst Schießscharten sind noch zu erkennen.
Die erste Vatikan Mauer wurde von Papst Leo IV. (er regierte von 847 – 855) errichtet, die so genannte Leoninische Mauer. Der Vatikan ist also der älteste Mauer Staat der Welt. Erich Honnecker wurde ja noch die Ehre zuteil, am 24. April 1985 von Papst Johannes Paul II. empfangen worden zu sein, ob die beiden sich über Mauererfahrungen austauschten, ist allerdings nicht bekannt.
Zurück zur Mauergründungszeit: Trotz dieser Schutzmaßnahme schon zu Zeiten Leo IV. muss sich der “Feind” von Innen eingeschlichen haben. Denn Leos Nachfolger soll, so berichten bereits im Mittelalter einige Legenden, eine Frau, die Päpstin Johanna, gewesen sein. Wie dem auch sei: In jedem Fall bildete sich schon sehr früh bei den Päpsten eine Mentalität heraus, die der große Historiker Jean Delumeau mit der cité assiégée, der belagerten Stadt, beschrieb. Die römische Kirchenführung fühlte sich von Feinden, politischen wie religiösen, umlagert, da konnten nur starke Mauern, reale und geistige, die Macht stützen. Später musste die reale Vatikan Mauer weiter befestigt, Teile wurden abgerissen, Antonio de Sangallo d.J. entwarf einen Festungsplan, der Journalist Alexander Smoltczyk nennt ihn in seinem Buch „Vatikanistan“ den „Albert Speer von Paul Paul III. (S. 18). Später gestaltete Michelangelo Buonarotti den Festungswall zu einer eher prachtvollen Mauer um. Der letzte Teil der Mauer wurde übrigens erst nach dem Konkordat Papsz Pius XI. mit Mussolini 1929 fertig gestellt.
Der Eintritt in die Mauerstadt ist nicht ganz leicht: Heute gibt es 16 Türen innerhalb der Mauer, die den Staat des Papst umschließen. „Es gibt vier, fünf Schlupflöcher, durch die auch der an sich Unbefugte diese civitas Dei betreten kann“, schreibt Alexander Smlotczyk (S. 22).
Der Vatikan: Ein Mauer – Staat, er prägt wohl auch das Denken der Menschen dort, selbst wenn sie heute ständig ins benachbarte Ausland, ins italienische Rom, sich zurückziehen können. Eine Mentalitätsstudie über den Zusammenhang von Vatikan – Mauern und Theologie muss erst noch geschrieben werden, Jean Delumeau bietet erste Ansätze etwa in seinem Buch „Angst im Abendland“. Mauern und Angst wäre für ihn sicher ein Kapitel einer Studie „Der Vatikan als päpstlicher Mauerstaat“.
Interessant finden wir die Hinweise des Theologen Fabian Conrad, Steyler Missionar in St. Wendel (Saarland) und Missionssekretär seines Ordens, er sagte am 9.8.2011 in einem Interview mit einem Pressedienst seines Ordens anlässlich des Gedenkens an den Berliner Mauerbau:
„Wenn ich beispielsweise unsere katholische Kirche sehe: Wir haben ja auch Mauern um uns rum aufgebaut. Wir wären sicherlich näher an den Menschen dran, wenn wir diese Mauern nicht hätten.
Frage: Welche wären das?
Zum Beispiel Richtlinien, die im Kirchenrecht verankert sind, dass wir bestimmte Gruppen von Menschen von Sakramenten ausschließen. Beispielsweise diejenigen, die nach einer zivilen Scheidung wieder geheiratet haben. Das sind auch Mauern. Und genau da muss man sich den Psalmbeter wieder vor Augen führen, der sagt: „Mit meinem Gott spring ich über Mauern.“… Wir müssen uns als Kirchenvertreter hinterfragen. Die Dinge, die uns lieb geworden sind, halten vielleicht auch viele Menschen von uns ab. Ich denke da an unsere Liturgien. Die sind für viele ältere Menschen etwas Gewohntes, ja sogar Liebgewordenes. Bei vielen jungen Menschen ist das sicherlich oft anders. Teilweise ist die Liturgie, wie wir sie heute feiern, vielen Menschen völlig unverständlich. Dadurch entsteht eine Barriere. Wir Steyler Missionare können andere Wege gehen. Natürlich immer in dem Rahmen, der uns vorgegeben ist, wo wir wieder bei den Mauern wären, aber da sollte man vielleicht etwas mehr Mut aufbringen, die eine oder andere Mauern zu den Menschen zu überspringen“.

Copyright: Christian Modehn

In den Händen der Leute. Wie sich der Katholizismus in Mexiko “modernisiert”

Im religionsphilosophischen Salon wollen wir immer auch die Realität der Religionen weltweit wahrnehmen, die internen Fragen und Probleme, Entwicklungen und Aufbrüche studieren und kritisch bewerten.
Unser Korrespondent in Mexiko – Stadt, der Theologe Alfons Vietmeier, weist in seinem neuen Beitrag auf ein Thema hin, das etliche Beobachter der religiösen Szene in Deutschland interessieren kann; vor allem angesichts der Umstrukturierungen des Katholizismus, bedingt durch den Mangel an Priestern.

In den Händen der Leute
Über die Veränderungen von Glauben und Gemeinden in Mexiko
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, August 2011

In diesen Wochen bin ich zu verschiedenen Begegnungen und Vorträgen in Deutschland und stelle mit Freuden fest, dass endlich (!) hier die Bereitschaft wächst, auch vom lateinamerikanischen Kirchenalltag zu lernen. In der deutschen Mentalität ist (teilweise immer noch) tief internalisiert: Wir haben ´s und verschicken es dann! So wurden im kirchlichen Bereich jahrzehntelang exportiert: deutsche Ordensschwestern und Priester (das ist jedoch schon seit Jahren ausgelaufen), deutsche Philosophie und Theologie ( in mexikanischen Priesterseminaren schwitzen die Studenten über Kant, Hegel, Rahner usw.; studieren aber nicht die eigene Indio – Philosophie und Indio – Theologie; diese Materien gibt es fast noch nicht) und deutsche Technologie als Entwicklungshilfe. Ist das nicht Neo-Kolonialisierung?, so fragte provozierend schon vor 40 Jahren der Theologe und Kulturkritiker Ivan Illich im mexikanischen Cuernavaca.
Den in Deutschland überall spürbare große Kirchenfrust bekomme ich sehr deutlich mitgeteilt. Ich empfinde ihn jedoch auch als Chance, sich zu öffnen für das. was schon seit vielen Jahren in Lateinamerika anders und ermutigend praktiziert wird, vor allem in der christlich – kirchlichen Selbstorganisation. Ich mache das fest an den derzeitigen Strukturreformen vor Ort. Leider gibt es diese Strukturreformen nicht auf anderen Ebenen und nicht, z.B. in der dringend zu überwindenden Klerusfixierung. Die Gründungen neuer Großpfarreien haben Konfusionen, Irritationen und Verletzungen mit sich gebracht. So wird nachgehakt: Jetzt haben wir neue Strukturen: Und was dann? Aber: Wie macht Ihr das in Mexiko konkret? Können wir davon etwas lernen, bei uns anwenden?
Großpfarreien sind seit Jahrzehnten die typische Form einer Pfarrei in Mexiko. Denn im Vergleich zu Deutschland gab schon immer viel weniger Priester und damit auch größere Pfarreien. Denn nur Priester dürfen nach dem Kirchenrecht Pfarreien leiten. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum. Insofern haben die Pfarreien an Mitgliedern zugenommen, ohne dass entsprechend die Priesterzahl gewachsen ist. Ein typisches mexikanisches Bistum mit heute etwa einer Million Katholiken hat zwischen 50 bis 70 Priester. Die in der realen Pastoralarbeit vor Ort Eingespannten, einschließlich Generalvikar, Pastoralvikar, usw. sind alle Pfarrer in Pfarreien mit 20 – 30 Tausend oder noch mehr Katholiken.
Sicher gilt es, historisch gewachsene unterschiedliche Rahmenbedingen wahrzunehmen und nicht naiv Übertragungen vorzuschlagen. Auf deutschem Boden wachsen halt andere Bäume mit anderen Früchten. Unterschiedlich sind vor allem:
Die materielle Basis: Eine immer schon finanziell und personell (im Sinne der Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter) arme Kirche ist zugleich freier, kreative Veränderungen voranzubringen als eine reiche deutsche Diözese mit hunderten Hauptamtlichen im Generalvikariat und mit vielen Pfarreien, die oft zugleich die größten Anstellungsträger vor Ort sind.
Die Volksreligiösität und Selbstorganisation: Immer schon wenig Priester beinhaltet auch, dass die Leute es gelernt haben, selbst ihr Christ Sein zu leben und zu pflegen und die notwendigen kirchlichen Dienste vor Ort, d.h. in ihrer Kleingemeinde, soweit wie eben möglich selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Laie als Zelebrant oder Zelebrantin (so werden sie genannt) den Sonntagsgottesdienst (in Abwesenheit eines Priesters; das kommt sehr oft vor) oder die Beerdigungsfeier leitet. Dem steht kirchenrechtlich nichts im Weg und das allgemeine Priestertum hat so Hand und Fuß.
Kulturell verschiedener Umgang mit Ordnung und Normen: Aus vitaler Notwendigkeit heraus haben die Menschen gelernt, so weit wie möglich das Notwendige selbst zu regeln: Normen müssen dem Leben dienen und damit auch die kirchlichen Ordnungssysteme mit ihren Regeln: Was nicht verboten ist, ist zuerst einmal erlaubt, und was nicht so anwendbar ist vor Ort, wird mit natürlicher Freiheit gestaltet.
40 Jahre lateinamerikanischer Weg der Pfarreierneuerung: Die Bischofsversammlung von Medellin (Kolumbien, 1968) hat in Anwendung der Konzilsbeschlüsse für die ganze lateinamerikanische Kirche klare Orientierungen erarbeitet. Als Schlaglichter erwähne ich: Option für die Armen und für eine integrale Evangelisierung und deshalb die Option für Basisgemeinden, Laienmitarbeit und eine kreative Vielfalt von Diensten. Wenn auch über konfliktreiche Etappen hinweg, die letzte Bischofsversammlung in Aparecida (Brasilien, 2007) hat erneut und eindringlich unterstrichen: Weg von einer bewahrenden und hin zu einer missionarischen Pfarreipastoral; und „missionarisch Sein“ ist Aufgabe aller Getauften. Deshalb geht es nicht anders: Kirche in den Händen der Leute! Das benötigt vor allem eine ganz eigene Spiritualität christlicher Verantwortung, benötigt aber auch Leitbilder, Pastoraloptionen und – das ist der sensible Punkt – Pfarrer / Pastoralteams, die nicht Alles bestimmen wollen, sondern die loslassen und zulassen, die ermutigen und begleiten. Hierarchie ist nicht Monarchie; „wer der Erste sein will, soll der Diener Aller sein“, sagte schon Jesus.
Was so schon seit langem Praxis ist, nicht nur Folge von Priestermangel: Wir haben uns daran gewöhnt, von drei Kirchenebenen auszugehen: Weltkirche (Vatikan), Ortskirche (Diözese) und Pfarrei (Basiskirche). In den ersten drei Jahrhunderten des Beginns der Kirche war das nicht so. Die Basis bestand vielmehr aus einer Vielzahl von Hauskirchen / Kleingemeinden, dann gab es die Vernetzung dieser Basis auf Stadtebene und schließlich die universelle Kirche.
Das entscheidend Christlich – Kirchliche findet vor Ort statt, nicht als Kleinfamilie, sondern als Basisgemeinde. Sie kann territorial (Wohnviertel) sein oder auch ausdifferenzierter je nach Milieus und Lebenswelten. Entscheidend ist: das reale Leben mit Ängsten und Hoffnungen wird geteilt (Koinonie) und solidarisch verteilt (Diakonie), das „neue Leben in Christus“ wird bedacht und vertieft (Katechese) und dann gefeiert in vielfältigen Formen (Liturgie). In der Wichtigkeit steht nicht an erster Stelle „sie gingen zum Tempel“, sondern das Miteinander als Hauskirche – Kleingemeinde (vgl. die Berichte der Apostelgeschichte). Genau dies macht sie attraktiv. Es ist die Zeit gekommen, in den komplexen heutigen Umbrüchen („Epochenwechsel“ nennt es Aparecida) sich von dieser frühkirchlichen Praxis inspirieren zu lassen.
Das beinhaltet unter anderem die internalisierte Vorstellung zu überwinden, das “Pfarrei” gleich “Gemeinde” ist. Eine Pfarrei, der formal Tausende von Katholiken angehören, kann nicht direkt diese “Koinonie“ zwischen Allen leben und deshalb nicht wirklich „Gemeinde“ sein. Sie kann bestenfalls eine Gemeinschaft von vielen Gemeinden sein, von Gemeinschaften, Basisgruppen, Solidarkreisen, „Christseinsbiotopen“, ein möglicher neuer Begriff?
Es ist deshalb heutzutage auch notwendig, die historische Fixierung auf das vom Johannes Evangelium geprägte Pastoralmodell (Hirt und Herde:, der Pastor, der alle bei Namen kennt und dem Verlorenen nachgeht! Wie ist das möglich bei 20 Tausend?) zu überwinden. Wir haben doch vier Evangelien! Es gilt, den Übergang zu gestalten zu einem vom Apostel Paulus geprägten Evangelisierungsmodell: viele kleine Gemeinden (Christus –und nicht der Pfarrer- ist das Haupt und alle sind Glieder) mit unterschiedlichen Diensten und Ämtern.
Der Theologe José Comblin (Brasilien) drückte das so aus: „Wir müssen die Kirche in einer Stadt uns vorstellen wie ein Archipel mit vielen kleinen Inseln, d.h. Gemeinden, wo bei hohem Wellenschlag die Boote anlegen können“. Bei einem Workshop stellte ein ehrenamtlicher Gemeindeleiter seine Pfarrei wie folgt vor: „Wir verstehen uns wie einen großen Obstgarten. Jeder Gemeinde ist ein eigener Baum mit Ästen und den Früchten je nach Baumart; und es gibt Große und Kleine, Junge und Alte, Krumme und gerade Gewachsene. Alle zusammen sind wir unsere Pfarrei. Ein solcher Obstgarten muss natürlich kultiviert werden; da machen wir alle mit. Unser Pfarrer hilft auch mit, gibt Ratschläge, schult uns, erarbeitet mit uns zusammen den Jahresplan und steht uns zur Verfügung in Sorgen und Freuden.“
Genau diese Erfahrungen in Großpfarreien, die „mehr Christ sein und Kirche sein in den Händen der Gläubigen“ ermöglichen, können für die derzeitigen Bemühungen um Pastoralerneuerung in den neuen deutschen Großpfarreien zumindest inspirierend sein. in Mexiko geht es darum, dass die vielen kleinen Gemeinden den Menschen in der Stadt oder auf dem Land helfen, miteinander das Leben zu gestalten, Auswege aus der Gewalt zu suchen, Hilfsbereitschaft zu fördern, politisch sensibel zu werden. Denn für uns sind diese vielen kleinen Gemeinden kein Selbstzweck! Es geht ja nicht primär um die Kirche, nichr nur um Gottesdienste im engeren Sinne, schon gar nicht um den Ausbau der Macht der Kirche. Es geht einzig darum, in diesen Gemeinschaften den Menschen zu dienen und Schritte zu einer größeren Gerechtigkeit zu finden, die natürlich auch politisch Ausdruck finden muss.