Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Was heißt „philosophisch fasten“? Die 12. „der unerhörten Fragen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4.3.2023.

Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
Hat Philosophie zum Fasten und zur „Fastenzeit“ etwas Konstruktives, Weiterführendes, Kritisches beizutragen?
Wenn man Philosophien als Interpretationen des geistvollen Lebens versteht: Dann ist das gar keine Frage. Nur: Diese Frage wurde bisher kaum gestellt, kaum gehört, bleibt unerhört.
2.
Schon im Blick auf die neuzeitliche Geschichte des Philosophierens zeigt sich: Mit dem Fasten haben sich Philosophen, etwa Kant und Nietzsche, immerhin, mit knappen Aussagen, beschäftigt. Sie haben dabei Fasten im engeren Sinne, der kirchlichen Tradition folgend, als Verzicht auf üppige (fleischliche) Nahrung verstanden. Nietzsche wetterte in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) gegen das Fasten als eine Form des „Pharisäismus“, und er kritisierte die Bereitschaft der Fastenden, sich selbst Leiden und Schmerzen (durch Hungern) anzutun. Und Kant sah im katholisch geprägten Fasten nichts als eine „Mönchs-Asketik“, die „mit abergläubischer Furcht vor Gott verbunden ist“ (so in der „Metaphysik der Sitten“, 1797).
Kant nennt eher beiläufig das entscheidende aktuelle Stichwort, auf das wir uns – nach einleitenden Überlegungen – konzentrieren: Kant sprach von „Askese“, d.h. von „geistiger und körperlicher Übung“, im Lateinischen „Exercitium“ genannt, dies sind die zentralen Leitbegriffe griechischer und römischer Philosophen der Antike in ihrer Suche nach „Lebenskunst“.
3.
Heute gilt Fasten jenseits religiöser, spiritueller und philosophischer Traditionen als ein gesundheitlicher, auch medizinischer Wert. Fastenzeit im „säkularen Sinn“ ist dann nicht mehr als eine besondere (finanziell oft teure) Phase in der üblichen Pflege des eigenen Wohlbefindens, der eigenen guten Figur.
4.
Gelegentliches Fasten (in „Fastenzeiten“ oder Fastenkuren gegen das Übergewicht etc.) hat in der reichen Welt sozusagen dialektisch viel mit andauerndem „Fasten“ als dem ständigen Hungern (oft auch Verhungern) von Millionen Menschen im armen Süden dieser Welt zu tun. Sie müssen „fasten“ aufgrund des ungerechten Weltwirtschaftssystems. Wenn das so ist, dann hat das von unserer Ökonomie erzwungene Dauer-Fasten der Armen viel mit „Fasten“ der (häufig übergewichtigen) Reichen in den „Wachstumsgesellschaften“ zu tun. Beide Arten zu fasten sind zwei Gesichter der herrschenden neoliberalen „(Un)-Ordnung“ und ihres Dogmas des „ständigen Wachstums“.
Ein historischer Hinweis: Im Mittelalter fasteten die ohnehin stets gut versorgten Mönche und Nonnen, sie verzichteten auf Fleisch, aßen viel Fisch und tranken starkes Bier. Sie blieben also gut versorgt und … beleibt. Die arme Bevölkerung, die Frommen, die für das Kloster arbeiteten, fasteten das ganze Jahr über…
Aber es gibt heute bei vielen Menschen im „reichen Norden“ doch ein Unbehagen an dieser Situation der ungerechten Verteilung der Güter. Sie entdecken darum ihr Fasten auch als geistigen Prozess, als Suche nach dem eigenen, dem wahren Leben inmitten eines falschen, d.h. ungerechten Lebens.
5.
Und damit sind wir beim philosophischen Thema: Gibt es ein besonderes Fasten, das als kritisches Nachdenken gestaltet wird? Das also ein „Denk-Fasten“ ist, natürlich nicht als Verzicht aufs Denken, sondern gerade als neue Einübung des eigenen Denkens. Ein Fasten also, das als kritische Selbstbesinnung geschieht. Ein Fasten, in dem das Gewissen geprüft wird, und Nachdenkliche über das richtige Leben sprechen.
6.
Was heißt das? Wer in dieser Weise philosophisch fastet, versucht konkret, seine Gedanken, seine Werte, seine Ideologien, seine Urteile und Vorurteile selbstkritisch zu betrachten, Abstand von den eigenen Denk-Üblichkeiten zu nehmen, in Distanz zu sich selbst zu treten. Das eigene kritische Denken soll in der Lage versetzt werden, die eingefahrenen Denk-Üblichkeiten bzw. Denkzwänge zu erkennen … und zu korrigieren und zu überwinden.
Voraussetzung dafür ist, dass das Leiden an den bisherigen eigenen Denk-Gewohnheiten und das sind Lebens-Gewohnheiten, so groß ist, dass dass Verlangen nach einem authentischen humanen Leben nicht mehr unterdrückt werden kann. Das falsche Leben zeigt sich als solches etwa bei kritischer Achtsamkeit auf tiefsitzende „Sprüche“, wie: „Es hat ja alles kein Sinn“, „Es gibt sowieso keine Wahrheit“, „Alles ist relativ“, „Die Politiker lügen nur“, „DIE XY …Leute sind alle blöd“, „ich bin zu alt, um das noch zu machen“, „ich kann die Welt doch nicht verbessern“ usw.
7.
Wer philosophisch fastet, will also nicht länger hinnehmen, in seinem Geist von vielen sich widersprechenden Ideen, eigentlich leeren Sprüchen, Slogans, Dogmen, bestimmt zu sein. Philosophisch fasten bedeutet sozusagen ein Aufräumen im eigenen Geist, Befreiung von Schrott-Gedanken, philosophisch fasten bedeutet den Versuch, Wichtiges von Unwichtigem, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und dann auch zu trennen. Dabei entsteht die Frage: Was sind denn die Kriterien, um meinen Gedankenschrott als solchen zu erkennen, um danach zu einem befreiten, humaneren, gerechteren, ökologisch hilfreichen Lebens kommen? Können als Kriterien nur „meine“ subjektiven, nur mir guttuenden Werte gelten? Ich bin immer eil der einen Menschheit, also an allgemeine, für mich und für alle anderen geltenden Menschenrechte und Menschenpflichten gebunden. Da sind die Kriterien zu suchen.
8.
Philosophisch fasten ist ein Projekt für mein ganzes Leben, ein Projekt, das nie an ein Ende kommt. Philosophie, wörtlich übersetzt, ist Liebe zur Weisheit, und Liebe gelangt nie an ein Ende. „Die Liebe hört niemals auf“, heißt es im Weisheitsbuch „Die Bibel“, diese Erkenntnis gilt auch für die Liebe zur Weisheit, zur Philosophie. Und Liebe ist nie vollendet. Menschliches Leben, das allen Werten oder gar Idealen entsprechend irgendwann einmal perfekt und makellos dastehen will, lässt sich nicht verwirklichen. Dieser Wunsch hätte etwas Zwanghaftes.
9.
Nicht nur der innere, der Dialog mit sich selbst, auch der Dialog mit anderen gehört zum philosophischen Fasten. Man könnte auch an „philosophische Gemeinschaften“ oder „Gemeinden“ denken, die nicht Diskutierclubs der Rechthabenden sein sollten, sondern Gruppen, in denen die TeilnehmerInnen miteinander geduldig den Weg der Befreiung von belastenden Denk-Zwängen, Ideologien etc. zu gehen bereit sind. Philosophen hatten in der griechischen Antike meist ihre eigenen Schulen, d.h. Orte, Häuser, gemeinsamen Lebens. Auch die Kirche verstand sich im 2. Jahrhundert als eine „Philosophie“, als eine unter vielen philosophischen Schulen. Die Kirche hat später, zur Staatskirche geworden, die anderen philosophischen Schulen verdrängt und die so eingeschränkte Philosophie zur „Dienerin der Theologie“ degradiert. Es wäre an der Zeit, Philosophie wieder als „Schule des Lebens“ zu entdecken und zu verwirklichen. Zum Thema “Kirche als ohilosophische Schule”: LINK
10.
Die philosophische Fastenzeit kennt keine zeitliche Begrenzung etwa auf 40 Tage, wie in den Kirchen. Philosophische Fastenzeit ist immer möglich und nötig. Auch wenn sie, wie oben beschrieben, eine Zeit des Verzichts ist, des Loslassens, des Nein zu bisherigen Üblichkeiten ist: So ist Gelassenheit, ist Zuversicht, als Stimmung entscheidend. Man soll jedenfalls nicht „sauer aussehen“, wie der fastende Weisheitslehrer Jesus von Nazareth seine Jünger belehrte. Man muss diese Worte Jesu nur aktuell übersetzen. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinschauen wie die Heuchler, denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten“, sagte Jesus (Matth. 6, 16 „nach der Luther-Übersetzung“). Jesus, der Weisheitslehrer, empfiehlt hingegen: „Salbe (beim Fasten) dein Haupt und wasche dein Gesicht“ (Vers 17). Also das heißt: „Mach dich schön, für dich und andere, freu dich deines Lebens gerade im (leiblichen) Fasten und natürlich auch beim philosophischen Fasten. In diesen Kriegs-Zeiten ist diese Aufforderung wahrlich eine Provokation…
11.
Das philosophische Fasten sollte von einer zuversichtlichen, fröhlichen Stimmung beherrscht sein. Bestimmt von der Freude darüber, dass ich, dass wir, unseren geistigen Schrott selber ausmisten können, wegwerfen können all diese dummen Ideologien und Verschwörungstheorien, alle diese Sprüche der Boulevardpresse, die nur gezielt verblöden wollen, um uns unmündig zu halten. Alle diese katholischen Dogmenberge gilt es zu beseitigen und den autoritären Wahrheits-Wahn, in tausend Büchern über das Kirchenrecht mitgeteilt von klerikalen Wächtern und oft pädo-sexuellen Tätern…
Es gilt also, die von der Vernunft gesteuerten Entrümpelungen, Befreiungen des eigenen Geistes als Fest zu feiern, froh darüber, dass wir mit unserem kritischen Geist in der Lage sind, uns selbst vom Übel, d.h. vom Gedankenschrott, zu befreien und unser kurzes Leben sinnvoller zu gestalten
12.
Der Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hat sich selbst, als er (klassisch, also hungernd) fastete, zurückgezogen in die Wüste. Auch ein interessantes Bild, das die Bibel mitteilt.
Übersetzen wir diesen seinen zeitlich begrenzten Ausstieg aus der Welt des Alltags ins philosophische Fasten: Wer wieder selbstkritisch denken will: Der oder die ziehe sich regelmäßig zurück aus dem Trubel des Alltäglichen, lerne in der Stille und Einsamkeit wieder selber zu denken, habe den Mut seine eigenen Gedanken ernst zu nehmen. Und das kann man und muss man üben …in der eigenen „Kammer”, die jeder für sich – wenigstens als geistiges Refugium – errichten sollte.
13.
Es muss zum Schluss – leider viel zu kurz – noch einmal auf griechische und römische Philosophen hingewiesen werden. Ihnen verdanken wir die bis heute gültigen Begriffe Askese (Übung, Verzicht, auch als Fasten) und Exerzitien (geistliche, geistige Übungen, oft in eins mit leiblichem Fasten).
Die Wieder-Entdeckung dieser ständigen Dimension griechischer und römischer Philosophie der Antike und Spätantike, vor allem der Stoa, des Platonismus und Epikurs, verdanken wir dem großen französischen Philosophen Pierre Hadot. Andere, wie Michel Foucault haben von ihm enorm profitiert. Foucault etwa in seinen Studien über die „Sorge um sich selbst“ oder auch der deutsche philosophische Schriftsteller Wilhelm Schmid mit seinen zahlreichen Publikationen zur Lebenskunst.
14.
Welche Impulse können wir von Pierre Hadot mitnehmen auf der Suche nach den Möglichkeiten philosophischen Fastens? Leider sind nur wenige Werke Hadots ins Deutsche übersetzt, halten wir uns an sein Buch „Philosophie als Lebenskunst“ (Fischer Taschenbuch Verlag, 2002, für viel Geld ist dieses wichtige Buch noch antiquarisch zu haben, eine Schande, dass es keine Neuauflage des Verlages gibt).Zu Hadot:  LINK
Hadot legt wert darauf, dass philosophisches Fasten als Askese nur möglich ist, mit einer geistigen, einer spirituellen (aber nicht religiösen, nicht konfessionellen) Praxis. Askese ist eine „Arbeit des Ichs“ (S. 180), die ihre alltägliche Übung in der „Gewissenserforschung“ findet, eine Übung, die von Philosophen empfohlen wurde, gerade als Befreiung, wie wir sagten, von Schott der uns eingebläuten ideologischen Sprüche etc.
Zur philosophischen Übung im philosophischen Fasten gehört für Hadot auch die Vertiefung in zentrale philosophische Erkenntnisse und Weisheiten, also die Lektüre, des Bedenken der Texte, lernbereit, aber auch kritisch.
Noch wertvoller ist das Buch Hadots „La Philosophie comme manière de vivre“, (Albin Michel, Paris, 2001, auch als „Livre de poche“). „Die Philosophie als Art zu leben“, liegt leider nur in französischer Sprache vor. Darin zeigt Hadot ausführlich, dass der auch in katholischen Kirchenkreisen bekannte Begriff der „geistlichen Exerzitien“ (ein Begriff, der durch Ignatius von Loyola katholische Bedeutung bekam) seinen Ursprung hat in der antiken Philosophie. Pierre Hadot verweist auf entsprechende Studien von Paul Rabbow, der zeigt. „Das Wort Exerzitien war nicht religiös geprägt, es hat einen philosophischen Ursprung.“ (S. 152).
15.
Philosophie könnte durch die Praxis „philosophischen Fastens“ wieder für weite Kreise relevant werden. Philosophie wird dann aus den Seminaren der Universitäten befreit, sie ist kein Sonderthema für Spezialisten, sondern wird Ausdruck der Suche der Menschen nach einem guten (d.h immer auch gerechten) Leben.
16.
Wir leben in Kriegszeiten. Sehr viele Menschen in den meisten Ländern sind auf unterschiedliche Art betroffen von dem durchaus „total“ zu nennenden Angriffskrieg des Diktators Putin gegen die Ukraine. Total ist dieser Krieg, weil er die die meisten humanen Grundlagen von Sicherheit, Ökonomie, Ernährung, Solidarität usw. weltweit verwirrt, stört und zerstört. Weil dieser Krieg Putin mit einer kalten, verbrecherischen Selbstverständlichkeit viele tausend Tote in der Ukraine wie auch in Russland in Kauf nimmt. Das heißt ja nicht, dass Putin der einzige Politiker im 20./21. Jahrhundert ist, den man als Verbrecher bezeichnen muss.
17.
Bundeskanzler Scholz hat gleich nach Kriegsbeginn diese Erfahrung einer neuen Situation in Zeiten des totalen Krieges auf den Begriff gebracht: Es ist die „Zeitenwende“.
Ein Wort, das dazu auffordert, philosophisch etwas ausführlicher bedacht zu werden. „Zeiten-Wende“ meint: Umbruch der Lebensverhältnisse, Umbruch der Strukturen dieser Welt und der Gesellschaften, Wende der Zeiten als Epochenwende. Das will sagen: Nichts bleibt so, wie es einmal war. Die bisherigen Koordinaten wurden verändert. Die in der westlichen Welt vertraute Zeit, also unsere Epoche, hat sich „gewendet“ und wurde nach der Wende beendet.
18.
Aber es ist nicht nur eine philosophische Liebe zu Nuancen, wenn man genauer fragt: Was heißt denn „wenden“: Wenden bedeutet auch: Ich wende eine Seite eines Buches, nach vorn oder nach hinten. Wenden heißt auch Umdrehen, Herumdrehen, Weiterdrehen. „Tourner“ heißt das vieles Bedeutende französische Verb.
Aber auch das Rückwärts-Gewandte (Gewendete) ist mit „Wende“ immer mit-gemeint: Ich wende mich um, blicke in die Vergangenheit, ich stehe aber in der Gegenwart im Blick auf die erinnerte, ferne Vergangenheit. Mit ihr muss ich mich auseinandersetzen, und fragen, was ist alles falsch gelaufen, dass es zu dieser globalen Wende kommen konnte? Die „aktuelle Bewältigung“ der Wende darf den kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit nicht blockieren…
19.
In Deutschland hat sich das Wort „Wende“ seit dem Ende der DDR 1989 sozusagen „eingebürgert“. Bekanntlich wurde der Beitritt der DDR und der DDR Bürger zur BRD als Wende bezeichnet. Die DDR „wendete“ sich, d.h. sie wandte sich der BRD zu, auch auf Druck der BRD. Die DDR wurde in dieser Wendung Teil der BRD, was manche DDR Bürger als Übernahme, wenn nicht „Einverleibung der BRD durch die DDR“ erlebten und deuteten.
Manche hätten lieber von Umbruch gesprochen, einige sogar von Revolution als der Vertreibung der DDR- Herrscher durch das Volk. Aber letztlich meinen viele doch, wenn sie von der Wende 1989 sprechen, ein positives Ereignis. Die DDR Diktatur wünscht sich fast niemand zurück.
Hat das Wort Wende in der „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz eine positive Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Europa und die wenigen verbliebenen Demokratien stehen einem Block von autoritären Regimen gegenüber. Und die Religionen? Sind sie in dieser Epochenwende hilfreich? Sie zeigen ihre ganz spirituelle Schwäche, sie sind nicht in der Lage, sich religiös nennende Menschen wirklich zu einem humanen und vernünftigen Verhalten anzustiften. Die katholische Kirche ist nur mit Eigenem, Strukturellen, Kirchenrechtlichen befasst. Katastrophal ist die Situation der russisch-orthodoxen Kirche. Sie wird von dem
Kriegstreiber und Putin Freund Patriarch Kyrill von Moskau beherrscht. Er fordert in seinem nationalistischen – religiös – reaktionären Wahn das todbringende Opfer der russischen Soldaten in diesem Krieg.Und man muss sich fragen und sollte diese Frage bald vertiefen: Was hat dieser Theologe und sich Christ nennende Patriarch Kyrill eigentlich in all den Jahren vom christlichen Glauben gelernt, als er im „Ökumenischen Weltrat oder Kirchen“ (ÖRK) in Genf ein und ausging als „angesehenes Mitglied“ dieser Vereinigung. Man möchte antworten: Gar nichts hat er in den vielen, so oft hoch gepriesenen Dialogen und Konferenzen in Genf und anderswo gelernt. Und muss dann weiterfragen: Welchen Sinn haben dann eigentlich diese theologischen Debatten auf hohem Niveau, etwa in Genf?
20.
Was bleibt als vorläufige Erkenntnis: So sehr sich auch das Wort Zeitenwende einzubürgern scheint: Dieses viel zitierte Scholz-Wort vom 27.2.2022 trifft die reale Situation der Welt jetzt (4.3.2023) nicht mehr: Man sollte eher von Umsturz der bisherigen Welt-Ordnung sprechen, von Epochen-Umbruch, von Umwälzung, Umsturz, von radikalem Einschnitt. Aber diese Worte sind nicht so griffig, nicht so gefällig und zugänglich wie „Zeiten-Wende“.
„Zeitenwende“ klingt da eher neutral und wirkt so noch etwas beruhigend. Zurecht?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

„Kriege enden immer“: Wie trivial dürfen Aussagen von WissenschaftlerInnen sein?

Die 11. Unerhörte Frage
Ein Hinweis von Christian Modehn   Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Diese These hört und liest man jetzt oft: „Kriege enden immer“. So auch jetzt, von der Soziologin Eva Illouz (Jerusalem und Paris) in DIE ZEIT vom 16. 2. 2023, auf Seite 46. Sie schreibt diesen Satz ganz an den Anfang ihres auch sonst verstörenden Beitrags.

Die „unerhörte Frage“ also heißt: Enden Kriege immer?
Die Antwort, kurz und knapp: Nein. Kriege enden nie. „Nach dem Krieg ist immer vor dem Krieg“, heißt ein populäres, aber realistisches und treffendes Sprichwort. Oder auch das Wort ist gültig: „Wir leben immer in Zwischenkriegszeiten“.

2.

Einige Hinweise zum Hintergrund dieser 11. „unerhörten Frage“:
Die „Erkenntnis“ ist trivial, dass bestimmte Kriege, zu bestimmten Zeiten von bestimmten Kriegsparteien begonnen und über eine bestimmte Zeit im blutigen Schlachtengetümmel ausgetragen… einmal enden. Der 30-Jährige Krieg endete 1648, und der 1. Weltkrieg 1918 und der 2. Weltkrieg endete 1945…

Aber was soll der Satz: „Kriege enden immer“ in dieser Unbestimmtheit? Soll er die LeserInnen beruhigen? Und welche LeserInnen, und in welchen Staaten? Etwa die jetzigen Opfer des Krieges Russlands gegen die Ukraine trösten?

„Endeten“ denn mit einem so genannten Friedensschluss die bisherigen Kriege wirklich und wirksam zugunsten eines bleibenden Friedens? Was passierte zum Beispiel nach dem Versailler Friedensvertrag? Die Nazis nutzten gewisse Belastungen des Friedensvertrages aus und begannen mit Zustimmung des deutschen Volkes in kriegerischem und antisemitischem Wahn einen neuen Krieg, einen Weltkrieg.
Und was passierte in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg in Europa? Es gab z.B. Kriege auf dem Balkan, die bis heute eigentlich nicht „beendet“ sind. Oder man denke an den „Kalten Krieg“. Dessen Auswirkungen, mindestens auf die Mentalitäten in Ost und West, sind bis heute wirksam. Von den Kriegen, die von den USA, nach 1945, etlichen fernen Ländern erklärt wurden, ganz zu schweigen. Man müsste auch von Russland und seinen Kriegen in Tschetschenien ( seit 1994 bis 2009) sprechen…Sind die Tschetschenen jetzt friedlich?

3.

Es ist historisch evident: Friedensschlüsse beenden Kriege immer nur kurzfristig. Die Kriegsbereitschaft ist in nationalistischen und ideologisch verwirrten (!) Nationen nicht „tot zu kriegen“, so dass es immer wieder zu Mord und Totschlag größten Ausmaßes kommt.

Darum ist es unerfindlich, wie die Soziologin wie Prof Eva Illouz diese triviale These verkünden kann: „Kriege enden immer“. Eine sinnvolle, weiterführende These müsste lauten: „Frieden gibt es z.B. nur durch eine universale Friedenserziehung, sie muss Pflichtfach in allen Schulen aller Länder werden“. Friedenserziehung muss also in den Zeiten zwischen den Kriegen wirksam werden und aus Kriegstreibern langfristig Friedensfreunde machen. Und aus Nationalisten Weltbürger. Ein Ziel, das in die fernere Zukunft weist? Gewiss, aber es ist ein Ziel, das sich die humane Menschheit vornehmen muss, wenn sie Menschenrechte und Menschenwürde nicht als Floskeln versteht.

Wenn man in dem Zusammenhang das Wort Pazifismus noch verwenden will: Pazifismus hat nur Sinn als vorbereitende Verhinderung von Kriegen. Sind Kriege erst einmal Realität, kommt aller Pazifismus (oder harmloser: alle Option für ein friedliches Miteinander Verschiedener) zu spät. Da helfen eher diplomatische Verhandlungen für einen kurzfristigen Frieden.

4.

Trübe Aussichten also im Blick auf den Krieg, den Russland gegen die Ukraine seit einem Jahr aufs Widerlichste und Grausamste führt. Die Brutalität vieler Russen gegenüber „den Ukrainern“ wird auch nach einem Friedensvertrag fast unheilbar sein. Und auch die zutiefst verletzten UkrainerInnen müssen ihr Leiden in langen Therapien „bearbeiten“. Daran scheint die Soziologin Eva Illouz nicht zu denken.

5. Eva Illouz wünscht sich einen “totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine”

Es gibt eine weitere, sehr verstörende Aussage in DIE ZEIT, wenn Illouz ihren verständlichen Wunsch nach einem Ende des Krieges mit den fetten Lettern überschreibt: „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“. Sie ergänzt, unglaublich, aber wahr: „Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ (ebd.). Also, mit anderen Worten: Sie wünscht sich einen totalen Sieg über Russland. Ich will die Bedeutung eines „totalen Sieges“ nicht weiter reflektieren, was das im einzelnen heißt. Aber das Wort „totaler Sieg“ oder „totaler Krieg“ weckt jedenfalls hoffentlich schlimme Erinnerungen an die Zeit der Nazi-Propaganda.

Nein! Ein „totaler und vernichtender Sieg“ über Russland kann kein „Ende bringen“, wie Illouz es sich wünscht. Ein solcher Sieg könnte „Frieden“ kurzfristig bringen, nicht aber den dauerhaften Frieden für die Ukraine, für Russland und die Welt. Wie kann eine gebildete Frau solches schreiben und veröffentlichen? Russland in Schutt und Asche legen, das heißt doch „totaler Sieg“. Kann man das als Mensch, als Demokrat, als Christ als Jude usw. wünschen – trotz aller widerlichen Ungeheuerlichkeiten der Russen in diesem Krieg gegen die Ukraine?
Man muss kein Prophet sein: Russen, die in Schutt und Asche darniederliegen nach einem „Sieg“ der Ukraine und Europas und der USA, werden, sobald sie wieder „bei Kräften“ sind, kriegerisch zuschlagen, Krieg führen. So taten es die meisten Nationen nach einer vergleichsweisen Niederlage.

6. “Die Ukraine wird auf Territorium verzichten müssen”

Aber Eva Illouz hat dann wohl während des Schreibens ihres Beitrags selbst Zweifel an ihren Behauptungen bekommen. Sie hält es am Ende ihres Artikels für, so wörtlich, „wahrscheinlich“, dass weder die USA noch Europa sich wegen der Ukraine auf einen Krieg mit Russland einlassen werden. Darum „wird der Krieg wahrscheinlich durch UKRAINISCHE territoriale Kompromisse enden“. Mit anderen Worten: Eva Illouz meint, die demokratische Welt wird nach einer gewissen Zeit die Ukraine, und das sind die Menschen in der Ukraine, fallen lassen. Die demokratische Welt werde also die Ukrainerinnen dazu bringen, auf ihr eigenes Territorium zugunsten des Tyrannen Putin zu verzichten. Und es ist schon eine Unverschämtheit, wenn die Soziologieprofessorin Eva Illouz dann noch schreibt: „WIR müssen uns wohl widerwillig auf die Option einstellen“. Wer ist „WIR“? Die Demokraten oder auch die UkrainerInnen? Ich vermute, das WIR sind die Demokraten, auch Frau Illouz, die dem Tyrannen nachgeben, weil die demokratische Welt viel zu spät und immer zögerlich der Ukraine wirksame Hilfe leistete.

Dieser Verrat an der Ukraine ist gemeint, wenn die Soziologieprofessorin Illouz ihren Essay mit dem trivialen Satz beginnt: „Kriege enden immer“. So rundet sich der Artikel mit den Worten: „Der Krieg wird wahrscheinlich durch ukrainische territoriale Kompromisse enden“. Was für eine Niederlage der demokratischen Welt! Was für ein Skandal der Humanität.

PS: Ich habe wahrlich nicht die Absicht, die Reihe „Unerhörte Fragen“ in Zukunft mit so ausführlichen Erläuterungen auszustatten. Aber der Beitrag von Eva Illouz, die früher vernünftige Sachen (etwa in „Lettre International“) geschrieben hat, ist so verstörend, dass ich für die Ausführlichkeit meines kritischen Hinweises um Verständnis bitte. Dieser Hinweis weckt hoffentlich den Wunsch, in diesen verrückten Zeiten aufmerksam Zeitungsbeiträge zu lesen und sich zu fragen: Was schreiben da eigentlich diese berühmten Intellektuellen?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Die 10. “Unerhörte Frage”.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 ist zuallererst eine Herausforderung, ein Appell, eine Verpflichtung, schnell und umfassend den leidenden Menschen zu helfen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der ganz erschreckenden, großen Erdbeben – Katastrophen der Geschichte.

Es erinnert an das heute immer noch zitierte Erdbeben von Lissabon am 1.11. 1755, das so heftig war, dass die Erschütterungen viele hundert Kilometer von Lissabon entfernt deutlich spürbar waren.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 hat tiefe Erschütterungen auch unter damaligen Philosophen ausgelöst, vor allem die Arbeiten Voltaires sind vom Erdbeben in Lissabon bestimmt.

Es wurde damals die Frage gestellt: Wie kann Gott diese Katastrophe zulassen? Ist er noch der gute Gott, der gute Schöpfer dieser Welt?

Wird diese Frage auch angesichts der Erdbeben – Katastrophe in der Türkei und Syrien 2023 gestellt? Interessiert sie die Menschen, wird sie von Philosophen und Theologen reflektiert werden?

Das ist möglich und wahrscheinlich, trotz aller Säkularisierung des Denkens im allgemeinen. Wie dieses konkrete Ereignis im islamischen – theologischen Kontext diskutiert wird? Das bleibt abzuwarten (geschrieben am 8.2.2023, CM).

Aber entscheidend ist, bevor man in unkritische, sich bloß “metaphysisch” nennende Fantasien abschweift: Es muss genau festgestellt werden, in welchem nachweisbaren Umfang menschliches Versagen, also auch das Versagen von Politikern, für den Tod so vieler Menschen wegen des Erdbebens verantwortlich ist. Das Erdbeben  in der Türkei vom 6. Februar 2023 ist nicht nur “Schicksal”.

2.

Wer sich religionsphilosophisch mit diesem Thema befasst, muss also zuerst die politischen Kontexte analysieren, bevor philosophische Reflexionen interessant sein können:

Also: Was hat die türkische Regierung ignoriert an Warnungen kompetenter türkischer Geologen?  „Hüseyin Alan leitet die Kammer der Ingenieur-Geologen in der Türkei. Er hatte Behörden und sogar das Präsidialamt erst kürzlich vor Erdbeben in der Region gewarnt, die es jetzt getroffen hat – doch keine Antwort erhalten.“ (Der SPIEGEL, 7.2.2023).

Wurden die Häuser in dem Erdbeben gefährdeten Gebiet in der Türkei entsprechend sicher gebaut, was ja prinzipiell möglich ist? Die türkischen Geologen und Ingenieure und kritischen Politiker sagen: Nein.

Es gab Dutzende Beben in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei. Viele tausend Menschen kamen ums Leben. Es ist nachweislich (und wohl bewusst) versäumt worden, alle Häuser und Neubauten erdebensicher zu bauen.  Staatspräsident Recep Erdogan lügt also, wenn er jetzt sagt: “Diese Dinge (Erdbeben) geschehen einfach, das ist ist Schicksal” (Tagesspiegel, 11.2.2023, Seite 8). Erdbeben als Erdbeben werden Menschen nicht verhindern können, insofern ist Erdbeben AUCH “ein bißchen” Schicksal; aber die Ausmaße des Leidens der Menschen in Erdbebengebieten können eingeschränkt, wenn nicht verhindert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen in der Türkei sich jetzt, förmlich im Leiden “aufgewacht”, von Erdogan befreien können.

Erst wer menschliche Fehler und Versäumnisse angesichts dieser (und anderer) Katastrophe(n) festgestellt und bewiesen hat, kann zur religionsphilosophischen Frage kommen:
„Warum hat Gott als der Schöpfer der Welt diese Katastrophe nicht verhindert und zugelassen?“

Diese Frage wird nur diejenigen bewegen, die einen „Schöpfer“ der Welt noch im Denken annehmen können.

Wer sich in seinem Denken einmal darauf einlässt, kommt zu einigen Einsichten: Und die erscheinen etwas abstrakt, sie sind vorsichtige Hinweise, die gar nicht zynisch gemeint sind. Auch wenn diese Frage die Grenzen des Erkennbaren berührt, können doch einige Hinweise weiteres Nachdenken fördern:

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er die Welt als Welt erschaffen. Welt ist dann als endliche, begrenzte, fehlerhafte Welt zu verstehen. Wäre die Welt vollkommen, fehlerfrei, nicht-endlich, dann wäre sie förmlich eine göttliche Wirklichkeit neben dem „schöpferischen Gott“. Und die klassische Metaphysik sagt dazu: Wenn Gott wirklich als Gott gedacht ist, dann kann er neben sich nicht noch einen weiteren Gott, also eine göttliche und perfekte Welt neben sich haben. In einer als Gott gedachten perfekten Welt gäbe es dann auch keinen Tod mehr. Der Mensch wäre selbst ein ewiges Wesen, würde er dann noch (ewige?) Nachkommen zeugen und gebären usw.? Die philosophische Spekulation erreicht jetzt förmlich absurd wirkende Dimensionen. Bescheidenheit ist also auch philosophisch gefordert. Diese ist aber etwas anderes als der prinzipielle Denk – Verzicht, überhaupt das Erdbeben mit einem schöpferischen Gott oder göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen.

Die klassische Metaphysik beharrt also auf der Erkenntnis: Die Welt ist endlich, fehlerhaft, begrenzt. Die Menschen sind dem Geschehen einer nicht immer voll kontrollierbaren Natur ausgesetzt, wie etwa dem Erdbeben. Es kann ja prinzipiell sein, dass eines Tages die verheerenden Erdbeben stark eingeschränkt werden können, durch Forschung, Voraussage, und kompetente Politiker…

3.

Trösten diese Gedanken der unvollkommenen Schöpfung die betroffenen Opfer? Zunächst ist ihre Wut auf die korrupten “Politiker” in der Türkei und den Diktator in Syrien am größten. Aber solange die Überlebenden und Leidenden noch die Hoffnung und den Überlebensmut bewahren und aus ihm heraus das „Danach“ gestalten, ist doch eine geistvolle inspirierende Kraft in ihnen lebendig und wirksam. Sie werden sich hoffentlich für demokratische Politiker in ihren Ländern einsetzen können, mit Hilfe der wenigen auf dieser noch Welt noch verbliebenen Demokratien! Die heldenden Demokraten werden gleichsam auch zu Boten der Hoffnung, um es einmal etwas pathetisch, aber treffend zu sagen.

Philosophen und Metaphysiker nennen diese geistvolle und inspirierende Überlebenskraft der Hoffnung eine Art „Funken“ der Ewigkeit, der in den Menschen (als den „Geschöpfen eines Ewigen, Göttlichen…) lebt. Und hoffentlich niemals zum Verschwinden zu bringen, niemals zu töten, ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Willkommen im Religions-Philosophischen Salon Berlin

Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist seit 2007 eine Initiative von Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus. Seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 gab es keine öffentlichen Salon – Veranstaltungen (“Präsenz-Veranstaltungen”) mehr, hingegen werden oft neue Beiträge als Hinweise zur Debatte auf unserer Website publiziert.

Warum ein religionsphilosophischer Salon?
Warum ein religionsphilosophischer Salon?

1.

Der Titel und die „Sache“ „philosophischer Salon“ sind alles andere als verstaubt. Das Interesse an philosophischen Gesprächen und Debatten in überschaubarem Kreis, in angenehmer Atmosphäre (also in einem „Salon“), ist evident.
(Frontal-) Vorträge – etwa in Akademien – vor zahlreichem, weithin bloß zuhörendem Publikum sind oft Ausdruck autoritären Belehrens. Ein Salon ist ein freundlicher Ort des Dialogs.

2.

In unserem religionsphilosophischen Salon soll das Philosophieren geübt werden, also das selbstkritische, systematische Nachdenken. Das Thema Religion wird auch in den heutigen Philosophien ernst genommen. Philosophische Religionskritik hat nicht mehr Sinn zu beweisen, dass Religion bedeutungslos ist, im Gegenteil: Philosophische Religionskritik zeigt, welche Form einer vernünftigen Religion bzw. Spiritualität heute zur Lebensgestaltung gehören kann. Und welche Gestalten von Religion/Kirchen/”Sekten” alles andere als einen befreienden Charakter haben. Der Klerikalismus herrscht ungebrochen in der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen; im weiten Feld des Evangelischen nimmt die Herrschaft der fundamentalistischen evangelikalen Kirchen ständig. freisinnige, vernünftige christliche Kirchen sind leider marginal (vgl. die Remonstranten). 

3.

Unser religionsphilosophischer Salon ist wichtig angesichts des tiefgreifenden religiösen Umbruchs in Deutschland /Europa. Die Bindung an die Kirchen lässt bekanntlich immer mehr nach. Die so genannte Säkularisierung nimmt zu. Aber Säkularisierung bedeutet gerade nicht automatisch Zunahme des Atheismus. Religionsphilosophische Salons können die Themen der Religionen und das subjektive Bewegtsein durch religiöse Fragen angesichts der Kirchenkrise vernünftig weiterführen, in der Freiheit des Geistes… über den Klerikalismus oder den vielfältigen religiösen Fundamentalismus hinaus.

4.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es nur im Plural, die (Religions-)Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika dürfen nicht länger als „zweitrangig“ behandelt werden. In welcher Weise Religion dort zum „Opium“ wird angesichts des Elends so vieler Menschen, ist eine besonders relevante Frage, auch angesichts der Zunahme christlicher und muslimischer Fundamentalismen. Dringend wird die Frage: Inwieweit ist philosophisches Denken Europas eng mit dem kolonialen Denken verbunden?

5.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien bieten also in ihren vielfältigen Entwürfen unterschiedliche Hinweise zur Fähigkeit der Menschen, ihre engen Grenzen zu überschreiten und sich dem im Denken zu nähern, was die Tradition Gott oder Transzendenz nennt. Dabei treten diese unterschiedlichen Entwürfe in einen lernbereiten Dialog. In unserem religionsphilosophischen Salon gibt es z.B.ein starkes Interesse am (Zen-) Buddhismus.

6.

Uns ist es wichtig uns zu zeigen, dass Menschen im philosophischen Bedenken ihrer tieferen Lebenserfahrungen das Endliche überschreiten können und sollen und das Göttliche, das Transzendente erreichen können. Das Göttliche als das Gründende und Ewige zeigt sich dabei im Denken als bereits anwesend. Es ist sozusagen unthematisch gegenwärtig im Geist des Menschen.
Wenn der Mensch nach dem Göttlichen fragt, hat er also notwendigerweise „immer schon“ ein gewisses Vorverständnis vom Göttlichen. Dieses „Vorwissen“ gilt, nebenbei, für alles Fragen und Suchen.

7.

Insofern ist Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auch eine subjektive Form der Lebensgestaltung, d.h. eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie kennt keine Dogmen, sicher ist nur das eine Dogma: Umfassend selbstkritisch zu denken und alle Grenzen zu prüfen, in die wir uns selbst einsperren oder in die wir durch andere, etwa durch politische Propaganda, durch Konsum und Werbung im Neoliberalismus, eingeschlossen werden. In dieser Offenheit, Grenzen zu überschreiten, zeigt sich die Lebendigkeit der Religions -Philosophie. Philosophieren ist etwas Lebendiges, im Unterschied zu vielen klerikalen Konfessionen ist sie nichts Erstarrtes voller Verbotsschilder

8.

Diese „Entdeckungsreisen“ der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können angestoßen werden durch explizit philosophische Texte, aber auch durch Poesie und Literatur, Kunst und Musik, durch eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, durch die politische Analyse der vielfachen Formen von Unterdrückung, Rassismus, Fundamentalismus. Mit anderen Worten: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie findet eigentlich in allen Lebensbereichen statt, kann sich von allen „Produkten des Geistes“ (Hegel) bewegen lassen. Wer die Gesprächsthemen anschaut, die wir seit 2007 in den meist monatlichen Veranstaltungen („Salon-Abende“) in den Mittelpunkt stellen, wird von der großen Vielfalt überrascht sein. Bisher fanden ca. 100 Salon-Gespräche statt.

9.

Wo hat unser religionsphilosophischer Salon seinen Ort? Als Raum eignet sich nicht nur eine große Wohnung oder der Nebenraum eines Cafés, sondern auch eine Kunst – Galerie. In den vergangenen 7 Jahren fanden wir in der Galerie „Fantom“ in Charlottenburg freundliche Aufnahme. Zuvor in verschiedenen Cafés. Kirchliche Räume, Gemeinderäume etwa, sind für uns keine offenen und öffentlichen Räume. Sie sind meist nicht sehr „inspirierend“, d.h. sie sind „ungemütlich“, also keine Salons, sondern eher Amtsstuben.

10.

In unserem religionsphilosophischen Salon sind selbstverständlich Menschen aller Kulturen, aller Weltanschauungen und Philosophien und Religionen willkommen. Unser Salon ist insofern hoffentlich ein praktisches Exempel, dass es in einer Metropole – wie Berlin – Orte geben kann, die auch immer vorhandenen „Gettos“ überwinden.

11.

Unser religionsphilosophischer Salon sollte auch ein Ort freundschaftlicher Begegnung und menschlicher Nähe. Darum haben wir in jedem Jahr im Sommer Tagesausflüge gestaltet, mit jeweils 10 – 12 TeilnehmerInnen: Etwa nach Erkner (Gerhart Hauptmann Haus), Karlshorst (das deutsch-russische Museum), Jüterbog als Ort der Reformation, das ehem. Kloster Chorin, Frohnau (Buddhistisches Haus), Lübars… Außerdem gestalteten wir kleine Feiern in privatem Rahmen anlässlich von Weihnachten. Auch ein Kreis, der sich mehrfach schon traf, um Gedichte zu lesen und zu meditieren, hat sich aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entwickelt. Aber alle diese Initiativen waren (und sind wohl) mühsam, u.a. auch deswegen, weil letztlich die ganze Organisation von den beiden Initiatoren – ehrnemtlich selbstverständlich – geleistet wurde und wird.

12.

Anlässlich der „Welttage der Philosophie“, in jedem Jahr im November von der UNESCO vorgeschlagen, haben wir größere Veranstaltungen mit über 60 TeilnehmerInnen im Berliner AFRIKA Haus gestaltet, etwa mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb, dem Theologen Michael Bongardt. Der Berliner Philosoph Jürgen Große hat in unserem Salon über Emil Cioran gesprochen, der Philosoph Peter Bieri diskutierte im Salon über sein Buch „Wie wollen wir leben?“, die Politologin Barbara Muraca stellte ihr Buch „Gut leben“ vor, Thomas Fatheuer von der Heinrich – Böll- Stiftung vertiefte das Thema; der evangelische Pfarrer Edgar Dusdal (Karlshorst) berichtete über seine Erfahrungen in der DDR; der Theologe der niederländischen Kirche der Remonstranten, Prof. Johan Goud (Den Haag), war zweimal bei uns zur Diskussion, öfter dabei waren Dik Mook und Margriet Dijkmans – van Gunst aus Amsterdam…

Am 25.1.2023 notiert: Eine traurige Nachricht, ein großer Verlust für eine moderne “liberale Theologie”: Prof. Wilhelm Gräb, Prof. em. für praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin,  ist am 23. Januar 2023 in Berlin nach langer Krankheit gestorben. Der Religionsphilosophische Salon Berlin verdankt ihm viele wichtige Anregungen und dankt nochmals auf diese Weise für insgesamt 65 Beiträge und Interviews, die Wilhelm Gräb in mehr als zehn Jahren für diese website gab. LINK.

Ich darf sagen, wir haben einen Freund verloren, der als ein Theologe der heutigen Moderne ungewöhnliche, aber richtige Perspektiven zeigte in seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit. Für ihn war die religiöse Glaubensform eines jeden Menschen wichtiger als die fixierenden, dogmatischen Lehren der Kirche. Diese theologische Freiheit, alle dogmatische Engstirnigkeit, allen Fundamentalismus auch in der evangelischen Kirche zu überwinden, “beiseite zu tun”, wie Wilhelm gern sagte, ist in ihrem radikalen Mut schon ziemlich einmalig. Ob diese Vorschläge und Ansätze zu einer Reformationen der Kirchen noch ernstgenommen werden, gerade in dieser “Kirchenkrise” ist eine offene Frage… Über seine Verdienste in der Forschung zu Schleiermacher wird später zu berichten sein.

Interessant in dem Zusammenhang das Interview, das uns Wilhelm Gräb 2012 zum Thema TOD und Sterben gab: LINK 

Zur theologischen Besinnung empfehle ich auch unser Interview mit Wilhelm Gräb “Der Gott der Liebe”. LINK:

Über vierzig viel beachtete Interviews mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, Humboldt – Universität) sind auf unserer Website publiziert. LINK.

Vorläufige Bilanz

Die Bilanz, vorläufig, Ende Juni 2022, formuliert: Einige wenige Interessenten außerhalb von Berlin haben die Idee des religionsphilosophischen Salons aufgegriffen. Aber wir können nicht sagen, dass etwa im kirchlichen Bereich, evangelisch wie katholisch, die Idee des freien und undogmatischen und offenen Salon-Gesprächs außerhalb der üblichen kirchlichen Räume (!), also in Café oder Galerien,  aufgegriffen und realisiert wurde. Das ist ein Faktum: Je mehr Christen aus den Kirchen austreten, um so ängstlicher und dogmatischer werden die Kirchen(führer), also auch ihre Pfarrer usw. Der Weg der Kirche in ein kulturelles Getto scheint vorgezeichnet zu sein, zumindest für die katholische Kirche. Tatsächlich haben sich über all die Jahre sehr sehr wenige “Vertreter” der großen Kirchen für unsere Initiative überhaupt interessiert. So konnten wir auch in jeder Hinsicht frei arbeiten!

Hinweis zu unseren Themen
Hinweis zu unseren Themen:
Eine Übersicht unserer Themen im Salon von Februar 2020 bis 2015 finden Sie hier. Die Themen von 2009 bis 2015 werden demnächst dokumentiert. Genauso wichtig wie die Salonabende sind auch die religionsphilosophischen und religionskritischen Hinweise Christian Modehn, publiziert auf der Website www.religionsphilosophischer-salon.de , bisher sind dort ca.1.300 Beiträge als „Hinweise“ veröffentlicht, mehr als eine Million vierhundertausend „Klicker“ gab es bisher (Stand 27.6.2022).

Der geplante religionsphilosophische Salon am 27.3.2020 über Hegel musste leider wegen der Corona – Pandemie ausfallen. Wir hoffen, dass noch einmal Salon – Gespräche stattfinden können. Sicher auch über Hegel.
Dass die Veranstaltung über Hegel anlässlich seines 250. Todestagesausfallen musste, ist aber besonders zu bedauern. Einige einführende Hinweise zur Philosophie Hegels hatte ich für den 27.3. 2020 vorbereitet, klicken Sie hier. Nach wie vor empfehle ich das große „Hegel-Handbuch“ von Walter Jaeschke, J.B. Metzler Verlag, 3. Auflage, 540 Seiten, nur 24, 90Euro.

Unser letztes Salongespräch fand am Freitag, den 14.Februar 2020 , wie immer um 19 Uhr statt, über das Thema: “Das Kalte Herz”. Mehr als ein Märchen (von Wilhelm Hauff). „Das kalte Herz“ offenbart die “imperiale Lebensweise”. 22 TeilnehmerInnen waren dabei. Leider mussten wir – wie öfter schon – acht Interessierten absagen, weil der Raum eben klein ist und nur eine Gruppe eine Gesprächssituation ermöglicht. Aber das große Interesse, ohne jede öffentliche Werbung, allein im Internet, und ohne jede Finanzierung von außen, ist schon bemerkenswert. Für einige vertiefende Hinweise zur imperialen Lebensweise: Beachten Sie diesen LINK.

Gründer

Gründer und Initiator des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ sind:
Christian Modehn, 1948 in Berlin – Friedrichshagen geboren, hat nach dem Abitur in West-Berlin Theologie (Staatsexamen über Heidegger) und Philosophie (M.A. über Hegel) studiert: In Berlin (F.U.), St. Augustin, Bonn und München. Er arbeitete von 1973 bis 2007  immer als freier Journalist, über die Themen Religionen, Kirchen und Philosophien, für Fernseh- und Radiosender der ARD, sowie für die Zeitschrift PUBLIK – FORUM. Zur Information über einige meiner Hörfunksendungen und Fernsehdokumentationen klicken Sie bitte hier.
Und:
Hartmut Wiebus, 1944 in Seehausen/Altmark geboren, hat in Berlin (F.U.) Pädagogik (Diplomarbeit über Erich Fromm) und Psychologie studiert, und vor allem als evangelischer Klinikseelsorger gearbeitet.

Der religionsphilosophische Salon Berlin erhält von keiner Seite finanzielle Zuwendungen oder Unterstützung. Wir sind unabhängig und frei. Alle Arbeit für den Salon, also Organisation und die Impuls-Referate und die Moderation, leisten wir ehrenamtlich. Von den TeilnehmerInnen eines Salon-Abends werden lediglich 5 Euro erbeten … für die Raummiete in der Galerie Fantom.

Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus, am 8.5.2021, erneut bearbeitet am 27.6.2022.

Christen und Kirchen in der Minderheit: Neueste Entwicklungen in den Niederlanden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.12.2022.

Die Kirchenführer in Deutschland jammern jetzt wieder über die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen.
Es könnte hilfreich sein, einmal über die Grenze, in die Niederlande, zu schauen…

Der Abschied so vieler EuropäerInnen von ihrer Kirchenbindung kann durchaus als ein kultureller Bruch bezeichnet werden. Mit dem Abschied von den Kirchen verändern sich auch die Vorstellungen von Werten, vom Lebensganzen, vom Sinn des Lebens…Das Thema ist also alles andere als bloß „kirchenintern“.

In den Niederlanden, bis ca. 1960 tatsächlich weltweit bekannt als Inbegriff eines sehr lebendigen vielfältigen kirchlichen Landes, sind 2021 nur noch 32 % der Bewohner Mitglieder einer christlichen Kirche.
Holland gilt als ein säkulares Land förmlich als ein Beispiel für das, was andere Länder sehr bald „erwartet“.

Eine Frage bleibt hingegen: Sind alle, die sich „nicht-kirchlich“ nennen, auch Atheisten? Ich vermute die Antwort heißt Nein. Auch dazu gibt es differenzierte Studien. Allgemein-theologisch gesagt: Irgendeinen Gott verehren die (meisten) Menschen immer…Aber dieses Thema führt über einen religionssoziologischen Hinweis hinaus.

1. “Entkirchlichung”
Seit 1970 verabschieden sich Niederländer systematisch und stetig von ihren Kirchen. Das ist alles seit Jahren bestens dokumentiert. Die „Entkirchlichung“, wie man dort sagt, hat eine längere Tradition. Über die Ursachen wurde vielfach geforscht. Jetzt liegen wieder neueste Statistiken vor: Tatsache ist: Die Kirchen repräsentieren eine Minderheit in der Bevölkerung, bei der Altersstruktur der Kirchenmitglieder werden Kirchen sogar allmählich zur sehr kleinen Minderheit…Das Verschwinden von Kirchengebäuden als explizit „religiösen Gebäuden“ aus dem Leben der Städte, Kleinstädte und Dörfer ist in den Niederlanden ganz offensichtlich, viele hundert Kirchengebäude wurden dort abgerissen, verkauft, umgewandelt etc. Der Kommerz bzw. der „Sparzwang“ der Kirchenführung, haben insofern auch das bislang bestimmende Bild westeuropäischer Städte, zu der eben auch Kirchengebäude gehörten, ausgelöscht. Manche Niederländer bedauern das vielleicht allzu schnelle Abreissen von Kirchengebäuden seit 1960.

Zur Erinnerung: Katholische Kirchenführung für die “Austritte” verantwortlich.
Bis 1960 waren die Niederlande ein geradezu extrem kirchliches Land, bezogen auch auf deutsche Verhältnisse, mit vielfältigsten Formen protestantischen Lebens. Und mit einem, wie man in klerikalen Kreisen damals sagte, „äußerst blühendem katholischen Leben“.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1960, die das Individuum in seine umfassende Freiheiten führte, begann der systematische Abschied von der traditionellen Kirchenbindung. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Québec in Kanada eine ähnliche Entwicklung statt. Heute ist die einst „absolut katholische Provinz Québec“ absolut säkular…
Im niederländischen Katholizismus führte die Personalpolitik des Vatikans (Ernennung reaktionärer Bischöfe, etwa: Simonis, Gijsen etc.) zu einem systematischen Abschied von der katholischen Kirche: Sie wurde und wird zurecht als autoritäre, explizit anti-demokratische Organisation wahrgenommen.

Römisch-Katholischsein und Niederländischsein passt nicht zusammen. Progressive katholische Organisationen (die „8. Mei-Bewegung“) sind verschwunden oder sind von der rigiden katholischen Haltung zum Verschwinden gebracht worden. Die Klöster sind in den Niederlanden fast ganz verschwunden. Die Provinz des Dominikaner-Ordens, bis vor 40 Jahren ebenfalls „blühend“, hat noch vier kleine Klöster. Bei den noch etwa 15 holländischen Augustinern ist niemand unter 70 Jahren…. Das Ordensleben – auch der Frauen – stirbt aus. Da und dort versuchen Laien, die alten (klerikalen) Ordenstraditionen auf neue Art fortzuführen.
Es sind Theologen und Religionssoziologen, die die Schuld an dem systematischen Verschwinden des holländischen Katholizismus dem Vatikan, allen voran dem dogmatisch-strengen polnischen Papst Johannes Paul II., geben. Mit anderen Worten: Wie überall, ist die rigide katholische klerikale Kirchenführung auch verantwortlich für diese „Entkirchlichung“. Und das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache!

2. 18 % der Bevölkerung nennen sich katholisch, 14 % protestantisch.
Das „Centraal Bureau voor Statistiek“ (CBS), also das statistische Zentralbüro, hat nun die aktuelle Entwicklung für die Niederlande veröffentlicht (Siehe auch: https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2022/51/bijna-6-op-de-10-nederlanders-behoren-niet-tot-religieuze-groep).
Vor allem bei den Katholiken ist der Abschied von der Kircheninstitution besonders deutlich: Im Jahr 2010 nannten sich noch 27 Prozent der Niederländer Römisch – katholisch; 2021 sind es nur nicht 18 Prozent. Zu den protestantischen Kirchen bekannten sich 2010 18 Prozent, 2022 noch 14 Prozent der Bevölkerung. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur: Bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt der Anteil der Gläubigen 28 Prozent; bei den über 75 Jährigen noch 65 Prozent. Die Kirchen sind also, etwas überspitzt gesagt, nicht nur „Senioren-Organisationen“, sondern letztlich auch langsam aussterbende Gemeinschaften.
Etwa 4,5 % der Bewohner der Niederlande sind mit muslimischen Gemeinden verbunden. Angesichts dieser eher überschaubaren Zahl der Muslime bleibt es fast unverständlich, wie jetzt rechtsextreme Parteien in Holland ihren Hass auf „die MuslimInnen“ und „die Fremden“ in die Öffentlichkeit tragen.

3.
Das ist die Tatsache: im Jahr 2021 nennen sich noch 32 Prozent der Niederländer kirchlich gebunden. Eine Ziffer, die sich etwa an das traditionell nicht-bzw. antikirchliche Tschechien, vor allem Böhmen, annähert, aber noch längst nicht an die entsprechenden Zahlen im Osten Deutschlands, in den so genannten neuen Bundesländern,

4. Leere Kirchen am Sonntag.
Auch die Teilnahme an den Gottesdiensten am Sonntag ist in den Niederlanden sehr schwach: 2021 nahmen 13 Prozent der Kirchenmitglieder wenigstens einmal im Monat an den Gottesdiensten teil, 2010 waren es noch 18 Prozent. Besonders gering ist die regelmäßige Teilnahme an der Messe bei den Katholiken, bei den Protestanten nehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder an den Sonntagsgottesdiensten teil, heißt es in der Studie vom CBS.

5. Auf der Suche nach einer Zukunft.
Beobachter haben den Eindruck, dass viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder und ihre Pastoren (der protestantischen Kirchen) nicht unbedingt in Depressionen fallen, sondern eher nach neuen Konzepten suchen und eine neue kirchliche Praxis probieren. Allerdings ist der Mangel an Pastoren in der großen „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) deutlich zu spüren, das führt zu einem Zusammenschluss verschiedener Gemeinden. Andererseits gibt es Pläne und schon erste Erfahrungen, Gemeindemitglieder, die nicht eine umfassende theologische Ausbildung haben, mit bestimmten Aktivitäten der Gemeinde-Liturgien zu betrauen, etwa in der Gestaltung und Leitung von Trauerfeiern und Bestattungen. Es werden, dem Vorbild der Anglikanischen Kirche folgend, auch Kurse angeboten für Männer und Frauen, die sich neben ihrem (weltlichen) Beruf als Teilzeitstudenten auf den Pastorenberuf vorbereiten. Diese Kurse werden an der „Protestantse Theologische Universiteit“ (in Amsterdam und Groningen) angeboten.

6.
Weil viele Gemeinden und kirchliche Hilfsorganisationen immer noch umfassende soziale Hilfe leisten (Flüchtlingshilfe, Essensausgabe für Arme etc.), haben staatliche Instanzen schon jetzt ihre Sorgen geäußert, was denn an Hilfeleistungen der Kirchen noch möglich bleibt, wenn sie immer mehr zur Minderheit werden.

7. Die freisinnge Kirche der “Remonstranten”
Unter der Vielfalt protestantischer Kirchen in den Niederlanden ist die kleine Kirche der Remonstranten, theologisch gesehen, eine ganz besondere, manche sagen theologisch eine einmalige Kirche in der weiten Ökumene: Die Remonstranten, offizieller Name „Remonstrantische Bruderschaft“, sind die einzige offiziell christliche freisinnige Kirche: Das heißt: Sie halten nicht viel von traditionellen dogmatischen Bindungen, sie versuchen eine neue zeitgemäße Sprache für alte Begriffe, sie eine christlich-humanistische Kirche, die jedem Mitglied die Formulierung des eigenen Glaubensbekenntnisses überlässt.
Die Remonstranten waren niemals eine zahlenmäßig starke Kirche. Jetzt haben sie ca. 5.000 Mitglieder bzw. „Freunde der Remonstranten“, dabei handelt es sich um Menschen, die noch einer anderen Kirche angehören, aber gern im Geist der christlich-humanistischen Remonstranten leben wollen. Auch diese Möglichkeit einer „doppelten Kirchenmitgiedschaft“ ist wohl einmalig in der weiten Ökumene. Aber selbst diese theologisch liberale Kirche hat viel Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen, obwohl sie eigene Projekte des Dialogs mit religiös Interessierten oder auch Religiös-Nicht-Interessierten anbietet.

8. Freie ökumenische “Basis-Gemeinden”
In den 1970ger Jahren bildeten sich in ganz Holland „freie ökumenische (Basis)-Gemeinden, man denke an die „Ekklesia“ in Amsterdam, die von dem Theologen und Poeten (und ehemaligen Jesuiten) Huub Oosterhuis in Amsterdam gegründet wurde oder an die Dominicus-Gemeinde in Amsterdam oder die Basis-Gemeinde „de Duif“, ebenfalls in Amsterdam. Diese freien ökumenischen und alles andere als fundamentalistischen Gemeinden haben sich von den Bindungen an einen Bischof gelöst, sie haben ihre Kirchengebäude gekauft (wie die Dominicus-Gemeinde) … und sie gehen ihren eigenen, unabhängigen Weg in der immer noch bunten Kirchenszene der Niederlande. Aber auch diese freien ökumenischen Gemeinden, die einige Leute (naiv?) für ein Vorbild hielten auch für Deutschland, haben Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen.
Huub Oosterhuis, der Theologe und Poet, hat durch seine Poesie, seine vielen Lieder, Gedichte, Reflexionen, sicher dazu beigetragen, dass viele Gottesdienste in Holland ein beträchtliches poetisches und theologisches Niveau haben. Die Bedeutung der Poesie (und biblisch inspirierten Theologie) Oosterhuis` ist kaum zu überschätzen, selbst wenn der klerikale Katholizismus immer wieder gegen Oosterhuis polemisierte.

9. Die Zukunft?

Wie es mit dem christlichen Glauben und den Kirchen in Zukunft weitergeht, in den Niederlanden wie in West-Europa, ist völlig offen.

Möglich ist, dass sich ein christlicher Glaube bildet, der sich von allem dogmatischen Starrsinn und moralischen engen, Frauen-feindlichen Lehren befreit hat und einige zentrale Aspekte der Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth lebt, in kleinen Basis-Gruppen, auch politisch natürlich im Sinne umfassender Gerechtigkeit.

Aber dass im Ernst noch viele intellektuell wache Menschen diesem rigiden klerikalen katholischen Männer-System, bewusst und stolz anti-demokratisch, anhängen, ist äußerst unwahrscheinlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wir sind die Letzten: Max Horkheimer als „letzter Bürger“ … und die „Letzte Generation“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.Dezember 2022.

1. Das Vorwort:
Ein Wort geht um, mehr als ein Wort: „Die letzte Generation“. Und es erinnert daran, dass im Laufe der Geschichte schon oft Menschen sich als „die Letzten“ – angesichts großer Umbrüche und Katastrophen – bezeichnet haben. Anläßlich des Selbstverständnisses von Klimaaktivisten als „der Letzten Generation“ ist es interessant zu wissen, in welchem Sinne zuvor schon Menschen sich „als die Letzten“ verstanden haben.
Dabei wird hier der Schwerpunkt auf Äußerungen des Philosophen und Soziologen Max Horkheimer gesetzt. Aber auch auf entsprechende Stellungnahmen von Nietzsche, Karl Kraus und dem Apostel Paulus wird hingewiesen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Wir sind die Letzten“ ist nicht nur von historischem Interesse, sie betrifft das (philosophische) Selbstverständnis der Menschen insgesamt. Wer würde leugnen, dass er/sie angesichts der kulturellen, sozialen, politischen, religiösen Umbrüche und tiefgreifenden Veränderungen heute nicht auch das Gefühl hat, irgendwie zu einer „letzten Generation“ zu gehören?

2. Horkheimer, der letzte Bürger
Vor 80 Jahren nannte sich der Philosoph Max Horkheimer im Exil, im schönen Los Angeles, Kalifornien, einen der „letzten Bürger“. Horkheimer war seit 1929 Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt am Mai. Er selbst wie andere Mitarbeiter mussten vor den Nazis flüchten, 1934 fanden er und sein Institut Zuflucht in den USA.
Horkheimer verstand sich als einen der letzten „Bürger“,besser gesagt „Großbürger“ der alten kapitalistischen Welt.
Max Horkheimer (geboren 1895, gestorben 1973) war Sohn eines Kunstbaumwoll-Fabrikanten. Als junger Mann machte aber nicht die vom Vater vorgesehene Karriere als Unternehmer, sondern er wurde Philosoph, Soziologe und … gläubiger Sozialist, gut vertraut mit dem Werk von Karl Marx und dem Sozialismus in gläubiger Haltung verpflichtet.
Horkheimer war selbstkritisch genug, er wusste: Wie sehr er auch „marxistisch ausgebildet sein mag und wegen dieser Ausbildung die Diktatur des Proletariates gutheißen mag, so war er doch nicht für die Diktatur des Proletariates zu gebrauchen“, schreibt Martin Mittelmeier in seiner neuen Studie „Freiheit und Finsternis. Wie die `Dialektik der Aufklärung´ zum Jahrhundertbuch wurde“ (2022, Siedler Verlag). Horkheimer war 1941 von New York nach Kalifornien umgezogen, sein neues Zuhause war eine sehr hübsche Villa in Pacific Palisades bei Los Angeles (Mittelmeier S.34), er wohnte in der Nachbarschaft von Thomas Mann…
Warum, das ist die Frage, meinte Horkheimer, als der Zweite Weltkrieg tobte und die Vernichtung der Juden in Europa systematisch betrieben wurde, für die künftige Revolution nicht geeignet zu sein? Weil er, so sein offenes Bekenntnis, Bürger war, zu sehr wohl Bürger war und bürgerlich dachte, bürgerlich lebte und den bürgerlichen Luxus selbst in Krisen und Kriegszeiten immer noch genoss. Man muss es wohl Horkheimer hoch anrechnen, zu dieser Form der Selbstkritik in der Lage gewesen zu sein.

3. Horkheimer als letzter Bürger darf noch genießen
Aber Horkheimer fand dann doch als Bürger, inmitten der angenehmen Umgebung Kaliforniens, eine sehr originelle Möglichkeit, seinen eigenen, durchaus ins Staunen versetzenden Beitrag zur proletarischen Revolution zu leisten. Damit sind nicht die theoretischen, philosophischen wie soziologischen Studien (oft gemeinsam mit Theodor W. Adorno) unmittelbar gemeint. Horkheimer entdeckte, dass er als der wahrscheinlich „letzter Bürger“ vor der sozialistischen Revolution die Aufgabe habe, das für ihn übliche großbürgerliche Leben geradezu fortzusetzen. Nicht Verzichten aufs Bürgerliche, sondern Fortsetzung der bürgerlichen Privilegien war seine Maxime. Er redete sich dabei einerseits die Hoffnung ein: Sein materiell gut ausgestattetes Leben in Kalifornien könne – nach der sozialistischen Revolution – auch für die jetzt materiell Leidenden, die Proletarier, Realität werden. Andererseits sah Horkheimer die historische Bedeutung seines privilegierten Lebens in Kalifornien auch in der Rolle eines „Statthalter des guten Lebens“, wie Mittelmeier schreibt (S. 36). Er fühlte sich als „Statthalter“ des guten Lebens, oder man könnte auch sagen, er lebte stellvertretend wohlhabend für die vielen anderen, denen es nicht gut ging. Wenigstens einigen wenigen mit großbürgerlicher Herkunft darf es, geschichtsphilosophisch betrachtet, gut gehen, sie bewahren dann auch die Erinnerung an das materiell gute Leben einst im Kapitalismus.
Horkheimer sah sich auch als die letzte großbürgerliche Figur, die voller Trauer schon ahnt, dass den armen Proletariern dieses Luxus-Leben dereinst nicht vergönnt sein wird.
Als dieser „letzte Mensch“ des Großbürgertums freute er sich, mit eingestanden Gewissensbissen zwar, in letzter Minute „vor dem erwarteten Untergang des Kapitalismus“ genussfähig geblieben zu sein: Wenigstens er, sozusagen als Symbolfigur des Übergangs von der alten kapitalistischen Welt zum Sozialismus, durfte noch materiellen Luxus genießen. Ohne Ironie sah sich Horkheimer in dieser Rolle! In den „Nachgelassenen (post mortem) veröffentlichten Schriften“ (Band 12, S.231 in Horkheimer „Gesammelte Schriften“, Fischer Verlag) beschreibt er schon 1935 seine Haltung, die auch im kalifornischen Exil gilt: :
„Es macht einen Unterschied im Hass gegen diese kapitalistische Welt aus, ob man ihre Früchte vom Genuss oder nur vom Zusehen kennt. Zorn, Hohn und laute Verachtung gegen die Freuden einer raffinierten Zivilisation sind etwas anderes als die Trauer dessen, der sie genossen hat und die andern davon ausgeschlossen sieht. Diese letzten Bürger sind genussfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau …“.

4. Abstrakte Solidarität
Eine verstörende Aussage, leider nicht von brillanter Deutlichkeit: Welche „Lehre“ ließe sich aus diesem Bekenntnis des „letzten Bürgers ziehen? Vor der großen politischen Wende haben einige wenige das Recht, genussvoll und materiell gut abgesichert zu leben, obwohl der 2. Weltkrieg längst viele hunderttausend Tote „produziert“ und in den KZs das europäische Judentum ausgelöscht wird von den Nazis. Horkheimer hat wohl ein schlechtes Gewissen dabei, aber er ändert sein gutes Leben nicht. Das Teilen, die Solidarität mit den Unterdrückten und Leidenden, etwa mit den Arbeitern in den USA, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Seine politische Hoffnung auf ein gutes (materiell gutes) Leben auch für die Proletarier, bleibt abstrakt. Abstrakt bleibt auch der Glaube Horkheimers an die Revolution und die Wohltaten der Revolution. Dies ist Ausdruck seines tiefen, aber abstrakten Gefühls für universelle Gerechtigkeit, das er schon als reicher Fabrikantensohn empfand.

5. Hannah Arendt kritisiert Horkheimer
Martin Mittelmeier weist in seiner Studie darauf hin, dass das gute genussvolle, bürgerlich gediegene Leben Horkheimers in Kalifornien von keiner geringeren als Hannah Arendt kritisiert wurde. „Sie haben immer noch Geld, aber sie sind mehr und mehr der Meinung, dass sie sich damit einen ruhigen Lebensabend sicher müssen“ (S. 35).

6. Klima-Aktivisten der “letzten Generation” sind echte Demokraten!
Die Klimaaktivisten jetzt, Dezember 2022, fordern mit ihren provozierenden, bewusst störenden Aktionen (Sich-Festkleben auf Straßen und Flughäfen usw.), dass endlich die deutsche Regierung alles tut, die von ihr selbst gesetzlich formulierte Verpflichtung Wirklichkeit werden zu lassen: Deutschland bis 2045 klimaneutral zu gestalten. Von diesem als Gesetz formulierten Ziel, beschlossen im Jahr 2021 noch von der Merkel-Regierung, ist Deutschland weit entfernt. Weil die Klimakatastrophe weiter „Fahrt aufnimmt“, handeln diese jungen Leute als die „letzte Generation“. Sie wird kaum mehr menschenwürdig leben können, das gilt noch viel mehr für Menschen in der sogenannten südlichen, armen Welt… Und diese jungen Aktivisten wissen: Die Älteren bzw. die Alten bestimmen Politik und Ökonomie, sie sind in ihrer Sturheit ihrerseits auch die letzte Generation. Nämlich die letzte Generation derer, die es sich bei der Klimakatastrophe relativ gut gehen lassen, die „das gute Leben nicht schmähen“, wie Horkheimer selbstkritisch sagte. Diese alten und wohlhabenden Leute in der reichen Welt lassen sehenden Auges den „Karren gegen die Wand laufen“, tun nur halbherzig etwas, um diese Welt auch den jungen Generationen lebenswert zu lassen.
Schlimmer noch: Viele von diesen Alten, im Klimaschutz Unentschlossenen, besonders in Kreisen der CDU und FDP, betrachten diese jungen Aktivisten der „letzten Generation“ als Verbrecher. Wer sich auf der Straße festklebt, wird selbst von Bischöfen (wie in Berlin Stäblein, ev., und Koch, kath.) mit dem Urteil des „Rechtsbruchs“ diffamiert. Als würde nicht eine Katastrophe ungewöhnliche Mittel erfordern. Die Mehrheit der Menschen folgt den üblen Verleumdungen der rechten Presse, diese Mehrheit sollte dankbar sein für diesen Weckruf der Verzweifelten, die nicht nur an der Klimakatastrophe verzweifeln, sondern auch an der Tatsache, dass die Bundes-Regierung ihr Klima-Schutzgesetz vom August 2021 vergessen hat (siehe: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672). Die Autorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Herrmann hat recht: „Die Klima-Aktivisten verstoßen gegen Gesetze, um darauf hinzuweisen, dass täglich Gesetze gebrochen werden – und zwar durch den den Staat. Die Letzte Generation sieht sich als Retterin der Demokratie. Sie will erreichen, dass demokratisch gewählte Volksvertreter demokratisch erlassene Gesetze umsetzen“ (TAZ., 17.Dezember 2022, Seite 2).
Und es ist ein Skandal, wenn manche Leute die Gefahr, die von den wirklich gewaltbereiten gemein gefährlichen rechtsextremen Reichsbürgern und der AFD ausgeht, mit der Präsenz der Letzten Generation vergleichen. „Der Staat ist inkonsequent, indem er Klimagesetze erlässt, an die er sich den nicht hält“. Das ist der Skandal, auf den auch die „Letzte Generation“ mit Nachdruck hinweist. Ulrike Herrmann schreibt weiterhin treffend: „Die Letzte Generation sind die echten Demokraten und sie glauben an den Staat“ (TAZ, 17.12.2022, S 2.).

7. Max Horkheimer klebt sich fest?
Wie hätte sich Horkheimer als einer der „letzten Bürger“ zu der „Letzten Generation“ verhalten? Dies ist eine spekulative Frage. Möglicherweise, wenn man die allgemeine Ängstlichkeit und den nur theoretischen Mut Horkheimers bedenkt: Er hätte als der „letzte der gut lebenden Groß-Bürger“ sicher nicht leidenschaftlich die jungen Leute der LetztenGeneration unterstützt und verteidigt, er hätte sich auf Frankfurts Strafen nicht festgeklebt, vielleicht hätte er wenigstens gegen die üble Verleumdung von Rechts und der Springer-Presse laut protestiert… Ein Horkheimer, der sich auf der Autobahn festklebt, ist aber undenkbar. Ein anderer, an den wir aus aktuellem Anlass denken müssen, Heinrich Böll, der Literaturnobelpreisträger vor 50 Jahren, 1972, hätte dies sicher getan. Er war nicht nur ein Theoretiker. Er war zum Beispiel aktiv bei der Mutlangen Blockade 1983 dabei.

8. Nietzsches “letzte Menschen”
Auch Friedrich Nietzsche spricht in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883) von den „letzten Menschen“. Sie stehen am Übergang zu einer neuen Menschheitskultur, die vom Übermenschen bestimmt sein wird. Er wird der schöpferische, ingesamt freie und herrschende Mensch sein, er wird den Nihilismus überwinden. Die „letzten Menschen“ sind als Menschen auch moralisch betrachtet „die Letzten“, weil sie sich als brave Bürger einschließen in ihre kleine Welt, die sich mit metaphysischen Sicherheiten aus Angst umgibt. Diese „Letzten“ sind lethargisch, müde, abseits jeder Kreativität. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“, schreibt Nietzsche.

9. “Die letzten Tage der Menschheit”
Auch auf Karl Kraus und sein großes Opus „Die letzten Tage der Menschheit“ soll hingewiesen werden. 1922 wurde diese Tragödie publiziert, sie „spielt“ im 1. Weltkrieg und zeigt, dass die letzten Menschen im Krieg und schon vor dem Krieg vor allem die verlogenen und gedankenlosen Bürger sind, zumal die Journalisten. Sie sind zu nichts anderem imstande, als dumme Sprüche zu verbreiten. Dummheit und Gedankenlosigkeit führen in den Krieg, bestimmen den Krieg, zerstören die Vernunft. Die „Letzten“ das sind die moralisch gesehen „letzten Bürger“ der so genannten „Intelligenz“. Diese letzten Menschen bewertet Karl Kraus als Verbrecher.

10. Paulus lebt im Schatten der Wiederkunft Jesu Christi als letzter Mensch, aber auch als einer der ersten Christen.
Ein letzte Hinweis auf den Apostel Paulus. Er war geprägt vom Glauben der ersten Gemeinde: Sie erwartete die Wiederkunft Jesu Christi alsbald, offenbar auch noch in der eigenen Gegenwart. Wie sollen sich Menschen auf dieses große Ereignis der Wiederkunft einstellen, wie sollen sie noch leben, das sind Fragen mit denen sich Paulus etwa in seinem Ersten Thessalonicher Brief (verfasst im Jahre 50) oder im Ersten Brief an die Korinther (verfasst im Jahre 53) befasst. Jesus von Nazareth war etwa im Jahr 33 am Kreuz elend gestorben.
Paulus nannte im Jahre 50 (die Gemeinde in Thessalonich „die Lebenden, die noch übrig geblieben sind“ (1 Thess, 4,17), Damit will er sagen: Es sind die noch auf Erden Weilenden, die :„übrig gelblieben sind“ vor der alsbald erwarteten Wiederkunft Jesu Christi…
Angesichts der grundstürzenden Veränderung der Welt durch die Wiederkunft Jesu Christi empfiehlt Paulus der Gemeinde in Korinth zu leben, als lebte man schon nicht mehr nach den Üblichkeiten der Welt: „Wer eine Frau hat, soll sich verhalten, als habe er keine. Wer die Welt nützt, soll so tun, als nütze er sie nicht (1 Kor. 7,29). Alles Weitermachen wie bisher, könnte man sagen, aber mit dem inneren Abstand, alles Weltliche nicht mehr ernst nehmen, „so tun als ob“, möchte man sagen: Das ist die Lehre des Apostels Paulus für die „letzte Generation“ in Korinth und Thessalonich. Das Wesentliche kommt später, sollte erwartet und innerlich vorbereitet werden. Das war ja einst (für manche Wissende heute immer noch) der Sinn des „Advent“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin