Freiheit – ist immer auch eine Freiheit FÜR andere: Lea Ypi.

Zur Philosophie der albanischen Autorin und Philosophin Lea Ypi
Ein Hinweis von Christian Modehn

Welcher Inhalt zum Begriff Freiheit zeigt sich für eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend im kommunistischen Albanien erlebte?

1.
Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi hat ein viel beachtetes autobiographisches Sachbuch veröffentlicht. Der Titel: „Frei“. Der Untertitel: „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“.
Lea Ypi, 1979 in Tirana geboren, beschreibt in dem Buch „Frei“ sehr ausführlich ihr äußerst beschwerliches Leben und das ihrer Familie und ihrer Freunde im „Sozialismus“ des Diktators Enver Hoxha. Die Zeit der so genannten „Transformation“ als mühevoller Abschied vom „Sozialismus“ wird aus subjektiver Sicht beschrieben. 1997 verlässt Lea Ypi das Land Richtung Italien, sie studiert zunächst in Rom, später u.a. in Paris, Berlin Philosophie und Literatur, seit 2016 ist sie Professorin an der angesehenen Universität „London School of Economics“.

2.
Die Geschichte des Mädchens Lea Ypi ist ein Ringen um Freiheit, wobei die Autorin nicht verschweigt, wie sie als Kind durch die Propaganda und Indoktrination in der Schule durchaus zu einem naiven Glauben an den Kommunismus fand und den Diktator – ehrfürchtig -„Onkel Enver“ nannte.

3.
Im expliziten Sinne philosophische Reflexionen zum Thema des Buches, also „Freiheit“, bietet das Buch vor allem im letzten Drittel.
Bedenkenswert etwa die Einsichten zu Widersprüchen im alltäglichen menschlichen Leben, etwa am Beispiel des Wunsches auszureisen, das eigene Land zu verlassen: Im Sozialismus wurde man verhaftet, wenn man ausreisen wollte. Im Kapitalismus ist der aus Albanien Ausreisende alles andere als willkommen, wie etwa in Italien, von dort wurden viele albanische Boots-Flüchtlinge wieder zurückgeschickt. Lapidar heißt es auf S. 199: „Welchen Wert hat das Recht auf Ausreise noch, wenn es kein Recht auf Einreise gibt?“ Und die Freiheit zu bleiben besteht auch nicht in Albanien damals (S. 200). Denn das Verbleiben im kapitalistischen Albanien bietet angesichts der Arbeitslosigkeit keine Lebenschancen. Weggehen oder Bleiben – beides bietet keine Lebenschancen.

4.
Zu denken geben die Reflexionen Lea Ypis zu zentralen politischen Begriffen: Die herrschenden Leitbegriffe der Lebensorientierung werden ausgetauscht. Der im Kapitalismus übliche Begriff „Zivilgesellschaft“ hat den sozialistisch – kommunistischen Begriff „die Partei“ ersetzt (S. 230). Zum Umfeld der „Zivilgesellschaft“ gehört für Ypi auch der Begriff „Liberalisierung“, der den Begriff „demokratischer Zentralismus“ abgelöst hatte“ (S. 231). „Privatisierung nahm die Stelle von Kollektivierung ein und Transformation die Stelle von Selbstkritik… Antiimperialistischer Kampf wurde durch Kampf gegen Korruption ersetzt“. (ebd.) Die Marktwirtschaft muss nun angekurbelt werden. (S. 261). Wie im Sozialismus gibt es also auch im liberalen Kapitalismus ein MUSS „Es gibt einen vorgeschriebenen Weg, der einzuhalten ist“ (S.261), sagt der Vater der Autorin, der nach dem Ende des Sozialismus Generaldirektor des Hafens wurde. „Er war weniger frei als er es sich vorgestellt hatte“ (S. 263). „Der Klassenkampf war nicht vorbei, das hatte der Vater begriffen!, (S.264), als er gezwungen war, aufgrund von so genannten neoliberalen „Strukturreformen“ (S. 242) Arbeiter im Hafen zu entlassen. Aber: Der Vater will sich die Namen der Entlassenen merken, er will sich stemmen gegen das Vergessen, er wehrt sich gegen eine Welt, in der Menschen nur noch als Zahlen in Statistiken vorkommen. Der Vater glaubt noch an ein Körnchen Güte in jedem Menschen.

5.
Entscheidend die Erkenntnis der Philosophin Lea Ypi: „Alle diese neuen Konzepte handelten von Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums“ (S. 231). Der einzelne steht nun absolut im Mittelpunkt der demokratisch – kapitalistischen Ordnung. Lea Ypi lässt keinen Zweifel daran, dass die Ideologie der Herrschaft des Individuums ergänzt und kritisiert werden muss durch die Erkenntnis: Freiheit ist immer auch Freiheit, FÜR andere und MIT anderen zusammen eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

6.
Es sind die Zweifel am Leben, an der Gesellschaft, am Staat, an der „Ordnung“ des Zusammenlebens überhaupt, die Lea Ypi zur Philosophie führen. „1990 hatten wir nichts außer Hoffnung gehabt; 1997 (dem Jahr des Krieges in Albanien aus ökonomischen Gründen) hatten wir selbst die Hoffnung verloren. Die Zukunft sah trostlos aus“ (S. 318). „Ich hatte nichts als Zweifel“ (S. 319).

7.
Als Philosophin zeigt Lea Ypi, dass der Mensch „trotz aller Zwänge nie die innere Freiheit verliert, die Freiheiten das Richtige zu tun“ (s. 323). Selbst im totalitären Kommunismus von Enver Hoxha war die Reflexionskraft der Eltern und der Großmutter noch schwach und ungebrochen da, sie wussten, wie sie in in einer Diktatur überleben konnten, etwa durch den Einsatz von Lügen gegenüber ihren Kindern bzw. Enkeln. Die Familie Ypi ist ein (seltenes) Beispiel dafür, dass Menschen, die sich die innere Freiheit der stillen Selbstreflexion bewahrt haben, selbst die stalinistische Diktatur relativ menschlich überleben können, ohne dabei mit dem Diktator zu paktieren.

8.
Lea Ypi verschweigt überhaupt nicht, dass sie sich als Philosophin und Autorin als Sozialistin versteht. Sie will sich die humanen Werte der sozialistischen Idee nicht nehmen lassen, nur weil so viele Diktatoren, sich sozialistisch nennend, nur auf autoritäre Herrschaft und Bereicherung bedacht waren. Mit dem üblichen westlichen Liberalismus kann Ypi wenig anfangen: „Ich setzte Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“.

9.
Lea Ypi will im Sinne ihres umfassenden Verständnisses von Freiheit (Freiheit ist immer auch Freiheit FÜR andere sich einzusetzen) den Werten und Idealen des Sozialismus treu bleiben, sie will, wie wie ganz am Ende ihres Buches schreibt, „den Kampf fortführen“(S. 329). Aber, wie sie im Interview des SRF Fernseh-Interviews „Sternstunde Philosophie“ (am 18.9.2022) sagte, sie verstehe Marx auch mit den ethischen Prinzipen Kants.

10.
Aber was kann der Untertitel des Buches bedeuten? „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“? Ist damit das Ende des albanischen Sozialismus bzw. Kommunismus gemeint? Oder nimmt Ypi ironisch Bezug auf ein Ende der Welt-Geschichte, das schon prominent verwendet wurden von dem us-amerikanischen Historiker Francis Fukuyama, der sein Buch 1992 „Ende der Geschichte“ nannte. Fukuyama behauptete: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion gebe es nur noch die Herrschaft der liberalen Demokratien. Dies käme dem Ende der Geschichte gleich, weil es nun keine Dialektik Ost-West mehr gibt. Diese Dialektik bewegte die Zeit, schuf Geschichte. Dieses Denkmodell „Ende der Geschichte“ bezieht sich auch auf die Hegel-Interpretation des Franzosen Alexandre Kojève. Er sagte, wie einige andere auch: Hegel meine tatsächlich, in seinem Denken an eine Art Endpunkt gekommen zu sein, und gezeigt zu haben, dass nun im Preußischen Staat alle Widersprüche aufgelöst seien, dass alles begriffen ist, dass die Versöhnung real wurde Und dies könnte eine Art „Ende der dialektisch bestimmten Geschichte“ sein.
Aber Fukuyama blieb skeptisch: Es bleibt die Versuchung, zurück zum Krieg zu degenerieren.

Lea Ypi, „Frei“. Suhrkamp Verlag 2022, 7.Aufl. 2023, auch als Taschenbuch, 333 Seiten, übersetzt von Eva Bonné.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jacques Gaillot gestorben – Hinweise zu einem außergewöhnlichen Bischof!

Bischof Jacques Gaillot ist am 12. April 2023 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Hinweise von Christian Modehn am 13.4.2023.

Es ist keine Übertreibung: Jacques Gaillot war ein ganz außergewöhnlicher Bischof, ein Mensch, der frei und mutig als Bischof lebte und als Bischof lehrte, was er selbst vor seinem Gewissen im Angesicht der Moderne und der Bibel leben und lehren konnte. Er war alles andere als ein Kirchen-Funktionär, er fühlte sich frei …und nicht unbedingt verpflichtet, die offizielle Lehre der katholischen Kirche zu vertreten. Denn er wusste: Diese ganze alte Kirchenlehre und ihre alte Moral sind oft Ausdruck einer vergangenen Ideologie. Und er wusste: Christlicher Glaube ist zuerst Solidarität mit den Armen und mit den vom Kapitalismus arm Gemachten weltweit, mit den Obdachlosen, den Flüchtlingen, den Ausländern, den sexuellen Minderheiten, den Wohnungslosen. Darum fühlte sich Bischof Gaillot in diesen Kreisen am wohlsten.

Ich habe seit 1982 Jacques Gaillot mehrfach getroffen und über ihn zahlreiche Ra­dio­sen­dungen, Zeitschriftenbeiträge und Filme fürs ERSTE (ARD) realisiert.

Aus meinen zahlreichen Veröffentlichungen nur diese Hinweise:

Abschied und Trauer: Gedenken an Jacques Gaillot LINK

Grundlegend, ein Buch-Beitrag von 2010: “Aus Gewissensgründen NEIN sagen”:  LINK

Ebenso: “Menschlichkeit zuerst”: LINK 

Ökumene mit Protestanten auch im gemeinsamen Abendmal praktizieren: LINK

Für die “Homo-Ehe” (2013): LINK

Für eine humane Form der aktiven Sterbehilfe:  LINK

Wird Bischof Gaillot vom Papst rehabilitiert? LINK

Zwei Halbstunden-Dokumentationen fürs ERSTE (ARD) über JACQUES GAILLOT: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Was heißt „philosophisch fasten“? Die 12. „der unerhörten Fragen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4.3.2023.

Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
Hat Philosophie zum Fasten und zur „Fastenzeit“ etwas Konstruktives, Weiterführendes, Kritisches beizutragen?
Wenn man Philosophien als Interpretationen des geistvollen Lebens versteht: Dann ist das gar keine Frage. Nur: Diese Frage wurde bisher kaum gestellt, kaum gehört, bleibt unerhört.
2.
Schon im Blick auf die neuzeitliche Geschichte des Philosophierens zeigt sich: Mit dem Fasten haben sich Philosophen, etwa Kant und Nietzsche, immerhin, mit knappen Aussagen, beschäftigt. Sie haben dabei Fasten im engeren Sinne, der kirchlichen Tradition folgend, als Verzicht auf üppige (fleischliche) Nahrung verstanden. Nietzsche wetterte in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) gegen das Fasten als eine Form des „Pharisäismus“, und er kritisierte die Bereitschaft der Fastenden, sich selbst Leiden und Schmerzen (durch Hungern) anzutun. Und Kant sah im katholisch geprägten Fasten nichts als eine „Mönchs-Asketik“, die „mit abergläubischer Furcht vor Gott verbunden ist“ (so in der „Metaphysik der Sitten“, 1797).
Kant nennt eher beiläufig das entscheidende aktuelle Stichwort, auf das wir uns – nach einleitenden Überlegungen – konzentrieren: Kant sprach von „Askese“, d.h. von „geistiger und körperlicher Übung“, im Lateinischen „Exercitium“ genannt, dies sind die zentralen Leitbegriffe griechischer und römischer Philosophen der Antike in ihrer Suche nach „Lebenskunst“.
3.
Heute gilt Fasten jenseits religiöser, spiritueller und philosophischer Traditionen als ein gesundheitlicher, auch medizinischer Wert. Fastenzeit im „säkularen Sinn“ ist dann nicht mehr als eine besondere (finanziell oft teure) Phase in der üblichen Pflege des eigenen Wohlbefindens, der eigenen guten Figur.
4.
Gelegentliches Fasten (in „Fastenzeiten“ oder Fastenkuren gegen das Übergewicht etc.) hat in der reichen Welt sozusagen dialektisch viel mit andauerndem „Fasten“ als dem ständigen Hungern (oft auch Verhungern) von Millionen Menschen im armen Süden dieser Welt zu tun. Sie müssen „fasten“ aufgrund des ungerechten Weltwirtschaftssystems. Wenn das so ist, dann hat das von unserer Ökonomie erzwungene Dauer-Fasten der Armen viel mit „Fasten“ der (häufig übergewichtigen) Reichen in den „Wachstumsgesellschaften“ zu tun. Beide Arten zu fasten sind zwei Gesichter der herrschenden neoliberalen „(Un)-Ordnung“ und ihres Dogmas des „ständigen Wachstums“.
Ein historischer Hinweis: Im Mittelalter fasteten die ohnehin stets gut versorgten Mönche und Nonnen, sie verzichteten auf Fleisch, aßen viel Fisch und tranken starkes Bier. Sie blieben also gut versorgt und … beleibt. Die arme Bevölkerung, die Frommen, die für das Kloster arbeiteten, fasteten das ganze Jahr über…
Aber es gibt heute bei vielen Menschen im „reichen Norden“ doch ein Unbehagen an dieser Situation der ungerechten Verteilung der Güter. Sie entdecken darum ihr Fasten auch als geistigen Prozess, als Suche nach dem eigenen, dem wahren Leben inmitten eines falschen, d.h. ungerechten Lebens.
5.
Und damit sind wir beim philosophischen Thema: Gibt es ein besonderes Fasten, das als kritisches Nachdenken gestaltet wird? Das also ein „Denk-Fasten“ ist, natürlich nicht als Verzicht aufs Denken, sondern gerade als neue Einübung des eigenen Denkens. Ein Fasten also, das als kritische Selbstbesinnung geschieht. Ein Fasten, in dem das Gewissen geprüft wird, und Nachdenkliche über das richtige Leben sprechen.
6.
Was heißt das? Wer in dieser Weise philosophisch fastet, versucht konkret, seine Gedanken, seine Werte, seine Ideologien, seine Urteile und Vorurteile selbstkritisch zu betrachten, Abstand von den eigenen Denk-Üblichkeiten zu nehmen, in Distanz zu sich selbst zu treten. Das eigene kritische Denken soll in der Lage versetzt werden, die eingefahrenen Denk-Üblichkeiten bzw. Denkzwänge zu erkennen … und zu korrigieren und zu überwinden.
Voraussetzung dafür ist, dass das Leiden an den bisherigen eigenen Denk-Gewohnheiten und das sind Lebens-Gewohnheiten, so groß ist, dass dass Verlangen nach einem authentischen humanen Leben nicht mehr unterdrückt werden kann. Das falsche Leben zeigt sich als solches etwa bei kritischer Achtsamkeit auf tiefsitzende „Sprüche“, wie: „Es hat ja alles kein Sinn“, „Es gibt sowieso keine Wahrheit“, „Alles ist relativ“, „Die Politiker lügen nur“, „DIE XY …Leute sind alle blöd“, „ich bin zu alt, um das noch zu machen“, „ich kann die Welt doch nicht verbessern“ usw.
7.
Wer philosophisch fastet, will also nicht länger hinnehmen, in seinem Geist von vielen sich widersprechenden Ideen, eigentlich leeren Sprüchen, Slogans, Dogmen, bestimmt zu sein. Philosophisch fasten bedeutet sozusagen ein Aufräumen im eigenen Geist, Befreiung von Schrott-Gedanken, philosophisch fasten bedeutet den Versuch, Wichtiges von Unwichtigem, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und dann auch zu trennen. Dabei entsteht die Frage: Was sind denn die Kriterien, um meinen Gedankenschrott als solchen zu erkennen, um danach zu einem befreiten, humaneren, gerechteren, ökologisch hilfreichen Lebens kommen? Können als Kriterien nur „meine“ subjektiven, nur mir guttuenden Werte gelten? Ich bin immer eil der einen Menschheit, also an allgemeine, für mich und für alle anderen geltenden Menschenrechte und Menschenpflichten gebunden. Da sind die Kriterien zu suchen.
8.
Philosophisch fasten ist ein Projekt für mein ganzes Leben, ein Projekt, das nie an ein Ende kommt. Philosophie, wörtlich übersetzt, ist Liebe zur Weisheit, und Liebe gelangt nie an ein Ende. „Die Liebe hört niemals auf“, heißt es im Weisheitsbuch „Die Bibel“, diese Erkenntnis gilt auch für die Liebe zur Weisheit, zur Philosophie. Und Liebe ist nie vollendet. Menschliches Leben, das allen Werten oder gar Idealen entsprechend irgendwann einmal perfekt und makellos dastehen will, lässt sich nicht verwirklichen. Dieser Wunsch hätte etwas Zwanghaftes.
9.
Nicht nur der innere, der Dialog mit sich selbst, auch der Dialog mit anderen gehört zum philosophischen Fasten. Man könnte auch an „philosophische Gemeinschaften“ oder „Gemeinden“ denken, die nicht Diskutierclubs der Rechthabenden sein sollten, sondern Gruppen, in denen die TeilnehmerInnen miteinander geduldig den Weg der Befreiung von belastenden Denk-Zwängen, Ideologien etc. zu gehen bereit sind. Philosophen hatten in der griechischen Antike meist ihre eigenen Schulen, d.h. Orte, Häuser, gemeinsamen Lebens. Auch die Kirche verstand sich im 2. Jahrhundert als eine „Philosophie“, als eine unter vielen philosophischen Schulen. Die Kirche hat später, zur Staatskirche geworden, die anderen philosophischen Schulen verdrängt und die so eingeschränkte Philosophie zur „Dienerin der Theologie“ degradiert. Es wäre an der Zeit, Philosophie wieder als „Schule des Lebens“ zu entdecken und zu verwirklichen. Zum Thema “Kirche als ohilosophische Schule”: LINK
10.
Die philosophische Fastenzeit kennt keine zeitliche Begrenzung etwa auf 40 Tage, wie in den Kirchen. Philosophische Fastenzeit ist immer möglich und nötig. Auch wenn sie, wie oben beschrieben, eine Zeit des Verzichts ist, des Loslassens, des Nein zu bisherigen Üblichkeiten ist: So ist Gelassenheit, ist Zuversicht, als Stimmung entscheidend. Man soll jedenfalls nicht „sauer aussehen“, wie der fastende Weisheitslehrer Jesus von Nazareth seine Jünger belehrte. Man muss diese Worte Jesu nur aktuell übersetzen. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinschauen wie die Heuchler, denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten“, sagte Jesus (Matth. 6, 16 „nach der Luther-Übersetzung“). Jesus, der Weisheitslehrer, empfiehlt hingegen: „Salbe (beim Fasten) dein Haupt und wasche dein Gesicht“ (Vers 17). Also das heißt: „Mach dich schön, für dich und andere, freu dich deines Lebens gerade im (leiblichen) Fasten und natürlich auch beim philosophischen Fasten. In diesen Kriegs-Zeiten ist diese Aufforderung wahrlich eine Provokation…
11.
Das philosophische Fasten sollte von einer zuversichtlichen, fröhlichen Stimmung beherrscht sein. Bestimmt von der Freude darüber, dass ich, dass wir, unseren geistigen Schrott selber ausmisten können, wegwerfen können all diese dummen Ideologien und Verschwörungstheorien, alle diese Sprüche der Boulevardpresse, die nur gezielt verblöden wollen, um uns unmündig zu halten. Alle diese katholischen Dogmenberge gilt es zu beseitigen und den autoritären Wahrheits-Wahn, in tausend Büchern über das Kirchenrecht mitgeteilt von klerikalen Wächtern und oft pädo-sexuellen Tätern…
Es gilt also, die von der Vernunft gesteuerten Entrümpelungen, Befreiungen des eigenen Geistes als Fest zu feiern, froh darüber, dass wir mit unserem kritischen Geist in der Lage sind, uns selbst vom Übel, d.h. vom Gedankenschrott, zu befreien und unser kurzes Leben sinnvoller zu gestalten
12.
Der Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hat sich selbst, als er (klassisch, also hungernd) fastete, zurückgezogen in die Wüste. Auch ein interessantes Bild, das die Bibel mitteilt.
Übersetzen wir diesen seinen zeitlich begrenzten Ausstieg aus der Welt des Alltags ins philosophische Fasten: Wer wieder selbstkritisch denken will: Der oder die ziehe sich regelmäßig zurück aus dem Trubel des Alltäglichen, lerne in der Stille und Einsamkeit wieder selber zu denken, habe den Mut seine eigenen Gedanken ernst zu nehmen. Und das kann man und muss man üben …in der eigenen „Kammer”, die jeder für sich – wenigstens als geistiges Refugium – errichten sollte.
13.
Es muss zum Schluss – leider viel zu kurz – noch einmal auf griechische und römische Philosophen hingewiesen werden. Ihnen verdanken wir die bis heute gültigen Begriffe Askese (Übung, Verzicht, auch als Fasten) und Exerzitien (geistliche, geistige Übungen, oft in eins mit leiblichem Fasten).
Die Wieder-Entdeckung dieser ständigen Dimension griechischer und römischer Philosophie der Antike und Spätantike, vor allem der Stoa, des Platonismus und Epikurs, verdanken wir dem großen französischen Philosophen Pierre Hadot. Andere, wie Michel Foucault haben von ihm enorm profitiert. Foucault etwa in seinen Studien über die „Sorge um sich selbst“ oder auch der deutsche philosophische Schriftsteller Wilhelm Schmid mit seinen zahlreichen Publikationen zur Lebenskunst.
14.
Welche Impulse können wir von Pierre Hadot mitnehmen auf der Suche nach den Möglichkeiten philosophischen Fastens? Leider sind nur wenige Werke Hadots ins Deutsche übersetzt, halten wir uns an sein Buch „Philosophie als Lebenskunst“ (Fischer Taschenbuch Verlag, 2002, für viel Geld ist dieses wichtige Buch noch antiquarisch zu haben, eine Schande, dass es keine Neuauflage des Verlages gibt).Zu Hadot:  LINK
Hadot legt wert darauf, dass philosophisches Fasten als Askese nur möglich ist, mit einer geistigen, einer spirituellen (aber nicht religiösen, nicht konfessionellen) Praxis. Askese ist eine „Arbeit des Ichs“ (S. 180), die ihre alltägliche Übung in der „Gewissenserforschung“ findet, eine Übung, die von Philosophen empfohlen wurde, gerade als Befreiung, wie wir sagten, von Schott der uns eingebläuten ideologischen Sprüche etc.
Zur philosophischen Übung im philosophischen Fasten gehört für Hadot auch die Vertiefung in zentrale philosophische Erkenntnisse und Weisheiten, also die Lektüre, des Bedenken der Texte, lernbereit, aber auch kritisch.
Noch wertvoller ist das Buch Hadots „La Philosophie comme manière de vivre“, (Albin Michel, Paris, 2001, auch als „Livre de poche“). „Die Philosophie als Art zu leben“, liegt leider nur in französischer Sprache vor. Darin zeigt Hadot ausführlich, dass der auch in katholischen Kirchenkreisen bekannte Begriff der „geistlichen Exerzitien“ (ein Begriff, der durch Ignatius von Loyola katholische Bedeutung bekam) seinen Ursprung hat in der antiken Philosophie. Pierre Hadot verweist auf entsprechende Studien von Paul Rabbow, der zeigt. „Das Wort Exerzitien war nicht religiös geprägt, es hat einen philosophischen Ursprung.“ (S. 152).
15.
Philosophie könnte durch die Praxis „philosophischen Fastens“ wieder für weite Kreise relevant werden. Philosophie wird dann aus den Seminaren der Universitäten befreit, sie ist kein Sonderthema für Spezialisten, sondern wird Ausdruck der Suche der Menschen nach einem guten (d.h immer auch gerechten) Leben.
16.
Wir leben in Kriegszeiten. Sehr viele Menschen in den meisten Ländern sind auf unterschiedliche Art betroffen von dem durchaus „total“ zu nennenden Angriffskrieg des Diktators Putin gegen die Ukraine. Total ist dieser Krieg, weil er die die meisten humanen Grundlagen von Sicherheit, Ökonomie, Ernährung, Solidarität usw. weltweit verwirrt, stört und zerstört. Weil dieser Krieg Putin mit einer kalten, verbrecherischen Selbstverständlichkeit viele tausend Tote in der Ukraine wie auch in Russland in Kauf nimmt. Das heißt ja nicht, dass Putin der einzige Politiker im 20./21. Jahrhundert ist, den man als Verbrecher bezeichnen muss.
17.
Bundeskanzler Scholz hat gleich nach Kriegsbeginn diese Erfahrung einer neuen Situation in Zeiten des totalen Krieges auf den Begriff gebracht: Es ist die „Zeitenwende“.
Ein Wort, das dazu auffordert, philosophisch etwas ausführlicher bedacht zu werden. „Zeiten-Wende“ meint: Umbruch der Lebensverhältnisse, Umbruch der Strukturen dieser Welt und der Gesellschaften, Wende der Zeiten als Epochenwende. Das will sagen: Nichts bleibt so, wie es einmal war. Die bisherigen Koordinaten wurden verändert. Die in der westlichen Welt vertraute Zeit, also unsere Epoche, hat sich „gewendet“ und wurde nach der Wende beendet.
18.
Aber es ist nicht nur eine philosophische Liebe zu Nuancen, wenn man genauer fragt: Was heißt denn „wenden“: Wenden bedeutet auch: Ich wende eine Seite eines Buches, nach vorn oder nach hinten. Wenden heißt auch Umdrehen, Herumdrehen, Weiterdrehen. „Tourner“ heißt das vieles Bedeutende französische Verb.
Aber auch das Rückwärts-Gewandte (Gewendete) ist mit „Wende“ immer mit-gemeint: Ich wende mich um, blicke in die Vergangenheit, ich stehe aber in der Gegenwart im Blick auf die erinnerte, ferne Vergangenheit. Mit ihr muss ich mich auseinandersetzen, und fragen, was ist alles falsch gelaufen, dass es zu dieser globalen Wende kommen konnte? Die „aktuelle Bewältigung“ der Wende darf den kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit nicht blockieren…
19.
In Deutschland hat sich das Wort „Wende“ seit dem Ende der DDR 1989 sozusagen „eingebürgert“. Bekanntlich wurde der Beitritt der DDR und der DDR Bürger zur BRD als Wende bezeichnet. Die DDR „wendete“ sich, d.h. sie wandte sich der BRD zu, auch auf Druck der BRD. Die DDR wurde in dieser Wendung Teil der BRD, was manche DDR Bürger als Übernahme, wenn nicht „Einverleibung der BRD durch die DDR“ erlebten und deuteten.
Manche hätten lieber von Umbruch gesprochen, einige sogar von Revolution als der Vertreibung der DDR- Herrscher durch das Volk. Aber letztlich meinen viele doch, wenn sie von der Wende 1989 sprechen, ein positives Ereignis. Die DDR Diktatur wünscht sich fast niemand zurück.
Hat das Wort Wende in der „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz eine positive Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Europa und die wenigen verbliebenen Demokratien stehen einem Block von autoritären Regimen gegenüber. Und die Religionen? Sind sie in dieser Epochenwende hilfreich? Sie zeigen ihre ganz spirituelle Schwäche, sie sind nicht in der Lage, sich religiös nennende Menschen wirklich zu einem humanen und vernünftigen Verhalten anzustiften. Die katholische Kirche ist nur mit Eigenem, Strukturellen, Kirchenrechtlichen befasst. Katastrophal ist die Situation der russisch-orthodoxen Kirche. Sie wird von dem
Kriegstreiber und Putin Freund Patriarch Kyrill von Moskau beherrscht. Er fordert in seinem nationalistischen – religiös – reaktionären Wahn das todbringende Opfer der russischen Soldaten in diesem Krieg.Und man muss sich fragen und sollte diese Frage bald vertiefen: Was hat dieser Theologe und sich Christ nennende Patriarch Kyrill eigentlich in all den Jahren vom christlichen Glauben gelernt, als er im „Ökumenischen Weltrat oder Kirchen“ (ÖRK) in Genf ein und ausging als „angesehenes Mitglied“ dieser Vereinigung. Man möchte antworten: Gar nichts hat er in den vielen, so oft hoch gepriesenen Dialogen und Konferenzen in Genf und anderswo gelernt. Und muss dann weiterfragen: Welchen Sinn haben dann eigentlich diese theologischen Debatten auf hohem Niveau, etwa in Genf?
20.
Was bleibt als vorläufige Erkenntnis: So sehr sich auch das Wort Zeitenwende einzubürgern scheint: Dieses viel zitierte Scholz-Wort vom 27.2.2022 trifft die reale Situation der Welt jetzt (4.3.2023) nicht mehr: Man sollte eher von Umsturz der bisherigen Welt-Ordnung sprechen, von Epochen-Umbruch, von Umwälzung, Umsturz, von radikalem Einschnitt. Aber diese Worte sind nicht so griffig, nicht so gefällig und zugänglich wie „Zeiten-Wende“.
„Zeitenwende“ klingt da eher neutral und wirkt so noch etwas beruhigend. Zurecht?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Die 10. “Unerhörte Frage”.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 ist zuallererst eine Herausforderung, ein Appell, eine Verpflichtung, schnell und umfassend den leidenden Menschen zu helfen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der ganz erschreckenden, großen Erdbeben – Katastrophen der Geschichte.

Es erinnert an das heute immer noch zitierte Erdbeben von Lissabon am 1.11. 1755, das so heftig war, dass die Erschütterungen viele hundert Kilometer von Lissabon entfernt deutlich spürbar waren.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 hat tiefe Erschütterungen auch unter damaligen Philosophen ausgelöst, vor allem die Arbeiten Voltaires sind vom Erdbeben in Lissabon bestimmt.

Es wurde damals die Frage gestellt: Wie kann Gott diese Katastrophe zulassen? Ist er noch der gute Gott, der gute Schöpfer dieser Welt?

Wird diese Frage auch angesichts der Erdbeben – Katastrophe in der Türkei und Syrien 2023 gestellt? Interessiert sie die Menschen, wird sie von Philosophen und Theologen reflektiert werden?

Das ist möglich und wahrscheinlich, trotz aller Säkularisierung des Denkens im allgemeinen. Wie dieses konkrete Ereignis im islamischen – theologischen Kontext diskutiert wird? Das bleibt abzuwarten (geschrieben am 8.2.2023, CM).

Aber entscheidend ist, bevor man in unkritische, sich bloß “metaphysisch” nennende Fantasien abschweift: Es muss genau festgestellt werden, in welchem nachweisbaren Umfang menschliches Versagen, also auch das Versagen von Politikern, für den Tod so vieler Menschen wegen des Erdbebens verantwortlich ist. Das Erdbeben  in der Türkei vom 6. Februar 2023 ist nicht nur “Schicksal”.

2.

Wer sich religionsphilosophisch mit diesem Thema befasst, muss also zuerst die politischen Kontexte analysieren, bevor philosophische Reflexionen interessant sein können:

Also: Was hat die türkische Regierung ignoriert an Warnungen kompetenter türkischer Geologen?  „Hüseyin Alan leitet die Kammer der Ingenieur-Geologen in der Türkei. Er hatte Behörden und sogar das Präsidialamt erst kürzlich vor Erdbeben in der Region gewarnt, die es jetzt getroffen hat – doch keine Antwort erhalten.“ (Der SPIEGEL, 7.2.2023).

Wurden die Häuser in dem Erdbeben gefährdeten Gebiet in der Türkei entsprechend sicher gebaut, was ja prinzipiell möglich ist? Die türkischen Geologen und Ingenieure und kritischen Politiker sagen: Nein.

Es gab Dutzende Beben in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei. Viele tausend Menschen kamen ums Leben. Es ist nachweislich (und wohl bewusst) versäumt worden, alle Häuser und Neubauten erdebensicher zu bauen.  Staatspräsident Recep Erdogan lügt also, wenn er jetzt sagt: “Diese Dinge (Erdbeben) geschehen einfach, das ist ist Schicksal” (Tagesspiegel, 11.2.2023, Seite 8). Erdbeben als Erdbeben werden Menschen nicht verhindern können, insofern ist Erdbeben AUCH “ein bißchen” Schicksal; aber die Ausmaße des Leidens der Menschen in Erdbebengebieten können eingeschränkt, wenn nicht verhindert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen in der Türkei sich jetzt, förmlich im Leiden “aufgewacht”, von Erdogan befreien können.

Erst wer menschliche Fehler und Versäumnisse angesichts dieser (und anderer) Katastrophe(n) festgestellt und bewiesen hat, kann zur religionsphilosophischen Frage kommen:
„Warum hat Gott als der Schöpfer der Welt diese Katastrophe nicht verhindert und zugelassen?“

Diese Frage wird nur diejenigen bewegen, die einen „Schöpfer“ der Welt noch im Denken annehmen können.

Wer sich in seinem Denken einmal darauf einlässt, kommt zu einigen Einsichten: Und die erscheinen etwas abstrakt, sie sind vorsichtige Hinweise, die gar nicht zynisch gemeint sind. Auch wenn diese Frage die Grenzen des Erkennbaren berührt, können doch einige Hinweise weiteres Nachdenken fördern:

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er die Welt als Welt erschaffen. Welt ist dann als endliche, begrenzte, fehlerhafte Welt zu verstehen. Wäre die Welt vollkommen, fehlerfrei, nicht-endlich, dann wäre sie förmlich eine göttliche Wirklichkeit neben dem „schöpferischen Gott“. Und die klassische Metaphysik sagt dazu: Wenn Gott wirklich als Gott gedacht ist, dann kann er neben sich nicht noch einen weiteren Gott, also eine göttliche und perfekte Welt neben sich haben. In einer als Gott gedachten perfekten Welt gäbe es dann auch keinen Tod mehr. Der Mensch wäre selbst ein ewiges Wesen, würde er dann noch (ewige?) Nachkommen zeugen und gebären usw.? Die philosophische Spekulation erreicht jetzt förmlich absurd wirkende Dimensionen. Bescheidenheit ist also auch philosophisch gefordert. Diese ist aber etwas anderes als der prinzipielle Denk – Verzicht, überhaupt das Erdbeben mit einem schöpferischen Gott oder göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen.

Die klassische Metaphysik beharrt also auf der Erkenntnis: Die Welt ist endlich, fehlerhaft, begrenzt. Die Menschen sind dem Geschehen einer nicht immer voll kontrollierbaren Natur ausgesetzt, wie etwa dem Erdbeben. Es kann ja prinzipiell sein, dass eines Tages die verheerenden Erdbeben stark eingeschränkt werden können, durch Forschung, Voraussage, und kompetente Politiker…

3.

Trösten diese Gedanken der unvollkommenen Schöpfung die betroffenen Opfer? Zunächst ist ihre Wut auf die korrupten “Politiker” in der Türkei und den Diktator in Syrien am größten. Aber solange die Überlebenden und Leidenden noch die Hoffnung und den Überlebensmut bewahren und aus ihm heraus das „Danach“ gestalten, ist doch eine geistvolle inspirierende Kraft in ihnen lebendig und wirksam. Sie werden sich hoffentlich für demokratische Politiker in ihren Ländern einsetzen können, mit Hilfe der wenigen auf dieser noch Welt noch verbliebenen Demokratien! Die heldenden Demokraten werden gleichsam auch zu Boten der Hoffnung, um es einmal etwas pathetisch, aber treffend zu sagen.

Philosophen und Metaphysiker nennen diese geistvolle und inspirierende Überlebenskraft der Hoffnung eine Art „Funken“ der Ewigkeit, der in den Menschen (als den „Geschöpfen eines Ewigen, Göttlichen…) lebt. Und hoffentlich niemals zum Verschwinden zu bringen, niemals zu töten, ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Willkommen im Religions-Philosophischen Salon Berlin

Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist seit 2007 eine Initiative von Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus. Seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 gab es keine öffentlichen Salon – Veranstaltungen (“Präsenz-Veranstaltungen”) mehr, hingegen werden oft neue Beiträge als Hinweise zur Debatte auf unserer Website publiziert.

Warum ein religionsphilosophischer Salon?
Warum ein religionsphilosophischer Salon?

1.

Der Titel und die „Sache“ „philosophischer Salon“ sind alles andere als verstaubt. Das Interesse an philosophischen Gesprächen und Debatten in überschaubarem Kreis, in angenehmer Atmosphäre (also in einem „Salon“), ist evident.
(Frontal-) Vorträge – etwa in Akademien – vor zahlreichem, weithin bloß zuhörendem Publikum sind oft Ausdruck autoritären Belehrens. Ein Salon ist ein freundlicher Ort des Dialogs.

2.

In unserem religionsphilosophischen Salon soll das Philosophieren geübt werden, also das selbstkritische, systematische Nachdenken. Das Thema Religion wird auch in den heutigen Philosophien ernst genommen. Philosophische Religionskritik hat nicht mehr Sinn zu beweisen, dass Religion bedeutungslos ist, im Gegenteil: Philosophische Religionskritik zeigt, welche Form einer vernünftigen Religion bzw. Spiritualität heute zur Lebensgestaltung gehören kann. Und welche Gestalten von Religion/Kirchen/”Sekten” alles andere als einen befreienden Charakter haben. Der Klerikalismus herrscht ungebrochen in der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen; im weiten Feld des Evangelischen nimmt die Herrschaft der fundamentalistischen evangelikalen Kirchen ständig. freisinnige, vernünftige christliche Kirchen sind leider marginal (vgl. die Remonstranten). 

3.

Unser religionsphilosophischer Salon ist wichtig angesichts des tiefgreifenden religiösen Umbruchs in Deutschland /Europa. Die Bindung an die Kirchen lässt bekanntlich immer mehr nach. Die so genannte Säkularisierung nimmt zu. Aber Säkularisierung bedeutet gerade nicht automatisch Zunahme des Atheismus. Religionsphilosophische Salons können die Themen der Religionen und das subjektive Bewegtsein durch religiöse Fragen angesichts der Kirchenkrise vernünftig weiterführen, in der Freiheit des Geistes… über den Klerikalismus oder den vielfältigen religiösen Fundamentalismus hinaus.

4.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es nur im Plural, die (Religions-)Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika dürfen nicht länger als „zweitrangig“ behandelt werden. In welcher Weise Religion dort zum „Opium“ wird angesichts des Elends so vieler Menschen, ist eine besonders relevante Frage, auch angesichts der Zunahme christlicher und muslimischer Fundamentalismen. Dringend wird die Frage: Inwieweit ist philosophisches Denken Europas eng mit dem kolonialen Denken verbunden?

5.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien bieten also in ihren vielfältigen Entwürfen unterschiedliche Hinweise zur Fähigkeit der Menschen, ihre engen Grenzen zu überschreiten und sich dem im Denken zu nähern, was die Tradition Gott oder Transzendenz nennt. Dabei treten diese unterschiedlichen Entwürfe in einen lernbereiten Dialog. In unserem religionsphilosophischen Salon gibt es z.B.ein starkes Interesse am (Zen-) Buddhismus.

6.

Uns ist es wichtig uns zu zeigen, dass Menschen im philosophischen Bedenken ihrer tieferen Lebenserfahrungen das Endliche überschreiten können und sollen und das Göttliche, das Transzendente erreichen können. Das Göttliche als das Gründende und Ewige zeigt sich dabei im Denken als bereits anwesend. Es ist sozusagen unthematisch gegenwärtig im Geist des Menschen.
Wenn der Mensch nach dem Göttlichen fragt, hat er also notwendigerweise „immer schon“ ein gewisses Vorverständnis vom Göttlichen. Dieses „Vorwissen“ gilt, nebenbei, für alles Fragen und Suchen.

7.

Insofern ist Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auch eine subjektive Form der Lebensgestaltung, d.h. eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie kennt keine Dogmen, sicher ist nur das eine Dogma: Umfassend selbstkritisch zu denken und alle Grenzen zu prüfen, in die wir uns selbst einsperren oder in die wir durch andere, etwa durch politische Propaganda, durch Konsum und Werbung im Neoliberalismus, eingeschlossen werden. In dieser Offenheit, Grenzen zu überschreiten, zeigt sich die Lebendigkeit der Religions -Philosophie. Philosophieren ist etwas Lebendiges, im Unterschied zu vielen klerikalen Konfessionen ist sie nichts Erstarrtes voller Verbotsschilder

8.

Diese „Entdeckungsreisen“ der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können angestoßen werden durch explizit philosophische Texte, aber auch durch Poesie und Literatur, Kunst und Musik, durch eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, durch die politische Analyse der vielfachen Formen von Unterdrückung, Rassismus, Fundamentalismus. Mit anderen Worten: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie findet eigentlich in allen Lebensbereichen statt, kann sich von allen „Produkten des Geistes“ (Hegel) bewegen lassen. Wer die Gesprächsthemen anschaut, die wir seit 2007 in den meist monatlichen Veranstaltungen („Salon-Abende“) in den Mittelpunkt stellen, wird von der großen Vielfalt überrascht sein. Bisher fanden ca. 100 Salon-Gespräche statt.

9.

Wo hat unser religionsphilosophischer Salon seinen Ort? Als Raum eignet sich nicht nur eine große Wohnung oder der Nebenraum eines Cafés, sondern auch eine Kunst – Galerie. In den vergangenen 7 Jahren fanden wir in der Galerie „Fantom“ in Charlottenburg freundliche Aufnahme. Zuvor in verschiedenen Cafés. Kirchliche Räume, Gemeinderäume etwa, sind für uns keine offenen und öffentlichen Räume. Sie sind meist nicht sehr „inspirierend“, d.h. sie sind „ungemütlich“, also keine Salons, sondern eher Amtsstuben.

10.

In unserem religionsphilosophischen Salon sind selbstverständlich Menschen aller Kulturen, aller Weltanschauungen und Philosophien und Religionen willkommen. Unser Salon ist insofern hoffentlich ein praktisches Exempel, dass es in einer Metropole – wie Berlin – Orte geben kann, die auch immer vorhandenen „Gettos“ überwinden.

11.

Unser religionsphilosophischer Salon sollte auch ein Ort freundschaftlicher Begegnung und menschlicher Nähe. Darum haben wir in jedem Jahr im Sommer Tagesausflüge gestaltet, mit jeweils 10 – 12 TeilnehmerInnen: Etwa nach Erkner (Gerhart Hauptmann Haus), Karlshorst (das deutsch-russische Museum), Jüterbog als Ort der Reformation, das ehem. Kloster Chorin, Frohnau (Buddhistisches Haus), Lübars… Außerdem gestalteten wir kleine Feiern in privatem Rahmen anlässlich von Weihnachten. Auch ein Kreis, der sich mehrfach schon traf, um Gedichte zu lesen und zu meditieren, hat sich aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entwickelt. Aber alle diese Initiativen waren (und sind wohl) mühsam, u.a. auch deswegen, weil letztlich die ganze Organisation von den beiden Initiatoren – ehrnemtlich selbstverständlich – geleistet wurde und wird.

12.

Anlässlich der „Welttage der Philosophie“, in jedem Jahr im November von der UNESCO vorgeschlagen, haben wir größere Veranstaltungen mit über 60 TeilnehmerInnen im Berliner AFRIKA Haus gestaltet, etwa mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb, dem Theologen Michael Bongardt. Der Berliner Philosoph Jürgen Große hat in unserem Salon über Emil Cioran gesprochen, der Philosoph Peter Bieri diskutierte im Salon über sein Buch „Wie wollen wir leben?“, die Politologin Barbara Muraca stellte ihr Buch „Gut leben“ vor, Thomas Fatheuer von der Heinrich – Böll- Stiftung vertiefte das Thema; der evangelische Pfarrer Edgar Dusdal (Karlshorst) berichtete über seine Erfahrungen in der DDR; der Theologe der niederländischen Kirche der Remonstranten, Prof. Johan Goud (Den Haag), war zweimal bei uns zur Diskussion, öfter dabei waren Dik Mook und Margriet Dijkmans – van Gunst aus Amsterdam…

Am 25.1.2023 notiert: Eine traurige Nachricht, ein großer Verlust für eine moderne “liberale Theologie”: Prof. Wilhelm Gräb, Prof. em. für praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin,  ist am 23. Januar 2023 in Berlin nach langer Krankheit gestorben. Der Religionsphilosophische Salon Berlin verdankt ihm viele wichtige Anregungen und dankt nochmals auf diese Weise für insgesamt 65 Beiträge und Interviews, die Wilhelm Gräb in mehr als zehn Jahren für diese website gab. LINK.

Ich darf sagen, wir haben einen Freund verloren, der als ein Theologe der heutigen Moderne ungewöhnliche, aber richtige Perspektiven zeigte in seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit. Für ihn war die religiöse Glaubensform eines jeden Menschen wichtiger als die fixierenden, dogmatischen Lehren der Kirche. Diese theologische Freiheit, alle dogmatische Engstirnigkeit, allen Fundamentalismus auch in der evangelischen Kirche zu überwinden, “beiseite zu tun”, wie Wilhelm gern sagte, ist in ihrem radikalen Mut schon ziemlich einmalig. Ob diese Vorschläge und Ansätze zu einer Reformationen der Kirchen noch ernstgenommen werden, gerade in dieser “Kirchenkrise” ist eine offene Frage… Über seine Verdienste in der Forschung zu Schleiermacher wird später zu berichten sein.

Interessant in dem Zusammenhang das Interview, das uns Wilhelm Gräb 2012 zum Thema TOD und Sterben gab: LINK 

Zur theologischen Besinnung empfehle ich auch unser Interview mit Wilhelm Gräb “Der Gott der Liebe”. LINK:

Über vierzig viel beachtete Interviews mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, Humboldt – Universität) sind auf unserer Website publiziert. LINK.

Vorläufige Bilanz

Die Bilanz, vorläufig, Ende Juni 2022, formuliert: Einige wenige Interessenten außerhalb von Berlin haben die Idee des religionsphilosophischen Salons aufgegriffen. Aber wir können nicht sagen, dass etwa im kirchlichen Bereich, evangelisch wie katholisch, die Idee des freien und undogmatischen und offenen Salon-Gesprächs außerhalb der üblichen kirchlichen Räume (!), also in Café oder Galerien,  aufgegriffen und realisiert wurde. Das ist ein Faktum: Je mehr Christen aus den Kirchen austreten, um so ängstlicher und dogmatischer werden die Kirchen(führer), also auch ihre Pfarrer usw. Der Weg der Kirche in ein kulturelles Getto scheint vorgezeichnet zu sein, zumindest für die katholische Kirche. Tatsächlich haben sich über all die Jahre sehr sehr wenige “Vertreter” der großen Kirchen für unsere Initiative überhaupt interessiert. So konnten wir auch in jeder Hinsicht frei arbeiten!

Hinweis zu unseren Themen
Hinweis zu unseren Themen:
Eine Übersicht unserer Themen im Salon von Februar 2020 bis 2015 finden Sie hier. Die Themen von 2009 bis 2015 werden demnächst dokumentiert. Genauso wichtig wie die Salonabende sind auch die religionsphilosophischen und religionskritischen Hinweise Christian Modehn, publiziert auf der Website www.religionsphilosophischer-salon.de , bisher sind dort ca.1.300 Beiträge als „Hinweise“ veröffentlicht, mehr als eine Million vierhundertausend „Klicker“ gab es bisher (Stand 27.6.2022).

Der geplante religionsphilosophische Salon am 27.3.2020 über Hegel musste leider wegen der Corona – Pandemie ausfallen. Wir hoffen, dass noch einmal Salon – Gespräche stattfinden können. Sicher auch über Hegel.
Dass die Veranstaltung über Hegel anlässlich seines 250. Todestagesausfallen musste, ist aber besonders zu bedauern. Einige einführende Hinweise zur Philosophie Hegels hatte ich für den 27.3. 2020 vorbereitet, klicken Sie hier. Nach wie vor empfehle ich das große „Hegel-Handbuch“ von Walter Jaeschke, J.B. Metzler Verlag, 3. Auflage, 540 Seiten, nur 24, 90Euro.

Unser letztes Salongespräch fand am Freitag, den 14.Februar 2020 , wie immer um 19 Uhr statt, über das Thema: “Das Kalte Herz”. Mehr als ein Märchen (von Wilhelm Hauff). „Das kalte Herz“ offenbart die “imperiale Lebensweise”. 22 TeilnehmerInnen waren dabei. Leider mussten wir – wie öfter schon – acht Interessierten absagen, weil der Raum eben klein ist und nur eine Gruppe eine Gesprächssituation ermöglicht. Aber das große Interesse, ohne jede öffentliche Werbung, allein im Internet, und ohne jede Finanzierung von außen, ist schon bemerkenswert. Für einige vertiefende Hinweise zur imperialen Lebensweise: Beachten Sie diesen LINK.

Gründer

Gründer und Initiator des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ sind:
Christian Modehn, 1948 in Berlin – Friedrichshagen geboren, hat nach dem Abitur in West-Berlin Theologie (Staatsexamen über Heidegger) und Philosophie (M.A. über Hegel) studiert: In Berlin (F.U.), St. Augustin, Bonn und München. Er arbeitete von 1973 bis 2007  immer als freier Journalist, über die Themen Religionen, Kirchen und Philosophien, für Fernseh- und Radiosender der ARD, sowie für die Zeitschrift PUBLIK – FORUM. Zur Information über einige meiner Hörfunksendungen und Fernsehdokumentationen klicken Sie bitte hier.
Und:
Hartmut Wiebus, 1944 in Seehausen/Altmark geboren, hat in Berlin (F.U.) Pädagogik (Diplomarbeit über Erich Fromm) und Psychologie studiert, und vor allem als evangelischer Klinikseelsorger gearbeitet.

Der religionsphilosophische Salon Berlin erhält von keiner Seite finanzielle Zuwendungen oder Unterstützung. Wir sind unabhängig und frei. Alle Arbeit für den Salon, also Organisation und die Impuls-Referate und die Moderation, leisten wir ehrenamtlich. Von den TeilnehmerInnen eines Salon-Abends werden lediglich 5 Euro erbeten … für die Raummiete in der Galerie Fantom.

Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus, am 8.5.2021, erneut bearbeitet am 27.6.2022.

Christen und Kirchen in der Minderheit: Neueste Entwicklungen in den Niederlanden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.12.2022.

Die Kirchenführer in Deutschland jammern jetzt wieder über die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen.
Es könnte hilfreich sein, einmal über die Grenze, in die Niederlande, zu schauen…

Der Abschied so vieler EuropäerInnen von ihrer Kirchenbindung kann durchaus als ein kultureller Bruch bezeichnet werden. Mit dem Abschied von den Kirchen verändern sich auch die Vorstellungen von Werten, vom Lebensganzen, vom Sinn des Lebens…Das Thema ist also alles andere als bloß „kirchenintern“.

In den Niederlanden, bis ca. 1960 tatsächlich weltweit bekannt als Inbegriff eines sehr lebendigen vielfältigen kirchlichen Landes, sind 2021 nur noch 32 % der Bewohner Mitglieder einer christlichen Kirche.
Holland gilt als ein säkulares Land förmlich als ein Beispiel für das, was andere Länder sehr bald „erwartet“.

Eine Frage bleibt hingegen: Sind alle, die sich „nicht-kirchlich“ nennen, auch Atheisten? Ich vermute die Antwort heißt Nein. Auch dazu gibt es differenzierte Studien. Allgemein-theologisch gesagt: Irgendeinen Gott verehren die (meisten) Menschen immer…Aber dieses Thema führt über einen religionssoziologischen Hinweis hinaus.

1. “Entkirchlichung”
Seit 1970 verabschieden sich Niederländer systematisch und stetig von ihren Kirchen. Das ist alles seit Jahren bestens dokumentiert. Die „Entkirchlichung“, wie man dort sagt, hat eine längere Tradition. Über die Ursachen wurde vielfach geforscht. Jetzt liegen wieder neueste Statistiken vor: Tatsache ist: Die Kirchen repräsentieren eine Minderheit in der Bevölkerung, bei der Altersstruktur der Kirchenmitglieder werden Kirchen sogar allmählich zur sehr kleinen Minderheit…Das Verschwinden von Kirchengebäuden als explizit „religiösen Gebäuden“ aus dem Leben der Städte, Kleinstädte und Dörfer ist in den Niederlanden ganz offensichtlich, viele hundert Kirchengebäude wurden dort abgerissen, verkauft, umgewandelt etc. Der Kommerz bzw. der „Sparzwang“ der Kirchenführung, haben insofern auch das bislang bestimmende Bild westeuropäischer Städte, zu der eben auch Kirchengebäude gehörten, ausgelöscht. Manche Niederländer bedauern das vielleicht allzu schnelle Abreissen von Kirchengebäuden seit 1960.

Zur Erinnerung: Katholische Kirchenführung für die “Austritte” verantwortlich.
Bis 1960 waren die Niederlande ein geradezu extrem kirchliches Land, bezogen auch auf deutsche Verhältnisse, mit vielfältigsten Formen protestantischen Lebens. Und mit einem, wie man in klerikalen Kreisen damals sagte, „äußerst blühendem katholischen Leben“.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1960, die das Individuum in seine umfassende Freiheiten führte, begann der systematische Abschied von der traditionellen Kirchenbindung. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Québec in Kanada eine ähnliche Entwicklung statt. Heute ist die einst „absolut katholische Provinz Québec“ absolut säkular…
Im niederländischen Katholizismus führte die Personalpolitik des Vatikans (Ernennung reaktionärer Bischöfe, etwa: Simonis, Gijsen etc.) zu einem systematischen Abschied von der katholischen Kirche: Sie wurde und wird zurecht als autoritäre, explizit anti-demokratische Organisation wahrgenommen.

Römisch-Katholischsein und Niederländischsein passt nicht zusammen. Progressive katholische Organisationen (die „8. Mei-Bewegung“) sind verschwunden oder sind von der rigiden katholischen Haltung zum Verschwinden gebracht worden. Die Klöster sind in den Niederlanden fast ganz verschwunden. Die Provinz des Dominikaner-Ordens, bis vor 40 Jahren ebenfalls „blühend“, hat noch vier kleine Klöster. Bei den noch etwa 15 holländischen Augustinern ist niemand unter 70 Jahren…. Das Ordensleben – auch der Frauen – stirbt aus. Da und dort versuchen Laien, die alten (klerikalen) Ordenstraditionen auf neue Art fortzuführen.
Es sind Theologen und Religionssoziologen, die die Schuld an dem systematischen Verschwinden des holländischen Katholizismus dem Vatikan, allen voran dem dogmatisch-strengen polnischen Papst Johannes Paul II., geben. Mit anderen Worten: Wie überall, ist die rigide katholische klerikale Kirchenführung auch verantwortlich für diese „Entkirchlichung“. Und das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache!

2. 18 % der Bevölkerung nennen sich katholisch, 14 % protestantisch.
Das „Centraal Bureau voor Statistiek“ (CBS), also das statistische Zentralbüro, hat nun die aktuelle Entwicklung für die Niederlande veröffentlicht (Siehe auch: https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2022/51/bijna-6-op-de-10-nederlanders-behoren-niet-tot-religieuze-groep).
Vor allem bei den Katholiken ist der Abschied von der Kircheninstitution besonders deutlich: Im Jahr 2010 nannten sich noch 27 Prozent der Niederländer Römisch – katholisch; 2021 sind es nur nicht 18 Prozent. Zu den protestantischen Kirchen bekannten sich 2010 18 Prozent, 2022 noch 14 Prozent der Bevölkerung. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur: Bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt der Anteil der Gläubigen 28 Prozent; bei den über 75 Jährigen noch 65 Prozent. Die Kirchen sind also, etwas überspitzt gesagt, nicht nur „Senioren-Organisationen“, sondern letztlich auch langsam aussterbende Gemeinschaften.
Etwa 4,5 % der Bewohner der Niederlande sind mit muslimischen Gemeinden verbunden. Angesichts dieser eher überschaubaren Zahl der Muslime bleibt es fast unverständlich, wie jetzt rechtsextreme Parteien in Holland ihren Hass auf „die MuslimInnen“ und „die Fremden“ in die Öffentlichkeit tragen.

3.
Das ist die Tatsache: im Jahr 2021 nennen sich noch 32 Prozent der Niederländer kirchlich gebunden. Eine Ziffer, die sich etwa an das traditionell nicht-bzw. antikirchliche Tschechien, vor allem Böhmen, annähert, aber noch längst nicht an die entsprechenden Zahlen im Osten Deutschlands, in den so genannten neuen Bundesländern,

4. Leere Kirchen am Sonntag.
Auch die Teilnahme an den Gottesdiensten am Sonntag ist in den Niederlanden sehr schwach: 2021 nahmen 13 Prozent der Kirchenmitglieder wenigstens einmal im Monat an den Gottesdiensten teil, 2010 waren es noch 18 Prozent. Besonders gering ist die regelmäßige Teilnahme an der Messe bei den Katholiken, bei den Protestanten nehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder an den Sonntagsgottesdiensten teil, heißt es in der Studie vom CBS.

5. Auf der Suche nach einer Zukunft.
Beobachter haben den Eindruck, dass viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder und ihre Pastoren (der protestantischen Kirchen) nicht unbedingt in Depressionen fallen, sondern eher nach neuen Konzepten suchen und eine neue kirchliche Praxis probieren. Allerdings ist der Mangel an Pastoren in der großen „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) deutlich zu spüren, das führt zu einem Zusammenschluss verschiedener Gemeinden. Andererseits gibt es Pläne und schon erste Erfahrungen, Gemeindemitglieder, die nicht eine umfassende theologische Ausbildung haben, mit bestimmten Aktivitäten der Gemeinde-Liturgien zu betrauen, etwa in der Gestaltung und Leitung von Trauerfeiern und Bestattungen. Es werden, dem Vorbild der Anglikanischen Kirche folgend, auch Kurse angeboten für Männer und Frauen, die sich neben ihrem (weltlichen) Beruf als Teilzeitstudenten auf den Pastorenberuf vorbereiten. Diese Kurse werden an der „Protestantse Theologische Universiteit“ (in Amsterdam und Groningen) angeboten.

6.
Weil viele Gemeinden und kirchliche Hilfsorganisationen immer noch umfassende soziale Hilfe leisten (Flüchtlingshilfe, Essensausgabe für Arme etc.), haben staatliche Instanzen schon jetzt ihre Sorgen geäußert, was denn an Hilfeleistungen der Kirchen noch möglich bleibt, wenn sie immer mehr zur Minderheit werden.

7. Die freisinnge Kirche der “Remonstranten”
Unter der Vielfalt protestantischer Kirchen in den Niederlanden ist die kleine Kirche der Remonstranten, theologisch gesehen, eine ganz besondere, manche sagen theologisch eine einmalige Kirche in der weiten Ökumene: Die Remonstranten, offizieller Name „Remonstrantische Bruderschaft“, sind die einzige offiziell christliche freisinnige Kirche: Das heißt: Sie halten nicht viel von traditionellen dogmatischen Bindungen, sie versuchen eine neue zeitgemäße Sprache für alte Begriffe, sie eine christlich-humanistische Kirche, die jedem Mitglied die Formulierung des eigenen Glaubensbekenntnisses überlässt.
Die Remonstranten waren niemals eine zahlenmäßig starke Kirche. Jetzt haben sie ca. 5.000 Mitglieder bzw. „Freunde der Remonstranten“, dabei handelt es sich um Menschen, die noch einer anderen Kirche angehören, aber gern im Geist der christlich-humanistischen Remonstranten leben wollen. Auch diese Möglichkeit einer „doppelten Kirchenmitgiedschaft“ ist wohl einmalig in der weiten Ökumene. Aber selbst diese theologisch liberale Kirche hat viel Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen, obwohl sie eigene Projekte des Dialogs mit religiös Interessierten oder auch Religiös-Nicht-Interessierten anbietet.

8. Freie ökumenische “Basis-Gemeinden”
In den 1970ger Jahren bildeten sich in ganz Holland „freie ökumenische (Basis)-Gemeinden, man denke an die „Ekklesia“ in Amsterdam, die von dem Theologen und Poeten (und ehemaligen Jesuiten) Huub Oosterhuis in Amsterdam gegründet wurde oder an die Dominicus-Gemeinde in Amsterdam oder die Basis-Gemeinde „de Duif“, ebenfalls in Amsterdam. Diese freien ökumenischen und alles andere als fundamentalistischen Gemeinden haben sich von den Bindungen an einen Bischof gelöst, sie haben ihre Kirchengebäude gekauft (wie die Dominicus-Gemeinde) … und sie gehen ihren eigenen, unabhängigen Weg in der immer noch bunten Kirchenszene der Niederlande. Aber auch diese freien ökumenischen Gemeinden, die einige Leute (naiv?) für ein Vorbild hielten auch für Deutschland, haben Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen.
Huub Oosterhuis, der Theologe und Poet, hat durch seine Poesie, seine vielen Lieder, Gedichte, Reflexionen, sicher dazu beigetragen, dass viele Gottesdienste in Holland ein beträchtliches poetisches und theologisches Niveau haben. Die Bedeutung der Poesie (und biblisch inspirierten Theologie) Oosterhuis` ist kaum zu überschätzen, selbst wenn der klerikale Katholizismus immer wieder gegen Oosterhuis polemisierte.

9. Die Zukunft?

Wie es mit dem christlichen Glauben und den Kirchen in Zukunft weitergeht, in den Niederlanden wie in West-Europa, ist völlig offen.

Möglich ist, dass sich ein christlicher Glaube bildet, der sich von allem dogmatischen Starrsinn und moralischen engen, Frauen-feindlichen Lehren befreit hat und einige zentrale Aspekte der Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth lebt, in kleinen Basis-Gruppen, auch politisch natürlich im Sinne umfassender Gerechtigkeit.

Aber dass im Ernst noch viele intellektuell wache Menschen diesem rigiden klerikalen katholischen Männer-System, bewusst und stolz anti-demokratisch, anhängen, ist äußerst unwahrscheinlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.