Die Autobiografie des Papstes: Aus Rom nicht viel Neues: “Hoffe”.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.1.2025

Bitte unbedingt beachten: Dieses Thema wird jetzt völlig ausgeblendet: Die Rolle Bergoglios im Umfeld der Militärdiktatur in Argentinien LINK.

Genauso wichtig ist, dass Bergoglio als junger Mann Mitglied der Jugendorganisation der Peronisten war. Diese Verbindung verschweigt Papst Franziskus in seiner  Autobiografie HOFFE: Details zu Bergoglio als Peronist: Siehe FUßNOTE 1. Es handelt sich um einen Beitrag von Christian Modehn von 2022 LINK.

Am 2.2.2025 ergänzt: Die große Nachsicht und Geduld des Papstes mit theologisch wie politisch reaktionören Bischöfen und neuen sich “geistliche Gemeinschaft” nennenden Gruppen. Siehe dazu die Hinweise hier in Nr.10.

1.
Papst Franziskus läßt jetzt weltweit sein neues Buch (384 Seiten in der deutschen Ausgabe) verbreiten, der Titel: „Hoffe. Die Autobiografie“, gemeint ist also „die“ (maßgebliche) Autobiografie. Bekanntlich hat Papst Franziskus erst 2024 sein ebenfalls autobiografisches Buch „Leben“ veröffentlicht mit dem Untertitel „Meine Geschichte in der Geschichte“. Historiker werden diese und viele andere autobiografische Äußerungen (in den zahlreichen Papst – Interviews in Büchern und Zeitschriften) kritisch zusammentragen und vergleichen… „Hoffe“ jedenfalls erscheint zeitgleich in 80 Ländern! Zum Buch LEBEN (2024) des Papstes: LINK . 

Manche Ausführungen im Buch “Leben” (2024) wurden in das Buch “Hoffe” (fast) wörtlich übernommen, siehe “Leben” S. 216 f. und “Hoffe” S. 245 f.,  wobei “Leben” präziser etwa Namen einzelner Kardinäle nennt. Man hat den Eindruck, weite Teile des Buches “Hoffe” seien unter einem  starken Zeitdruck (mit dem Co – Autor Carlo Musso) und sehr in Eile geschrieben worden. Sonst wäre die Argumentationen eines doch so gewichtig als “Die Autobiografie”  herkommenden Buches sorgfältiger und zusammenhängender.

2. HOFFE!
Erstaunlich an der neuesten und wohl auch letzten Autobiografie des Papstes ist der Titel „Hoffe“ (im italienischen Original „SPERA“.) „Hoffe“ meint eine Aufforderung, wenn nicht einen Befehl, es fehlt bloß noch ein Ausrufungszeichen im Titel: Vielleicht sagt es Papst Franziskus zu sich selbst: Hoffe, und er würde wohl ergänzen: Hoffe trotz der vielen Franziskusfeinde im (höheren) Klerus. “Hoffe“ gilt aber auch den LeserInnen, und sie können prüfen, ob die spirituellen und theologischen Vorschläge zugunsten der Hoffnung in dem Buch weiterführen. „Hoffe“ als Buch-Titel passt auch kommerziell bestens ins “Heilige Jahr 2025“, es steht unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“. Bei so viel verbaler Hoffnung werden dann doch auch einige tausend der 35 Millionen Rom – Pilger 2025 das Buch kaufen. LINK zu einigen Feinden von Papst Franziskus.

3. Wenig Auto-Biografisches
Erstaunlich ist aber vor allem, dass der Papst sein Buch „Die Autobiografie“ nennt. Denn objektiv und literarisch betrachtet, erzählt er nur auf den ersten ca. 170 Seiten wirklich Autobiografisches. Auf den übrigen 200 Seiten, die in die sehr interessante Zeit seines Papstamtes führen, geht es um eine Art Melange von autobiografischen Erinnerungs – Elementen und eher erbaulichen spirituellen Fragmenten.

4.
Auf den ersten 120 Seiten erfahren die LeserInnen viele Details aus der großen Familie Bergoglio mit allen Omas und Opas und Tanten und Verwandten auch in der alten Heimat im Piemont (Italien.) Es sind ja Migranten aus dem Piemont, die sich da in Argentinien niederließen. Diese eigene familiäre Migrationsgeschichte hat der Papst nie vergessen: Sein erster Besuch als Franziskus galt bekanntlich der Flüchtlings -Insel Lampedusa. Man liest also im ersten Drittel der Autobiografie viel über vorbildliche und sehr hilfsbereite Priestern (vor allem aus dem Salesianerorden Don Boscos, den der Papst wohl auch jetzt besonders schätzt). Lang und breit wird von Vater und Mutter und den Geschwistern in Buenos Aires erzählt. Diese ausführlich ausgebreitete familiäre und nachbarschaftliche Nähe der Menschen damals in Buenos Aires läßt ahnen, wie sehr auch Papst Franziskus ein Mensch der Gemeinschaft, der Freundschaft, ist. Alleinsein ist ein Horror für ihn, darum weigerte er sich auch, als Papst abgeschirmt von den Menschen, im Apostolischen Palast zu leben. Allein (wo möglich noch mit einem Assistenten Georg Gänswein) im apostolischen Palast zu wohnen … das hätte ihn in die Psychiatrie geführt, sagte er….(Zitat in “Leben” (2024), S. 221.

5. Theologische Elemente
Es ist nicht falsch, in einer Autobiografie des Papstes, etwas ausführliche Beschreibungen und Bewertungen von Ereignissen und Begegnungen während seines so genannten „Pontifikats“ (seit 2013, immerhin seit 12 Jahren) zu erwarten. Aber diese Erwartungen werden nicht erfüllt . Die LeserInnen werden in den letzten etwa 12 Kapiteln mit hübschen poetischen Titeln („Mit den tiefinnersten Schwingungen gehen“, „Die Wanderung durch dunkel Täler“, „Nach dem Ebenbild eines lächelnden Gottes“ usw…) immer wieder einzelne theologische Erkenntnisse und Beurteilungen finden oder auch pastorale Prinzipien. Manches ist radikal: „Eine der größten Sünden, die wir Kleriker begangen haben , ist es, diese Kirche zu maskulinisieren“ (S. 232). Oder „Die Kirche muss hinausgehen und sich schmutzig machen“ (S. 235). Radikal erscheint auch: „Die Kirche ist eine Frau. Wir Kleriker sind Männer, aber wir sind nicht die Kirche“. Und anschließend ins Mystische abrutschend: „Die Kirche ist eine Frau, weil sie eine Braut ist“ (S. 232). Man denke also weiter: Kleriker als Männer mit dem Zölibatsgesetz haben dann doch eine Braut: Die Kirche. Und die Kinder dieser Verbindung dürfen selbstverständlich nur geistliche Kinder sein, bei leiblicher Liebe zahlt dann der Bischof Alimente. „Christen sind nicht rückwärtsgewandt“ heißt es richtig auf Seite 264. Und noch einmal eine Seite weiter: „Tradition bedeutet vorwärts zu gehen… Die Kirche ist nicht die Gemeinschaft der `guten alten Zeit`.“ Tatsächlich zeigt Papst Franziskus überhaupt äußerst wenig Toleranz gegenüber den Traditionalisten oder den vielen jungen Priestern, die so gern nur die alte lateinische Messe feiern wollen. Und in reaktionären, eigentlich obskuren Gemeinschaften („Verbum incarnatum“, „Soldalicio“) räumt er nach vielen Jahren großer Geduld auf. Aber es sind immer nur die knappen Hinweise, die verstören, wo die LeserInnen inhaltlich mehr erwarten, etwa zur Frage eines neuen, III. Vatikanischen Konzils. Da sagt der Papst: “Wir müssen erst noch vollständig das Zweite Vatikanische Konzil umsetzen und dass wir noch entschiedener die höfische Kultur in der Kurie (im Vatikan usw.) hinwegfegen müssen… Die Kirche ist keineswegs der letzte europäische Hofstaat einer absoluten Monarchie“ (S. 266).
In dem schon genannten Buch „Papst Franziskus: Leben“ (aus dem Jahr 2024) heißt es hingegen auf Seite 255: „Es stimmt, dass der Vatikan die letzte absolute Monarchie in Europa ist…“ Dies nur als ein Beispiel für die gedankliche Entwicklung von Papst Franziskus… LINK
Natürlich kann Papst Franziskus seine Zeit als Jesuit und Kardinal von Buenos Aires unter der Militärdiktatur nicht übergehen. Aber Neues erfährt man auf den wenigen Seiten (S. 163) auch nicht, erneut bestätigt der Papst, als Erzbischof eine Messe in der Residenz des Junta-Oberhauptes gelesen zu haben, um zwei Jesuiten auf diese Weise zu retten… Erzbischof Bergoglio litt in dieser Zeit enorm, er schreibt: „Deswegen bekam ich fast ein Jahr lang Unterstützung durch eine Psychiaterin, eine sehr kluge und fähige Jüdin…“ (S. 165).

6. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück
In der Autobiografie „Hoffe“ sucht man vergeblich Beurteilungen zum Stand der Ökumene mit Protestanten, man sucht vergeblich weiterführende theologische Gedanken, etwa: ob nicht das Papsttum heute ganz neu gestaltet werden müsste, etwa mit fünf oder sechs „Regional – Päpsten“ auf allen Kontinenten; man findet nichts zur Abschaffung des Zölibatsgesetzes, nichts zur Reduzierung der umfassenden Dogmen – Berge. Im Gegenteil: “Wir müssen aus der Starre heraustreten. Und das bedeutet nicht, dass wir einen Weg gehen, der Glaubenswahrheiten relativiert“ (S. 373). Aber gleich danach die Einschränkung: „Dabei müssen wir der Versuchung entsagen, den Glauben zu kontrollieren, denn der Herr Jesus lässt sich nicht kontrollieren“ (ebd.). Das ist typisch Franziskus: Die ganze alte Lehre mitschleppen, ein bißchen an ihr kratze… Aber dann doch nicht die Reformer (denn das sind ja Dogmen – Kritiker) „kontrollieren“, wobei Papst Franziskus behauptet: Die Glaubenswahrheiten der Kirche wären mit dem „Herrn Jesus“ identisch…Lang und breit wiederholt Papst Franziskus seine totale Ablehnung des Krieges, jedes Kriegs. Aber dass anstelle des Katechismus – Unterrichts bei Katholiken nun umfassende Friedenserziehung zur Gewaltlosigkeit erfolgen sollte, liest man nicht…In den letzten Monaten fällt auf: Das einzige, was dem Papst noch zum Frieden in der Welt einfällt, ist das Bittgebet: Man lese die vatikan-news, sie dokumentieren die vielen täglich wechselnden Bitt – Gebete des Papstes, für Haiti oder Gaza, für die Ukraine oder Myanmar, für Opfer von Gewalt oder von Waldbränden und so weiter: Bittgebete als letzte Rettung päpstlicher Macht?

7. Eine Bilanz
Wer wird Bilanz ziehen und dabei realistisch fragen: Was hat die Regierungszeit von Papst Franziskus nachweislich, sichtbar, spürbar, „gebracht“? Ich meine: Die Bilanz fällt mager aus: Innerkirchlich ist der Papst manchmal ein paar Schritte vorwärtsgegangen, hat etwa Frauen als oberste Büroleiterinnen in vatikanischen Behörden zugelassen, aber eben nicht Frauen als Diakoninnen und Priesterinnen. Er hat aufs heftigste den Klerus kritisiert, aber das Grundübel des Klerus, den verpflichtenden Zölibat, nicht abgeschafft, obwohl er das von heute auf morgen als Papst hätte tun können. Er hat sehr häufig verständnisvoll von Homosexuellen gesprochen, so wie man über Schwerkranke spricht. Aber die gleichberechtigte Ehe von Homosexuellen und dann auch die entsprechende kirchliche Hochzeitsfeier total abgelehnt. Afrikas reaktionäre Bischöfe und mit ihnen die Politiker bestimmten als explizite Feinde von Homosexuellen sozusagen die offizielle katholische Moral.

Papst Franziskus hat sich stark gemacht für die katholische Volksreligion, die er in Argentinien schon sehr hoch schätzte, also den Kult rund um die Heiligen, den Reliquienkult, das Ablasswesen, die Wallfahrten und vor allem die völlig Hingabe an Maria, die er Mutter Gottes nennt oder in seiner kindlichen Frömmigkeit als „Knotenlöserin“ verehrt. Mit dieser mittelalterlichen Volksfrömmigkeit, die oft an Aberglauben grenzt, wird der Klerus die jungen gebildeten Menschen in Europa nicht mehr für die katholische Kirche gewinnen. Es liegen unterschiedliche geistige Welten zwischen dem Vatikan und Europa, möchte man sagen. Der Katholizismus als dominante Konfession ist in Europa vorbei, verantwortlich dafür sind auch die vielen Priester, die sich sexuellem Missbrauch hingaben. Papst Franzikus betont in seinem Buch “HOFFE” mehrfach, an der Seite der Opfe zu stehen!

Man wird in einer Bilanz sagen müssen: Ein moderner Theologe ist Papst Franziskus nicht, selbst wenn er nach außen sympathisch – „so menschlich“ wirkt. Hat der Theologe Bergoglio Werke seines Jesuiten und Theologen Karl Rahner gelesen, kennt er wenigstens den Namen Hans Küng, hat er  Bücher der Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez oder Leonardo Boff gelesen und nicht nur die argentinischen Vertreter der Volksreligiosität?
So sind die Leserinnen nicht erstaunt, dass in der Liste der in „Hoffe“ erwähnten Bücher nur zwei explizit theologische Titel auftauchen, ein Titel stammt von Romano Guardini (1965) und eines vom französischen Jesuiten de Lubac („Betrachtungen über die Kirche von 1954). Natürlich freut man sich, dass ein Papst überhaupt mal einen den Soziologen, nämlich Zygmunt Bauman, erwähnt oder sogar Bert Brecht oder Songs aus Opern oder unter den für ihn wichtigen Filmen nicht nur Don Camillo und Peppone nennt, sondern auch Arbeiten Federico Fellinis. Aber hat säkulare Kunst auch den Papst etwas säkularer gemacht? Hat er von er Säkularität (bzw. der Laizität) etwas gelernt? Eine offene Frage… Einige deutsche LeserInnen werden sich freuen, dass Papst Franziskus in „Hoffe“ die ökumenische (protestantische) Theologin Dorothee Sölle erwähnt (S. 106f.).

Die Bilanz des Pontificates fällt noch bescheidener aus, wenn man an die außenpolitische Wirkung des Staatschefs Papst Franziskus (er ist ja Chef des Staates „Heiliger Stuhl“) denkt. Frieden kann ein Papst weder als spirituelles Oberhaupt noch als Staatschef schaffen. Wer danach fragt, wird auf hilfreiche Friedens – Gespräche der päpstlichen Diplomaten verwiesen, aber nachweisbare Ergebnisse können nicht genannt werden, bestenfalls die übliche caritative Hilfe, und das ist schon etwas. Den Hunger in der Welt konnte auch er nicht relevant reduzieren. Katholiken sollen ja für Arme Geld spenden, nicht aber umfassend informiert auch ungerechte Strukturen verändern… Die praktische Gültigkeit der Menschenrechte weltweit konnte der Papst auch nicht durchsetzen, kein Wunder, möchte man sagen, denn der Vatikan hat zur UNO Erklärung der Menschenrechte von 1949 eher nicht ein distanziertes Verhältnis.

8.
Was also bleibt abgesehen von dem diffusen Befehl „Hoffe“? Es gibt viel „Wind“ auch unter diesem Papst, viel innerkirchlicher Reformeifer ohne durchgreifende Reformen, es ging immer um innerkirchliche Querelen, die nicht vorankommen. Wir erleben also letztlich eine Fortsetzung katholischer Stagnation mit einem durchaus ja netten und zugewandten Papst Franziskus. Ob so viel nach außen gezeigte Freundlichkeit in Person noch einmal auf dem Papstthron wiederkehrt, ist sehr die Frage, wenn man bedenkt, dass 1,5 Milliarden Katholiken nach den uralten Regeln zu führen, eher hartes Durchgreifen erfordert. Und: Die klerikale Männerwelt wird ad aeternum fortbestehen. Ihr Frauen, lasst alle Hoffnung auf Priestertum der Frauen fahren. Papst und Klerus glauben nach wie vor eisern: Gott selbst in der Gestalt Jesu Christi habe die katholische Kirche als Klerus – Kirche begründet und so, wie sie ist, auch gewollt. Gegen solche steilen Thesen kommt selbst der heilige Geist nicht an.

9.
Papst Franziskus hat es mit persönlichem Einsatz bis ins höchste Alter gewagt, diesen korrupten Klüngel des Klerus im Vatikan etwas aufzulösen und „in die Wüste zu schicken“; er hat versucht, die Kirche – in seiner Sicht – wieder stärker an die Vision des Jesus von Nazareth zu binden.  Ob er zu einer wirklich grundlegenden Reformation der katholischen Kirche auch theologisch in der Lage gewesen wäre, ist sehr die Frage. Meine Antwort : Eher NEIN: Denn Papst Franziskus wollte auf die Vorherrschaft seiner eigenen volkstümlichen (naiven) Frömmigkeit mir den ständigen Bitt -Gebeten für alle(s) und jedes nicht verzichten. Er sah nicht, dass es die vielen unsäglichen und unverständlichen Dogmen sind, die den Zugang zum Glauben heute versperren. Aber im Unterschied zum unterkühlten theologischen Verwalter und Ketzer – Verfolger Ratzinger/Benedikt XVI. und im Unterschied zum Dogmen besessenen, alle Menschen “neu” missionierenden Polen Johannes Paul II. ist Papst Franziskus doch ein gewisser Lichtblick der Nächstenliebe, für die Armen zumal… und dies gilt zumal in der ohnehin sehr trüben und eigentlich abzulehnenden Reihe derer, die sich einst “Stellvertreter Christi auf Erden” nannten, ohne dabei vor Scham im Boden zu versinken. Sie haben etwa im 19. Jahrhundert den Katholizismus geistig und theologisch auf Dauer zerstört, indem sie ihn als absolut anti-modern (und antisemitisch) definierten! Das ist evident: Zerstörerisch waren nicht etwa die wenigen klugen aufklärerischen Philosophen. Papst Franziskus wollte da  auf seine popläre Art, etwas “heilend” zu wirken. Mit sehr mäßigem Erfolg. Die gebildeten Katholiken in Europa und Amerika können mit diesem autoritären Katholizismus nichts mehr anfangen. Papst Franziskus setzt deswegen auf die, wie er lobend sagt, kinderreichen katholischen Familien, in Afrika und auf den Philippinen, in Indien, Indonesien, Neu -Guinea usw… So bleibt der Katholizismus trotz der in Europa verschwindenden Kirche immerhin eine “Kirche mit mehr als einer Milliarde Mitglieder”.

10. Am 2.2.2025 ergänzt: Die große Geduld des Papstes mit theologisch und politisch reaktionären Bischöfen und neuen “geistlichen Gemeinschaften”:

Zu dem offensichtlichen großen Versagen des „Reformpapstes“ Franziskus gehört seine langandauernde Duldsamkeit gegenüber theologisch reaktionären Bischöfen und Kardinälen sowie auch die langandauernde Duldsamkeit bzw. Nachlässigkeit gegenüber den entsprechenden relativ neu gegründeten, sich „geistliche Gemeinschaften“ nennenden, auch politisch reaktionären Bewegungen und Gruppen. Sie sind stark von sexuellem Missbrauch ihrer Mitglieder betroffen.

Es wird hoffentlich kritische und kirchenunabhängige HistorikerInnen geben, die alle Fakten in dem Zusammenhang ausführlich darstellen und die Liste der hier nur fragmentarisch genannten Personen und Gruppierungen weiter ergänzen und studieren. Dadurch wird die reaktionäre Wende der katholischen Kirche insgesamt sichtbar.

Diese hoffentlich alsbald realisierten kritischen und kirchlich unabhängigen Studien werden auch das Gesamtbild des sich volkstümlich gebenden Papstes Franziskus deutlicher machen.

Hier werden nur einige hohe „Würdenträger“, Exzellenzen und Eminenzen, genannt, die viele Jahre als theologisch reaktionäre Herrscher das Leben der katholischen Kirche nicht nur vor Ort beherrschten, wenn nicht zerstörten. Proteste gegen die klerikalen Herrscher gab es schon Jahre lang, sie waren natürlich vergeblich. Papst Franziskus setzte diese von vielen Theologen und Gläubigen immer schon heftigst kritisierten Herrscher nicht rechtzeitig ab, sondern erst in letzter Minute, möchte man sagen, bis zum Erreichen der für eine „Pensionierung“ nötigen Altersgrenze von 75 bzw. 80 Jahren…

Der Hintergrund: Der Klerus hält zusammen und deckt und schätzt sich untereinander, solange bis die „Situation“ der Kritisierten öffentlich weithin bekannt und sozusagen unerträglich wird.

Eminenzen und Exzellenzen:
Kardinal Juan Luis Cipriani von Lima Peru, ganz offen Mitglied des „Opus Dei“, vor dieser Organisation hatten und haben eigentlich alle immer Angst, wohl auch Papst Franziskus: Cipriani war als Kardinal von Lima u.a. der heftigste Feind der authentischen lateinamerikanischen Theologie. Quelle: https://www.religiondigital.org/america/. Und: https://www.eldiario.es/sociedad/caida-cipriani-cardenal-opus-dei-acusado-abusos-convirtio-peru-laboratorio-iglesia-ultra_1_12010508.html

Bischof Dominique Rey von Toulon -Fréjus, Frankreich. Mitglied der internationalen, konservariten charismatischen Bewegung Emmanuel. Theologisch heftigst reaktionär, Sympathisant der Le – Pen – Partei, erst im Januar 2025 wurde sein vorzeitiger „Rücktritt“ als Bischof bekannt. Quelle: Le Monde: https://www.lemonde.fr/societe/article/2025/01/07/l-eveque-conservateur-de-frejus-toulon-demissionne-apres-deux-ans-de-crise_6486624_3224.html
Die Tageszeitung La Croix: https://www.la-croix.com/religion/sous-la-pression-du-vatican-mgr-dominique-rey-demissionne-de-sa-charge-d-eveque-de-frejus-toulon-20250107

Bischof Marc Aillet von Bayonne,Frankreich, extrem theologisch reaktionär, vergasst von vielen Katholiken im Bistum, bisjetzt noch an der Macht. quelle: https://www.20minutes.fr/societe/4098789-20240629-bayonne-pourquoi-vatican-ordonne-mission-inspection-diocese-gouverne-marc-aillet

Siehe auch die Studie von Christian Modehn LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/14786_katholischer-bischof-als-putin-freund_religionskritik

Bischof Athanasius Schneider in Kasachtan, Mitglied des Kreuzordens, mit dem obskuren Engelwerk verbunden. Ein expliziter Feind von Papst Franziskus.

Bischof Andreas Laun, Salzburg. Ein FPÖ Freund. Quelle: https://www.diepresse.com/19216787/weihbischof-laun-hardliner-in-der-katholischen-kirche-ist-tot

„Politisch engagierte sich Laun für die rechtsextreme FPÖ. So sprach er 2016 eine Wahlempfehlung für den FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer aus …Sogar Nazi-Vergleiche führte Laun an: Die Segnung homosexueller Paare in der Kirche lehnte er etwa nach seinem Rückzug aus dem Kirchenamt 2018 mit dem Argument ab, man könne ja auch kein KZ segnen. Quelle: https://www.queer.de/detail.php?article_id=52147

Neue Ordensgemeinschaften:

„Sodalicio“ eine extrem theologisch/politisch reaktionäre Bewegung von (sehr wohlhabenden) Priestern und Laien in ganz Lateinamerika, mit Missbrauchstätern, seit Jahren objektiv kritisiert, wird erst jetzt, 2025, aufgelöst. Warum das lange Zögern des Papstes??? : https://www.katholisch.de/artikel/59264-laienbewegung-sodalicio-bestaetigt-aufloesung-durch-den-papst

Institut del verbo encarnado. offizielle Website: https://ive.org/
Erst seit Januar 2025 unter päpstlicher Aufsicht.

Es gibt nur sehr wenige kritische Studien zu diesem Verein in deutscher Sprache LINK. https://religionsphilosophischer-salon.de/keys/institut-vom-inkarnierten-wort
Zur Förderung reaktionärer neuer Orden durch Papst Johannes Paul II. und Ratzinger/Benedikt XIV.: LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/1382_benedikt-xvi-ist-politisch-rechtslastig-religionskritische-perspektiven-zu-joseph-ratzinger_benediktxvi

Fußnote 1: Quelle: LINK

In diesem Beitrag von 2022 das Kapitel: “Bergoglio – der Peronist.”

Es wurde in der theologischen und religionskritischen Forschung bis jetzt leider der wichtige Aufsatz von Colm Tóibín übersehen, den der irische Journalist und Literaturwissenschafter, Lehrbeauftragter an der Stanford University usw., in der Zeitschrift „Lettre International“, Ausgabe Frühjahr 2021, S. 68 -75, veröffentlichte.

Der Titel von Tóibíns Studie: „Das Lächeln Bergoglios. Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – Eine Karriere“.

Tatsache ist, dass Bergoglio von 1972 bis 1974 der peronistischen Bewegung „Guardia de Hierro“ („Eiserne Garde“) nahestand, das wird von Historikern überhaupt nicht bestritten. Wie sich daraus eine Nähe UND Distanz des Provinzials der argentinischen Jesuiten Bergoglio zu den mordenden Militärs in Argentinien (von 1976-1983) entwickelte, wird noch weiterhin hoffentlich umfassend studiert und diskutiert. Der Sozialist und Ökonom Roberto Pizarro H. entschuldigt förmlich die bekannte damalige „Schwäche“ („debilidad“) des führenden Jesuiten Bergoglio in dieser Zeit damit, dass Bergoglio nun als Papst so viel Gutes tut zugunsten der Armen. So kann man auch politische Fehler eines Jesuitenprovinzials reinwaschen. Quelle: https://www.eldesconcierto.cl/opinion/2018/01/13/el-papa-francisco-la-guardia-de-hierro-y-el-genocida-massera.html.

Über die undeutliche Haltung des Jesuitenprovinzials Bergoglio während der Militärdiktatur spricht auch Tóibín in seinem Artikel. Auch seine spirituelle Praxis, volkstümlicher Art („Verehrung von Heiligenbildern und der Kultus der Madonna“, S. 70) wird ausführlich behandelt. Wichtig ist die innere Verbundenheit mit „dem“ Peronismus: „Bergoglio ist ein Peronist, und die Pointe des Peronismus ist es, dass er sich niemals definieren lässt. Die Montoneros, die in den siebziger Jahren Argentinien mit einer Terrorismuskampagne überzogen, waren Peronisten. Und die Eiserne Garde, die rechte Gruppe, mit der Bergoglio in Verbindung stand, bestand ebenfalls aus Peronisten. Präsident Carlos Menem war Peronist und die Präsidenten Kirchner waren es auch. Ein Peronist zu sein, heißt alles und nichts. Es heißt, dass man zeitweise mit genau den Dingen einverstanden sein kann, die man ansonsten ablehnt. Man kann sowohl Reformer sein wie gleichzeitig ein Konservativer“ (S. 74). …“Bergoglio konnte in einem Augenblick den Anarchisten spielen und im nächsten in seine autoritäre Rolle zurückfallen“ (S. 73).

Das heißt: Es ist dieses taktische Lavieren, dieses Schwanken je nach der machtpolitischen Situation zwischen Ja und Nein, es ist diese Dialektik von Zustimmung und Widerspruch ohne zu einer neuen höheren Ebene zu führen, die den – in Deutschland weithin unbekannten – Peronismus auszeichnet…und die, wie Colm Tóibín schreibt, auch den peronistischen Jesuiten Bergoglio und Papst Franziskus prägt. So wird eine Antwort gegeben auf das widersprüchliche Verhalten dieses Papstes etwa zum Zölibat – angesichts der „Amazonas-Synode“ – oder zur konsequenten Bestrafung von sexuellen Missbrauchstätern im Klerus. Oder zum äußerst verständnisvollen und geduldigen Umgang mit den in dem Zusammenhang hoch belasteten Kardinälen (wie Woelki in Köln). Andererseits: Der rasante Rausschmiss des Pariser Erzbischofs Aupetit, der den „furchtbaren“ Makel hat, sich in eine Frau ein bisschen verliebt zu haben und das auch noch dummerweise veröffentlichte. Aber solche heterosexuellen  Makel werden wohl immer seltener, mangels heterosexueller Priester…

Papst Franziskus, „Hoffe. Die Autobiografie“, 384 Seiten inkl.Bildteil, Kösel Verlag, München. 24€.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Alleinsein überwinden … durch Einsamkeit!

Ein provozierender, aber hilfreicher Hinweis: Einsamkeit als reflektierte Lebensform
Von Christian Modehn am 3.1.2025

Berlin – Stadt der Einsamen oder der Menschen, die allein sind, die niemanden haben? Siehe dazu Nr. 10 in diesem Hinweis.

1.
Über den Unterschied von Alleinsein und Einsamkeit muss erneut gesprochen werden. Nicht nur, weil die deutsche Sprache zwei unterschiedliche Begriffe für dieses Phänomen des „Auf sich-Selbst-Gestelltseins“ des Menschen anbietet. 2013 hatten wir zum Thema schon einige Hinweise publiziert. LINK . Nun muss aus aktuellem Anlass erneut darüber gesprochen werden: 20 Prozent der Weltbevölkerung, so das Meinungsforschungsinstitut Gallup im Jahr 2024, seien „häufig von Einsamkeit betroffen.“ (Fußnote 1). Diese Einsamkeit sei für die Betroffenen auch eine gesundheitliche Gefährdung und für den politischen und sozialen Zusammenhalt eine Belastung. „Etwa ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland fühlt sich zumindest teilweise einsam, knapp 20 Prozent fühlen sich sogar sehr einsam.“ LINK
Dieses Phänomen, in dem Zeitungsbericht „Einsamkeit“ genannt, wird dann sozialwissenschaftlich definiert: „Unter Einsamkeit wird ein negatives Gefühl verstanden, nach dem die individuellen sozialen Beziehungen qualitativ oder quantitativ als nicht ausreichend empfunden werden. Bleibt dieses Gefühl über längere Zeiträume erhalten, können z.T. schwerwiegende psychische und physische Krankheitsbilder die Folge sein.“

2.
In der Presse wird – einer populären Üblichkeit folgend – von Einsamkeit gesprochen, wobei tatsächlich Alleinsein gemeint ist. Unsere These ist: Das weit verbreitete Alleinsein können Gesellschaft, Organisationen, der Staat überwinden helfen. Einsamkeit ist hingegen die Erfahrung und die Erkenntnis dessen, was den Menschen ausmacht, klassisch gesagt, was sein „Wesen“ ist. Um diese Einsamkeit kann sich nur jeder einzelne Mensch selbst bemühen. Dann findet er erneut in die Gemeinschaft der anderen. Schon jetzt zusammenfassend gesagt: Einsamkeit als menschliche Lebensform ist das überwundene Alleinsein. Insofern ist es wünschenswert, wenn Alleinsein zur Einsamkeit wird. Einsame Menschen sind allein.

3.
Menschen, die allein sind, sind die Alleinlebenden, diejenigen, die „niemanden (mehr) haben“, die „Allein-Stehend“ sind, oft isoliert und nicht beachtet. Sie werden inmitten so vieler Leute eher nur wie etwas Anonymes, wie eine Nummer, wahrgenommen. Alleinlebende können diese Lebensform natürlich auch vorübergehend selbst frei gewählt haben, gemeint sind in den sozialwissenschaftlichen Studien die Alleingelassenen, Abgeschiedenen und Abgeschriebenen, die Isolierten… oft wegen des Alters, des Abbruchs von Beziehungen und Freundschaften, wegen der Fremdheit in der umgebenden Kultur. Oder weil sie zu einer sexuellen Minderheit gehören in einem letztlich immer noch repressiven, oft feindlichen System.

4.
Auf diesen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein hinzuweisen ist keine philologische oder philosophische Pedanterie oder Spitzfindigkeit, das Thema hat politische Bedeutung:
Die isolierten, die etwa wegen ökonomischer Zwänge oder persönlicher schicksalhafter Entwicklungen alleinlebenden Menschen, solche die „niemanden haben“, sind das unerfreuliche Gesicht der individualisierten Gesellschaft. Vereinzelt, allein lebende Menschen sind eben auch in ihrer Lebensenergie geschwächt, sie organisieren sich nicht, kämpfen nicht für bessere Lebensbedingungen, haben nicht die Kraft, für umfassende Gerechtigkeit einzutreten, die bei einer Reform des ökonomischen und politischen Systems auch ihnen zugute kommen könnte. Allein-Lebende sind als vereinzelte Menschen für jede Form von Staatlichkeit letztlich ungefährliche Bürger, vielleicht ist dies sogar willkommen und erwünscht, wenn auch die sozialen Kosten zur Unterstützung der depressiv gewordenen Alleinlebenden beträchtlich sein können, falls diese Menschen denn Therapieplätze überhaupt noch finden. Rebellion zugunsten besserer, kommunikativer Lebensverhältnisse sind von Alleinstehenden, Menschen die allein sind und niemanden mehr haben, nicht zu erwarten.

5.
Früher waren in Europa die Kirchengemeinden Orte, in denen sich Alleinlebende wohlfühlen konnten: Diese Orte, Gemeindezentren, Kirchen mit ihren Gruppen(veranstaltungen) verschwinden aber zunehmend. Der Grund: Weil es – etwa in der katholischen Kirche – immer weniger Pfarrer gibt, werden kommunikative Gemeindezentren geschlossen oder abgerissen. Und kein Alleinlebender (etwa älterer Mensch) protestiert gegen diese Zerstörung von Kommunikation durch klerikale Kirchenbehörden. Aber das ist ein anderes großes Thema…

6.
Was ist Einsamkeit? Allgemein und gebotener Kürze gesagt: Der einsame Mensch hat gerade im Rückzug auf sich selbst das Fühlen und Denken des Selbst geübt und dabei zu seinem eigenen individuellen Leben gefunden. Der in dieser Weise einsame Mensch ist der reife, reflektierte Mensch, der als Einsamer natürlich mit anderen lebt und sich der Gemeinschaft erfreut. Aber ehe es dahin kommt, soll die Selbst – Reflexion geübt werden. Der Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) hat in seinem umfangreichen Bekenntnis, „Essays“ genannt, ein Kapitel (Nr. 39 im „Ersten Buch“) der Einsamkeit gewidmet. (Fußnote 2). Montaigne brauchte den Rückzug angesichts der Belastungen und Gefährdungen durch die politischen Verhältnisse, er brauchte den Rückzug in seine Bibliothek. Und dort fand er im Alleinsein zur Einsamkeit: Sie war die Erfahrung, im reflektierten Rückzug als Mensch wesentlich zu leben, die Tiefe des Lebens zu sehen, auf den eigenen Geist zu achten und die eigene Seele zu spüren. Montaigne wollte sich als einsamer Mensch erkennen, um sich selbst annehmen zu können, er schreibt: „Es ist eine höchste und gleichsam göttliche Vollendung, sich seines eigenen Wesens redlich froh werden zu können“. Und: „Die größte Sache der Welt ist, dass man sich selbst zu gehören weiß“.

7.
Einsamkeit ist also für Philosophien, Spiritualitäten, Traditionen der Literatur und der Kunst eine produktive Lebensform, die jeder entwickeln kann. Gesprächskreise können dabei Inspirationen bieten. Dabei ist Einsamkeit kein Zustand, der einmal definitiv erreicht wird: Ein einsamer Mensch wird in Gemeinschaft leben, aber er wird sich dabei schützen vor dem ständigen Gerede und den aufgezwungen Aktivitäten durch andere. Er sucht immer wieder den Rückzug, denn nur in der Stille kann der Mensch reflektieren, nur in Ruhe kann er das tun, was für ihn wichtig ist, was ihn leben lässt: Meditieren, malen, musizieren, schreiben, sich im Nachdenken, Philosophieren üben, das immer um die entscheidende Frage geht: Wer bin ich eigentlich, wie will ich mit anderen leben, wo will ich hin, woher komme ich? Welche (falschen) Entscheidungen habe ich getroffen, wie bereite ich mich auf mein Lebens-Ende vor? Einsamkeit ist also ein Begriff, der menschliches Leben im emphatischen Sinne meint.

8.
Der Philosoph Martin Heidegger legt in seinen Vorlesungen unter dem Titel „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ (1929) allen Nachdruck darauf, die Einsamkeit einzuüben. Und diese Übung beginnt damit, meine eigene begrenzte Lebenszeit anzunehmen, also die eigene Endlichkeit anzunehmen. Und da wird mir deutlich: Dass ich immer ein einzelner bin, einmalig für mich die Möglichkeit habe, mein eigenes Leben zu gestalten. Heidegger schreibt: „Diese Vereinzelung ist jene Vereinsamung, in der jeder Mensch allererst in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge gelangt, zur Welt“ (Fußnote 3.)

9.
Das Alleinsein lässt sich überwinden mit Hilfe von (Therapie-) Gruppen, durch gerechtere Sozialhilfen, bessere Wohnungen usw. Dann können alleinlebende Menschen zu einsamen Menschen, die als einsame gerade in Verbindung mit anderen leben, weil sie die Tiefe des Lebens erfahren und verstehen.
Das Einsamsein als kommunikative Lebensform lässt sich einüben durch philosophische Gesprächskreise, Lektüregruppen…
Warum kommt der Staat nicht auf die Idee, diese „Basis-initiativen“ zu fördern? Warum gibt es keinen eigenen philosophischen Studiengang mit dem Ziel: ModeratorIN von philosophischen Gesprächssalons zu werden?
Solche Gesprächskreise in aller respektierten Freiheit an vielen Orten und Stadtteilen zu fördern ist genauso wichtig und für die Menschen hilfreich wie die Finanzierung großer Opernhäuser und Theater, an deren unglaublich teuren Aufführungen nur noch die sehr wohlhabenden Leute teilnehmen (können).

10.

BERLIN – die Stadt der Einsamen oder der alleinlebenden Menschen, der Menschen also, die “niemanden haben”, niemanden kennen… Ein wichtiges Interview dazu mit dem Psychiater Mazda Adli, Berlin, im TAGESSPIEGEL vom 1.Februar 2025, Seiten B 10 und 11.  Dass auch hier, wie so oft, Einsamkeit und Alleinsein verwechselt werden und eigentlich unserer Meinung immer Alleinsein (“Niemanden-Haben, Isoliertsein …”) gemeint ist, wenn von Einsamkeit die Rede ist, finden wir bedauerlich.

Im Interview also betont der Chefarzt für Psychiatrie Mazda Adli sehr treffend: “Kaum ein Thema ist so tabulisiert wie Einsamkeit.” “Großstädte sind eher anonyme Orte”. “Einsamkeit hat einen größeren negativen Effekt auf die Lebensdauer als Rauchen, Alkoholmissbrauch oder Fettleibigkeit”, sagt der Psychiater Mazda Adli.

Wichtig ist vor allem seine Forderung: “Wir brauchen mehr nicht-kommerzielle Begegnungsflächen, wo die Menschen auch sponatan zusammenkommen können…Ein wichtiger Schutzfaktor gegen Einsamkeit sind zum Beispiel unsere Kultureinrichtungen, wie Theater, Museen, Galerien, Kulturzentren… Jedes Theater erfüllt einen Gesundheitsauftrag! Jetzt erleben wir durch die Kürzungen (der CDU/SPD Koalition) einen Rückbau an Kultur und das ist aus meiner Sicht ein Gesundheitsrisiko.”

Uns fällt auf, dass bei der Aufzählung der hilfreichen, also gesundheitsfördernden “nicht-kommerziellen Begegnungsflächen” kirchliche Gemeindezentren (in Berlin) gar nicht mehr erwähnt werden. Sie spielen tatsächlich wohl jetzt in Berlin keine bedeutende Rolle, weil etlich der bestehenden Gemeinden, Kirchengebäude, Gemeindezentren meist – wegen Personalmangel, Finanzproblemen – geschlossen sind oder bereits aufgegeben wurden. Das sollte exakt soziologisch nachgewiesen werden!

Die katholische Kirche im Erzbistum Berlin etwa nennt diesen ihren seit Jahren betriebenen Abbau von kommunikativen Orten (Gemeinden, Pfarreien) ganz offiziell und wohl auch zynisch gemeint “Wo der Glaube Raum gewinnt”. Man sollte aber treffender sagen: “Wo der Glaube und die offenen kommunikativen Orte sich im weiten Raum verlieren und alsbald ganz verschwinden.” Das  ist auch gemeint, wenn hierzulande Religionssoziologen von Entkirchlichung sprechen. Und es ist natürlich die Frage, ob etwa dogmatisch bestimmte Veranstaltungen in den noch bestehenden katholischen Gemeinderäumen eine Lebenshilfe für Einsame (d.h. Alleinlebende, Verlassene, isolierte  Menschen) sein können. Und ob die Pfarrer, die sich manchmal noch Seelsorger nennen, tatsächlich die Qualität von Seelsorgern haben. Wir befürchten: Die Antwort ist Nein. Pfarrer und Priester sind Verwalter bzw. Sakramenten-Spender und “Messe-Leser”, sie eilen von einer Kirche zur anderen, um die Messen zu lesen, die nur Priester (Männer) – so die offizielle Lehre – leiten dürfen. Die Macht des Klerus bleibt also erhalten … das ist bekanntlich am wichtigsten in der römischen Kirche.

Fußnote 1:
Tagesspiegel, 27.12.2024, Seite 3.

Fußnote 2:
Montaigne, “Essays”, Eichborn Verlag, Übersetzt von Hans Stilett, 1998, Seite 124ff. Bes. S 126.

Fußnote 3:
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt am Main 1983, Seite 8.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

 

Von der Tiefe in die Stille – Wege in die Freiheit: Durch Musik!

Ungewöhnliche neue Klänge der Orgel: Die Komponistin Claire M. Singer.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.12.2024

1.
Musik führt ins Nachdenken … eigener Art, Musik erweckt den Geist und ermuntert die Sinne, führt ins Schweigen. Erst dann werden wieder wahre Worte wirklich. Musik ist deswegen unverzichtbar. Aber Musik hat in sich selbst ihren eigenen Sinn, dient keinem „Nutzen“, keinem greifbaren Zweck. Und auch dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Musik – auch in der Rolle der ZuhörerInnen – ist eine Vielfalt von eigenen Sprachen, die wir nicht in die Begriffssprachen übersetzt können. Oder nur in Andeutungen und Metaphern.

2.
Wir empfehlen heute im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ das Werk einer Komponistin und Performerin von Orgel – Musik, es geht um eine Verbindung von klassischen Klängen und elektronischer Musik. Die Orgel – Komponistin Claire M. Singer (sie spielt auch Cello) lässt sich dabei von ihrer Heimat Schottland inspirieren. Ohne in Klischees zu geraten: Es ist wohl das Erleben dort von dramatisch zu nennenden Landschaftsformen… in einer Natur der Stille und der Widersprüche gleichzeitig. Werden sie sich versöhnen? Musikalisch vielleicht. Und wenn man schon versucht, diese Musik in Worten weiter zu geben: Es werden eher “Flächen” präsentiert, also lang andauernde, oft gleichbleibende Klänge, die in Abgründe weisen oder sanft in eine Höhe streben. “Flächen”, auf denen sich oft eine Art sanfter Gesang zeigt…Hoffnungszeichen vielleicht, Wege in die Freiheit auf einem dunklen “Boden”, auf “Flächen”…

3.
Claire M. Singer LINK hat für ihre Kompositionen (erschienen als CD bei TOUCH Music UK) zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Seit 2012 ist Claire M. Singer Musikdirektorin für Orgel am preisgekrönten Veranstaltungsort Union Chapel in Islington, London.
Sie gründete das Festival „Organ Reframed” zur Präsentation experimenteller Orgel- Musik.

4.
Wir empfehlen Claire M. Singers CD mit dem Titel „Saor“, ein Wort aus der Irischen Sprache: Es bedeutet “frei”.

5.
Thaddeus Herrmann, Redakteur bei DASFILTER,  LINK , dem Medium und der Plattform für Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, hat eine „Plattenkritik“ verfasst:

„Wie 2023 plötzlich auszuhalten war“
Aus den Ohren, aus dem Sinn. Sechseinhalb Jahre ist es her, seit ich zuletzt über die schottische Komponistin Claire M Singer schrieb. Nun ist seitdem auch tatsächlich wenig von ihr erschienen: „Saor“ ist ihr drittes reguläres Album, dazwischen gab es noch eine EP und eine Compilation mit Stücken, die in der Zwischenzeit purzelten.
„Saor“ ist mein Album des Jahres. Es reißt mich mit wie nichts anderes mich in den vergangenen zwölf Monaten mitgerissen hat. Die Art und Weise der konzertanten Entschleunigung, die Singer in und mit ihrem Orgelspiel entfaltet, war mein Rettungsanker in den vergangenen Monaten, in denen es familiär einiges durchzustehen gab, eine Periode der Vorbereitung auf die nächste Phase in meinem Leben. Das unendliche Glück, das mir persönlich widerfuhr (und anhält) war der eine Kraft gebende Ruhepol, die Stücke auf „Saor“ der andere.
Für Singer markiert „Saor“ den Beginn einer Alben-Trilogie, in der sie die Eindrücke langer Wanderungen durch ihre schottische Heimat verarbeitet. Sie schreibt: „Saor follows two narratives: my trekking across the Cairngorm mountains in Aberdeenshire through the granite plateaux, corries, glens and straths, and my exploration of the 1872 Conacher organ in Forgue Kirk Aberdeenshire where many of my ancestors lie.“ („Saor folgt zwei Erzählungen: meiner Wanderung über die Cairngorm-Berge in Aberdeenshire durch die Granitplateaus, Kare, Täler und Senken und meiner Erkundung der Conacher-Orgel von 1872 in Forgue Kirk, Aberdeenshire, wo viele meiner Vorfahren liegen.“)
Mit ihrer Liebe zur Orgel als Instrument ist längst nicht mehr allein. Viele Musiker:innen – gerade die :innen – haben die Kraft der Pfeifen, egal ob groß oder klein, in den vergangenen Jahre für sich entdeckt. Singer putzt sie alle weg. Die langgezogenen Aufbauten, die schiere Kraft und Macht der sich Schritt für Schritt und Akkord für Akkord entwickelnden durchkomponierten Drones legt einen Mantel des Schweigens über alles mit Beats. „Saor“ ist eine hymnische Superlative der euphorischen Zurückhaltung. Wie die Musikerin ihr Orgelspiel mit Mellotron, Trompete, Cello, Klarinette und Elektronik verbindet absolut meisterhaft. Mal hell und strahlend, mal dunkel und dräuend, mal auch bewusst noisy. „Saor“ („frei) ist ein kammerspielerischer Befreiungsschlag.

Quelle: LINK.

Claire M. Singer „Saor“, Published by Touch Music, UK, 2023. Im deutschen Internet für 13,80 € erhältlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin,    www.religionsphilosophischer-salon.de .

Eine Geschichte zu Weihnachten: Maria verprügelt das Jesuskind.

Ein Hinweis auf ein Gemälde von Max Ernst
Von Christian Modehn am 10. Dezember 2024

1.
Es ist die Weihnachtsgeschichte, die hinausweist über den „Realismus“ des „alltäglichen“, des„normalen”, angeblich „gesunden“ Verstandes. Man denke an die Geburt des Gottessohnes Jesus, standesgemäß nicht in einem Palast, sondern in einem Stall geboren, dennoch umgeben von himmlischen Heerscharen und heiligen drei Königen. Und vor allem Maria, die Mutter des Gottessohnes, spielt dabei eine Rolle.

2.
Zu Weihnachten also sollte der Sinn fürs „Sur-Realistische“, „Über-Realistische“, wieder entdeckt und gepflegt werden! Diese Empfehlung gilt, nicht um etwa ins Schwärmen zu kommen, sondern um die Weihnachts-Mythen, gerade den Maria – Mythos, besser oder mindestens anders und neu zu verstehen.

3.
Sur-realistisch also ist die Erzählung von der Ankündigung der Geburt Jesu: Als das Mädchen Maria von einem Engel besucht wird, da wird ihr sozusagen von Gott selbst versprochen: Kein Geringerer als der Heilige Geist werde der Vater ihres Sohnes sein. Allem alltäglichen Realismus zuwider verheißt ihr dann der Engel: „Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das (von dir) geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ So wird der Mythos im Lukas – Evangelium 1. Kap. Vers 35 erzählt.

4.
Maria wird also „Heiliges“ zur Welt bringen, Gottes Sohn soll ihr Kind sein, ein Kind zwar, das wie alle Menschen von einer Frau geboren wird. Angesichts dieser über-weltlich anmutenden Geschichte der Gottes – Geburt kann man  surrealistischen Inspirationen guten Gewissens und voller Neugier folgen: Bei solcher Ankündigung: „Heiliges wird von dir geboren“, kann doch Maria als frommes, sagen wir einfaches Mädchen nur denken: Dann muss dieses göttliche Kind auch im Laufe seiner Entwicklung immer göttlich sein, also total anders, von menschlichen Grenzen und Begierden befrei. Und ebenso von körperlichem Leiden und leiblichen, auch sexuellen Vorlieben nicht berührt. So viel Menschliches passe doch nicht zum „Heiligen“, passe nicht zu „Gottes Sohn“, gezeugt vom heiligen Geist. Da kann Maria doch nur gespannt und neugierig sein auf ihren ungewöhnlichen Sohn… (Erst nach der „Auferstehung“ Jesu von Nazareth legte die Kirche allen Wert darauf zu betonen: Trotz dieser außergewöhnlichen Auferstehung ist Jesus ganz Mensch gewesen. Über seine Leiblichkeit in jeder Hinsicht, auch seine Sexualität, äußerte sich die offizielle Kirche schon damals – angstvoll – nicht…)

5.
An dieser Stelle wird ein Gemälde von Max Ernst (1891-1976), dem Surrealisten, interessant und wichtig. Wir lesen sein außergewöhnliches Gemälde als Beitrag zum Weihnachtsmythos, gemäß der offenen Haltung der Surrealisten…Deren Philosophie (Surrealismus ist wohl mehr als eine Kunst -„Richtung“) ist also inspirierend und hilfreich fürs Verstehen der biblischen Mythen, auch der Weihnachtserzählungen. Aspekte der ohnehin nur surrealistisch zu nennenden Weihnachtsgeschichte werden durch die Phantasie dieses Künstlers explizit freigelegt und zur Auseinandersetzung angeboten. Denn der einfältige, phantasielose „Realismus“ hat fürs kritische Denken keine Chancen! Deswegen schafft Max Ernst im Jahr 1926 das berühmte, umstrittene Gemälde „Die heilige Jungfrau (Maria) züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“. Zum Gemälde selbst: LINK:

6.
Wichtig ist im Bild selbst: Maria, mit einem Heiligenschein ausgestattet, wird als eine moderne Frau dargestellt, sie ist sehr ansehnlich und ziemlich beleibt. Und sie schlägt voller Wut ihr Kind Jesus, er ist kein Baby mehr, vielleicht 3-4 Jahre alt, heftig auf den Popo. Dabei fällt dem Jesuskind der Heiligenschein vom Kopf: Das Jesuskind, durch die Tracht Prügel vom Heiligenschein befreit, ist jetzt nur noch ein Mensch. Marias Heiligenschein hingegen bleibt, eine Ironie des Künstlers vielleicht, weil Maria als ordentliche Erzieherin auftreten sollte, die den uralten, heiligen Erziehung – Gesetzen der Herrschaft über das Kind entspricht. Maria ist in der Hinsicht von Max Ernst also gesetzestreu und hoch respektabel, deswegen ihr Heiligenschein. Auch das ist Surrealismus und seine tiefe Wahrheit: Drei Männer beobachten durch ein schmales Fenster das Geschehen, auch Max Ernst wird dabei von Kunsthistorikern erkannt.

7.
Entscheidend ist religionsphilosophisch die Frage: Warum schlägt Maria auf ihren Sohn Jesus ein? Wer dem Wink des Gemäldes folgt, entdeckt wahre Elemente im Weihnachtsmythos: Maria schlägt auf ihren Sohn Jesus ein, weil sie eigentlich und am liebsten auf Gott einschlagen würde. Aber der ist im Himmel, unerreichbar für die schlagende Hand. Ihre Wut leitet Maria also auf ihren Sohn um. Soll der doch ihre Wut spüren, ihre Wut über Gott.

8.
Maria fühlt sich zutiefst von Gott selbst getäuscht: Was hatte sein Engel ihr nicht alles versprochen? „Heiliges wird geboren“, „Gottes Sohn wird ihr eigener Sohn sein.“ Aber als dieser Sohn Gottes dann zur Welt kommt, da erlebt die junge Mutter und ihr Gatte Josef nichts Göttliches, Wunderbar -Hilfreiches: Von einem herrschaftlichen Haus für die Geburt Ihres Gottes-Sohnes wagen sie schon gar nicht zu träumen, selbst eine bescheidene Herberge finden sie nicht. So muss der Gottes-Sohn im Stall zur Welt kommen. Man kann sich denken, wie wütend Maria und ihr Gatte Josef ist, als sie nun den Gottessohn, frisch geboren, ins harte Stroh legen müssen, von blökenden Tieren und naiven Hirten umgeben.

9.
Die üblichen, aber theologisch so dummen und völlig ausgesungenen kitschigen Weihnachtslieder lassen dann singen: „Da liegt es das Kindlein in Heu und auf Stroh.“ Und dann der skandalöse Satz im Lied: “Maria und Josef betrachten es froh.“ Was für ein Sadismus: Die Eltern freuen sich, dass ihr Neugeborenes im Stroh liegt und dabei wohl doch gewisse Schmerzen empfindet und sicher ständig heult. So dumm können nur Weihnachtslieder sein (wie: „Ihr Kinderlein kommet“ usw.) Tatsache ist, dies zeigt uns der Surrealismus: Maria betrachtet das Gotteskind, „das von ihr geborene Heilige“, alles andere als „froh“: Sie ist wütend, vor allem auf Gott und seinen Engel. der ihr so viel Unglaubliches versprochen hat. Alles Unsinn, sagt sich Maria.

10.

Maria wird von der ut auf Goitt weiter bestimmt, so die surrealistische Interpretation, als die „heilige“ Familie längst in Nazareth eine Unterkunft hat: Denn ihr Gottessohn, ihr Heiliges, zeigt sich dort als so menschlich: Maria ist wütend und zornig, weil ihr verheißener „Gottes Sohn“ Jesus tatsächlich bloß ein übliches Menschenkind ist, mit all den genannten Eigenheiten menschlicher Bedürfnisse. Ein Gotteskind, das in die Windeln kackt, was das hat doch nichts mit Gottes Sohn zu tun?
Maria ist wütend, weil dieses Kind, größer werdend, gar nicht so abgehoben ist von allem Menschlichen, nicht total vergeistigt und vergöttlicht, nicht über allem Irdischen schwebend.
Maria muss erkennen: Welch ein Wahn war es doch von mir zu glauben, da würde mit Jesus ein Gott auf Erden wandeln, ein reiner Geist, ein reiner Leib.

11.
.Das Gemälde von Max Ernst zeigt: Die Wut Marias auf Gott wegen der irritierenden Behauptungen des Engels über das „göttliche Kind“ ist zugleich auch die Wut spiritueller (Christen-) Menschen auf einen Gott, der sich – im Mythos -zwar  ins weltliche Geschehen einmischt, in die Welt kommt, aber doch so ganz anders als Gott erscheint.

12.
Die meisten Christen wollen auch heute in Jesus ihren Gott sehen, als einen universalen Herrscher, als Himmels – König und Weltenrichter. Dabei ist Jesus  bloß ein Mensch, der sich im Laufe seines Lebens zum Weisheitslehrer entwickelte. Aber ein auf Erden wandelnder, makelloser, total vergeistigter Gott ist er eben nicht. Und diesen Gedanken fanden und finden die meisten Christen unerträglich. „Einen Weisheitslehrer wollen wir nicht. Wir wollen einen Gott auf Erden. Und wenn der nicht erscheint, dann wenden wir uns eben den “göttlich” auftretenden politischen Führern zu….“ Welch ein Wahn!

13.
Die meisten Christen und ihre Kirchenführer erfanden schon bald nach Jesu Tod aufgeschwollene spekulative Lehren und Dogmen, die behaupten: Dieser Jesus von Nazareth ist dann als Christus auch Gott, er gehört also zur göttlichen Trinität, er ist der (griechische) Logos, gezeugt von seinem Vater im Himmel usw. Und was machen diese geradezu Gott-besessenen Christen dann auch noch aus der armen und letztlich irgendwie irritierten Mutter Maria? Sie erklären diese Maria zur Gottes – Mutter und zur Himmelskönigin. Denn sie erlebt, so das aufgeblasene Dogma, unmittelbar nach ihrem Tod eine Aufnahme in den Himmel, “Wer das nicht glaubt, der sei aus der Kirche ausgeschlossen“, heißt es in der katholischen Dogmatik.

14.
Das Gemälde von Max Ernst ist eine heftige Provokation zur Weihnachtszeit: Jesus von Nazareth ist kein süßliches göttliches Kindelein. Jesus ist ein normaler Mensch, der auch unter der strenger Erziehung zu leiden hat. Er wird im Laufe seines Lebens zu einem Weisheitslehrer, der die Herrschenden provoziert und viel mehr zu sagen hat als der im Weihrauch und Alleluja förmlich erstickende Gott mit dem Namen Jesus Christus, und mit uralten Formeln und Floskeln hoch – gelobt, in den Himmel entrückt, aber nicht verstanden.

15.
Dies sei allen gesagt, die sich auf die offiziellen Feierlichkeiten zum 1.700 Jubiläum des Konzils von Nizäa im nächsten Jahr (2025) freuen: Da wird dieser arme und gekreuzigte Weisheitslehrer Jesus wieder erneut als ein Gott bestätigt und bejubelt, vom Papst, von den orthodoxen Patriarchen, den lutherischen Bischöfen, den so klugen Theologen … Sie bemächtigen sich erneut dieses armen Mannes und Weisheitslehrers Jesus und entrücken ihn in weite Ferne. So wird er belanglos und ungefährlich für alle, die Weisheitslehrer nicht respektieren wollen. Aber die Herren der Kirchen können sich auf der Seite dieses Gott – Menschen Jesus Christus wissen und stolz ihre Herrschaft durchsetzen…

16.
Das hat der Künstler Max Ernst begriffen: Maria ist die erste, die mit dem Menschen Jesus ihre sehr große Mühe hatte. Wo sie doch so gern einen jungen Gott in ihrer Wohnung gehabt hätte und nicht ein eigensinniges Kerlchen mit voll gekackten Windeln… Manchmal ist Maria deswegen vor Wut ausgerastet und hat diesen ihren Sohn Jesus geschlagen.
Diese Maria hat wohl auch eine Entwicklung durchgemacht, so der Mythos des Neuen Testaments. Sie stand unter dem Kreuz der Hinrichtung Jesu, und sie wusste: Ihr Sohn war ein großer Mensch, ein religiöser Reformator, ein Vorbild. Erst die herrschsüchtige Kirchenführung machte aus dieser lernbereiten Frau eine Himmelskönigin, so fern, so überirdisch, auch dies ein Wahn der Herrschenden.

17.
Marias lieber Gatte Josef – und de facto – also realistisch – natürlich der Vater Jesu – hatte sich vielleicht längst aus dem Staub gemacht, oder er kümmerte sich – angeblich als Tischler – auch um die Geschwister Jesu, die zu prügeln unkomplizierter war. Denn bei den Geschwistern Jesu wurde ja nichts Göttliches angekündigt. Ob er seinen Sohn Jesus, den Tischlerlehrling, geschlagen hat, interessiert die Surrealisten nicht. Auszuschließen ist das nicht, Mutter Maria hätte es wohl geduldet, wütend auf ihren Gott und seine seltsamen, so mißverständlichen Verheißungen…

18.

Siehe auch den weiterführenden Hinweis von Christian Modehn “Weihnachten und Philosophieren”: LINK.

19.

Unsere Deutung eines surrealistischen Gemäldes als eines inspirierenden Gemäldes zu Weihnachten, zum Verständnis der Jesus – Gestalt und der Maria hat nichts zu tun mit den völlig der eigenen Phantsasie hingegebenen Erzählungen der so genannten “apopkryphen Weihnachtsgeschichten”. Zu dem Thema siehe den Link zu einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn LINK.

Copyright: Christian Modehn, Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Ablassjahr – Jubeljahr – Sündenjahr 2025!

Am 24.Dezember 2024 beginnt das „Heilige Jahr 2025“ in der katholischen Kirche.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.11.2024

Vorwort: Der katholischen Kirche, d.h. dem Papst und dem Klerus, verbleibt nach allen Niederlagen in der Auseinandersetzung mit der Neuzeit nur noch eine einzige universelle Macht: Die Herrschaft über die Sakramente, also über alles, was mit Gott und Erlösung und “Jenseits” zu tun hat. Zum Beispiel die Macht über das Bußsakrament bzw. die Vergebung der Sünden. Und diese Herrschaft wird jetzt erneut universell für alle Katholiken ausgeübt: Mit der päpstlichen Verfügung, 2025 zum Jahr des Ablasses, also des Nachlasses von allen zeitlichen Sündenstrafen zu machen. Das Ganze wird “Heiliges Jahr” genannt.

Aber das Thema Ablass spielt bis jetzt (26.12.2024) in den Reden des Papstes keine große Rolle: Es gehört zum halbherzigen Reformprogramm des Papstes Franziskus: Alte Traditionen pflegen und aufwärmen und einige wenige moderne Elemente dann einbauen: So auch jetzt: Das “heilige Jahr” sollte alle Menschen, wirklich alle, zu Jesus führen, “Jesus ist die Pforte des Friedens.” Das sagte der Papst in seiner Weihnachtsansprache Urbi et orbi 2024. Also nicht die universellen Menschenrechte führen für den Papst zum Frieden, sondern es ist Jesus. Aber was da genau? Etwa die Bergpredigt? Das wird nicht gesagt. Würden hingegen die universellen Menschenrechte auch in der katholischen Kirche vom Papst an erster Stelle für alle (!) empfohlen und würden sie auch in der Kirche selbst gelten, dann müsste der Papst Frauen zum Priesteramt/Pastorenamt/Diakoninnenamt zulassen. Macht er aber nicht: Angeblich wollte dies Jesus Christus nicht. Welch eine autoritäte Erstarrung! Eigentlich ein hoffnungsloser Fall…

1.
Seit dem Jahr 1300 gestaltet die katholische Kirche „heilige Jahre“, sie werden seit einigen Jahrhunderten alle 25 Jahre gefeiert: Diese katholisch – spirituellen Höhepunkte sollen den Glauben fördern, vor allem aber die Frommen von eher noch harmlosen, also nicht „ewigen“ Sündenstrafen befreien. Ursprünglich wurden die heiligen Jahre als religiöse Jubeljahre der Versöhnung mit Gott propagiert: Dann wurden sie wegen des Ansturms der frommen Sünder, also der religiösen Touristen nach Rom, eher Trubel – Jahre: 2025 werden mindestens 32 Millionen Pilger – Touristen in Rom erwartet, LINK.

Diese frommen Massen erzeugen eine verrückte (auch ökologisch verrückte) Herausforderung für die Bewohner der Stadt Rom. Aber der Euro wird dann rollen, mindestens für etliche gut vernetzte auch kirchliche Unternehmen…
Aber nach außen hin dreht sich alles – in der offiziellen Propaganda – um die Gewinnung des Ablasses. Und dafür verantwortlich ist das Büro der „Apostolischen Pöniteniarie“ in Rom, übersetzt die Behörde des „Apostolische Bußgerichtshof“. Falls Sie dort mal vorsprechen wollen in diesem sündhaft prächtigen alten Palazzo: Hier die Adresse: Penitenzieria Apostolica, Piazza della Cancelleria 1, 00186 – ROMA (ITALIA).  Fotos: LINK

2.
Lassen wir es einmal dahin gestellt, ob Katholiken heute sich als Sünder im päpstlichen Sinne verstehen. Die Teilnahme an der Beichte im „Beichtstuhl“ ist bekanntlich in Europa absolut minimal. Offensichtlich wird vom Papst gutgläubig (naiv?) unterstellt: Katholiken drängeln sich geradezu darum, durch den Ablass von ihren „zeitlichen Sündenstrafen“ befreit zu werden. Das muss erklärt werden: Die zeitlichen Sündenstrafen beziehen sich auf die „Zeit“ im Fegefeuer, die der Sünder dort absitzt; der Ablass erlässt also diesen Aufenthalt im Fegefeuer- wo auch immer er sich befinden mag. Von sehr schweren Sünden (Mord, und den sieben Todsünden, darunter Geiz, Zorn usw.) allerdings kann nur die persönliche Beichte befreien, sonst landet der Sünder ad aeternum in der Hölle. (Siehe dazu die ausführlichen Darstellungen im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) § 1471 ff. zur Beruhigung: Leichte, lässliche Sünden sind heimliche Naschereien, unkeusche Gedanken, Onanie usw…

3.
Auch viele Katholiken fühlen sich heute nicht als Sünder, sondern eher als Menschen, die – ziemlich hilflos – in verbrecherische, friedlos und ungerechte Strukturen der kapitalistischen Welt eingebunden sind. Sie müssen als „einfache Menschen“ ihre Energie nur darauf verwenden, irgendwie zu überleben und sich irgendwie „recht und schlecht“ „durchzuwurschteln“ … mit kleineren Vergehen, eben leichten, „lässlichen“ Unkorrektheiten, einst Sünden genannt. Diese „mühsame Last im Leben“ wäre doch ein relevantes kirchliches Thema, das in vielen tausend Therapie – Sitzungen in Kirchen und Gemeindehäusern besprochen werden könnte. Aber auf diese Idee kommt man im Vatikan nicht, schließlich sind die so genannten Seelsorger, also die Priester, meist gar keine Kenner der Seele und deren Abgründe. Sie nennen sich Seelsorger, sind es aber nicht… Sie sind meist eben nur gut bezahlte zölibatäre kirchliche Manager. Da ist es einfacher und völlig anspruchsloser, immer wieder den umstrittenen Ablass zu propagieren, und auf Geld- Spenden zu insistieren, die mir dem Ablass verbunden sind anläßlich der Wallfahrten nach Rom und zu anderen „Heiligtümern“…

Der Vatikan braucht förmlich diese Pilgerströme, der Vatikan ist jetzt in großen Geldnöten, das bekennt Papst Franziskus. „Laut Medienberichten soll der Zwergstaat Vatikan in Haushaltsdefizit von mehr als 80 Millionen Euro angehäuft haben.“ LINK.    Siehe auch einen weiteren LINK.

4.
Der ausführliche aktuelle Text des „Apostolischen Bußgerichtshofes“ ist sicher eine gewisse Zumutung der Lektüre, trotzdem einige wichtige Hinweise: Am 13. Mai 2024 wurde dieses umfangreiche, päpstlich genehmigte Dokument, eine im Vatikan genannte „Bulle“, zum Ablass im Heiligen Jahr 2025 veröffentlicht. LINK
Die alte katholische Lehre wird wiederholt und um einiges Unwesentliche „modernisiert”. Man sollte aber in dem Zusammenhang alle angeblichen ökumenischen Ambitionen des Papstes vergessen. Papst Franziskus wiederholt nämlich, unbeirrt von allen theologischen und ökumenischen Debatten und Erkenntnissen, den alten katholischen konfessionellen Geist: Der Ablass habe wie seit alten, vor – modernen Zeiten als „Erlass und Vergebung der Sünden und Vergebung von allen Folgen der Sünde“ zu gelten.
Der Ablass wird als ein Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes dargestellt: Die Kirchenführung weiß also, wie die Barmherzigkeit Gottes konkret aussieht. Entscheidend ist: Die Kirche (d.h. nur der Klerus, der Papst usw.) vermittelt zwischen Gott und dem Sünder. Dieser Ablass wird durch die Kirche, die „Braut Christi“, dem Sünder geschenkt. Sünder sollen also dankbar der Kirche (dem Papst usw.) sein, dass sie das Heil der Rettung vor dem Fegefeuer vermittelt. Spenden sind deshalb jederzeit willkommen. Der Dominikanerpater Tetzel forderte von den Sündern zu Luthers Zeiten bestimmte fixierte Geldsummen zur Erlangung des Ablasses. Inzwischen ist die Kirche da etwas großzügiger geworden.

Auffällig ist allerdings, soweit ich sehe, dass vom Fegefeuer als dem Ort der Abbüßung zeitlicher Sündenstrafen, im Dokument keine Rede ist. Aber man schließe daraus nicht, dass es in der katholischen Lehre kein Fegefeuer mehr gibt. Lediglich den Limbus, also das spezielle etwas milder gedachte Fegefeuer für ungetaufte kleine Kinder, “gibt” es nicht mehr, d.h. an den Limbus zu glauben ist jetzt keine Pflicht mehr. LINK.

5.
Die Führung der römischen Kirche Kirche spricht sich selbst also das Recht zu, von Gott persönlich die Vollmacht erhalten zu haben, den Sünder von allen Folgen der Sünde zu befreien.

6.
Die „Bulle“, das offizielle Ablass- Dokument, nennt dann viele Details, wo und wie die Sünder diesen Ablass 2025 gewinnen können, vorzugsweise in Rom, aber auch an anderen Orten europaweit. Es werden auch Möglichkeiten genannt, den Ablass außerhalb der Kirchenmauern zu erlangen, etwa, so wörtlich, durch „Teilnahme an Gesprächen über den offiziellen römischen Katechismus“ und zwar selbstverständlich „an geeigneten Orten“… Der Ablass kann zudem auch erlangt werden, wörtlich „durch eine anteilige Geldspende an die Armen durch die Unterstützung von Werken religiösen oder sozialen Charakters, insbesondere zugunsten der Verteidigung und des Schutzes des Lebens in jeder Phase des Lebens selbst“. Also: Durch Geld – Spenden für „Pro Life Aktivisten“ kann man auch den Ablass erlangen. Die evangelikalen Pro-Life – Aktivisten etwa Donald Trumps werden sich – endlich mal ökumenisch – mit dem Papst auf einer gemeinsamen Linie – befinden. Ebenso kann der Ablass erlangt werden durch Unterstützung „der verlassenen Kinder, der Jugendlichen in Schwierigkeiten, der alten Menschen in Not, der Migranten aus verschiedenen Ländern…“. Caritative Taten also, die aber an dem miserablen strukturellen Zustand der genannten Gruppen nicht so viel verbessern. Gesellschaftskritik wird nicht als Möglichkeit genannt, den Ablass zu gewinnen, Kirchenkritik schon gar nicht. Es wird also die übliche Spenden – Spiritualität propagiert: Spende etwas, „tu Gutes“, aber verändere bloß nicht die ungerechten Strukturen…

7.
Soweit kurz zum offiziellen Text, der an dieser Stelle das menschliche Tun als Weg zur Erlangung der Gnade der Sündenvergebung anpreist. Lutheraner werden diese Sätze vielleicht aufmerksam lesen, aber selbstverständlich kein kritisches Wort zu dieser angestaubten päpstlichen Bulle sagen. Die wenigen vernünftigen, also die nicht – evangelikalen Protestanten heute sind zum Widerspruch gegen Rom heute zu vornehm und zu schüchtern oder vielleicht auch zu verwirrt nach all den vielen tausend Papierflut ähnlichen Ökumene – Papieren, sie werden es still hinnehmen, dass dieser römisch – katholische Ablasswahn im 21. Jahrhundert immer noch hoch offiziell propagiert wird und lebt. Leider!

8.
Wenn katholische SünderInnen und Sünder den Ablass nach vatikanischem Beschluss jetzt auch außerhalb Roms erlangen können, fragt man sich, ob dann noch die Pilgerfahrt der geschätzten 32 Millionen nach Rom im Jahr 2025 so sinnvoll und ..auch ökologisch überhaupt noch vertretbar ist. „Bleibt also zu Hause, ihr findet dort euren Ablass, zum Beispiel darum Spenden für „Pro-Life – Aktivistinnen“, könnte man doch als Devise ausgeben. So deutlich werden die Pönitentiarier in Rom nicht…
Und : Wie die Sünder im Klerus nach den vielen tausend sexuellen Missbrauchstaten im Heiligen Jahr „behandelt“ werden, wird überhaupt nicht erwähnt. Zweifellos sind diese Sünden so gravierend, dass sie nicht mit dem Besuch einer Kirche in Rom automatisch erlassen werden.

9.
Es gibt in der langen Liste der bisherigen „Heiligen Jahre“ einige herausragende Ereignisse, die nur kurz erwähnt werden sollen:
Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Vernichtung des europäischen Judentums vor allem durch Nazi – Deutschland und Faschisten in Europa, verkündete Papst Pius XII. im Heiligen Jahr 1950 das Dogma der „leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel“. Das war ja wohl etwas ganz „Dringendes“ damals, unmittelbar nach den genannten Katastrophen. Besser wäre es gewesen, Pius XII. hätte sich für sein eigenes Schweigen zum Morden durch die Nazis und die Faschisten öffentlich entschuldigt. Aber eine Dogma – Erklärung zu veröffentlichen ist halt einfacher, selbst wenn sie theologisch Unsinn ist.
Und Papst Johannes Paul II. ließ im Jahr 2000 die Geburt Jesu von Nazareth vor 2000 Jahren als Heiliges Jahr feiern. Er setzte ganz den Akzent auf das offizielle Eingeständnis: „Nur die Söhne und Töchter der Kirche“ haben im Laufe der Kirchengeschichte viele Verbrechen begangen und die Kirche dadurch geschädigt. Es waren also nur einzelne „Söhne und Töchter der Kirche“, die als Kriegsherren, Ketzerverfolger, Kolonialherren, unwürdige Päpste usw. sündigten. ABER: Es war nicht die Kirche als Institution!! Diese hat gar nicht gesündigt, sondern sie ist und bleibt als gottgewollte Institution „die reine und heilige Braut Christi“.

10.
Diese Aufspaltung von sündigen Kirchenmitgliedern und der NICHT- sündigen Kirchen – Institution hat damals, im Jahr 2000, zu dem treffenden Vergleich geführt: Auch die Kommunisten, Stalinisten, sagten: Falsch gehandelt haben immer nur einzelne kommunistische Funktionäre. Die Partei (verstanden als Parteiführung, etwa Stalin) ist fehlerfrei…: “Die Partei, die Partei hat immer recht“…

11.
Im Jahr 1500 kamen 200.000 Gläubige nach Rom, um im Heiligen
Jahr den Ablass zu erlangen, auch dies war eine große Herausforderung für die Bürger dort, Rom zählte damals 50.000 Einwohner. Aber der veranstaltende Papst Alexander VI. verdiente dabei doch viel Geld, so dass sein Sohn, Cesare Borgia, genug Mittel hatte, um seinen zweiten Romana – Feldzug zu starten. Nebenbei: Papst Alexander VI. ist eine der absolut übelsten und widerwärtigsten Gestalten unter den so genannten Nachfolgern des heiligen Petrus und den so genannten Stellvertretern Christi auf Erden. Man lese die Studie des Historikers Prof. Volker Reinhardt, „Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia“,Beck Verlag, München, 2007, Seite 192).

12.

Es werden vielleicht Debatten stattfinden, ob ein Heiliges Jahr, also ein Jahr des Ablasses, die dringende christliche Antwort ist auf die tieferen Erschütterungen und Verunsicherungen und Ängste der Menschen heute… angesichts der ökologischen Katastrophen, der völlig ungerechten Verteilung des Eigentums, des Hungers von Millionen Elenden, der Kriege, des unerträglichen religiösen Fundamentalismus in Islam, Judentum, Christentum, Hinduismus usw…

Und auch diese Frage ist offen: Kann die seelische Belastung und seelische Verirrung katholischer Menschen (auch des Klerus) durch den Ablass, man möchte sagen, einfach durch eine Pilgerfahrt, einige Gebete, einige caritative Gesten, geheilt werden? Gehen die Katholiken nach gewonnenem Ablass dann als seelisch geheilte Menschen des Friedens, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit hervor? Diese Frage stellen sich die Verantwortlichen, die Propagandisten des Ablasses und des Heiligen Jahres offenbar nicht. Sie wollen erneut die geistliche Macht der Kirche glanzvoll, voller Erbarmen für die armen Sünder, in den Mittelpunkt stellen.  Und sicher auch Geld einspielen durch die “Pilgerströme”, etwa nach Rom und in den Vatikan.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Moral und Unmoral bestimmen die Politik: (K)ein ewiges Thema

Zu spät handeln – das Hauptproblem der Demokraten im Kampf gegen unmoralische Politiker.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2024.

1.
Die USA werden sich unter Präsident Trump „in ein egoistisch agierendes Imperium“ verwandeln. Diese richtige Erkenntnis setzt sich weltweit durch, auch unter Politologen, etwa bei Professor Herfried Münkler, dem „Theoretiker der Politik“. Er kann auf den Begriff Egoismus nicht verzichten, wenn er ein weiteres Regime Donald Trumps bewertet. (Fußnote 1). Egoismus ist eine Kategorie der Moral, und das muss unterstrichen werden.

2.
Politik hat mit Moral zu tun, Politiker handeln als Menschen immer moralisch. Aber ihre Moral kann zur Unmoral werden, zum schädlichen Egoismus (Fußnote 2). Entscheidend ist: Dieser Egoismus hat einen Namen: Nationalismus. Und Nationalismus/Egoismus einer Nation, eines Staates, äußert sich heute immer in den gleichen Parolen und Slogans: „America first“. „Deutschland zuerst“, „La France d` abord“ und so weiter.

3.
In diesem schädlichen und schändlichen Egoismus als Nationalismus gilt den „einheimischen“ Bürgern wie deren gewählten Politiker (um bei den Demokratien zu bleiben) das eigene Wohl als absolut entscheidend. Wohlergehen (es sind immer Minderheiten, den es auch in den Demokratien umfassend „wohl ergeht“) gibt es für Wähler wie deren Politiker nur in der absoluten Bevorzugung der eigenen Nation. Und dafür werden Feinde im Innern des Staates wie außerhalb der Nation fixiert, als auszugrenzende Störenfriede konstruiert, zu Un – Menschen degradiert, die das angeblich selbst erarbeitete Eigentum bedrohen. „Die Nation braucht Feinde, weil das die Suche nach der eigenen Identität erleichtert“, schreibt Peter Alter in seinem Beitrag „Nation“ in der „Enzyklopädie Philosophie“ Band II, (Hamburg 2010, Seite 1702.)

4.
Nationalismus als Ideologie und Praxis ist trotz aller militärischen Aufdringlichkeit immer auch ein Zeichen der Schwäche der Nationalisten: Sie brauchen ihre Feinde (wie üblich seit Jahrhunderten „die“ Ausländer, die Flüchtlinge, Muslime, Juden, Homosexuelle, linke Intellektuelle usw.), um Stärke und Bestand zu demonstrieren. Eine Einsicht, der sich übrigens auch der Sozialethiker Kardinal Reinhard Marx (München) nicht verschließen kann: „Nationalismus bedeutet Krieg“ sagte er 2019 in München. Aber er vergaß dabei zu beklagen, dass die katholische Kirche, selbst ein uraltes Imperium, auch ihre Feinde brauchte (und braucht). Vor allem die Ketzer und Häretiker und Schismatiker, die sie verurteilte und vernichtete und … die Juden und so viele andere. (Fußnote 3).
Weil die Egoisten/Nationalisten sich bedroht fühlen von vielen Seiten, müssen sie Kriege führen. Sie müssen zeigen, dass sie stärker sind als andere Nationen und deren Nationalisten. Sie wollen auf fremdes Land zugreifen oder das eigene Land mit Mauern und Stacheldraht einzäunen.

George Orwell, Autor des Romans “1984”, hat im Jahr 1945 einen Essay mit dem Titel “Notes on Nationalism” (“Über den Nationalismus”, 2020, DTV, 62 Seiten) veröffentlicht. Dieser Text verdient viel Aufmerksamkeit. Der Nationalist so Orwell – steigert obzessiv und kämpferisch die eigene Nation ins Erhabene, bis hin zur Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit. Wichtig ist Orwells Erkenntnis: Die Ideologie des Nationalismus als maßlose und obzessive Überschätzung der eigenen Nation ist eben nicht nur auf die Nation bezogen, sondern auch auf politische Gesellschaften, Parteien, Kirchen: Auch sie werden ins irrational Erhabene gesteigert, um dann verehrt, heilig gesprochen, als absolute Wahrheitgewaltsam verteidigt zu werden.

5.
Die aggressiven politischen und ökonomischen Egoisten/Nationalisten sind vor allem in den rechtspopulistischen Regierungen zu finden, bei Trump in den USA und bei Orban in Ungarn oder in Parteien (FPÖ Österreich, AFD Deutschland, Le Pen „Rassemblement National“ Frankreich, Wilders in Holland, Meloni in Italien usw.). Auch demokratische Parteien haben nationalistische Ambitionen, aber diese Parteien verhalten sich dabei diskreter, man denke an liberale Parteien und deren Eintreten für ihre superreiche Klientele.

6.
Demokratische Parteien übernehmen jedenfalls – aus taktischen Gründen – allzu oft auch zentrale Propaganda – Sprüche der rechtsextremen Parteien. Vor allem schließen sie sich gern der Vorstellung an von der „furchtbaren Gefahr“, die angeblich von „dem“ Problemausgehen, und das sind Ausländer, Fremde, Flüchtlinge…
Demokratische Parteien wollen mit der Übernahme gewisser rechtsextremer nationalistischer/egoistischer Parolen ihr eigenes Land wie eine Festung gestalten, die eigene Nation wie die EU: Das europäische Bollwerk gegen die Fremden soll wehrhaft aufgebaut werden. In dieser Fixierung auf die Konstruktion einer europäischen Festung (EU) erliegt die Vernunft der Angst. Die Vernunft wird eingeschläfert und blind, so dass die wahren Feinde der Demokratie – etwa Putin -Russland – nicht rechtzeitig als Gefahr erkannt und benannt und den Bürgern/Wählern deutlich gemacht werden.
Wenn auch demokratische Parteien egoistisch – nationalistisch werden, ist das Ende dieser Demokratien absehbar.

7.
Die viel besprochene große „Zeitenwende“ ist also weltweit heute die Wende zum Egoismus als Nationalismus. Egoismus wird die politische Agenda bestimmen wird bzw. bestimmt sie schon längst. Wer für eine gerechte Gesellschaft und einen demokratischen Staat noch eintreten will, kümmere sich bitte intensiv um den allseits vorherrschenden Egoismus als Nationalismus.

8.
Zurück zum Thema „Egoismus als ein Begriff der Ethik“.
Ethik ist die Erforschung von allem, was aus freien menschlichen Entscheidungen an Gestaltungen und Taten folgt. Und dabei kann viel Unheil gestaltet werden als Ausdruck freier, aber gewissenloser Entscheidungen. Ethik hat also auch Unmoral zu untersuchen. Dadurch zeigt sich: Ethik ist eine normative Wissenschaft, sie hat als universelles Kriterium zur Beurteilung moralischen Verhaltens die universell geltenden Menschenrechte.

9.
Warum sollen diese Erkenntnisse zu den Normen der Moral nicht auch für Politiker gelten? Demokratische Politiker müssen sehr „jonglieren“, und dabei mal mehr mal weniger die Menschenrechte ignorieren, zumal, wenn sie mit undemokratischen Herrschern und Diktatoren verhandeln müssen. Die offene Frage ist: Wann beginnt dabei der Verrat an den Menschenrechten, wann beginnt die Unmoral im Verhandeln mit den Diktatoren oder illiberalen Herrschern? Diese Frage wird heute meines Erachtens nicht ausführlich in der politischen Ethik und der Philosophie reflektiert.

10.
Man hat den Eindruck: Demokratische Politiker realisieren „ein bißchen noch“ die universal geltenden Menschenrechte im Verhandeln mit Autokraten, Diktatoren usw. In diesem Verhalten demokratischer Politiker kann sich eine Angst vor den Autokraten verbergen, vielleicht sogar ein gewisser Respekt vor deren errungener Allmacht. Deswegen wohl verschieben demokratische Politiker immer wesentliche Aktivitäten zugunsten der Menschenrechte im Umgang mit Autokraten usw. auf bessere, spätere Zeiten: Sie überschätzen dabei die angebliche Allmacht der Autokraten und Diktatoren. Und je länger demokratische Politiker zögern, um so stärker werden Autokraten und Diktatoren.

11.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Angriffskrieg Russlands (Putins) gegen die Ukraine. Hätte die westliche Welt schon in den ersten Wochen nach dem Beginn der Aggression, also im März 2022, Putin – Russland mit aller ihrer zur Verfügung stehenden militärischen Kraft eingeschränkt und niedergeschlagen, gäbe es wahrscheinlich diesen Krieg gegen die Ukraine und die demokratische Welt heute gar nicht mehr.

12.
Und jetzt müssen vernünftige Beobachter wie einige selbstkritische Politiker der Demokratien die entscheidende Erkenntnis zugeben: Es ist jetzt (20.11.2024) schon zu spät, um Russland noch zurückzudrängen und die Ukraine in ihrer ursprünglichen Gestalt von 2021 zu retten und die Demokratien zu verteidigen. In solchen Fällen sagen die zu spät handelnden Demokraten gern: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“. Aber diese populäre „Weisheit“ meint ja auch: Hoffnung kann wirklich sterben (eben zuletzt)…Und das wäre das Ende menschlichen Lebens, eines humanen geistvollen, vernünftigen Lebens, das den Namen verdient. Dann hat der Nihilismus total gesiegt.

13.
Das aktuelle politisch – moralische Thema Egoismus/ Nationalismus spitzt sich angesichts des mörderischen Wahns des nationalistischen Putin – Russlands zu der Frage zu: Wann lernen Demokraten und demokratische Politiker, rechtzeitig das Rechte und Richtige zu tun! Also den historischen Augenblick richtig einzuschätzen? Und natürlich auch ein Risiko einzugehen, indem man – selbstverständlich in einer Situation von Ungewissheit – rechtzeitig handelt. Dieses Risiko ist aber geringer als das Risiko des Zuwartens, das die Lage nur weiter verschärft und für Demokraten verschlechtert. Man muss dabei klar sehen, welche politischen Kräfte in Demokratien das Zuwarten in einer Kriegs- und Krisensituation fordern und fördern. Sie haben ökonomische Interessen, denn langandauernde Kriege verlangen eben auch umfassende Waffenproduktionen und entsprechende Gewinne…

14.
Das ist die entscheidende Lebenskunst bzw. Philosophie auf dem weiten Feld des Egoismus als Nationalismus: Es gilt immer rechtzeitig im Sinne der Menschenrechte das Richtige zu tun, und unbedingt zu vermeiden, dass man sich eines Tages wieder einmal sagen muss: Es ist zu spät für die Vernunft und für vernünftiges humanes Handeln.

15.
Rechtzeitig Handeln, bevor es zu spät ist, so heißt der entscheidende ethische Imperativ für die wenigen noch verbliebenen Demokratien in dieser Welt. Diese Erkenntnis gilt für die Außen- (Kriegs)-Politik wie für die Innenpolitik, die sich konzentrieren muss nicht nur auf die Überwindung rechtsextremer Parteien, sondern auch auf die Rückgewinnung demokratischen Denkens und Handelns bei undemokratisch denkenden rechtsextremen Wählern.

Fußnote 1:
Herfried Münkler, „SPIEGEL“, Nr. 47, 2024, Seite 116.

Fußnote 2:
Es gibt auch einen gesunden Egoismus, verstanden als die reflektierte Sorge um sich selbst im Zusammensein mit anderen Menschen. Die natürlich den gleichen Anspruch haben, sich um sich selbst zu sorgen…

Fußnote 3:
https://www.katholisch.de/artikel/19834-kardinal-marx-nationalismus-das-bedeutet-krieg

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Jacob Böhme – ein Religionsphilosoph für unsere Zeit.

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 1.9.2017, erneut veröffentlicht am 15. Nov. 2024, anläßlich des 400. Todestages Jacob Böhmes am 17.11.2024! Geboren wurde Jacob Böhme am 24.4.1575 in Stary Zawidów (Schlesien), gestorben ist er am 17.11.1624 in Görlitz.

1.

Jacob Böhme verdientBeachtung, Lektüre, Mitdenken und Debatte vielleicht heute noch mehr als im 16. und 17. Jahrhundert. Hegel sagt in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Band 3, Suhrkamp 1971, Seite 94) sehr treffend: “Böhme ist genannt worden der philosophus teutonicus, und in der Tat ist durch ihn erst in Deutschland Philosophie mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten. Es ist uns wunderbar zumute beim Leben seiner Werke; und man muss mit seinen Ideen vertraut sein, um in dieser höchst verworrenen Weise (der Texte Böhmes, CM) das Wahrhafte zu finden“. Eine mühsame Aufgabe auch heute! Immerhin widmet Hegel in seiner Vorlesung Böhme viel Aufmerksamkeit! Das Böhme Kapitel in dem genannten Buch umfasst immerhin 28 Seiten! Dabei ist Hegel aus seiner Position durchaus kritisch gegen Böhme, spricht von der „Barbarei in der Ausführung der Böhmeschen Gedanken“ (S. 118), von „gewaltsam sinnlichen Vorstellungen“ in Böhme Sprache. Dabei respektiert aber Hegel die “größte Tiefe“ von Böhmes Gedanken, „diese Tiefe hat sich mit der Vereinigung der absolutesten Gegensätze herumgeworfen“ (ebd.).

2.

Denn der Philosoph und Mystiker aus Görlitz hat eine zentrale Erfahrung gemacht und zu Wort gebracht, auch wenn seine Sprache, seine Begriffe heute manchmal sehr vermischt und schwer zugänglich erscheinen: Aber es gibt eine zentrale Einsicht, sie berührt genau den heutigen globalen Umbruch der religiösen Situation in einer säkularisierten Welt. Gleichzeitig bieten Erfahrungen und Erkenntnisse Böhmes gerade auch Auswege an, angesichts des langsamen, aber sehr deutlichen Verschwindens der orthodoxen, katholischen oder evangelischen, aber in allen Fällen dogmatisch versteinerten Kirchenformen in Europa.

3.

Was ist also inspirierend in Böhmes Erkenntnis? Dass Gott als der Ewige in jedem Menschen lebt. Und dass dies das einzig Wichtige und Entscheidende ist: Alle bürokratischen Kircheninstitutionen, aller Klerus, alle feierlichen Messen und Gottesdienste, alle Lehrschreiben usw. sind gegenüber der ewigen Präsenz des Ewigen IM Menschen mindestens sekundär! Was ist entscheidend? Die Achtsamkeit auf diesen Gott IN mir und IN uns. Und folglich wäre dann die Einrichtung von Gruppen, Kreisen, Salons usw., die diese Qualität des Menschseins in aller Freiheit auch mit so genannten Atheisten besprechen.

Man möchte meinen, dass Böhme mit seinem absoluten Plädoyer für den Gott IN mir und IN uns eine gewisse Form moderner liberaler, d.h. auch freisinniger Theologie da formuliert. Dem wäre später eingehend einmal nachzugehen.

4.

Die Gottesbeziehung ist nach Jacob Böhme also nichts Äußerliches, keine zuerst durch Worte. Lehren und Dogmen vermittelte Lebenshaltung. Das setzt ihn heraus aus der lutherischen Orthodoxie. Manche Überzeugungen wirken gar katholisch, etwa wenn er die Weisheit verehrt wie eine jungfräuliche, weibliche Seite Gottes.

Auf Gott als der inneren und ewigen und ungeschaffenen und damit vom Tod nicht berührten Wirklichkeit bezieht sich der Mensch, wenn er sich auf sich selbst, seinen Geist und damit seine Freiheit bezieht.

5.

Diese eine entscheidende Grundeinsicht wurde Jacob Böhme förmlich geschenkt: Alles gründet bei ihm auf einer mystischen Erfahrung, d.h. einer plötzlichen Einsicht, einer Erleuchtung: Die er aber nicht spinös oder fanatisch herausschreit, sondern in einem langen Reflexionsprozess gedanklich und sprachlich bearbeitet und – dem Thema angemessen – mühsam zu Papier bringt. Man nennt ja manche Komponisten, wie Mozart, mit dem etwas altertümlichen Wort „Genie“. Ebenso ist es ja sicher treffend, Dichter, wie Goethe, genial zu nennen, ohne dabei in einen säkularen Heiligenkult umzukippen. Mit diesem Vorbehalt kann man selbstverständlich auch Philosophen genial nennen in der Konzentration ihres Gedankens. Jacob Böhme könnte wohl zu diesen Philosophen gehören. Er, der kluge Autodidakt, der ja bekanntermaßen das Schusterhandwerk gelernt hatte, also alles andere als ein stolzer, klerikal gebildeter Pfarrer oder gar Theologieprofessor war. Er hat sich alle Kenntnis selbst erworben und sich in damalige Theologie, Philosophie und die Wissenschaften eingearbeitet. Dass er dabei auch auf die Alchemie in gewisser Hinsicht zurückgriff, hängt ab von seiner Bindung an die gängige Kultur seiner Zeit. Er kannte die Arbeiten des damals hoch geschätzten Naturphilosophen Paracelsus (also Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493 – 1541). Schon Paracelsus legte – wie Müntzer – allen Nachdruck auf eine Kirche, die vom Geist, nicht aber vom toten Buchstaben, regiert wird. Die theologischen Auffassungen (seine Abweisung der gewaltsamen Mission, der Bekehrungen, sein Eintreten für die Gleichheit aller Stände) verdienen viel mehr Aufmerksamkeit als ihn bloß in die Ecke von Astrologie oder Magie zu stellen).

6.

Jacob Böhme, der „Laie“ also, störte den dogmatischen Betrieb der lutherischen Kirche in Görlitz und anderswo. Nicht weil er stören wollte, sondern weil seine Erkenntnis so universal ist, dass sie den Frieden in der Welt, mitten im Dreißigjährigen Krieg, hätte bringen können: „Gott ist kein Gott der Christen“, sagt Böhme sehr treffend, Gott gehört keiner Konfession, Religionskriege sind Gotteslästerung, könnte man fortfahren. Religionskriege haben bis heute ihre Ursache in der Bindung an Dogmen, die der Vernunft nicht zugänglich. Dogmenferne und Friedfertigkeit gehören also auch für Böhme zusammen!

7.

Er, der sich auf die Erfahrungen des heiligen Geistes berief und diese wichtiger fand als die ewige Wiederholung und das ständige Nachsprechen von Bibelworten, Böhme also, hat die Menschen seiner Zeit bewegt, weil er keine trockene Bücherlehre verkündete, sondern aus dem Leben selbst stammende Erweise des Wirkens Gottes im Menschen. Diese starke Bindung an die Wirkkraft des Geistes – gegen den trockenen Buchstaben der Bibel – erinnert an Thomas Müntzer, den Böhme sicher nicht kennen konnte: Denn Luther und seine Nachfahren hatten auch für den geistige Berschwinden des Reformators Müntzer gesorgt.

8.

Aber auch Böhme wurde verfolgt, geschmäht, diffamiert. Die Herren der Kirche machten ihm das Leben sehr schwer. Seine Texte duften in Deutschland nicht gedruckt werden, als Abschriften von Hand wurden sie weitergereicht. In Holland, dem liberalen Land, konnten Böhmes Texte gedruckt werden, nicht nur auf Deutsch oder Niederländisch, sondern auf Englisch. Eine feste „Böhme – Gemeinschaft“ oder gar “Böhme – Kirche“ hat sich langfristig nicht gebildet, auch wenn eine kleine Begleitbroschüre zur Ausstellung (in Dresden 2017) auf S. 6 betont: „Viele Anhänger Böhmes gingen wegen religiöser Verfolgung ins niederländische Exil“.

9.

Der bekannte Spezialist für westliche esoterische Philosophie, Prof. Wouter J. Hanegraaff, UNI Amsterdam, erwähnt immerhin kleine „Böhme-Gruppen“: wie die „Angelic Brethren“ von Johann Georg Gichtel (1638 – 1710) oder die „Philadelphian Society“ von John Pordage (1607-1681) oder Jane Leade (1623- 1704), die erste `philosophisch – esoterische` Frau, wie Hanegraaff erwähnt (in: „Western Esotericism“, Bloomsbury, 2013, Seite 32). Die Ideen einer „christlichen Theosophie“ (so Hanegraaff) verbreiteten sich dann weiter über Friedrich C. Oetinger, Louis – Claude de Saint Martin und Franz von Baader…

Ein eignes Thema ist die Frage, die Böhme nicht zur Ruhe kommen ließ: Wie kommen Leiden und Böses in die Welt? Böhme denkt in diese Richtung: Wenn Gott der Schöpfer von allem ist, dann müssen auch das Böse, das Leiden, ihren Grund in Gott selbst haben…

10.

Im ganzen gesehen hatte Böhme keine „philosophischen“ Schüler, die – wie etwa im Falle Hegels – nach dem Tod sein Werk „fortsetzten“.   Das ist eine Mangel, zumal wenn man bedenkt, dass bis heute meines Wissens keine ins moderne Deutsch übertragene kritische Gesamtausgabe von Böhmes umfangreichen, verstreut vorliegenden Werken gibt. So müssen viele LeserInnen die veraltet – sprachlichen Zitate durcharbeiten, das ist auch angesichts der an Symbolen reichen komplexen Sprache des Görlitzer Mystikers nicht einfach. Immerhin gibt es eine „Internationale Jacob Böhme – Gesellschaft“ in Görlitz, Vorstandsmitglied ist Sibylle Rusterholz, die insgesamt über die barocke Mystik forscht. Wir sind gespannt auf die Veröffentlichungen dieser Böhme – Gesellschaft.

11.

Es bleibt natürlich ein Problem: Böhme setzt die „Existenz“ Gottes in seinem Denken voraus. Er wird ja förmlich in seiner mystischen Erfahrung von einer Wirklichkeit überwältigt, die er dann Gott bzw. etwas befremdlich „finsteres Tal“ bzw. „UNGRUND“ nennt. Und die Spekulationen zum inneren Leben Gottes selbst sind sozusagen auf Anhieb nur mitvollziehbar für jene, die schon eine reflektierte Kenntnis der „göttlichen Wirklichkeit“ haben. Böhme selbst wollte ja über die Naturerfahrung zur inneren göttlichen Wirklichkeit „durchstoßen“.

Damit will ich sagen: Um die aktuelle Relevanz Jacob Böhmes auch für die modernen Skeptiker und Zweifler deutlich zu machen: Da müsste man wohl versuchen, einen tragenden Sinn-Grund in jedem geistigen Leben gedanklich aufzuweisen und diesen Sinngrund dann gedanklich mit jener Wirklichkeit zu verbinden, die klassisch „Gott“ genannt wurde und wird.

12.

Was mich bei meinen aktuellen Studien besonders freut, dass Böhme selbstverständlich den Menschen als freies Wesen definiert, weil er ja Ebenbild Gottes ist, des – sozusagen „absolut“ – freien Wesens. Wenn der Mensch frei ist, kann er sich selbst für das Gute entscheiden. Die zerstörerische Macht der alle Freiheit und alles Denken vernichtenden Erbsünde ist also für Böhme hinfällig. Nur wenige Jahrzehnte nach Luthers und Calvins Reformation ist Böhme also eine Stimme der Freiheit, eine Stimme der Ablehnung dieser grässlichen Erbsünden-Lehre. Böhme ist deswegen tatsächlich kein treuer Lutheraner, er ist sozusagen ein weiterer, ein radikaler Reformator der Freiheit. Und eines universalen Gottes IM Menschen.

13.

Gleichzeitig, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, stand in den Niederlanden der Theologe Jacob Arminius auf, um die Freiheit zu retten in der dogmatischen Starre des Calvinismus. Daraus entstand dann die theologisch liberale und freisinnnige Remonstranten Kirche…Über diesen Zusammenhang Böhme – Arminus müsste auch weiter studiert werden.

14.

Zum Schluss ein zentrales Zitat von Böhme: “Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern; sondern ich habe den Buchstaben in mir; liegt doch Himmel und Erden mit allem Wesen, dazu Gott selber, IM Menschen“ (in dem genannten Aufsatzband, S. 16).

Und ein hermeneutischer Hinweis zur angemessenen Lektüre: “Hermann Hesse schreibt über Böhme:  Die Lektüre seiner Texte erfordere `ein vorübergehendes Leerwerden`, eine völlig freie Aufmerksamkeit und Seelenstille`“.

Für religionsphilosophisch Interessierte ist es wichtig, den Aufsatzband: „Grund und Ungrund – Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme“ zu lesen. Der 216 Seiten umfassende, schön gestaltete Band wurde von Claudia Brink und Lucinda Martin herausgegeben, im Sandstein Verlag 2017.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.