Die Pyramide des lieben Gottes. Über die Macht und das System in der katholischen Kirche. Mskr. einer Ra­dio­sen­dung im WDR, 2009.

Lebenszeichen WDR 3
Die Pyramide des lieben Gottes
Über die Macht und das System in der römischen Kirche
Von Christian Modehn. Sendung 1.11.2009.

Ein Motto, am 19. Juni 2024 von C.M. notiert:

Die Pyramide ist immer das Bild, um Diktaturen zu beschreiben. Der Faschismus Italiens z.B. war als Pyramide konzipiert und organisiert, an der Spitze konzentrierten sich alle Gewalten. So ähnlich ist auch der Vatikan, die Leitung der katholischen Kirchem bis heute organisiert. Alles dreht sich um den – bis jetzt noch – allmächtigen Papst. (vgl. den Aufsatz “Antithese des Faschismus”, von Roberto Scarpinato, in “Lettre International”, Nr. 145, S. 7).

1. Spr.: Berichterstatter
2. Spr.: Zitator

32 O TÖNE zus. 17 10“. 185 Zeilen = ca. 12 Min.

Dieser Text enthält auch zwei bemerkenswerte O TÖNE von Kardinal Ratzinger, vor allem seine Empfehlung, dass doch Theologiestudenten bitte förmlich wie Spitzel ihre Professorenbeobachten sollten, vgl. O TON 16.

1.O TON, 010“, Pesch
Egal, wie man das Wort Hierarchie versteht: Herrschaft kann und darf es nicht bedeuten. Wenn es das tut, ist es Missverständnis und Missbrauch.

1. SPR.:
Otto Hermann Pesch, katholischer Theologe in München, plädiert für menschenfreundliche Strukturen in der römischen Kirche:

2. O TON, 0 14“, Pesch
Dass die Fakten oft anders sind, muss in diesem Sinne also dann als Defekt bezeichnet werden, als ein Missbrauch, der geändert werden muss.

1.SPR.:
„Ändern“ wollten Papst und Bischöfe ihren Umgang mit der Macht tatsächlich schon einmal: Vor fast 50 Jahren, beim Zweiten Vatikanischen Konzil, verpflichteten sich die „Oberhirten“, ihre Vorherrschaft zu begrenzen.

3. O TON, 0 21“, Pesch
Wenn sich eins im Vergleich zur Zeit vor dem Konzil bleibend im Bewusstsein der katholischen Gläubigen festgesetzt hat, dann ist es das Bewusstsein: Wir sind die Kirche. Und nicht wie früher: Wir haben an ihr Teil, während die Kirche die Hierarchie eben ist. Wir sind die Kirche!

1.SPR.:
Worte, auf die sich Kirchenreformer bis heute wie auf eine göttliche Utopie berufen. Unmittelbar nach dem Konzil wurden zahlreiche Landessynoden und Beratungen in den Bistümern veranstaltet. Dort versammelte sich das „Volk Gottes“ im Geist der Gleichheit und Brüderlichkeit. Den Weg der Kirche mitzubestimmen, sollte kein frommer Wunschtraum der Laien bleiben.

4. O TON, 0 15“, Pesch
Auf der anderen Seite fällt auf, dass man aus Furcht vor Demokratisierung der Kirche mit dem Volk-Gottes-Begriff in den lehramtlichen Äußerungen nach dem Konzil sehr zurückhaltend geworden ist.

1. SPR.:
Das Prädikat „zurückhaltend“ findet Otto Hermann Pesch dann doch zu beschönigend. Er entschließt sich, deutlicher zu werden:

5. O TON, 0 17“, Pesch
Manche sprechen ja regelrecht schon von einer Art roll back hinter das Konzil zurück., Man fürchtet, dass doch wieder daran gearbeitet wird, faktisch doch wieder die alten Überordnungs- und Unterordnungsverhältnisse, oder wenn sie wollen, Herrschaftsverhältnisse wiederherzustellen.

1. SPR.:
Die Hoffnungen auf eine möglichst herrschaftsfreie Kirche ließen sich nicht verwirklichen. Kritische Theologen wissen spätestens seit dem Regierungsantritt Benedikts des XVI: Papst und Bischöfe bevorzugen wieder verstärkt uralte Modelle geistlicher Herrschaft. Professor Otto Hermann Pesch:

6. O TON, 0 37“ , Pesch
Der Ausdruck Hierarchie für die kirchliche Ämterverfassung kommt zum ersten Mal auf im 5. und 6. Jahrhundert im Zusammenhang mit einem berühmten Buch eines Verfassers namens Dionysius vom Areopag. Und der hat ein Buch geschrieben über die himmlische Hierarchie, und das bedeutet die Abstufung, der Stufenweg, von Gott zur Schöpfung und der Stufenweg von Gott zu den Menschen. Und dieser Hierarchie, der himmlischen Hierarchie, muss auch die kirchliche Hierarchie entsprechen. Das heißt, auch da muss es dann auch die Abstufungen geben.

1. SPR.:
So gibt es also auch seit dem 4. Jahrhundert eine regierende Spitze und eine gehorsame Basis. Dieses Modell ist nicht von Weisungen des Evangeliums inspiriert, sondern vom Meisterdenker Platon aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Der Kopf als „Ort“ des Geistes sei wichtiger als der übrige Körper, meinte der griechische Philosoph, und so seien auch die führenden Häupter wichtiger als der Leib mit seinen niederen Organen. Diese untergeordneten Glieder sind für die geweihten Amtsinhaber „natürlich“ das Volk, die „Laien“. Das griechische Wort laikós (Betonung hinten!) bedeutet ja: Zum Volk gehörig. Auch mit dem Urbild des altägyptischen Sakralbaus, der Pyramide, konnte sich das Papsttum anfreunden: An der obersten Spitze thront mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist der Papst, der Stellvertreter Christi auf Erden. Mit diesem eher unbescheidenen Denken hat sich der katholische Theologieprofessor Josef Imbach aus Basel befasst:

7. O TON, 0 46, Imbach
Faktisch wird das so gehandhabt, dass man von diesem pyramidalen Denken ausgehen muss. Aber theologisch hat dieses pyramidale Denken eigentlich keinen Rückhalt. Wenn wir auch die Konzilstexte in Betracht ziehen, letztes Konzil, und natürlich auch die Anfänge der Christenheit, dann stellen wir da schon ein anderes Denken fest. Wenn wir dann zurückschauen auf die frühe Christenheit, die haben schon gestritten, aber das Communio prinzip, das war natürlich maßgebend, das Gemeinschaftsprinzip, Austausch usw. Von daher ist das pyramidale Denken theologisch gar nicht haltbar.

1. SPR.:
Zeitgemäße theologische Kritik hat für viele Kirchenführer in Rom keine Bedeutung, meinen etliche Beobachter. Und mit dem Kirchenmodell des Neuen Testaments, der „brüderlichen Gemeinschaft“, wollten sie auch nicht so viel zu tun haben. Statt dessen bestimmten autoritärer Umgang, Kontrollen, Überprüfungen, Treue – Eide, Zensurbestimmungen das kirchliche Leben.
Nur ein Beispiel: Der Minoritenpater Josef Imbach, Professor an der Päpstlichen Fakultät San Bonaventura, wurde vom vatikanischen Machtapparat gemaßregelt: Auf Betreiben der römischen Glaubenskongregation unter Kardinal Joseph Ratzinger musste er im Jahr 2002 seinen Lehrstuhl aufgeben. Der Grund: Er hatte die Lehre über die von Gott gewirkten Wunder modern interpretieren wollen. Ein fairer Prozess nach demokratischen Grundsätzen wurde ihm wie so vielen anderen „verdächtigten“ Theologen nicht zugestanden. Inzwischen arbeitet der Katholik Josef Imbach an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Basel. Aber viel schwerwiegender als die eigenen Erfahrungen sei die Personalpolitik des Papstes, meint der angebliche Irrlehrer.

8. O TON, 0 24“, Imbach
Da werden Bischöfe ernannt von Rom. Welche Personen kommen da in Frage? Personen, die von vornherein sich die römische Denkart voll und ganz zu eigen gemacht haben. Dann ist es klar, dass dann der Weltepiskopat einheitliche Positionen von vornherein vertritt, eben aufgrund dieser Auswahlkriterien.

1. SPR.:
Die Stromlinienförmigkeit der „Oberhirten“ weltweit spiegelt sich auch in den Synoden wieder, das hat der frühere Leiter des Karmeliterordens, Pater Camillo Macisse, beobachtet und aufgeschrieben:

2. SPR. (bitte deutlich machen als Zitierung):
Sogar die Bischofssynoden in Rom werden von der Kurie des Papstes kontrolliert und in den Diskussionen und in ihren Ergebnissen genau überwacht. Einige Bischöfe haben die Heftigkeit der Kontrollmaßnahmen beklagt, die von Neokonservativen mit einer anachronistischen Theologie ausgeübt werden. Wer es wagt, diese Autoritäten zu kritisieren, wird bedroht, angeklagt, verurteilt.

1.SPR.:
Auch die gesamte theologische Lehre und Forschung steht unter der Kontrolle der Ortsbischöfe oder des Vatikans selbst. In Deutschland dürfen nur Theologen an eine katholische Fakultät berufen werden, die die offizielle Genehmigung, das nihil obstat der Kirche haben; eine Politik des Verdachts, die Joseph Ratzinger schon als Kardinal offiziell verteidigt hat:

9. O Ton mit Applaus 0 21“, Ratzinger
Deswegen verursachen wir manchmal mit dem nihil obstat Ärger, es zieht sich hin usw., aber ich nehme diesen Ärger auf mich. Weil ich glaube, es ist wichtig, dass wir eben Ärger eben einkaufen müssen. Beifall.

1. SPR.:
Fröhlichen Beifall für eine harte Linie spenden hier Mitglieder des ultra konservativen „Linzer Priesterkreises“. Ganz anders ist dem katholischen Theologen Josef Imbach zumute:

10. O TON, 0 28“, Imbach
Das ist der Tod der theologischen Forschung. Denn wer irgendwie eine akademische Laufbahn einschlagen möchte, wird sich natürlich von vornherein hüten müssen, irgendwelche heißen Eisen auch nur anzurühren. Und so wird auch hier langfristig eben dirigiert. Und das ist natürlich katastrophal für die theologische Forschung. Es ist nicht so, dass alles gesagt wurde, was hätte gesagt werden sollen. Es ist so, dass sich niemand zu sagen traut, was zu sagen ist.

1.SPR.:
Theologen an katholischen Fakultäten wagen es nicht mehr, für das Priestertum der Frauen einzutreten. Ihnen kommt es nicht mehr in den Sinn, die buddhistische Meditation als einen Weg zur Erlösung offiziell anzuerkennen. Und sie haben den Mut verloren, z.B. eine authentisch –afrikanische Liturgie zu entwickeln…Über den Umgang mit den Theologen hat der amerikanische Dominikanerpater Matthew Fox dem Papst geschrieben:

2. SPR.
Ihre Behandlung von Gelehrten ist Bücherverbrennung faschistischer Regime nicht unähnlich. Auch Ihre Entscheidung, autoritäre Persönlichkeiten zu belohnen ist problematisch. Denn diese sind oft krank, gewalttätig, sexuell besessen.

1.SPR.:
Matthew Fox, der radikale Kritiker, wurde aus seinem Orden ausgeschlossen. Eine Diskussion führte der Vatikan nicht mit ihm. Im offiziellen Katechismus der Katholischen Kirche von 1993 wird die Herrschaft von Papst und Bischöfen bezeichnenderweise als „heilige Gewalt“ beschrieben. Rom setzt seine Linie mit allen Mitteln durch, zum Beispiel wenn Bischofskonferenzen einmal eigene Reformvorschläge veröffentlichen wollen. Als vor zwei Jahren im brasilianischen Aparecida (sprich: Appareßida mit Betonung auf dem i!) Bischöfe aus ganz Lateinamerika behutsam die Basisgemeinden unter Führung von Laien fördern wollten, korrigierte der Vatikan vor der Veröffentlichung kurzerhand das Papier. Der katholische Theologe und Lateinamerika Experte Gerhard Kruip hat diesen Vorgang unmittelbar beobachtet, wie ein progressives Reformpapier „gesäubert“ wurde:

11. O TON, 0 40“ Kruip
Die Änderungen sind erfolgt aus einem großen Misstrauen heraus gegenüber kritischen Kräften innerhalb der katholischen Kirche. Die Änderungen sind geprägt von einer Haltung der Ängstlichkeit. Man betont immer wieder den hierarchischen Aspekt der Kirche! Man betont immer wieder die Kontrolle, die die Bischöfe ausüben müssen über ihre Ortskirchen, man ist insgesamt skeptisch gegenüber allem, was ein Neuaufbruch sein könnte. Wenn es vorher hieß, die Basisgemeinden sind ein Zeichen der Vitalität der lateinamerikanischen Kirche: Dann ist das nachher unter die Bedingung gestellt worden, dass die Basisgemeinden treu zur katholischen Lehre und zum jeweiligen Ortsbischof stehen.

1. SPR.:
Pfarrer sind die Stellvertreter der Bischöfe in den Gemeinden und damit ebenfalls Glieder der Hierarchie. Weil aber der Mangel an Priestern auch in Europa immer größer wird, haben viele tausend Gemeinden keinen eigenen Pfarrer mehr. Aber anstatt kompetente Laien, Frauen und Männer, mit der Leitung der Gemeinden zu beauftragen, werden die wenigen verbliebenen Priester mit immer mehr Aufgaben belastet, berichtet der Baseler Theologe Xaver Pfister:

12. O TON, 0 30“ Pfister
…wobei bei uns jetzt Pfarreien zusammengelegt werden! Da muss immer ein leitender Priester dabei sein. Wenn ein Regionaldekan in 17 Pfarreien die Pfarreiverantwortung hat, dann ist dem Buchstaben Genüge getan, aber dem Leben überhaupt nicht. In dieser Zeit ist ganz klar die Tendenz, dass der Bischof Kirche repräsentiert und jede Pfarrei vom Bischof her ihre Form hat und nicht eine Vielfalt hat.

1. SPR.:
Diese Entwicklung ist in ganz Europa und auch in Amerika zu beobachten. Den autoritären Führungsstil der Kirchenführung erleben Betroffene als heftigen Widerspruch zur Kultur ihrer Länder:

13. O TON, 0 29“, Pfister
Man hat keine Mühe damit, dass etwas entschieden wird, wenn das einmal einsichtig ist. Aber man möchte eigentlich eine Einsicht haben und ernst genommen sein als Mensch, der handelt, weil er etwas einsieht. Und der nicht handeln muss, weil es ihm etwas aufoktroyiert ist oder befohlen ist. Das ist sicher ein sehr wichtiger Aspekt, dass man demokratisch verhandeln kann und aushandeln kann, dass das so gehandhabt wird.

1. SPR,;
Xaver Pfister sagt, er habe unter den so wenig demokratischen Maßnahmen der kirchlichen Hierarchie über viele Jahre schwer gelitten. Als langjähriger Leiter der Pressearbeit im Bistum Basel ist er schließlich an Depressionen erkrankt, darüber hat er später ein Buch geschrieben. Wie er freimütig bekennt, hat ihn auch das Erleben kirchen-amtlicher Autorität psychisch geschädigt.

14. O TON, Pfister, 0 32“
Ich hatte da zu wenig Rollendistanz gehabt, und ich hab mich von meinem Naturell her ganz reingegeben, und immer wieder was Neues probiert und noch mal probiert. Da kommt mal an eine Grenze. Es fehlt auch die nüchterne Bilanz: Was ist der Spielraum, was ist möglich, was ist erwartbar. Aber es gibt eine Grenze. Und jetzt beschränke ich mich darauf meine Überzeugung zu sagen.

1. SPR.:
Der stille Rückzug der Reformer stört die meisten „Hierarchen“ wenig. Gemeint sind mit dem Wort Machthaber in der Kirche, geweihte Männer, die die Herrschaft des Klerus über die Laien verteidigen. Wer noch katholisch sein will, soll gehorsam sein und dem „Mitarbeiter der Wahrheit“ Folge leisten! Diesen anspruchsvollen Wahlspruch hatte sich Joseph Ratzinger als Kardinal in München ausgesucht: An seinem Motto „Mitarbeiter der Wahrheit“ hält er auch als Papst unbeirrt fest, meint der katholische Theologe Herman Häring aus Tübingen.

15. O TON, 0 40“, Häring
Nach meinem Wissen gibt es keinen Fall, also keinen Kollegen, keine Kollegin, kein betroffenes Kirchenmitglied, das vorher Sanktionen erfahren hat und bei dem, bei der er sich mal entschuldigt hätte oder was revidiert hätte. Es wurde auch nichts zurückgenommen. Für ihn war katholischer Glaube von Anfang an ein autoritätsgebundener Glaube. Mich hat er immer erinnert an ein Kirchenlied, das wir als Kinder gesungen haben: Fest soll mein Taufbund immer stehen, ist der erste Vers, und der zweite: Ich will die Kirche hören. Nicht: ich will die Bibel oder Christus, sondern die Kirche. Und das war für ihn dann schon immer der Rahmen.

1. SPR.:
Schon als Kardinal ermunterte Joseph Ratzinger besonders „rom-treue“ Theologiestudenten, ihre möglicherweise häretischen Theologieprofessoren aufzuspüren und zu benennen. Von „Spitzeln“ wollte er bei einem Vortrag im Jahr 1990 doch lieber nicht sprechen.

16. O TON, 0 34“, Ratzinger
Mir scheint, dass also ein erster Punkt der ist, dass solche Theologiestudenten in aller Offenheit dies dem Bischof offenbaren in einer Weise, die ihm auch verständlich macht, dass es hier nicht um Denunziation oder irgendetwas geht, sondern wirklich um die Not des Gewissens und um die Verpflichtung des Glaubens, den Dienst der Kirche und die Verkündigung ihres Glaubens rein zu halten.

1.SPR.:
Der „reine Glaube“ wird als ein wertvoller Schatz gedeutet, als „Glaubensdepositum“, wie man in Rom sagt, als ein dogmatisches System, das es zu hüten und pflegen gilt: Der katholische Theologe Hermann Häring:

17. O TON, 0 15“, Häring
Für ihn ist der Glaube halt von Anfang an sozusagen das Glaubensdepositum gewesen. Man denkt automatisch an Fort Knox, mit Goldbarren, die drin liegen, und da ist alles, und das muss unberührt bleiben, und da kann man mal was abrufen.

1. SPR.:
Was einmal als Dogma formuliert wurde, behält nach amtlicher Lehre ewige Gültigkeit. Revisionen und Korrekturen sind unerwünscht. Eines von vielen Beispielen ist die Erbsündenlehre aus dem 4. Jahrhundert, der zufolge alle Menschen mit der Geburt als Sünder definiert werden, für den Philosophen Herbert Schnädelbach ein eher abstoßender Gedanke:

18. O TON, 0 34“, Schnädelbach
Das geht ja vollkommen gegen den Augenschein. Also, wir haben das Glück, drei sehr niedliche Enkel zu haben Und wenn ich mir jetzt vorstelle und gucke mir die an und sehe wie die aufwachsen. Und dann zu sagen: So sind das sind geborene Sünder und die müssen erst mal getauft werden. Das ist ja eine Geschichte, die hat die Menschen Jahrhunderte tyrannisiert. Da wurden Halb- und Totgeborene noch schnell getauft, dann gab es diese Lehre von der Vorhölle für die ungetauften Kinder alle sind. In dieser ganzen Debatte wird ja klar gemacht, sie sind unfähig zum Guten. Und das ist ja etwas, wo gegen man sich auflehnen kann.

1.SPR.:
Denn ohne Taufe, also ohne die entscheidende Mitwirkung der Kirche, bleibt jeder Mensch ein unwürdiger Sünder… Zwar lehnen sich auch Theologen gegen diese Lehre und andere Dogmen auf. Sie ganz abzuschaffen, dürfen sich Theologen nicht erlauben. Selbst bei vorsichtigen Interpretationen uralter Traditionen stoßen sie in Rom keineswegs auf offene Ohren, meint Otto Hermann Pesch:

19. O TON, 028“
Wenn da eine offenere Gesprächsatmosphäre wäre, auch mit dem Risiko, dass man einen Konfliktfall im Moment nicht beilegen kann, sondern darauf vertraut, dass in der öffentlichen Disputation innerhalb der Kirche sich dann die Wahrheit herausstellt, wenn solches Vertrauen mal wachsen und ein Papst auch mal sagen würde: Habt keine Angst vor dem Streit in der Kirche bei einer so wichtigen Sache wie den Dingen, die christliche Glaube vertritt, ist doch natürlich, dass man darüber sich streitet, wie das richtig zu verstehen ist. Habt keine Angst, wenn es solchen Streit gibt, als ob dann der Untergang der Kirche bevorstünde, wenn so etwas mal von päpstlicher Seite aus gesagt würde, das würde Mut machen.

1.SPR.:
Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Die meisten Oberhirten halten sich lieber an die Gruppen und Zirkel treu ergebener Schäfchen. Hubert Gindert vom sehr konservativen „Forum deutscher Katholiken“ hat diese Vorliebe Roms mit Kardinal Ratzinger besprechen können:

20. O TON, 0 14“
Er hat sich einmal geäußert, ihm kommt es nicht auf die große Zahl an. Nein, ihm kommt es drauf an: Gibt es innerhalb der Volkskirche, gibt es also hier missionarische Bewegungen, missionarische Zellen.

1. SPR.:
Die Kirche als kleine Herde der hundertprozentig treuen Seelen: das ist das Kirchenbild heutiger Hierarchen. Kritische Beobachter fürchten, die römische Kirche könnte sich bald dem intellektuellen Niveau einer großen Sekte nähern. Der Baseler katholische Theologe Xaver Pfister hat diese Mentalität der Behüter und Bewahrer genau beobachtet:

21. O TON 0 14“
Wir müssen die sammeln, die noch übrig sind. Und die sollen zusammenbleiben und die sollen eine Heimat finden. Und in dieser Einseitigkeit, denke ich, ist das wirklich der Selbstvollzug des Endes.

1. SPR.:
Aber selbst vom Schwund an Gläubigen lassen sich Bischöfe wie der Kölner Kardinal Joachim Meisner nicht irritieren. Sie sind eher stolz darauf, dass noch einige Kreise der offiziellen Lehre treu ergeben sind und dies auch lautstark bekennen, wie Pater Klaus Einsle vom Orden der Legionäre Christi:

22. O TON, 0 30“ Einsle
Wir wissen, dass Christus die Kirche gegründet hat mit einer bestimmten Struktur, einer bestimmten Hierarchie und diese Hierarchie ihre Funktion hat. Und in dem Sinn haben wir ein ganz krampfloses Verhältnis und positives Verhältnis zum Papst, den Christus bewusst eingesetzt hat. Die Kirche ist für uns das Lehramt und die Bischöfe, die in Einheit mit dem Lehramt sind. Da würde ich sagen, dass unsere Denkart sehr die des Lehramtes ist.

1. SPR.:
Wie das Lehramt denken und alle Glaubenssätze möglichst unverändert bewahren: Darin sieht auch die weltweite Gemeinschaft der konservativen Neokatechumenalen Gemeinschaften ihre Aufgabe, betont der Missionar Bruno Caldera:

23. O TON, 0 14“ Caldera
“Unsere Theologie ist das Katechismus der katholischen Kirche. Gott ist derjenige ist, der uns lehrt. der jenige, der uns lehrt, der uns die Antwort gibt. Ich bin der Meinung, dass Gott da ist, um uns Antworten zu geben”.

1. SPR.:
In den Kreisen der neuen geistlichen Gemeinschaften, also der Neokatechumenalen und Legionäre, der Charismatiker und Opus Dei Mitglieder, fühlten sich konservative Amtsträger sehr wohl, betont der katholische Theologe Pfarrer Ferdinand Kerstiens aus Marl. Er hat sich als Mitglied im „Freckenhorster Kreis“, einem Forum von Kirchenreformern, mit diesen „Bewegungen“ auseinander gesetzt.

24. O TON, 0 17″ Kerstiens
Solche Gruppierungen sind immer bei der Hierarchie beliebt, weil sie keine Schwierigkeiten machen, weil sie keine kirchlichen Strukturen in Frage stellen, weil sie keine kirchlichen Gesetze in Frage stellen, weil Sachen wie Zölibat und Priestertum der Frau und solche Fragen bei ihnen nicht diskutiert werden.

1. SPR.:
Angesichts der machtvollen Hierarchie ist die römische Kirche heute gespalten: Selbstbewusste, kritische Gläubige sehnen sich noch immer nach dem geschwisterlichen „Volk Gottes“. Ihnen steht die einflussreiche Gruppe derer gegenüber, die den Ruhm des Papsttums und der Hierarchie wie ein Glaubensbekenntnis verstehen:

25. O TON, 0 22“, Meisner
Der Petrus von heute heißt Benedikt XVI. Sein Verkündigungsdienst ist heilsnotwendig für Kirche und Welt. Mit hoher Authentizität verkündet der Papst die rettende Kraft des Evangeliums, um dann einen überzeugenden Weg zum Heil aufzuweisen.

1. SPR.:
Kardinal Joachim Meisner bei einer Messe zu Ehren des Papstes in der Berliner Sankt Hedwig – Kathedrale im April 2007:

26. O TON, 0 33“. Meisner
Papst Benedikt XVI ist es gegeben, die den Menschen heil machende Botschaft des Evangeliums in ihrer Schönheit, in ihrer Faszination und Harmonie aufzuzeigen, so dass man ihn Mozart unter den Theologen nennt.
Seine Worte klingen wie Musik in den Ohren und Herzen des Menschen. Ihm gelingt es wirklich meisterhaft, die Noten des Evangeliums in hinreißende Musik umzusetzen.

1. SPR.:
Diese „hinreißende Musik“ päpstlicher Stellungnahmen enthält aber auch kritische Töne, zum Beispiel den Vorwurf: In den Staaten der westlichen Welt herrsche „der Relativismus“.

27. O TON, 0 24“, Meisner
Als Diktatur des Relativismus bezeichnet der Papst das Grundübel unserer westlichen Gesellschaften, für die es keine oberste und unveräußerlichen Wahrheit und Werte mehr gibt, für sie ist alles gleichgültig, was die Menschen dann gegenüber der Frage nach gut und böse gleichgültig macht.

1. SPR.:
Relativismus bedeutet für die modernen demokratischen Gesellschaften das Ringen verschiedener, aber gleichberechtigter Positionen um die Wahrheit. Niemand „hat“ die Wahrheit, alle suchen sie. Relativismus und Demokratie sind untrennbar! Die Frage drängt sich auf: Ist die Zurückweisung des Relativismus durch den Papst zugleich eine Zurückweisung der Demokratie? Ein Jahr vor seiner Wahl zum Papst hat Kardinal Ratzinger mit dem damaligen italienischen Senatspräsidenten Marcello Pena über den Relativismus in den westlichen Gesellschaften diskutiert, dabei nannte er ein typisches Beispiel:

2. SPR.:(Zitat Ratzinger)
Dass Homosexualität, wie die Katholische Kirche lehrt, eine objektive Ordnungsstörung im Aufbau der menschlichen Existenz bedeutet, wird man bald nicht mehr sagen dürfen.

1. SPR.:
Ein wenig irritierend ist die Aussage Kardinal Ratzingers! Könnte denn für die Kirche eine Zeit kommen, in der eine freie kirchliche Stellungnahme nicht mehr möglich sei? Befürchtete der damalige Kardinal Ratzinger etwa eine „Diktatur“ der Demokraten? Eine Angst, die er übrigens mit vielen muslimischen Machthabern gemeinsam hat, wie kürzlich der Publizist Alan Posener zeigte, in seinem Buch „Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikan auf die moderne Gesellschaft.“

2. SPR.:
Der Vatikan ist sich mit fundamentalistischen islamischen Staaten immer einig, wenn sie sich gemeinsam gegen kritische, angeblich blasphemische Karikaturen wehren. In diesen Fällen treten sie gemeinsam für die Einschränkung der freien Meinungsäußerung ein.

1. SPR.:
Die Entwicklung solcher Denkmodelle findet der protestantische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf aus München alles andere als erstaunlich:

28. O TON, 0 37“, Graf
Es gibt keine römisch-katholische Demokratie-Theorie, in der nicht die Zustimmung zur Demokratie von Vorbehalten abhängig gemacht worden ist. Es heißt immer: die wahre Demokratie, die rechte Demokratie, nie die Demokratie als solche. Und die eigentliche Demokratie ist die Demokratie, die sich den sittlichen Einsichten, den moralischen Vorschriften des Lehramtes öffnet. Es ist jedenfalls nicht eine parlamentarische, pluralistische Parteiendemokratie, in der die Kirche in ihren Mitbestimmungsansprüchen an den Rand gerückt wird.

1. SPR.:
Die römische Kirche kann zwar nicht mehr die Gesetze der Staaten bestimmen. Aber sie kann in der Gesellschaft versuchen, ihre traditionellen Moralvorstellungen durchzusetzen, etwa zu Fragen der Schwangerschaft. Die katholische Ethik gilt den Konservativen innerhalb der Hierarchie als die letzte Bastion, die es unbedingt zu verteidigen gilt. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf:

29. O TON, 0 40“. Graf.
Man kann sagen, dass die Römisch-Katholische Kirche seit 200 Jahren den Prozess der Modernisierung darin kritisch begleitet, dass sie sich als eine Gegeninstitution etabliert. Deshalb hat sie die Autorität des Papstes zunehmend verstärkt im 19. Jahrhundert, deshalb hat sie immer stärker auf römischen Zentralismus gesetzt. Was wir jetzt erleben ist im Grunde genommen eine innerlich stimmige, konsequente Kirchenpolitik: Je mehr religiösen Pluralismus es gibt, desto konsequenter stellt die Römisch katholische Kirche ihre spezifischen Merkmale in den Raum. Hier RAUS GEHEN

1. SPR.:
Hingegen meint der katholische Theologe Hermann Häring, Relativismus und Katholizismus seien durchaus zu versöhnen:

30. O TON, 1 03“. Häring
Ich bin Relativist, weil ich weiß, ich hab nicht die ganze Wahrheit. Und nicht, weil ich die andere Meinung als Bedrohung, sondern als Ergänzung, als Erweiterung, als eine andere Perspektivierung meiner eigenen erfahre. Deshalb verstehe ich nicht, dass manche Leute Relativismus so schlimm finden. Jeder, der die Wahrheit in einer Organisation sieht, der kann keine Abweichung dulden, für den ist die Wahrheit in der Sprachregelung. Das verstehe ich wohl. Aber das Problem, dass man eben meint, diese Organisation sei die Wahrheit. Ich halte bei Gott viel von der katholischen Kirche oder von den christlichen Kirchen, aber sie sind nicht die Wahrheit, sondern sie haben sie weiter zu tragen. Es gibt ein rabbinischen Spruch, der sagt: Ein Schriftwort, das nicht 99 Auslegungen zulässt, hat die Wahrheit Gottes nicht.

1. SPR.:
Aber von jüdischer Weisheit lässt sich der Vatikan nicht so häufig inspirieren: Vielfalt der Meinungen zuzulassen, könnte ja bedeuten, den demokratischen Staat nachzuahmen und demokratische Prinzipien für die Kirche selbst anzuerkennen. Tatsächlich gleicht der Vatikan eher einem spätantiken Feudalstaat. Dort vereinte der eine Herrscher alle Gewalten in seiner Person. Der Vatikan glaubt, diese Rolle habe der Papst von Anbeginn gehabt. Aber gibt es wirklich eine ungebrochene Linie vom ersten Papst, dem Fischer Petrus vom See Genezareth, hin zu Benedikt XVI. in seinem Palast? Der katholische Theologe Otto Hermann Pesch warnt vor einer allzu weitgehenden Interpretation:

31. O TON, 0 30“. Pesch
Wie kommt es dann, dass die Nachfolger des Petrus bis hin zu Clemens absolut legendarische Figuren sind. Auf festem Boden einer römischen Gemeinde mit ganz bestimmter Leitungsstruktur sind wir wieder erst mit dem ersten Clemens, der nach Corinth schreibt, aber nicht mit Weisungsbefugnis, sondern mit Ermahnung. Dieser Clemens ist nun mitnichten Papst Clemens der Erste, sondern Mitglied des römischen Presbyteriums.

1. SPR.:
Der Papst als der erste unter vielen anderen Bischöfen inmitten vieler Gemeinden: Ist diese frühchristliche Tradition wirklich nicht mehr gültig? Könnte sich der Stellvertreter Christi auf Erden nicht daran orientieren, fragt Otto Herman Pesch:

32. O TON, 0 43“.
Er sollte sein Amt verstehen und auch ausüben, wie es allein vom Neuen Testament her begründet werden kann, nämlich als Petrusdienst. Man sagt heute schon mal ganz gerne Petrusdienst und meint das Petrusamt, das ist aber in der Form dann etwas eine Schönfärberei. Petrusamt heißt Vollmacht des Papstes in jede einzelne Diözese hineinregieren zu können, nach gutem Ermessen, um nicht zu sagen nach Gutdünken. Petrusdienst heißt, dass der Papst als Bischof von Rom und eben Haupt des Bischofskollegiums einen Dienst tut, da, wo er helfen muss und helfen kann.

1. SPR.:
Der Papst als bescheidener Helfer, als Ratgeber, als Freund und Begleiter: Das ist keine Utopie, sondern biblischer Auftrag. Ein Zitat aus dem Markus Evangelium:

2. SPR.:
„Wer bei euch groß sein will, der sei der Diener aller“.

1. SPR.:
Joseph Ratzinger hat bei einem Vortrag im österreichischen Aigen vor 15 Jahren einmal angedeutet, dass es den Amtsträgern nicht in erster Linie auf Macht und Einfluss ankommen sollte:

33. O TON, 0 43“ Ratzinger,
Auch in der Kirche ist nicht das entscheidende, welche Funktion einer einnimmt. Sondern das Höchste, was wir erreichen können, ist nicht, dass man Kardinal wird oder ich weiß nicht sonst etwas wird, sondern das Höchste, was wir erreichen können, ist, dass wir Gott nahe und ihm ähnlich werden, dass wir heilig werden. Und wenn ein Bischof oder Kardinal es nicht wird, dann nützt ihm seine ganze Würde nichts, dann ist er wirklich eben bei den geringsten im Reich Gottes, wo wir immer noch hoffen, dass er wenigstens noch drinnen ist. Lachen und Beifall.

1. SPR.:
Kritische Äußerungen zum Umgang mit päpstlicher Macht hat man von Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. nicht gehört. Darum sind sich viele kritische katholische Theologen in aller Welt einig: Das vom Vatikan geförderte System kann nur zu einer in sich geschlossenen Herrschaftselite führen, zu Abwehr, Ausgrenzung und neurotischem Freund – Feind – Denken. Trotzdem: Mit dieser Vorherrschaft maßgeblicher kirchenamtlicher Kreise wollen sich Kirchenreformer nicht abfinden, falls ihnen nicht zuvor die so viel beschworene „Freude am Glauben“, also die positive Zustimmung, katholisch zu sein, verloren geht. Pater Josef Imbach:

34. O TON, 0 32“, Imbach
Wie können wir eigentlich froh unseren Glauben leben, wenn es in unserer Kirche so unfroh zu- und hergeht? Der französische Schriftsteller Paul Claudel hat einmal gesagt: Dort, wo die meiste Wahrheit ist, ist auch die meiste Freude. Ja, wenn sie sich dann so umschauen innerhalb unserer Kirche, dann muss ich mich ja fragen, wie viel Wahrheit ist eigentlich in unserer Kirche, in meiner Kirche?

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LITERATUR:
Graf, Friedrich-Wilhelm: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58478-7

Graf, Friedrich-Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51750-1

Häring, Hermann: Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt. Gütersloher Verlagshaus. 2009, 192 Seiten.

Imbach, Josef: “Der Glaube an die Macht und die Macht des Glaubens.
Woran die Kirche heute krankt”. 248 Seiten, Patmos Verlag Düsseldorf, 2.
Aufl., 2005,

Modehn, Christian: „Alles, was rechts ist.. Politisch theologische Optionen Joseph Ratzingers“, S 143 – 162. in: Sommer, Norbert. und Seiterich, Thomas (Hg.): Rolle rückwärts mit Benedikt. Wie ein Papst die Zukunft der Kirche verbaut. Publik – Forum- Edition, Oberursel, 2009, 222 Seiten.

Pesch, Otto-Hermann: Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1/1: Die Geschichte der Menschen mit Gott, Ostfildern 2008

Posener, Alan: “Benedikts Kreuzzug. Der Kampf des Vatikans gegen die moderne Gesellschaft” (Ullstein 2009)

Sommer, Norbert und Seiterich, Thomas (Hg.): Rolle rückwärts mit Benedikt. Wie ein Papst die Zukunft der Kirche verbaut. Publik – Forum- Edition, Oberursel, 2009, 222 Seiten.

Jeder Mensch ist ein Mystiker: Denken in Zeiten der Krise. 7. Teil

Spiritueller Wandel in Zeiten der großen „Corona – Krise“
Von Christian Modehn am 23. März 2020 und am 14. April 2020

Am 23. März 2020 hatte ich einige Hinweise zur neuen Bedeutung der Mystik in diesen Zeiten der Corona-Epidemie veröffentlicht.
Inzwischen, Mitte April, finden in der ganzen Welt in den Kirchen keine Gottesdienste mit der Beteiligung einer Gemeinde mehr statt. Auch Moscheen und Synagogen, Tempel und Heiligtümer sind für Gottesdienste und religiöse Zeremonien geschlossen. Selbst die säkular bzw. atheistisch geprägten Jugendweihen und Jugendfeiern finden nicht statt.
Die Spiritualität hat also keine Orte gemeinsamer Zeremonien und Feiern/Gottesdienste mehr. Über You tube bieten zahlreiche Gemeinden Gottesdienste an, immerhin eine Chance, vielleicht bloß ein schwacher Trost, eine Predigt zu hören, einen Pfarrer, eine Pfarrerin zu sehen, ein Gebet zu vernehmen, Lieder, Musik usw.
Es müsste von Soziologen untersucht werden, welche innere Wirkung, welche innere Berührung, diese Gottesdienste über You tube usw. haben. Bleiben die Leute dran und dabei, bleiben sie förmlich „drinnen“, oder schalten sie um? Wie ist die Aufmerksamkeit auf die Predigt? Hört man zuhause, vor dem Bildschirm usw. intensiver zu als etwa in einer voll besetzten Kirche? Hört man dort überhaupt genau hin oder geht vorwiegend seinen eigenen Gedanken nach? Wie vielleicht jetzt auch zu Hause vor dem Computer etc.

Ich stelle hier die These zur Diskussion: Diese Veränderungen in der religiösen Praxis (und Gottesdienstbesuch gilt ja in der Theologie als „Praxis“) sollte man auch als eine Chance entdecken: Es wird für alle deutlicher als zuvor, dass Glaube zuerst und vor allem eine innere, eine geistige, seelische, vernünftige Bewegtheit ist. Und manche werden den Eindruck haben: Wenn ich mich zu Hause in Ruhe sammle, meditiere, nachdenke, bete… dann ist dies der Kern meiner Verbindung mit dem Unendlichen, mit Gott, dem Ewigen. So schön es auch sein mag, mit anderen diese Erfahrung in einer Gemeinde/Gemeinschaft auszutauschen. Aber wie oft wurden diese zentralen Erfahrungen in Gemeindeveranstaltungen wirklich ausgetauscht? Waren nicht viele Gespräche dort doch „nur“ Diskussionen über das leidige Thema Kirchen bzw. Sinn und Unsinn der Kirchenreformen.

Wenn es also jetzt so viele YOU – Tube Gottesdienste gibt, dann sollten sie eben nicht den wohlbekannten, routinierten Gottesdienst, die Messe, etc. wiederholen. Darauf sollte man verzichten! Und in dieser Zeit über YOU – Tube den Menschen Hilfen und Anregungen geben, ihre persönliche Spiritualität zu pflegen, meditativ Gedichte zu lesen, meditativ die religiöse Poesie der Bibel zu lesen, meditativ Musik hören, zu beten, ein spirituelles Tagebuch zu führen, in kleinem Familienkreis zu fragen: Was lässt uns eigentlich “letztendlich” leben? Das wäre dann am Sonntagmorgen oder Sonntagabend eine kleine Schule der MYSTIK. Hört also auf mit den einsamen Gottesdiensten/Messen der Solisten, also der PferrerInnen, lasst euch etwas Neues einfallen: Seid Seelsorger, werdet Mystiker, Lehrer des Spirituellen. Das wollt ihr doch sein?

In Zeiten der Corona-Epidemie werden wir auf den Kern des religiösen Lebens geführt, und religiöses Leben ist sozusagen immer eine Form des geistvollen menschlichen Lebens.
Wir werden auf die Mystik verwiesen!
Und: Auf die helfende Nächstenliebe bzw. FernstenLiebe. Mehr ist meines Erachtens religiös gar nicht so not-wendig.
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Dies ist der Hinweis vom 23.3.2020:

1.
Ausgerechnet von Mystik jetzt sprechen? Gibt es nicht Dringenderes? Oder ist die Achtsamkeit auf den eigenen Geist, die eigene Seele, die eigene Vernunft nicht ebenso dringend und not – wendig? Diese Achtsamkeit nennt man Mystik. Für sie ist elementar: „Zur Ruhe kommen, die Augen schließen, den Geist öffnen und in der Stille verweilen“. Das Wesentliche spielt sich also in mir selbst ab, nicht in religiösen oder weltanschaulichen Organisationen. Der alte Begriff Mystik wird also befreit aus der engen Welt der Klöster. Ist nicht nur Sache der Mönche.
Mystik lebt in mir! Eine Zeit der Mystik also? Eindeutig JA!
2.
Ohne Zweifel ist der Kampf gegen das Virus am wichtigsten. Ohne Zweifel muss jeder und jede in diesem Kampf mitmachen. Das heißt zentral: Den üblichen Egoismus überwinden.
Ohne Zweifel gilt unsere ganze Sympathie und unsere Dankbarkeit jetzt den PflegerInnen und ÄrztInnen, auch denen, die mit allem Mut (und schlecht bezahlt) die „Grundversorgung“ aller in den Geschäften aufrecht erhalten.
Ohne Zweifel werden wir schon jetzt notieren und uns einprägen, wie denn unsere Gesellschaft und unsere globalisierte Welt aussehen sollte, wenn denn einmal diese Zeit der Leiden unter der Herrschaft des Virus beendet ist. Ohne Zweifel wird dann unsere Gesellschaft grundlegend verändert werden müssen, gerechter nämlich, im letzten noch möglichen Respekt vor der Natur. Das Wort „unsere“ in „unsere Zukunft“ wird dann niemals mehr nur unsere, von nationalen, europäischen Egoismen bestimmte kleine Welt sein.
Ohne Zweifel brauchen wir dann eine neue Konzeption gerechter Rechts – Staaten als Eingrenzung der Allmacht der internationalen Konzerne usw…
Ohne Zweifel wird ein neuer Lebensstil nötig sein in den bis dahin „reichen“ Ländern. Von neuen Tugenden wird man sprechen: Bescheidenheit (auch der Millionäre und Milliardäre) und Verzichtenlernen…Ob wir dann wohl auch nicht länger ertragen, dass Milliarden Menschen hungerten und hungern und im Elend starben und sterben, auch ohne das Corona -Virus, sondern wegen des tödlichen Virus der globalen Ungerechtigkeit…
Werden die durch Mystik ins Nachdenken geratenen Menschen gut in der Lage sein, eine bessere Gesellschaft „nach der Zeit des Virus“ zugestalten?
3.
Ohne Zweifel entsteht in dieser Zeit des Rückzugs, des Eingeschlossenseins, schon etwas anderes: Es entstehen neue Formen von Spiritualitäten, also der Verbundenheit des einzelnen mit einem grundlegenden Sinn des Lebens. Diese Frage wird selbstverständlich jeder und jede für sich beantworten, immer wieder neu errungen und neu formuliert unter den veränderten Lebensbedingungen.
4.
Was wir alle gemeinsam erleben: Die Praxis dieser Spiritualität findet sozusagen nun ganz klar vor allem „im einzelnen“ statt, in seinem Nachdenken, seinem Stillewerden, Lesen, Hören, Lauschen, Schreiben, Malen, Spielen, Betrachten, und vor allem auch helfenden Sorgen.
Der Austausch über das, was mich in meinem Geist, in der Seele, der Vernunft bewegt ist genau der Austausch über je meine Spiritualität. Dieser Austausch kann auch im Internet usw. oder am Telefon stattfinden. Aber sie lebt, wird entwickelt, befragt, verworfen, neu konzipiert usw.: Immer in mir selbst. In meinem Geist, der immer schon ein kulturell geprägter Geist ist.
5.
Entscheidend also ist in dieser Zeit der Krise: Jeder und jede ist auch spirituell auf sich selbst zurückgeworfen. Früher sagte man in einer kirchlich bestimmen Gesellschaft „Es geht um den einzelnen und seinen Gott“. Das werden religiöse Menschen hoffentlich immer, auch heute, noch sagen, vielleicht aber werden sie mit guten Gründen lieber vom Göttlichen, Ewigen, dem alles gründenden Geheimnis sprechen. Wer das nicht so sagen kann, wird seine eigene säkulare Sprache suchen, falls er sie nicht schon gefunden hat.
6.
Mich interessiert hier jetzt die sich religiös nennende Mystik heute. Da ist ein ganz neuer Trend zu beobachten, der sicher auch über die Zeit der Krise hinaus seine Bedeutung behält:
Ein Wort zur katholischen Kirche: Da fällt auf, mit welcher Schnelligkeit sich die offizielle Kirchenleitung, die Gemeindepfarrer und Ordensgemeinschaften an die erzwungene totale Privatisierung des Glaubensvollzugs gewöhnen: Messen von einem Priester, einsam in der Kirche „gelesen“, werden auf allen denkbaren „Kanälen“ ins Haus und Heim geliefert, „life gestreamt“, auf facebook, You tube etc… Es findet also eine allgemeine Ausweitung der ohnehin schon üblichen Fernseh-Gottesdienste am Sonntag statt. Die virtuelle Messfeier ist üblich. Da kann jeder vor dem Computer, Laptop und so weiter sich einschalten, abschalten und wieder zuschalten, kann leise oder laut seine religiöse Poesie, Gebete genannt, sprechen, laut schreien und weinen und verstummen. Oder bei der Predigt eine Tasse Tee trinken. Der religiöse Mensch sieht also einen einsamen Pfarrer in einer leeren Kirche handeln, von „Feiern“ kann ja keine Rede mehr sein. Aber diese Ferne der leibhaftigen Distanz kann die geistige Verbindung nicht stören: Ich werde auf dem Sofa oder am Schreibtisch sitzend auf mich zurückgeworfen. Jetzt bin ich gemeint. Ich gehe nicht mehr, wie einst, als einzelner unter, in der größeren Gruppe der Gottesdienstteilnehmer. Es gibt keine liturgischen Zwänge mehr wie einst in den Kirchengebäuden: Bei der Messe immer wieder diese viel beklagte Hektik, dieses Aufstehen, Setzen, Niederknien, Jubilieren, Mitsingen, eher floskelhafte Sätze, Gebete genannt, nachsprechen. Ich kann jetzt auch zu Hause meine CDs herausholen und wieder ungestört und bequem in einem Sessel eine Bachkantate hören. Und am nächsten Tag eine andere. Oder eine Mozart Messe oder das Mozart Requiem. Meine Wohnung wird meine Kirche, mein Tempel. Da feiere ich Gottesdienst. Das entsteht individuelle Mystik, meine Mystik.
7.
Noch wichtiger ist: Es wird von Papst Franziskus nun die alte, beinahe vergessene „geistige Kommunion“ empfohlen, also das nur im Geiste geschehene Verzehren der Hostie. Es ist bei ihm auch die Rede von der geistigen, sehr individuellen Beichte ohne Priester: Papst Franziskus hat diese ungewöhnliche, ganz private, ganz individuelle Form der Beichte in seiner Ansprache in seiner Kapelle in seinem Wohnhaus, der Casa Santa Martha, am 20. März 2020 so erklärt. Und das ist für Kenner eine kleine theologische Sensation: „Wenn du keinen Priester findest, um bei ihm zu beichten, dann sprich mit Gott. Er ist dein Vater, und sag ihm die Wahrheit: ‚Herr, ich habe dies, dies, dies angestellt… Vergib mir’, und bitte ihn von ganzem Herzen um Vergebung…. Du selbst kannst dich, wie der Katechismus lehrt, der Vergebung Gottes nähern, ohne einen Priester zur Hand zu haben“.
8.
Die Zeit der individuellen, aufs Katholische bezogen: priesterlosen Spiritualität hat also offiziell begonnen. Wichtig scheint mir: Erst in schlimmen Zeit einer Pandemie ist die Kirchenführung bereit, das heilsame Geschehen einer inneren, individuellen „Kommunion“ und „Beichte“ für alle anzuerkennen. Dass das Gespräch der Glaubenden, Gemeinde genannt, etwas Wichtiges ist und sicher auch bleiben wird, ist klar. Jetzt kommt es nur darauf an, den großen spirituellen Umbruch zu bedenken.
9.
Dass zuerst der/die einzelne in Geist und Seele sich mit seinem/ihrem Unendlichen und Ewigen auseinandersetzt, ist etwas Unverzichtbares, Bleibendes, Wertvolles auch über die großen Krisenzeiten hinaus. Warum? Weil in dieser mystischen Praxis der „geistlichen Kommunion“ und der „privaten Beichte ohne Priester“ die Macht der Priester und des Klerus über den einzelnen Glaubenden aufhört, zugespitzt gesagt: gebrochen wird. Es entsteht sozusagen auch im Katholizismus das Priestertum ALLER Gläubigen nicht als Theorie, sondern als Realität. Wenn man es klassisch – theologisch lesen will: Das Heil der Seele ist auch ohne Priester möglich. Genau dies ist elementar gesehen der Sinn von Mystik: Du kannst dich als Mensch dem Unendlichen von selbst nähern. Mit ihm eins werden, wie die philosophischen Mystiker aller Religionen sagen! Die Einheit mit dem Ewigen, dem Göttlichen, kann jeder selbst erreichen. Ohne Vermittlung anderer Menschen.
10.
Und dieses ganze Thema hat nicht zuerst mit dem Himmel, dem „Jenseits“, zu tun, sondern mit dem Leben jetzt und hier in der Welt, in ihrer Zerrissenheit, im Leiden. Da lebt Mystik. Und sie kann wirksam werden. Und sie wirkt bereits: Bei den vielen Menschen, die einander beistehen, einander helfen, retten, unterstützen. Egal, ob da expliziter Glaube lebt oder nicht. Allein die Menschlichkeit zählt. Wer diese Erfahrungen in dieser Praxis bedenkt, wird auch das innere Geschehen, die
Mystik entdecken: Die Mystik der Liebe.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wer tötete Erzbischof Romero? Über die Mitschuld des Vatikans.

Wer tötete Erzbischof Oscar Romero? Über die Mitschuld des Vatikans.

Einige Hinweise und kritische Fragen von Christian Modehn. Erneut publiziert anläßlich des 40. Todestages von Oscar Romero (am 24.3.1980)

Ein Vorwort, geschrieben am 21.3. 2020:
Schon wieder ein Gedenktag, also ein Tag des expliziten Denkens an einen Menschen, einen wegweisenden, vorbildlichen. Am 24. März 1980 ist Erzbischof Oscar Romero in San Salvador, im zentralamerikanischen Staat El Salvador, von rechtsextremen Militärs, Angehörigen der ebenso rechtsextremen, von den USA unterstützten Regierung, erschossen worden, am Altar, während der Messe. Oscar Romero war die wichtigste Stimme der vielen Armen und Unterdrückten in seinem Land. Er stand ihnen tatkräftig, man darf sagen aufopfernd zur Seite. All das ist noch bekannt? Wahrscheinlich noch in Lateinamerika, in seiner Heimat San Salvador. Es hat sehr lange gedauert, ehe sich der Vatikan und die Päpste entscheiden konnten, diesen vorbildlichen, schon Lebzeiten wie einen Heiligen verehrten Oscar Romero, tatsächlich öffentlich zu ehren und heilig zu sprechen. Denn dies ist ein politischer Akt!
Und vergessen wir nicht die bleibende, fundamentale Erkenntnis Erzbischof Romeros: Es ist die maßlose Gier der Herrschenden, also der (Super-)Reichen, nach “immer mehr”, nach immer mehr Geld, nach immer mehr Eigentum, nach immer mehr Privilegien, die tödlich ist für die Menschen. Diese Gier der “kalten Herzen” hat ein menschenwürdiges Leben der meisten Menschen in El Salvador unmöglich gemacht. Diese Gier hat Erzbischof Romero getötet. Und: Diese maßlose Gier der “kalten Herzen” wurde nicht überwunden, sie regiert weltweit. Das ist ein Thema des Gedenktages!

In diesen Zeiten der Corona-Pandemie haben “wir” andere Sorgen, als an einen heiligen Befreiungstheologen in El Salvador zu denken, könnte man meinen. Aber vielleicht ist es gerade eine sinnvolle Erweiterung unseres Denkens und Fühlens in diesen Tagen, mal längere Zeit “etwas anderes” zu denken und auch anderes zu lesen als die vielen erschütternden Neuigkeiten rund um die Pandemie. Ich empfele also die Lektüre nicht nur meines kritischen Hinweises, sondern auch die Lektüre des Buches von James R. Brockman “Oscar Romero. Anwalt der Armen”. Erschienen im TOPOS Verlag! Brockman war Jesuit (gestorben 1996); er kannte Oscar Romero persönlich; konnte auch dessen Tagebuchaufzeichnungen lesen, daraus ist eine umfangreiche Biographie entstanden, alles andere als eine übliche kirchenfromme “Heiligenlegende”! Sondern eine Art politischer Biographie eines Mannes, der sich von einem “klassisch Konservativen” zu einem Befeiungstheologen und Verteidiger der Armen entwickelte. Ich möchte auch noch auf meinen Beitrag hinweisen: Erzbischof Romero und das Opus Dei.
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Für ausführliche biographische Informationen über Oscar Romero kann jetzt online ein neu erschienenes Buch gelesen werden:”Oscar Romero und die Kirche der Armen”.

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Zur Einstimmung ein allgemeiner Hinweis aus der Ethik: Wenn dort von Verantwortung und Verantwortlichkeit gesprochen wird, ist nicht nur die “responsability”, sondern auch die “accountability” gemeint. Im Englischen wird diese Unterscheidung gern gemacht. “Accountabilty” meint dabei vor allem die “soziale Verantwortung”, also das Verantwortlichsein dafür, was in einem bestimmten Umfeld durch das eigene Tun (oder durch das eigene Unterlassen) geschieht oder nicht geschieht. Der Berliner katholische Ethiker, Prof. Andreas Loib Hüdepohl, schreibt: “Verantwortlich ist der, der durch sein Handeln und Verhalten einen beklagenswerten Zustand selbst herbeigeführt oder zumindest zugelassen und nicht verhindert hat, obwohl es in seiner Macht gestanden hätte” (Zitat in: “Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie”, Herder 2015, S. 296). Diese allgemeinen Hinweise haben ihre Gültigkeit auch im Umgang des Vatikans und vieler Bischöfe, auch in El Salvador, mit dem mutigen Menschenrechtskämpfer und Befreiungstheologen, dem “Märtytrer wegen seines befreidenden Glaubens”, Erzbischof Oscar Romero.

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Der Religionsphilosophische Salon Berlin befasst sich auch mit Religionskritik. Deswegen werden manchmal auch Hinweise publiziert und dabei Fragen gestellt, die in der eigentlich dafür zuständigen kritischen Theologie und deren Publikationen einen Platz haben sollten, aber leider nicht haben. Offenbar sind den immer noch kirchenamtlich-gebundenen katholischen Theologen diese Themen „zu heiß“, also zu gefährlich (auch für die eigene Karriere). Zur politischen “Neutralisierung”  Oscar Romeros durch das Opus Dei (in Rom) jetzt klicken Sie bitte hier zur Lektüre des umfangreichen Beitrags.

Die folgenden Hinweise beziehen sich auf ein wichtiges, bisher kaum diskutiertes Thema: Auf die Mit-Schuld des Vatikans und des heiligen Papstes Johannes Paul II. an der Ermordung von Erzbischof Oscar Romero am 24. März 1980. Leitend ist dabei die allgemein bekannte und unumstrittene Erkenntnis, dass Ideologien und religiöse Propaganda das reale politische Handeln der Menschen prägen, inspirieren, anfeuern und auch bestimmen. Dafür gibt es zahlreiche historische Beweise, etwa im Zusammenhang der Kreuzzüge, der missionarisch-kolonialistischen Eroberung Amerikas oder jetzt der Niederschlagung von Menschenrechtsbewegungen in den Ländern, die islamistisch beherrscht, d.h. tyrannisiert werden.

Es geht also um die indirekt wirkende, sicherlich schwer zu „fixierende“, aber doch faktische Mitschuld der „offiziellen Kirche“ an der Ermordung Erzbischof Romeros. Anlässlich seiner (35 Jahre ! nach seinem Tod erreichten) Seligsprechung am 23. Mai 2015 in San Salvador wird diese Frage sicher vermehrt öffentlich diskutiert: Wer tötete – eigentlich- den Erzbischof, also den frommen Priester, den Verteidiger der Armen, den Kritiker des rechtsextremen Militärregimes, den Befreiungstheologen? Diese Frage bleibt auch nach seiner offiziellen Heiligsprechung im Jahr 2018 durch Papst Franziskus.

Über die tatsächlichen Mörder als Individuen kann man sich umfassend informieren, etwa schon auf wikipedia: „Am 23. September 2004 wurde Álvaro Saravia, Leiter des Sicherheitsstabs von D’Aubuisson und Kommandeur der Todesschwadronen, in einem Zivilprozess in Kalifornien in Abwesenheit als einer der Drahtzieher des Mordes an Romero von Richter Oliver Wanger schuldig gesprochen. Danach müsste er 10 Millionen US-$ an einen anonymen Hinterbliebenen Romeros zahlen. Es ist international das erste Mal, dass im Fall Romero irgendjemand verurteilt wurde.“ (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%93scar_Romero#Hergang_und_T.C3.A4ter). Hingegen: Das Parlament El Salvadors erließ 1993 eine Generalamnestie für die Verbrecher des Bürgerkrieges….

Es ist dort aber auch weithin unstrittig, dass Oscar Romero auf Veranlassung des Mayors des El Salvadorianischen Heeres, Roberto d Aubuisson, durch einen Scharfschützen am Altar während der Messe getötet wurde. D Aubuisson ist der spätere Gründer der rechtsextremen ARENA Partei, die noch heute, 2015, eine sehr starke politische Kraft (in der Opposition) ist. Sie vertrat und vertritt eindeutig die Interessen der wenigen etablierten Herrschenden, die sich im Bürgerkrieg gewaltsam gegen alle Respektierung der Menschenrechte für die armen Indígenas durchsetzten; diese Clique ist mitverantwortlich, dass mindestens 75.000 El Salvadorianer im Bürgerkrieg – auf bestialische Art – getötet wurden, darunter auch viele Priester, Gemeindemitarbeiter und zuerst und vor allem: sehr viele Arme… und Erzbischof Romero.

D Aubuisson (1944-1992) ist Katholik gewesen; er hat, für Mitglieder der gehobenen Klassen wie überall üblich, katholische Privat-Schulen (der Maristen und Jesuiten) besucht. Außerdem hat er im Jahr 1972 an der berüchtigten us – amerikanische „School of the Americas“ studiert; dort wurden rechtsextreme Militärs aus ganz Lateinamerika für den Krieg gegen die Kommunisten in Lateinamerika ausgebildet. Für die USA gab es seit dem Sieg Castros auf Kuba und dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua und später dann dem Sieg Allendes in Chile nur eine Idee: Den Kommunismus, wo immer er sich (angeblich) versteckte mit brutaler Gewalt auszulöschen, also Menschen zu töten. Jegliche Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wurde als kommunistisch diffamiert und Menschen, die diese Forderungen vertraten, ausradiert. Weite Kreise der offiziellen Kirche haben dieser Ideologie den theologischen Segen gegeben. Sie haben sozusagen den blinden Wahn der USA religiös-ideologisch befeiert. Das hatte Auswirkungen: Oscar Romero war als Erzbischof von San Salvador weitgehend von seinen bischöflichen Kollegen im Land isoliert, auch sie betrachteten sein Engagement als marxistisch und diffamierten ihn sogar im Vatikan.

Wer die Frage „Wer tötete Erzbischof Romero?“ umfassend beantworten will, kann also, das ist evident, nicht nur punktuell auf die Tat des Scharfschützen schauen oder nur die individuelle Gestalt Romeros sozusagen als jetzt „seliges“ bzw. heiliges Individuum betrachten. „Wer tötete Erzbischof Romero?“ Das kann nur beantwortet werden, wenn das extrem ideologisierte und religiös aufgeladene politische – geistige Klima in El Salvador und Lateinamerika insgesamt in den Jahren zwischen 1970 und 1980 (dem Todesjahr Romeros) und darüber kritisch analysiert wird.

Solche kritischen Fragen müssen gestellt werden, weil bei allem Jubel über den „seligen Oscar Romero“ das kritische Denken nicht eingeschläfert werden kann. Und spannend bleibt, wie die reaktionäre ARENA Partei sich am Tag der Seligsprechung verhalten wird und wie das Opus Dei reagieren wird, das neuerdings die absurde These weltweit verbreitet, Erzbischof Romero sei eigentlich einer vom Opus Die gewesen. Damit will diese rechte katholische Geheimorganisation den bleibenden politischen Anspruch Romeros neutralisieren, sie will den Befreiungstheologen Romero zu einem braven, frommen Bischof herabsetzen. Lesen Sie dazu einen ausführlicheren Beitrag und klicken Sie hier.

Papst Johannes Paul II. (seit 1978 Papst) aus dem kommunistisch regierten Polen stammend, erklärte zumal in den ersten Jahren seiner Herrschaft, den Anti-Kommunismus zu einer Art Dogma für die ganze Kirche. Den Antikommunismus (so, wie er ihn verstand) zu bekämpfen war für ihn eine völlige Selbstverständlichkeit, die er später bei seinen Besuchen bei den rechtsradikalen Diktatoren in Chile, Argentinien und in Paraguay (General Stroessner) usw. dokumentierte.

Das bedeutete: Es gab für Johannes Paul II. – zumal zu Beginn seiner Herrschaft – nur „den“ (einen), eben den teuflischen Marxismus als Kommunismus. Linke Positionen, die an die tatsächliche, bereits immer schon tötende Gewalt der bestehenden (diktatorischen) Regierungen erinnerten, konnte er nicht akzeptieren. Der polnische Papst glaubte: Wenn eine rechte/rechtsextreme Militärregierung sich fromm-katholisch und der rechten päpstlichen Lehre nach außen hin folgsam zeigt, ist das in Ordnung und unterstützenswert. Der Diktator Pinochet in Chile war ja bekanntlich ein fleißiger Kirchgänger, ihm reichte der Papst bei seinem Besuch in Chile gern die Kommunion… Deswegen sprach der polnische Papst auch den bekanntermaßen äußerst rechtslastigen Franco-Freund und Opus Dei Gründer Josemaria Escriva in kürzester Zeit, entgegen allen Regeln und kirchlichen Gesetzen, nach dessen Tod heilig.

Diese offizielle pauschale, deswegen unkritische antikommunistische „Stimmung“ im Vatikan und damit die offizielle römische Befürwortung bzw. kirchliche Unterstützung alles Antikommunistischen bekam Erzbischof Romero im Vatikan selbst 1979 ausdrücklich zu spüren. Der damals schon von rechtsradikalen Militärs und Paramilitärs (Todesschwadronen) bedrohte Erzbischof Romero wollte 1979 dringend dem Papst vom Bürgerkrieg in diesem katholischen Staat berichten. Aber er wurde nicht zum Gespräch mit Johannes Paul II. vorgelassen. Erst als sich Romero wie ein einfacher Gläubiger in die Gruppe der Wartenden bei einer so genannten Generalaudienz einreihte und dabei dann den Papst direkt um ein persönliches Gespräch bat, wurde er gnädigerweise danach zum Papst vorgelassen. Der Theologe und Lateinamerika-Spezialist Dr. theol. Willi Knecht hat diese Situation dokumentiert: „während der Generalaudienz, als Romero die Hand des Papstes ergriff und sich vorstellte. Ehe Romero mehr sagen konnte, warnte ihn der Papst: „Hüten Sie sich vor dem Kommunismus“! „Aber (wollte Romero sagen) …“ Und der Papst sagte erneut: „Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“ Über die würdelose Umgangsform des Papstes mit Erzbischof Romero am folgenden Tag kann die Journalistin María López Vigil, (in: „Piezas para un retrato”, UCA Editores, San Salvador 1993) berichten, weil sich ihr Erzbischof Romero kurz danach anvertraut hat; ein Zitat aus dem längeren Beitrag, den Willi Knecht dokumentiert: „Während sie sich gegenüber sitzen, beharrt der Papst auf einer einzigen Idee: „Sie, Herr Erzbischof, müssen sich um eine bessere Beziehung zur Regierung ihres Landes bemühen!“ (Der Papst hält also die regierenden Mörderbanden in El Salvador für eine legitime Regierung, CM). Monseñor Romero hört ihm zu und seine Gedanken schweifen nach El Salvador und er denkt daran, was die Regierung seines Landes mit dem Volk seines Landes anstellt. Die Stimme des Papstes bringt ihn zur Wirklichkeit zurück. “Eine Harmonie zwischen Ihnen und der Regierung von El Salvador ist das, was Christen in dieser Zeit der Krise am meisten befolgen müssen“. Bischof Romero hört weiter zu. Es sind Argumente, mit denen er bis zum Überdruss schon von anderen kirchlichen Würdenträgern angegriffen worden war. (Quelle: http://williknecht.de/index.php/kirche/kirche-3/81-en-memoriam-oscar-romero-seine-audienz-beim-papst-1979-16)

Der Lateinamerika – Spezialist Dr. theol. Willi Knecht kommentiert diese unglaublich arrogante Belehrung des heiligen Papstes: „In der vom Militär kontrollierten Presse von El Salvador (und von Lateinamerika) wurde diese Zurechtweisung Oscar Romeros durch den Papst als “grünes Licht” (als Erlaubnis) interpretiert, Oscar Romero nun endlich zum Schweigen bringen zu können – ohne dass der Vatikan deshalb intervenieren würde. Auch Regierungskreise der USA haben dies als Bestätigung bzw. Rechtfertigung aufgefasst, nun mit allen Mitteln gegen die von Oscar Romero geführte Kirche in El Salvador vorgehen zu dürfen“. (Quelle ebd,). Der Slogan „Sei ein Patriot und töte einen Priester“ hatte sich inzwischen in den Köpfen der Todesschwadronen festgesetzt…

Mit anderen Worten: Der blinde Antikommunismus des polnischen Papstes, artikuliert wie ein Dogma, hat das gesellschaftliche Klima in El Salvador soweit mit-bestimmen können, dass Erzbischof Romero am 24. März 1980 erschossen wurde. Die Täter fühlten sich subjektiv als Wohltäter des Vaterlandes, als Hüter der rechten (katholischen) Ordnung, ja als treue Nachahmer päpstlicher Weisungen.

Noch einmal: Innerhalb katholisch-theologischer Reflexionen ist diese Erkenntnis bisher nicht verbreitet worden, weil sie peinlich ist: Die Erkenntnis heißt: Das vom Vatikan und Papst Johannes Paul II. erzeugte pauschale antikommunistische Klima mit dem Verdacht des Marxismus und Kommunismus bei angeblich „linken“ Priestern und Theologen, ist, mitschuldig und mitverantwortlich für die Ermordung Erzbischof Romeros und später dann (1989) für die Ermordung von Romeros Freunden, der Jesuiten an der katholischen Universität San Salvador. Am 23. Mai 2015 wird also ein Erzbischof von der Kirche selig gesprochen, als Märtyrer, als Glaubenszeuge, der einer blinden Ideologie der Kirche selbst seinen grausamen Tod zu „verdanken“ hat. Dass der Vatikan niemals Erzbischof Romero und seiner Theologie und seiner Pastoral traute (etwa die Einrichtung eines Büros für Menschenrechtsfragen), zeigt sich daran, dass 1995 ein spanischer Priester des Opus Dei Erzbischof von San Salvador wurde. Er hat, das sagen alle Historiker, das Werk Romeros im Erzbistum vernichtet.

Werden diese Perspektiven am 23. Mai 2015 in San Salvador von dem päpstlichen Delegaten angesprochen? Wird sich die römische Kirche zu einem Schuldbekenntnis aufraffen und sagen: Ja, auch wir, im Vatikan und den vatikanischen Behörden, wir sind zumindest indirekt mitschuldig am Tod Oscar Romeros, weil wir die tödliche ideologische Verblendung mit gefördert und wie ein Glaubensbekenntnis verbreitet haben?

In dem Zusammenhang ist ein Beitrag eines anderen Lateinamerika-Spezialisten wichtig, des Theologen aus dem Dominikanerorden, Pater Ignace Berten. Er schreibt in seinem Beitrag “La théologie de la libération: Est-elle encore d actualité?  (in “Lumiere et vie, heft 273, 2007, Seite 97), aus dem ich übersetze: “Die Befreiungstheologie stört vor allem die Machthaber vor Ort, die sie als subversiv denunzieren. Die Regierung der USA, der CIA und die =Schule der Americas=, die lateinamerikanische Militärs in ihrem subversiven Kampf ausbilden, realisieren Strategien des Kampfes gegen die Befreiungstheologie… Es gibt eine gewaltige Repression …selbst gegen Bischöfe, die dann ermordet werden. Bischof Romero ist wahrscheinlich das stärkste Symbol dieser Generation von Märtyrern”. Und der Theologe Pater Berten fährt fort.”Aber die Theologie der Befreiung hat auch zu kämpfen mit dem Mißtrauen und der Repression (sic!) aufseiten der Kirche, vor allem in den sehr konservativen Flügeln, bei denen Msgr. Lopez Trujillo die markanteste und aktivste Gestalt ist. In Rom ist man besorgt über die Gefahr des Kommunismus, und in dieser Sorge verbündet sich der Vatikan mit der Sorge der USA: Gemeinsam glaubt man, dass die Theologie der Befreiung eine Art Umschlagstelle sein könnte, um kommunistische Regime in Lateinamerika zu etablieren…”   An dieser Stelle wäre weiter über die politische Naivität des Vatikans im allgemeinen nachzudenken, man könnte an Pius XII. erinnern (der den Nazi-Faschismus weniger schlimm fand als den Stalinismus) oder an die heutige ideologisch geformte Zurückweisung der Gender-Theorien.  Indem der Vatikan und die meisten Bischöfe eine rechtslastige-konservative Schlagseite hatten und haben, werden sie Bündnispartnern von Systemen, bei denen sie christlichen Glauben vermuten, wie den USA, die aber nichts als Machtpolitik, sagen wir für die damaligen USA durchaus Imperialismus im Sinn haben. Auf die so genannten theologischen Forschungszentren, die in den USA seit 1970 entstanden waren, weist Franz Hinkelammert hin: Es entstand das “Department of theology” im “American Enterprise Institute”, Leitung Michael Novak: “Sein Ziel war die Bekämpfung der Befreiungstheologien Lateinamerika”. Dann wurde das “Institute for Religion und Democracy” geschaffen, geleitet von Peter Berger mit demselben Ziel. /in: Theologies de laliberation, L Harmattan, Paris, 2000). Die Bücher von Micheel Novak wurde ins Spanische übersetzt und fanden weite Verbreitung auch in kirchlichen Kreisen…

Zurück zu Erzbischof Romero: In diesem Sinne, also einer Mitschuld des polnischen Papstes an der Ermordung Romeros, schreibt der Lateinamerika Spezialist Dr. theol. Willi Knecht sehr treffend persönliche Gedanken anlässlich des Todes von Papst Johannes Paul II.: “Auch der Papst wird sich nun vor seinem Gott verantworten müssen – wie jeder von uns. Und er wird diesem Gott, dem Gott von Abraham und von Jesus, erklären müssen, warum er Menschen wie Bischof Romero seinen Mördern überließ und warum er einen Befürworter von Massenmorden – Josemaría Escrivá – zum Heiligen erhebt. (gemeint ist der Gründer der katholischen Geheimorganisation Opus Dei, CM). Menschen wie Oscar Romero und alle Ausgestoßenen dieser Welt mögen bei Gott dann Fürsprache für Karol Wojtyla einlegen. Möge Gott ihm seine Gnade erweisen und ihn bei sich aufnehmen!“

Quelle: http://williknecht.de/index.php/kirche/kirche-3/81-en-memoriam-oscar-romero-seine-audienz-beim-papst-1979-16

Diese Erkenntnis einer Mitschuld führender vatikanischer und bischöflicher Kreise, an der Niederschlagung und Ausgrenzung von Befreiungstheologen wäre natürlich noch viel weiter zu dokumentieren und auszuführen. Es wäre an den kolumbianischen Kardinal Lopez Trujillo zu erinnern: „Er sagte in einer Gruppe, er werde mit den Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez, Leonardo Boff und Jon Sobrino ein Ende machen“ (so Jon Sobrino SJ, in „Die Freiheit der Theologie“ (Mainz 2008, S. 29). Der kolumbianische Kardinal hat nie die Vorwürfe einer engen Zusammenarbeit mit kolumbianischen Drogen-Bossen wirksam entkräften können, er war später organisatorisch für die gesamte lateinamerikanische Bischofskonferenz CELAM zuständig und schließlich in Rom als oberster Kardinals-Beamter für Familienfragen verantwortlich; zudem war er ein Freund des polnischen Papstes usw.

An den damaligen ADVENIAT Chef, Bischof und Kardinal und Opus Dei Mitglied Franz Hengsbach (Essen) wäre zu erinnern, vor allem an seinen politisch äußerst rechtslastigen Studienkreis „Kirche und Befreiung“, der ebenfalls den blinden Antikommunismus wie ein Dogma propagierte und als Kampfmittel gegen die Befreiungstheologie einsetzte. Engster Mitarbeiter des sogen. Studienkreises war der Lopez Trujillo Intimus Pater Roger Vekemans SJ. Es gab eine widerliche Nähe zu den Militärdiktaturen Bischof Hengsbachs, die meines Wissens von ADVENIAT bis heute nicht öffentlich in Publikationen von dort aufgearbeitet wird bzw. aufgebarbeitet werden darf: Hengsbach empfing von dem damaligen bolivianischen Diktator Banzer eine hohe staatliche Auszeichnung. Dieser Adveniat-Chef Hengsbach sagte 1977: „Die so genannte Befreiungstheologie führt ins Nichts“ (siehe, „Konflikt um die Theologie der Befreiung“, Benziger, 1985, Seite 55). Wenn diese Befreiungs-Theologie und damit die Theologen ins Nichts führen, dann kann man sie doch auslöschen, wäre die ungesagte Konsequenz. Sozusagen als geistlicher Kampf gegen den Nihilismus. Ist das nicht die Konsequenz solcher Behauptungen?

Vor allem wäre auf die enge Verquickung des Vatikans und der antikommunistischen Militär-Zentralen in den USA zu verweisen, auf die enge Freundschaft Johannes Paul II und Staatspräsident Reagans. Erwähnt werden muss hier das berühmte „Dokument von Santa Fé“ (USA), es enthält Empfehlungen an die Reagan-Administration, wie mit US-Waffen die lateinamerikanischen Militärs am besten die Befreiungstheologie bekämpfen und auslöschen können.

In seiner Studie „Johannes Paulus II., de onfeilbare“ (Johannes Paul II., der Unfehlbare) schreibt der belgische Vatikanspezialist und Theologe André Truyman (sein Buch erschien 2003 in Leuven): „Am wichtigsten ist, dass der konservative Katholik Wojtyla und der konservative Protestant Reagan einander fanden in ihrem Hass gegen den verwerflichen atheistischen Kommunismus. Das war für beide in den Worten Reagans das „das teuflische Reich“ ( S. 129). Demgegenüber schrieb noch Erzbischof Romero an den damaligen us amerikanischen Präsidenten Carter, „er solle doch damit aufhören, weiterhin Waffen und militärische Berater nach El Salvador zu senden“.

In dem Buch „El Salvador-Massaker im Namen der Freiheit“ (Rowohlt Verlag, 1982, hg. u.a. von Helmut Frenz) wird von Eliteeinheiten des el salvadorianischen Militärs berichtet, die die blutrünstigen Massaker an den Armen verursachen. „Solche Massaker sind nicht zufällig, sondern das konsequente Ergebnis der Anti-Guerilla-Ausbildung in den USA, dort werden zur Zeit (also 1981) 1.500 salvadorianische Soldaten ausgebildet… Präsident Reagan hat erklärt, er werde einen Sieg der Befreiungsbewegung in El Salvador niemals zulassen. Wenn er dieses Versprechen erfüllen will, muss er zum Mittel des Völkermordes greifen“ (S. 32).

Die Seligsprechung bzw. dann auch die Heiligesprechung von Erzbischof Oscar Romero ist also überhaupt kein Endpunkt, kein feierliches Halleluja, dem dann ein begeisterter Heiligen-Kult folgen kann! Die Seligsprechung bzw. Heiligsprechung ist vielmehr der Beginn einer umfassenden historisch-kritischen Aufarbeitung der jüngsten Kirchen- und Papstgeschichte, unter Einbezug aller Verblendungen, die im Vatikan als Dogma ausgegeben wurden. Ob diese Arbeit wohl geleistet wird? Gibt es dazu den Willen und den Mut?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über den “Gott der Vernunft” – in Zeiten der Krise: Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.
Wir wollen über den Zusammenhang nachdenken, der zwischen der persönli-chen Bindung der Menschen an Gott und der fragenden, reflektierenden Ver-nunft besteht. Und da haben viele gleich zu Beginn schon die Schwierigkeit an-gesichts der aktuellen „Coronavirus“ – Epidemie: Zeigt sich in dieser heftigen Krankheit nicht schon, dass wir mit vernünftigen Argumenten offenbar kaum verstehen können, dass diese unsere Lebens-Welt eine gute Schöpfung eines gu-ten Gottes sein soll?

Lieber Herr Modehn, Sie sprechen in ihrer Frage von der Vereinbarkeit des per-sönlichen Glaubens an Gott mit der reflektierenden Vernunft. Und bei dem Thema kann es keine kurz gefaßten, bloß “formel-hafte” knappe Antworten geben!
Wenn wir einen vernünftigen, also auf Verstehen setzenden Zugang zur Gottes-frage suchen, dann müssen wir, so denke ich auch, vom Glauben von Menschen an Gott den Ausgang nehmen. Nur wenn wir in der Frage nach Gott vom Glau-ben an ihn ausgehen, ist deutlich, dass wir nicht von einer objektiven metaphysi-schen Größe sprechen, wenn wir „Gott“ sagen. Ebenso ist dann klar, dass wir unter Gott nicht eine Ursache im naturwissenschaftlichen, physikalischen, bio-logischen oder evolutionstheoretischen Sinn verstehen, auf die der Ursprung des Universums sowie dann auch alles, was in der Welt geschieht, zurückgeführt werden könnte. Gott lässt sich nicht als Operator, auch nicht im Sinne eines Erstverursachers, einsetzen, um damit zu kausalen Erklärungen für das, was in und mit der Welt geschieht, zu kommen.

Gott ist die Referenz im Glauben von Menschen an ihn als den Ursprung des Universums, der Welt und alles dessen, was mit ihr und in ihr geschieht. Dieser Glaube, den der christliche Glaube als Glaube an Gott den Schöpfer aussagt, geht zusammen mit den Fragen nach Sinn und Bedeutung unseres eigenen Da-seins in der Unendlichkeit des Universums. Die Vernunft, sofern sie die Ideen von Gott und Welt ausbildet und nach Sinn und Zweck fragt, geht insofern wi-derspruchsfrei zusammen mit dem Schöpfungsglauben, insofern dieser gerade keine Welterklärung beansprucht, sondern auf eine religiöse Weltsinndeutung ausgeht.

Ein Konflikt tut sich nicht zwischen Vernunft und Glaube auf, sondern er ent-steht dort, wo verkannt wird, dass der Glaube es nicht mit Tatsachenbehauptun-gen und die Vernunft nicht mit Verstandeserklärungen zu tun hat. Gott, das Uni-versum, die Welt, das sind Vernunftideen, die keine Wirklichkeit beschreiben, auf die wir zeigen könnten. Mit ihnen geht es um Deutungen, die zu Aussagen über die Bedeutung und den Sinn unseres Daseins in der Welt kommen wollen.

Vernunft und Glaube vertragen sich durchaus, was jedoch nicht heißt, dass dem Glauben, der rational nachvollziehbar sein will, nicht genau dadurch auch immer wieder erhebliche Schwierigkeiten entstehen. Eine der elementarsten Schwierig-keiten ist die, die Sie, lieber Herr Modehn, ansprechen. Es ist die Frage, wie mit der Existenz Gottes, gerade dann, wenn wir ihn als Ursprung des Seins und Grund alles Sinns denken und im Glauben unser Vertrauen auf ihn setzen, zugleich die vielen Übel in der Welt, – so jetzt auch die Corona-Epidemie, ver-einbar sein können.

Wie ist mit dieser Schwierigkeit, die Theologen seit jeher sich den Kopf zerbre-chen lässt, umzugehen? Ich meine so, dass wir erstens uns eben dies noch ein-mal klarmachen: Gott ist kein verursachendes Prinzip, mit dem unser nach kau-salen Erklärungen suchender (wissenschaftlicher) Verstand arbeiten kann. Auf die Frage, „warum kann Gott das zulassen?“, gibt es keine ebenso einfache wie plausible Antwort. Zweitens führt uns diese Schwierigkeit aber auch dazu, die Transzendenz Gottes als des Urhebers von allem, streng und groß genug und d.h. ins Unendliche hinein zu denken. Gott ist als der Schöpfer von Himmels und Erde der unbedingte Grund des Universums und damit der Einheit von al-lem. Als solcher steht er aber nicht unter den Bedingungen, unter denen wir ihn denken und seine Allwirksamkeit auf die Erfahrungen, die wir mit uns selbst und mit der Welt machen, zu beziehen versuchen. Das bringen wir zum Aus-druck, wenn wir von der „Unerforschlichkeit“ der Wege Gottes sprechen oder mit Jesaja 55,8f. uns an das Gotteswort erinnern: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege hö-her als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“

Wenn wir also Gott mit den Übeln in dieser Welt in Zusammenhang bringen, so jetzt z.B. mit dem Corona-Virus, dann sollten wir das nicht mit dem Anspruch verbinden, eine Antwort auf die Warum-Frage zu bekommen. Das würde ja nur bedeuten, dass wir uns Gott und die Motive seines Handelns nach unseren Vor-stellungen und Erklärungsmöglichkeiten zurechtlegen. Vielfach ist man ja so verfahren und tut das manchmal heute noch. Dann wird z.B. gesagt, dass das Übel, eine Krankheit, ein Erdbeben usw. Gottes Strafe für ein sündhaftes Fehl-verhalten der Menschen seien. Das geht so aber nicht, weil es Gott unseren be-grenzten Maßstäben des Denkens und Urteilen unterwirft.

Von Gott zu reden, heißt, vom Glauben an ihn zu reden. Damit bewegen wir uns in einer religiösen Weltdeutung, die ebenso zu unserem vernünftigen Weltzu-gang gehört, aber von dem der Naturwissenschaft, des Recht, der Wirtschaft, der Kunst usw. verschieden ist. Die religiöse Weltdeutung erklärt uns die Welt nicht, aber sie öffnet uns die Augen dafür, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht, dass wir nach dem Sinn fragen, ihn aber nie ganz zu fassen be-kommen.

Gott ist kein Prinzip, um die Welt zu erklären, sondern eine gute Idee, mit der wir Menschen unser vernunftbegabtes menschliches Leben in dieser Welt gera-de in seiner Kontingenzanfälligkeit und Unbegreiflichkeit verstehen, uns dazu verhalten können, dass wir des Insgesamt der Bedingungen unseres Daseins nicht selbst mächtig sind. Dennoch sind wir immer schon auf Verstehen ausge-richtet, auf ein Verstehen unserer selbst, ein Verstehen der Welt und unseres Da-seins in ihr. Keiner lebt einfach so dahin. Jeder hat zumindest die Möglichkeit, hin und wieder innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Wo will ich eigentlich hin? Was ist der Sinn meines Lebens?

Hier hat die Gottesfrage ihren Sitz im Leben, bei der Frage nach dessen Sinn. Zur Erklärung der Welt brauchen wir Gott schon lange nicht mehr. Diese Auf-gabe haben die Wissenschaften übernommen, die, wenn sie vernünftig sind, dar-auf verzichten, hypothetisch Gott dort einzusetzen, wo eine rationale Erklärung (noch) nicht möglich ist. Auch für das Corona Virus wird ein Impfstoff gefun-den werden, mit dem dann auch die durch dieses Virus verursachte Krankheit erfolgreich bekämpft werden kann.

Was aber bleibt und seit jeher so war, das ist zum einen die Angst vor der unbe-rechenbaren Lebensgefahr, zum anderen aber auch der unerschütterliche Mut, ihr zu widerstehen. Beides resultiert aus unserer Vernunft. Die Angst kommt daher, dass wir uns unserer Begrenztheit, Endlichkeit und Kontingenzanfällig-keit bewusstwerden. Der Mut wiederum kommt aus dem Vertrauen darauf, dass das Leben seinen Sinn – trotz alles Bösen und Schlimmen, das dagegenspricht – in sich selbst trägt. Dieser „Mut zum Sein“, von dem auch Paul Tillich sprach, stellt sich der Angst entgegen und mobilisiert alle verfügbaren Kräfte, für die Förderung des allgemeinen Wohls zu arbeiten.

Dass unser Leben einen Sinn hat, ist nichts, wovon wir ein Wissen haben. Aber die Ahnung, dass es so sein könnte, kommt in uns auf, sobald wir merken, dass wir nach dem Sinn gar nicht fragen würden, wenn wir nicht schon im Sinn wä-ren und ihn mit allen unseren Sinnen, mit jedem Atemzug gleichsam, erfahren würden. Diesen Sinn, in dem wir immer schon sind und den wir doch nicht zu fassen bekommen, nennen wir Gott. Gott ist der unbegreifliche Sinn des Gan-zen, Sinngrund wie Sinnabgrund.

Wir sehen immer noch fassungslos auf das Schreckliche, das geschieht und er-schrecken vor den Übeln und dem Bösen in der Welt. Aber im Vertrauen auf Gott wird zugleich doch immer auch das andere möglich, dem Zweifel und der Verzweiflung ein trotziges Dennoch des Mutes und der Hoffnung entgegenzu-setzen.

2.
Wenn man durch vernünftige Überlegungen „trotzdem“ an der Überzeugung festhält: Diese unsere Welt ist zwar unvollkommen, aber die Frage nach Gott lässt sich nicht verdrängen, „totkriegen“, könnte man drastisch sagen: Dann müssen wohl aufgrund dieser unabweisbaren Frage „Spuren“ des Göttlichen, des Ewigen, in der Seele und der Vernunft der Menschen doch „vorhanden“ sein. Und dann bleibt die Frage richtig und sinnvoll: Bietet auch die Vernunft einen Weg, Gott wahrzunehmen und zu verehren?

Die Spuren des Göttlichen sind in uns vorhanden. Vorhanden in uns ist der gött-liche Sinngrund unseres Lebens, als Ahnung gewissermaßen. Vernünftige Ein-sicht kann uns insofern durchaus dazu bringen, auch den Gottesgedanken als vernünftig zu betrachten. Dazu können Menschen sogar dann bereit sein – und sind es häufig –, die sich als Atheisten betrachten. Auch ohne selbst an Gott zu glauben, ist es möglich, dessen wichtige Bedeutung für das menschliche Leben einzusehen. An Gott zu glauben ist demgegenüber ein existentieller Vollzug, mit dem ein Mensch bewusst sich dazu bekennt, dass er auf den Sinn des Ganzen vertraut – auch noch gegen den Augenschein und alle Erfahrung.

Vielleicht kann man es aber auch so sagen: Durch vernünftiges Nachdenken kommt man dahin, zu sagen, es ist durchaus sinnvoll, einen Gott als den unbe-greiflichen Sinn des Ganzen von Welt und Leben zu setzen, weil nur dann, wenn das Ganze überhaupt einen Sinn hat (über unser Verstehen hinaus), auch allem anderen, um das wir uns bemühen und für das wir uns einsetzen, ein Sinn zu-kommt, d.h. den Einsatz wirklich lohnt. Etwas Anderes ist es demgegenüber, dem Gott sich persönlich anzuvertrauen, von ihm alles zu erwarten (auch dann, wenn ich es nicht verstehe und mit seiner Liebe nicht zusammenbringe, wie jetzt gerade die Corona-Epidemie) – und gerade daraus die Energie zum vernünftigen Denken und Handeln zu gewinnen.

3.
Nun werden verschiedene Menschen eben auch verschiedene Begriffe und Bil-der von ihrem Gott entwickeln und darstellen. Welchen Sinn macht es dann, sich bei dieser Vielfalt zwischen „wahren“ und „falschen“ Gottesbegriffen und Got-tesbildern zu unterscheiden? Kann das Kriterium für eine Unterscheidung aus einer bestimmten Theologie stammen? Oder sollte das Kriterium nicht aus einem emphatischen Begriff der Vernunft – im Sinne der umfassenden Menschlichkeit – kommen?

Da wir Menschen es sind, die Gott setzen, Gott denken, sich Gott vorstellen, an Gott glauben, sind wir insofern immer mit unserer Individualität im Spiel. Ent-sprechend differieren die Gottesbilder. Vernünftigerweise müssen wir uns aller-dings auch klarmachen, dass Bilder von Gott Bilder von dem sind, wovon wir uns im Grunde kein Bild machen können. Bilder zeigen immer etwas im Unter-schied zu anderem, das sie nicht zeigen. Das passt insofern nicht zu Gott, mit dem wir den unbegreiflichen Sinn des Ganzen, das Unbedingten, Unendliche, das Allumfassende, Alleine meinen.

Im Wissen um die Uneigentlichkeit unseres gegenständlichen Redens von Gott kommen wir dennoch nicht umhin, dabei immer auch Vorstellungen von ihm aufzurufen. Außerdem ist es die Leistung der Religionen, Erzählungen von ih-rem Gott zu überliefern und so sein Bild im Wandel dieser Überlieferungen in dessen ganzer Vielfältigkeit zu entwerfen.

Eine vernünftige, rationale Theologie, die die religiösen Überlieferungen histo-risch-kritisch zu verstehen versucht und zudem alle Gottesbilder als menschliche Konstruktionen aus ihrem „Sitz im Leben“ heraus rekonstruiert, braucht ein transreligiöses Kriterium, um über deren „Wahrheit“ zu entscheiden. So ist es heute auch, dass wir, wie Sie richtig sagen, es nicht mehr einer bestimmten posi-tionellen Theologie überlassen, über richtig oder falsch in den Angelegenheiten von Gottesbildern zu entscheiden. Maßgeblich ist jetzt, ob sich Gottesbilder als lebensdienlich erweisen und mit dem übereinstimmen, woran sich die vernünfti-ge, d.h. universal gültige Moral der „Menschenrechte“ orientiert. Entscheidend sind ethische Kriterien, oder eben die Frage, ob es sich um einen Gott handelt, der Menschen guttut, ihrer begründeten Existenzangst zum Trotz, den „Mut zum Sein“ (Tillich) stärkt, ihnen hilft, sich „zu bejahen als bejaht“ (Tillich).

4.
Ist der lebenspraktische Ort der Vernunft des Menschen vorrangig im Gewissen zu finden? Was wahr und falsch ist, gut und böse, „spricht“ doch dort?

Wenn es um wahr oder falsch, um gut oder böse geht, ist rationale Begründung bzw. unser moralisches Urteil gefordert. Die Entscheidungsmacht fällt insofern in unsere menschliche Vernunft. Ebenso gilt für ethische Normen: Wenn sie uns nicht von außen auferlegt sind, wir insofern ihnen nur folgen, weil wir dazu ge-zwungen werden, dürften wir dies kaum als ein moralisches Verhalten bezeich-nen. Im guten Willen hat das gute und verantwortliche Tun seinen anthropologischen Ort. Im Wollen des Guten hören wir auch das Gewissen sprechen. Es sagt uns, was wir, sofern wir zu uns selbst sollen stehen können, wollen sollen. Wenn wir es dann doch nicht tun, befällt uns daher das schlechte Gewissen.

Insofern ist es richtig zu sagen, dass der praktische, die je eigene Lebenspraxis mitbestimmende Ort der Vernunft das Gewissen ist – auch wenn natürlich eben-so zu sehen ist, dass wir keineswegs ständig in ethisch relevanten Gewissensent-scheidungen stehen.

5.
Wenn im Gewissen und seiner vernünftigen Prüfung sozusagen auch Gott spricht und das Handeln bestimmt wird: Dann ist alle Ethik, die sich unmittel-bar aus dem Buch der Bibel ableiten will, doch eher an eine zweite Position zu setzen. Mit anderen Worten: Ist auch die Ethik der Christen zuerst und vor allem vernünftige, allgemein menschliche Ethik?

Ob Gott aus unserem Gewissen spricht ist noch einmal eine andere Frage. Zu-nächst einmal ist, wie gesagt, das Gewissen die Stimme unserer praktischen Vernunft. Die Stimme des Gewissens spricht auch dort, wo einem Menschen weder die vernunftgeleitete Gottesahnung aufkommt, noch gar an Gott geglaubt wird. Zu behaupten, ohne Gott gebe es keine Moral, ist unsinnig.

Lieber Herr Modehn, Sie nehmen mit ihrer Frage bezeichnenderweise auch auf das manchmal geübte Verfahren Bezug, ethische Kriterien aus der Bibel abzu-leiten. Es verweist auf diese andere Spur, die ebenfalls zur Religion gehört und der zu folgen ist, wenn wir verstehen wollen, wie die Religion zu einer bestimmten Moral führt, auf die ihre Anhänger sich verpflichtet wissen. Eine Religions-gemeinschaft lebt nie nur von der Vernunft der Religion, sondern immer auch von der Autorität Heiliger Schriften, von den darin von Gott offenbarten Ver-heißungen und Geboten.

Eine rationale Theologie, der wir hier gefolgt sind, betrachtet die der Heiligen Schrift der Christen zugehörenden Gottesgebote als moralische Intuitionen, de-ren Geltungsanspruch sich daran bemisst, inwieweit sie uns als lebensdienlich einleuchten bzw. mit den auf der Achtung vor der Menschenwürde jedes Einzel-nen aufbauenden „Menschenrechten“ übereinstimmen. Sie müssen sich als sinn-volle Normen einer für alle Menschen gültigen Ethik darstellen lassen – was zumeist aber auch möglich ist.

Copyright: Prof. Dr. Wilhelm Gräb, Theologe in Berlin und Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Paulus – der Apostel und „Initiator des Christentums“.

Über das Buch des „liberalen Theologen“ Martin Werner
Ein Hinweis von Christian Modehn

An einen Theologen soll erinnert werden, der die „liberale Theologie“ förderte und als Professor für systematische Theologie
in Bern lehrte; der mit dem „dialektischen Theologen“ dort, Karl Barth, erwartungsgemäß seinen Streit hatte; der mit Albert Schweitzer befreundet war; und der ein weites, auch gesellschaftspolitisches Engagement übte; zahlreiche Studien hat er veröffentlichtet: Aber heute ist er ziemlich in Vergessenheit gerate: Martin Werner ist sein Name. Er lebte von 1887 bis 1964. Karl Barth starb vier Jahre später: Wenn Barth noch vielen heute als ein „Zeitgenosse“ gilt, dann sollte diese Qualität auch Martin Werner zugesprochen werden.
Es ist das große Verdienst von Jochen Streiter, Pfarrer emeritus in Wuppertal, dass er eine leicht lesbare, eher knappe Studie Martin Werners über den Apostel Paulus zugänglich macht. Erschienen ist das Buch unter dem Titel „Wer war der Apostel Paulus?“ im Verlag Traugott Bautz in Nordhausen.

Warum ist die Gestalt, vor allem die Lehre und die theologische Erkenntnis des Apostels Paulus für alle religiös und weltanschaulich Interessierten, also nicht nur „Kirchgänger“, von besonderem Interesse? Weil Paulus in der Pluralität frühchristlicher Autoren (im vielfältigen Buch „Neues Testament“ versammelt) eine besondere Rolle spielt: Der früheste Text des Neuen Testaments stammt von dem aus dem Judentum konvertierten Paulus, es ist der 1. Thessalonicher-Brief aus dem Jahre 51. Paulus wird darüber hinaus sehr zu recht als der eigentliche Initiator der christlichen Kirche angesehen, der Kirche als einer pluralen Gemeinschaft, die aber im Bekenntnis zu Jesus als dem Christus eine immer umstrittene Einheit fand und sich deswegen vom Judentum trennte (und dieses vom Christentum). „Ohne Paulus keine Kirche“: Diese populäre Aussage ist sicher treffend!

Von den sieben Kapiteln der Studie sind meines Erachtens die letzten beiden Kapitel besonders lesenswert: In „Zur Eigenart des Christusglaubens des Paulus“ (S. 65 ff) fällt auf: Martin Werner will die Aussagen über Paulus (auch seine Reden) in de, neutestamentlichen Text „Apostelgeschichte“ in den Hintergrund stellen. Dabei nimmt Werner zum Dialog des Paulus auf dem Areopag etwas ausführlicher Stellung und weist dabei auf einen Übersetzungsfehler hin: Denn Paulus spricht dort von DEM unbekannten Gott, tatsächlich aber hätte es dort eine Statue gegeben für DIE unbekannten Göttern, was ja nahe liegender ist in der damaligen Kultur. Ich finde die Relativierung der Areopag-Rede des Paulus durch den Autor schade, weil darin so wunderbar und philosophisch so treffend (von Hegel und Meister Eckart heftig unterstützt) davon die Rede ist: dass Menschen „göttlichen Geschlechts“ sind, d.h. schlicht gesagt und gar nicht größenwahnsinnig: In einer Einheit mit Gott/dem Göttlichen verbunden sind. Aber dieser Gedanke (von dem griechischen Dichter der Stoa ARATOS (S. 66) angestoßen, gefällt dann dem „liberalen Theologen“ doch nicht so ganz…Werner spricht hingegen von dem „wirklichen Paulus“, der ja philosophisch sehr gebildet war, aber dann als Christ alle Weltweisheit (Philosophie) verachtete. Aber den Glauben dann doch als Weisheit definierte, als DIE Weisheit zwar. Später werden Kirchenväter“ treffend sagen: Das Christentum ist eine unter vielen philosophischen Schulen…Nebenbei: Die „Apostelgeschichte“ spricht ausdrücklich davon, dass Paulus, nachdem er aus der Synagoge in Ephesus rausgeschmissen wurde, Zuflucht fand im Hause des dortigen Philosophen Tyrannus, der ihm seine Vorträge seiner speziellen Weisheit gestatte. Philosophen waren großzügig gegenüber Christen…
Man sieht, wie unterschiedlich die früheste Kirche mit dem Christentum als einer (von vielen) Weltweisheit(en) umging…

Aber entscheidend ist die Erkenntnis des Apostels Paulus: Mit dem Tod und der Auferstehung Christi hat eine neue Zeit, eine neue Epoche,, begonnen: Damit meint Paulus auch, so Martin Werner, die Gültigkeit der Gesetzgebung Israels sei auch „beendet“ (S: 69). „Das mosaische Recht wird einfach gegenstandslos…“ (S. 71). Diese neue, ganz andere Zeit ist von außen betrachtet noch unsichtbar; für den vom Geist erfüllten Menschen jedoch eine spürbare Realität. Denn in der neuen Welt gibt es weder „Juden noch Griechen“. Paulus betont die prinzipielle Einheit der Menschheit, auch die gleiche Würde aller Menschen. Weil Paulus aber persönlich so sehr von der alsbaldigen Wiederkunft Christi überzeugt war, glaubte er nicht so recht an die Notwendigkeit einer praktischen Umsetzung dieser „Gleichheits-Erkenntnis“ im politischen und sozialen Bereich. Paulus deutete die gegenwärtige Lebenszeit als „Aufenthalt in einem Provisorium“ (S. 75), also als Zwischenstation zwischen der alten Welt und der kommenden. „Provisorium“ deutet Werner „wie ein auf Abbruch verkauftes Haus“ (S. 76). Leider fehlt der Hinweis, dass sich die Kirchen seit dem 4. Jahrhundert von dem Selbstverständnis verabschiedet haben, selbst nur Provisorium zu sein…Man schaue sich die hiesigen Kirchenverwaltungen an, da ist von Provisorium nichts aber auch gar nichts zu spüren. Lediglich der Gründer von Taizé, Roger Schutz, sprach von der Kirche und seinem Kloster als „Provisorium“, als „Zelt“. Aber das ist ein anderes Thema: Die Entfernung der Kirche(nbürokratie) vom Ursprung…

Mit Gewinn (weil Erkenntnisse wie auch Fragen lebendig werden) wird man auch das letzte Kapitel lesen „Die Bedeutung des paulinischen Christusglaubens für uns“(S. 78 ff). Am Beispiel des Umgangs mit der Sklaverei zeigt Werner, dass Paulus auch in das populäre Denken seiner Zeit eingebunden war und deswegen nicht explizit forderte, die Sklaverei als solche abzuschaffen. Vor allem aber war er wegen seiner Überzeugung von der alsbaldigen Wiederkunft des Auferstandenen Christus gar nicht so motiviert, etwa die Abschaffung der Sklaverei zu fordern. Heute müssen Christen damit umgehen, dass Paulus ein ganz anderes Zeitverständnis im Sinne des bevorstehenden Welten-Endes hatte. Wenn auch heute der Gedanke lebt, dass Menschen durch ihr Tun bzw. Unterlassen (Ökologie, Kriegsverhinderung, Atombomben etc.) das Ende dieser Welt bewirken können.
Ganz entscheidend – auch philosophisch interessant – ist der paulinische Gottesbegriff: „Gott ist Geist“, sagt Paulus deutlich mehrfach. Und wo dieser göttliche Geist IM Menschen lebt, ist auch der Geist der Freiheit lebendig: Denn der Geist weiß sich selbst und will in dem anderen, der Natur, der Gesellschaft, den Menschen, ebenfalls den Geist spüren, als auch dort „bei sich“ sein, also frei, nicht abhängig und fremdbestimmt sein. Und das ist elementar Freiheit. Denn Gott ist, wie Werner sagt, „göttliche Schöpfermacht als Geist“ (S. 89). Es ist also in der Schöpfung der Welt Geist, Gottes Geist, immer schon anwesend. Der Mensch befindet sich also mit seinem Geist nicht in einer fremden, sondern in einer geistvollen Welt.

Ich finde es gut und treffend, dass klassische „orthodoxe“ und kirchenamtlich beinahe übliche „Topoi“ wie das Sühneopfer Christi oder Rechtfertigung des Sünders durch Christi Blut usw. von Martin Werner gar nicht erwähnt werden. Bei ihm herrscht ein anderes Denken, das sich mit den genannten mythologischen Bildern besser gar nicht erst befasst. „Liberale Theologie“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie noch so häufig zitierte Topoi der sich orthodox nennenden Kirche und ihrer Theologie eben auch guten Gewissens beiseite lässt! Das ist eine Befreiung.

Der Herausgeber des Buches, Jochen Streiter, hat im Anhang eine biographische Skizze zu Martin Werner geschrieben, er zeichnet dessen theologischen Schwerpunkt nach und bietet eine Liste der zahlreichen anderen Veröffentlichungen.
Dies ist ein lesenswertes, auch für den Dialog in Gruppen, geeignetes Buch!

Martin Werner, „Wer war der Apostel Paulus?“, Verlag Traugott Bautz, 2018, 102 Seiten, broschiert, 10 EURO.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ernesto Cardenal gestorben: Der Poet, Mönch, Priester, Politiker ist am 1.3. 2020 in Managua, Nicaragua, gestorben.

Hinweise von Christian Modehn

In die sich auch in Deutschland bildende Trauergemeinde reiht sich auch der „Haupt-Geschäftsführer“ des katholischen Hilfswerkes für Lateinamerika „ADVENIAT“ (Essen) ein.
Pater Michael Heinz svd schreibt in einer knappen offiziellen Erklärung: „Mit dem Tod von Ernesto Cardenal verlieren wir einen bedeutenden Fürsprecher und Anwalt der Armen. Mit ihm ist eine einflussreiche Stimme für Frieden und Gerechtigkeit in Lateinamerika verstummt.“ „Völlig verstummt“ ist Cardenal, wie alle großen Poeten, sicher nicht; seine Werke, seine Bücher, stehen nach wie vor zur Lektüre auch auf Deutsch bereit.
Bedenklicher, wenn nicht gar zynisch, ist die Formulierung von Pater Heinz: „…verlieren wir“… Wer ist dieses „Wir“: Offenbar auch das katholische Hilfswerk Adveniat? Es ist wohl so, dass die heutigen Verantwortlichen von „Adveniat“ jetzt Ernesto Cardenal als einen der „ihren“ betrachten.
Aber bei so viel Vereinnahmung des Dichters, Priesters, Kulturministers und Befreiungstheologen durch „Adveniat“ heute wäre es dringend geboten gewesen: Zu erinnern, wie dieses Hilfswerk für Lateinamerika früher den Aufstand, die Revolution in Nikaragua gegen den Diktator Somoza bewertet hat. Vor allem, wie Adveniat“ dann mit seinem tatsächlich hoch umstrittenen „Studienkreis Kirche und Befreiung“ unter der Leitung des Adveniat-Chefs damals, Bischof Franz Hengsbach, Befreiungstheologen wie Ernsto Cardenal pauschal und dumm als „Kommunisten“ schlecht zu machen versuchte und mit allen Mitteln der Medien (auch dann mit Hilfe der Reagan-Regierung) verteufelte. Das ist alles bekannt und wissenschaftlich nachgewiesen und dokumentiert worden!

Man lese etwa in der Zeitschrift der Jesuiten „ORIENTIERUNG“ (Zürich) von Ende Dezember 1977 nach, LINK, wie es heftige, aber wirkungslose Proteste vonseiten prominenter Theologen in Deutschland gegen diese Verbindung von „Adveniat“ mit den reaktionären katholischen Kräften in Lateinamerika gab. Bischof Hengsbach, Adveniat-Chef, ließ es bekanntlich auch nicht nehmen, vom bolivianischen Diktator Banzer eine hohe Ehrung entgegen zu nehmen usw…

Es hätte anlässlich des Todes von Ernsto Cardenal den „Geschäftsführern“ und „Hauptgeschäftsführern“ von Adveniat gut getan, sich für diese mit viel Spenden-Geldern betriebene Campagne gegen die Befreiungstheologen – auch gegen Ernesto Cardenal – zu entschuldigen. Dass dem Priester Ernesto Cardenal 1985 die Ausübung des priesterlichen Amtes verboten wurde in einer gemeinsamen Aktion von Papst Johannes Paul II. mit dem erklärten Gegner der Befreiungstheologen Kardinal Joseph Ratzinger (Chef der Glaubenskongregation) ist bekannt. Priester, die in Polen das kommunistische Regime kritisierten, wurden auch finanziell kirchlich sehr deutlich unterstützt. Priester, die das Elend des armen Volkes in Nicaragua endlich beseitigen halfen, wie Ernsto Crdenal, wurden vom Vatikan bestraft, lächerlich gemacht und verunglimpft, isoliert.

Heute ist es allen katholischen Führern in Nicaragua peinlich, dass ausgerechnet der damals größte Feind Cardenals, Erzbischof Obando von Managua, den heutigen Diktator Daniel Ortega ins Präsidentenamt gehieft hat. Warum? Weil Daniel Ortega dem Kardinal im Falle seiner Wahl versprach, ein totales Verbot der Abtreibung in Nicaragua zu betreiben. Das tat dann Ortega auch als Präsident sofort. Nebenbei: Bekanntlich ist der absolute Schutz des ungeborenen Lebens vielen katholischen Führern bis heute absolut wichtiger als der Schutz des geborenen Lebens.

Dass sich Cardenal von dem einstigen revolutionären Führer und heutigen Diktator Ortega deutlich distanzierte, hat sich allgemein herumgesprochen.
im Peter Hammer Verlag, Wuppertal, sind viele Werke Cardenals noch zu “haben”. Dass Cardenal eng mit dem Mystiker Thomas MERTON verbunden war, kann hier nur erwähnt werden. LINK.
Kurzum: Etwaa mehr Selbstkritik hätte den Geschäftsführern von Adveniat jetzt gut getan, haben sie Angst vor Spenden-Einbußen?

Ein Lektüre-Tipp in dem Zusammenhang: “Wer tötete Erzbischof Romero? Klicken Sie hier.

PS.: Ich habe am 23. 11. 1975, S. 373, einen etwas längeren Beitrag über Ernesto Cardenal “Mönch – Dichter – Revolutionär” in der katholischen Wochenzeitung des Herder Verlages “Christ in der Gegenwart” veröffentlichen “können”, muss ich sagen, dank der eher “liberalen” Haltung des Chefredakteurs Manfred Plate.
Und dann noch am 25.2.1979 einen zweiten Beitrag “Den Stacheldraht zerschneiden”, ebenfalls in “Christ in der Gegenwart”, S. 65 f. Freiburg i.Br.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Die Affäre Dreyfus“: “Intrige”. Der neue Film von Roman Polanski und der katholische Antisemitismus.

Ein Hinweis von Christian Modehn zu dem Film von Roman Polanski “J´accuse” (“Ich klage an”).
1.
Der neue Film Roman Polanskis über den „Fall Dreyfus“ bzw. die “Affäre Dreyfus”, hat in Deutschland den Titel „Intrige“.
Um die kriminellen Machenschaften der höchsten Mitglieder des Militärs und unter führenden Politikern geht es ja auch: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wird 1894 in Paris des Landesverrates angeklagt, zu Unrecht verurteilt und in die totale Isolation auf die Teufelsinsel in Guyana verbannt.
Die Verurteilung ist einzig und allein Ausdruck des populären Antisemitismus, der weiteste Kreise der französischen Gesellschaft und des Staates zersetzte. Die französische Gesellschaft ist tief gespalten in leidenschaftliche, irrationale ANTI-Dreyfusianer und die eher kleine Gruppe der Vernünftigen. Die Republikaner haben im Unterschied zu den reaktionären Kreisen nicht vergessen, dass durch die Französische Revolution den Juden die Bürgerrechte zugesprochen wurden. Dieses „Dreyfus-Trauma“ wirkt bis heute. Unter (katholischen) Traditionalisten (etwa Anhängern Bischof Lefèbvres) und Rechtsradikalen ist Antisemitismus bis heute eine Realität, auch wenn sie sich heute nach außen hin als Israel-Freunde geben, aus dem einzigen Grund, um ihren Hass auf “den” Islam dadurch abzuschwächen.
2.
Nach der Verurteilung von Dreyfus wird Oberst Marie-Georges Picquart zum Chef der „Gegenspionage“ ernannt: Er entdeckt im Laufe seiner Recherchen, dass Alfred Dreyfus einzig, weil er Jude ist, verurteilt wurde. Picquart ist von der Unschuld von Dreyfus überzeugt. Er wird zu einem entschiedenen Vorkämpfer der Gerechtigkeit in diesem „Fall“. Um ihn, den Oberst, der nicht blind gehorcht, sondern seinem Gewissen folgt, dreht sich der Film.
3.
Der damals allmächtig herrschende Antisemitismus wird in dem Film allerdings nicht weiter analysiert, er wird nur als Faktum dargestellt: Die aufgehetzten grölenden Massen, die Verbrennung der kritischen Zeitung „LAurore“, das Beschmieren jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen, die Gerichte, die sich vom Antisemitismus leiten lassen…
Für religionsphilosophisch und theologisch Interessierte ist wichtig: Der Judenhass in Frankreich wird von der katholischen Kirche und ihrer maßgeblichen Presse verbreitet und geradezu leidenschaftlich, unverschämt in den Aussagen, gefördert. Es hätte dem Film gut getan, wenn auf diese klerikalen Wurzeln des Antisemitismus wenigstens hingewiesen worden wäre. Denn Dreyfus ist auch ein Opfer des damals vorherrschenden katholisch befeuerten allgemeinen Antisemitismus.
Das Zentralorgan des katholischen Antisemitismus ist die katholische Tageszeitung LA CROIX (Das Kreuz) in Paris: Sie gehört zum großen Verlagshaus „La bonne presse“, „Die gute Presse“, ein sehr merkwürdiger Titel: Denn „gut“ galt auch das, was antisemitisch war. Antirepublikanisch, gegen die Laicité, die Trennung von Staat und Kirche, war das Verlagshaus allemal. Es gehörte (und gehört) dem französischen Augustinerorden, der sich „Augustiner von der Himmelfahrt (Mariens)“, „Assomption“, nennt.
Über den Antisemitismus, den die Tageszeitung La Croix vor allem seit 1884 verbreitete, sind inzwischen Studien von Historikern erschienen, etwa „La Croix et les juifs“, von Pierre Sorlin, Paris 1967). Aber auch der Orden selbst hat sich – spät – seiner dunklen Geschichte gestellt. Zum Beispiel im Jahr 1998: Da hat der Augustiner und La-Croix Chefredakteur Michel Kubler ausdrücklich die Schuld eingestanden, die Schuld an den jüdischen Mitbürgern. (La Croix, Ausgabe vom 12.1.1998)
4.
Es lohnt sich aber, einige Details dieses damals üblichen, stark katholisch geprägten Antisemitismus zu nennen:
Seit 1884 wird die Feindschaft gegenüber den Juden in La Croix immer größer, dies zeigt die Studie von Pierre Sorlin. Die offizielle päpstliche Verurteilung der „Freimauerei“ im Jahr 1884 hat den Antisemitismus noch einmal befeuert, weil „man“ glaubte: Die als böse geltende Freimaurerei sei wesentlich mit dem Judentum verbunden. Ab 1889 wurde der katholische Antisemitismus noch heftiger, weil die Wirtschafts- und Finanzkrise in dem Jahr einen „Sündenbock“ brauchte und üble pauschale Verdächtigungen verbreitet wurden, so etwa: Die ganze Presse befinde sich in den Händen der Juden. La Croix rühmt sich ganz unverschämt: „Diese Zeitung ist die am meisten antijüdische Zeitung Frankreichs“, so in der Ausgabe vom 30.9.1890. Wie richtig diese Selbsteinschätzung leider ist: Die Karikaturen allein sind eine Schande! Das Verlagshaus „Bonne Presse“, „Gute Presse“, erreicht in der Zeit mindestens 500.000 Leser, das sind viele mehr, als der Erzantisemit Edouard Drumont mit seiner Zeitung „Libre Parole“ erreichte.
5.
“La Croix” hat die heftige antisemitische Hetze seit etwa 1930 aufgegeben. Und „La Croix“ gilt seit 1960 für weite Kreise als seriöse, und gar nicht so klerikale Tageszeitung, wenn auch die Bindung an die offizielle katholische Lehre eine Rolle spielt. Ausdruck für eine gewisse allgemeine Wertschätzung auch außerhalb der Kirchenkreise ist z.B. die Jahre lange regelmäßige Mitarbeit des bekannten Politologen Alfred Grosser, Paris. Pater Michel Kubler, „La Croix“ Chef-Redakteur, bittet in seinem genannten Beitrag um Verzeihung für den antisemitischen Wahn, den die Zeitung seines Ordens verbreitet hat – vornehmlich im Falle Dreyfus: „Keine Person und auch keine christliche Gemeinschaft hat Zukunft, solange sie das jüdische Volk zurückweist, aus dem ja die Christenheit geboren wurde“.
6.
Oberst Marie-Georges Picquart (1854-1914) entstammte einer streng katholisch orientierten Familie aus Strasbourg. Er selbst hat schon als junger Erwachsener die Bindung an die Kirche aufgegeben. Als Oberst sagt er – im Film von Roman Polansky- zu dem bedrängten Hauptmann Dreyfus sinngemäß: „Ich bin zwar kein Freund der Juden. Aber ich will, dass man sie gerecht behandelt“. Eine zwiespältige Haltung gewiss, aber immerhin konnte er in dieser Einstellung die große Intrige aufdecken. Und Dreyfus -spät zwar – aber “immerhin” retten und rehabilitieren.
Aber Respekt und Anerkennung sind die menschlichen Haltungen, die den Antisemitismus einschränken und hoffentlich überwinden.
Auch die große Bedeutung, die der Schriftsteller Emile Zola für die Rehabilitieung von Dreyfus spielt, angesprochen, vielleich zu kurz. “J´ accuse” ist der Titel seines leidenschaftlichen Protestes gegen das Urteil in der Tageszeitung “L Aurore” (am 13. Januar 1898). Zola wird verurteilt, er kann nach England fliehen.
Erst am 12. Juli 1906 wird Alfred Dreyfus offiziell rehabilitiert, er wird zum “Ritter der Ehrenlegion” ernannt und als Major wieder in das Heer aufgenommen. Und Picquart wird 1906 von Ministerpräsident Clemenceau zum Kriegsminister ernannt…

7. PS.: Die katholische Tageszeitung „La Croix“ lobt ausdrücklich den Film von Roman Polanski „J accuse“ („Intrige“) in ihrer Ausgabe vom 12.11.2019. Die Zeitung La Croix hat heute eine Auflage von 95.000 Exemplaren. Die Tageszeitung Libération: 92.000, die Tageszeitung Le Monde 316.000.

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