Wenn der Klerus die Gläubigen vertreibt. Der Zusammenbruch der katholischen Kirche in Frankreich heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Vorwort 1:
Eine bestimmte Kultur verschwindet in Europa: Die von den Kirchen, zumal der katholischen Kirche, geprägte Kultur. Das Verschwinden wird sichtbar nicht nur am Umgang mit „nicht mehr verwendbaren Kirchen-Gebäuden“, auch am Mangel an „klerikalem Personal“, an der Vergreisung des Klerus, dem Zusammenschluss vieler Gemeinden zu einer einzigen anonymen, so genannten „Groß-Gemeinde“, sondern vor allem im systematischen Abschied („Austritt“) vieler (einst?) religiöser Menschen (Kirchenmitglieder). In den letzten Jahren vertreibt der geradezu massenhafte sexuelle Missbrauch durch angeblich zölibatäre Kletiker, auch Bischöfe, die Gläubigen. Sie können und wollen einem Kirchensystem nicht mehr vertrauen, das total von diesem Klerus beherrscht wird.

Dieser Trend wird seit Jahrzehnten dokumentiert in zahllosen soziologischen Untersuchungen. Unser Thema ist also alles andere als ein „bloß-kirchliches“. Es ist ein Thema des kulturellen Umbruchs. Wohin dieser Abschied von den Kirchen führt, philosophisch: zu welchen neuen Göttern er führt, ist bereits sichtbar: Für die westliche Welt sprach bereits Pasolini vom all-herrschenden Konsumismus…Aber das ist ein anderes Thema.
Die Situation im Nachbarland Frankreich ist dabei besonders erhellend bzw. „dramatisch“, wenn man in einem kirchlichen Werte-System denkt. In Frankreich ist die entsprechende religionssoziologische Forschung seit Jahrzehnten sehr viel umfassender als etwa in Deutschland…

Vorwort 2:
Dieser Beitrag wurde von mir am 15.5.2023 verfasst, und am 26.5.2023 in der Zeitschrift „Publik-Forum“ (Seite 38 f.) veröffentlicht. Unter dem von der Redaktion bestimmten Titel „Die Katastrophen-Kirche“. Dieser Titel wurde durch ein Foto vom verheerenden Brand der Kathedrale Notre Dame de Paris illustriert. Dabei ging es mir nur um den Zusammenhang: Französische Kleriker in ihrer nun öffentlichen, nachweislichen Perversion zerstören diese Kirche, zerstören den katholischen Glauben…natürlich gilt dieses Urteil nur vorausgesetzt, man findet diese (Klerus-)Kirche noch persönlich relevant…
Vorwort 3:
Nach der Veröffentlichung in PUBLIK FORUM Ende Mai 2023 wurden immer mehr Untaten des französischen Klerus freigelegt … und neueste Umfragen dokumentieren weiter den Niedergang des französischen Katholizismus sowie den Trend zu einem konservativen, oft reaktionären frommen Club der „Tradis“, wie man in Frankreich sagt, also der „Traditionalisten“. Der weit gefasste Begriff „Tradis“ bezieht sich auf die Nostalgiker und Verteidiger der alten lateinischen Messe, der hierarchischen Ordnung, des Systems der Dogmen und katholischen Moral. Also der Begriff „Tradi“ ist weiter als der übliche Begriff der Traditionalisten, vertreten durch die Pius-Brüder: Sie folgen explizit zu den Überzeugungen des reaktionären Chefideologen und Konzils-Feindes Erzbischof Marcel Lefèbvre und seiner katholischen Sonder-Gruppe…

Intermezzo:
Wenn der Papst lieber tagelang in die Mongolei reist und nur einen einzigen Tag in Frankreich zu bleibt.
Es erstaunt, dass diese von Krisen zerrissene, theologisch gespaltene, personell völlig ausgelaugte Kirche von Papst Franziskus an einem einzigen Tag, am 23. September 2023, in Marseille, besucht werden wird!……Viele Beobachter schmunzeln heftig, dass Papst Franziskus die 1.300 Katholiken (sic) der Mongolei (3,5 Millionen Einwohner) 5 Tage lang (vom 31.8.bis 4.9.2023) besuchen wird, offenbar will er jedem der dortigen Katholiken persönlich die Hand schütteln etc. Oder er will in der Hauptstadt Ulaanbaatar, also in der Nachbarschaft Russland UND Chinas, seine exklusiv-päpstliche Friedensmission zugunsten der Ukraine (?) starten…
Aber in Frankreich müsste der Papst wohl ein Jahr bleiben, um den Niedergang seiner Kirche dort zu erleben… Mit diesen Worten ist selbstverständlich nichts gegen die Mongolei gesagt…Aber vieles gesagt über die gar nicht so heftigen Interessen des Papstes an Europa, etwa an Frankreich, Deutschland (die causa Woelki!) , die Niederlande usw.

Vorwort 4.
Der folgende Beitrag wird ergänzt durch Hinweise auf neueste Entwicklungen, diese Hinweise sind kursiv gesetzt. Die Fußnoten sind wie üblich als Belege der Authentizität gemeint.

Vorwort 5. Die ganze gegenwärtige Katastrophe wurde schon Ende des 20. Jahrhunderts sichtbar:

Es wird daran erinnert, dass im Jahr 2000 der Priester René Bissey zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde wegen heftigsten sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendichen. Bissey war Priester des Bistum Lisieux-Bayeux. 2001 wurde der dortige Bischof Pierre Pican zu drei Monaten Gefängnis (mit Aufschub, wie es in Frankreich heißt) verurteilt. Der Bischof hatte in vollem Wissen über die “Neigungen” Bisseys diesen immer wieder in andere Pfarrgemeinden versetzt. Der Leiter der päpstlichen “Kleruskommission” in Rom, Kardinal Castrillon Hoyos (aus Kolumbien) lobte explizit Bischof Pican für sein Verhalten! Pican berief sich auf das Beichtgeheimnis (!) als Grund, den Priester Bissey nicht angezeigt zu haben. Und Kardinal Castrillon Hoyos betonte überdies, dass Papst Johannes Paul II. ihn ermächtigt habe, diesen “Gratulationsbrief” an Bischof Pierre Pican zu senden. Es warals auch im Sinne des polnischen Papstes  richtig, dass Kleriker andere Kleriker schützen und deren Untaten vertuschen! (Quelle: Corrdo Augias, Die Geheimniss des Vatikan”, München 2011, S. 447).

Bischof Pican blieb trotz des damals schon heftigen Sklandals bis 2010 Bischof von Lisieux. Pierre Pican (aus dem Salesianerorden) war also munter weiter Teil der Bischofskonferenz, es blieb also alles “ganz normal”, wie gehabt in Kleruskreisen, der als Klerus nur das eine Ziel hat: Sich selbst in seiner über alles und alle erhobenen Sonderrolle zu schützen … und zusammenzuhalten. Die anderen Priester sind doch alle, so die offizielle Sprachregelung in diesen Kreisen, Mit-Brüder…Einen Bruder verrät man doch nicht. Das ist doch auch das Grundgesetz der Mafia…

Vorwort 6.

Der “Aufstand” die “Krawalle”, die Rebellion in Frankreich seit Ende Juni 2023 hat auch die Religionsführer zu Stellungnahmen veranlasst. Der Katholischen Bischofskonferenz fiel bis zum 3.Juli 2023 nichts anderes ein, als ein Gebet zu formulieren: Es soll in den Messen und privat gesprochen werden. LINK.

DER TEXT:
(Der Text, an PUBLIK-Forum übermittelt, vor der redaktionellen Bearbeitung!)
1.
„Die französische Kirche ist die älteste Tochter der Mutterkirche in Rom.“ Das war der Stolz von Frankreichs Katholiken: Diese gotischen Kathedralen, die Wallfahrtsorte, die MystikerInnen und MissionarInnen, man dachte an berühmte katholischen Dichter und Philosophen, an Konzils-Theologen und Arbeiterpriester: Alles galt als Beweis, dass Gottes Geist in dieser Kirche herrscht.
2..
Und jetzt scheint die „älteste Tochter der Kirche“ von guten Geistern verlassen zu sein, sie ist ausgezehrt und abgemagert. Diese Diagnosen stellen Religionssoziologen. Guillaume Cuchet gibt seiner neuesten Studie den Titel: „Hat der Katholizismus noch eine Zukunft in Frankreich?“ (1). Durchaus eine rhetorische Frage. Genauso der aktuelle Titel der Religionssoziologen Danièle Hervieu-Léger und Jean-Louis Schlegel: „Implodiert die Kirche?“ (2). Ihnen sagt eine Religionslehrerin: „Bei uns ist das Christentum am Ende“. Die Katechetin (73 Jahre alt) soll 1.500 SchülerInnen an staatlichen Schulen den Glauben lehren. Nur 11 haben sich angemeldet (3).
3.
Repräsentative Umfragen der Religionssoziologen zeigen ungeschminkt die Realität: 29 % der Franzosen bekennen sich 2023 zur katholischen Kirche, vor 12 Jahren waren es 64 % (4). Die stärkste „Konfession“ bilden jetzt Atheisten und Skeptiker, noch vor den Muslims. An der Sonntagsmesse nehmen regelmäßig 2 % der Gläubigen teil, vor 50 Jahren waren es 16 %. Die Kirche hat bald kein klerikales Personal mehr: Nur 130 Priester wurden 2022 geweiht, 800 sind in dem Jahr gestorben (5). Knapp die Hälfte der Kleriker ist jünger als 75 Jahre. Überleben können die Pfarrgemeinden nur durch den „Import“ von 2.000 Priestern aus Afrika. Auf dem Land versorgt ein Priester 20 Dorfgemeinden, „sie sind nur Mess-Feier-Stationen“ geworden. Priester werden im Stress krank: Eine Studie der Bischofskonferenz zeigt: Viele sind depressiv, Suizid gefährdet, neigen zum Alkoholismus, zur Fettleibigkeit…(6). Nur wenige Laientheologe arbeiten in den Pfarreien, ein angemessenes Gehalt können die Bischöfe nicht zahlen (8). Ohne Kirchensteuer, überlebt die französische Kirche durch Spenden. 650 Millionen Euro standen der ganzen Kirche Frankreichs 2020 zur Verfügung (7). Alle Diözesan-Priester, auch die 118 Bischöfe, erhalten das Einheits-Gehalt von etwa 1.600 Euro, eine Folge der Trennung von Kirchen und Staat. Aber diese „laicité“ wird als „Ausdruck der kirchlichen Freiheit“ von Bischöfen akzeptiert!
4.
Ideologische Angriffe hat die Kirche oft erlebt, jetzt häuft sich der Vandalismus in Gotteshäusern (9). Unklar ist: Sind Islamisten, Verwirrte, Atheisten die Täter? Aber Attacken sind Antworten auf Missstände innerhalb der Kirche! Die aktuelle Krise ist eine „innere Krankheit“, ein Zusammenbruch des „Leibes Christi“, so definiert sich ja der Katholizismus.
5.
Von „schweren Erdbeben“ (10) spricht Danièle Hervieu-Leger. Auf Dauer grundstürzend ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester, aber auch einige Nonnen. Die Studie einer kirchenunabhängigen (!) Kommission unter Leitung des Juristen Jean-Marc Sauvé hat 2021 dokumentiert: Mindestens 216.000 Kinder und Jugendliche wurden seit 1950 Opfer sexueller Gewalt durch etwa 3000 klerikale Täter (11). Die Antwort der Bischofskonferenz? „Das kirchliche System muss repariert werden“. „Reparaturen“ also, keine Reformation! Bis zu 60.000 Euro „Schmerzensgeld“ sollen die Opfer erhalten. Die Kirche könnte bald bankrott sein. Kaum zu heilen ist die Zerstörung des Vertrauens in „den“ Klerus.
6.
Das „Erdbeben“ hat Epizentren. Seit etwa 1980 ließen sich die Bischöfe begeistern von neuen „geistlichen Gemeinschaften“. Sie zeigten als Laien – Initiativen unter klerikaler Aufsicht einen charismatisch – pfingstlerischen Elan, immer freundlich-lächelnd, aber streng römisch. Ihre jungen Priester wandelten in der Soutane predigend an den Badestränden der Cote d` Azur oder sangen als „Missionare” fromme Liedchen auf den Champs-Elysées. Die exzentrischen Titel der Gemeinschaften: „Theophanie“, „Gemeinschaft der Seligpreisungen“, „Offenes Herz“, „Kleine Brüder der Ernte der Barmherzigkeit“, „Emmanuel“ usw…(12).
7.
In ihrer Sehnsucht nach Halt und Autoritäten meinten die Frommen endlich „Seelenführer“ zu haben: Aber viele Begeisterte wurden zu Opfern, missbraucht, erniedrigt von ihren Pères, den klerikalen „Vätern“! Jetzt klagen die Opfer an: Geistliche Meister seien „kranke Sexmonster“. Dem Missbrauch überführt wurden die Brüder Philippe, beide Dominikanerpatres, beide hoch verehrt und charismatisch angeblich begabt (13). In der Ordensgemeinschaft „St. Jean“ (14) wurden 27 Brüder des sexuellen Missbrauchs überführt. Der einst von Bischöfen hoch verehrte „Anti-Homo-Therapeut“, Pater Tony Anatrella (15), wurde wegen sexuellen Missbrauchs aus dem Priesteramt entlassen. So erging es auch dem Mystik-Spezialisten Pater Jean-Francois Six (16). Jean Vanier, wie ein Heiliger verehrt als Gründer der Arche-Gemeinschaften für Behinderte, wurde der sexuellen Belästigung überführt (17). Auch der bekannte Musiker und Komponist religiöser Lieder und Oratorien, Pater André Gouzes, Dominikaner, Leiter des bekannten Kulturzentrum Sylvanès, wurde der Vergewaltigung eines Kindes, Knaben, angeklagt. Pater Gouzes leidet seit 2018 an Alzheimer. Seine sehr in Mystische weisenden, sehr beliebten Kompositionen und Lieder, werden seit der Freilegung der Untat nicht mehr in den Kirchen gesungen, berichtet wikipedia France, …. ob dies nun eine richtige Reaktion ist, bleibt sehr die Frage! ( Fußnote 39)

Das Fazit: Geistliche „Führer“ sind oft Verbrecher, sie vertreiben Gläubige aus der Kirche.
8.
Der sexuelle Missbrauch durch Bischöfe ist alles andere als ein Einzelfall: Kardinal Philippe Barbarin (Lyon) wurde wegen Vertuschung der Verbrechen eines Priesters (Pater Bernard Preynat) zu 6 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nach einer Berufung aber freigesprochen. Jetzt wohnt er bei den „Schwestern der Armen“ (18). Francois Ozon hat über den „Fall Barbarin“ einen großartigen Film gedreht (19).
Auch Jean-Pierre Richard, Kardinal emeritus von Bordeaux, wurde des sexuellen Missbrauchs überführt (20), ebenso der ehemalige Erzbischof von Straßburg Jean-Pierre Grallet (21). Der Bischof von Creteil, Michel Santier (22) wurde wegen Belästigungen junger Männer abgesetzt. Er ist Gründer der charismatischen Gemeinschaft „Freue dich“. Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit (23) wurde wegen einer Affäre mit einer Frau seines Amtes enthoben. Der Nuntius in Paris, Luigi Ventura (24) wurde wegen sexueller Aggression gegenüber jungen Männern angeklagt, er flüchtete in den Vatikan. Der Erzbischof von Straßburg, Luc Ravel (25), wurde abgesetzt wegen allzu autoritären Verhaltens, heißt es. Sein tatsächliches Vergehen ist eher sein frühes Eintreten für die rechtsextreme Ideologie der „Umvolkung Frankreichs durch Muslime“. Der Bischof von Fréjus-Toulon, Dominique Rey, steht wegen seiner extrem-konservativen Theologie und Pastoral im Visier einer Prüfungskommission des Vatikans! (26).
Die Konsequenz: Viele Gläubige sind „fassungslos“, entsetzt, schreien ihre Wut, sind aller Zuversicht beraubt.

Jetzt wird Bischof Hervé Gosselin (Angouleme) angeklagt, als verantwortlicher Priester eines „Foyer de Charité“ (in Tressaint) sexuelle Untaten gegenüber Frauen dort ignoriert und vertuscht zu haben. Diese geistlichen Zentren, „Foyers der Liebe“ ausgerechnet genannt, sind inspiriert von der angeblich stigmatisierten Frau Marte Robin, die wie eine Heilige und Wundertäterin verehrt wurde und noch wird. Aber nun haben Studien nachgewiesen, dass Madame Robin eigentlich eine Scharlatanin war. Auch Jean Vanier, der Gründer der Arche-Gemeinschaften, war mit Madame Robin befreundet…(Fußnote 35)
Bischof Georges Colomb (La Rochelle) hat jetzt sein Amt niedergelegt, nachdem bekannt wurde, dass er sexuellen Missbrauch an jungen Männern betrieben hat, die damals Gäste seines Hauses der Missionsgesellschaft „Mission Etrangères de Paris“ (MEP) in Paris waren. Colombo war spezialisiert auf umfassende Massagen an jungen Männern, das hat die katholische Tageszeitung „La Croix“ lang und breit jetzt dargestellt. ( Fußnote 36)
Ebenfalls der Missionsgesellschaft von Paris (sie entsandte Priester nach China, Japan, Thailand usw.) gehört der Weihbischof von Strasbourg, Mgr. Gilles Reithinger, an. Ihm wird vorgeworfen, ihm mitgeteilte Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs durch Georges Colombo ignoriert zu haben. Colomb war damals in Paris der oberste Chef der Missionsgesellschaft in der Rue du Bac, im 6. Arrondissement, mit einem der größten wunderbaren innerstädtischen Privat-ParkGarten, das nur nebenbei. ( Fußnote 37)

9.
Die traditionalistische Gemeinschaft der Pius-Brüder hat sich in Frankreich als Rom-unabhängige Parallelkirche umfassend stabilisiert, mit mindestens 100.000 Gläubigen. Ihre Verbundenheit mit Rechtsextremen ist evident. 40 % aller (!) Katholiken haben 2022 im 1. Wahlgang Le Pen und Zemmour gewählt! (34).
10.
Wer als junger katholischer Franzose die Menschenrechte genauso wichtig findet wie das Evangelium, hat die Kirche längst verlassen. Die katholische Linke, 1980 noch lebendig stark, ist fast verschwunden. Politischen Pluralismus gibt es kaum noch im französischen Katholizismus. Einst große Organisationen wie die Christliche Arbeiterjugend (JOC) haben noch 6.000 Mitglieder (27). Von der JOC geprägt sind die neuen linken Gewerkschaftsführer Sophie Binet und Laurent Berger (28).

Über „junge Katholiken in Frankreich“ fand kürzlich wieder eine repräsentative Umfrage statt: Einige Ergebnisse:
30.000 junge katholische Franzosen werden an den katholischen „Weltjugendtagen“ in Lissabon teilnehmen. Es sind vor allem sehr fromme, eher „Tradi“- Katholiken, die noch an der Messe teilnehmen und durchaus auch die alte lateinische Liturgie lieben.
Interessant ist die politische Orientierung dieser sich selbst sehr fromm nennenden jungen Katholiken:
1% optieren für die extreme Linke.
6% für die anderen linken Parteien
5% für die „Ökologen“
8% für das Zentrum
38% für dieRechten
14% für die Rechtsextremen Parteien!
28% haben keine präzise politische Meinung oder wollen sich nicht äußern.
Über die Hälfte der befragten praktizierenden jungen Katholiken hat also Sympathien für rechte und rechtsextreme Parteien. (Fußnote 38)
Die Tageszeitung „La Croix“ kommentiert am 25.5.2023 die große Umfrage unter den wenigen katholisch sich nennenden Katholiken: „Diese Umfrage zeigt tatsächlich, dass diese jungen Leute von der Kirche NICHT erwarten, dass sie sich verändert. Und die Rolle der ^Kirche in der Gesellschaft sehen sie so: 59% antworten, die Kirche solle ein Leuchtturm sein, die den Weg zeigt in der Finsternis (ténèbres). Das Vertrauen dieser jungen Leute in die kirchliche Institution scheint im Widerspruch zu stehen zu den vielfältigen Enthüllungen sexueller Gewalt (des Klerus) in den letzten Jahren“. Nur 12% der befragten jungen Leute meinen: Die Kirche soll eine Bewegung der Emanzipation sein, die den Sinn für die Verantwortung und des Kampfes gegen die Ungerechtigkeiten entwickelt“. Dazu passt auch die theologische Überzeugung dieser jungen Katholiken: Nur 14% meinen, dass Männer und Frauen total gleich (gleichberechtigt) sind, und das gilt auch für den Zugang zum Priesteramt.
11.
Vom „Erdbeben“ ihrer Kirche lassen sich nur die konservativen Katholiken nicht erschüttern. „Observanten“ genannt, beobachten und respektieren sie die Dogmen genau (29). Oft gehören sie gut-etablierten Kreisen an, aus ihren Familien stammen viele junge Priester. Sie sammeln sich in der konservativen Gemeinschaft „St. Martin“ (30). Wie die meisten praktizierenden Katholiken sind sie politisch militant (Anti „Homo-Ehe“, aber „Pro Life“), immer eng vernetzt mit rechten Parteien.
12.
Zum Niedergang ihrer Kirche äußern sich französische Theologen nur zurückhaltend. Ausgerechnet Anselm Grün ist in Frankreich der am meisten gelesene Theologe! (31). An 2 staatlichen Universitäten in Elsass-Lothringen wird Theologie gelehrt, sonst in kirchlich kontrollierten Instituten. Einige Theologinnen kämpfen noch für „synodale Strukturen“ (32).
13.
Der Katholizismus wird als kulturelle Tradition (Kathedralen, Klöster und geistliche Musik) weiterhin ein interessiertes Publik finden (33). Aber die Gemeinschaft der „Praktizierenden“ muss wählen: Will sie eine kleine, aber offene Minderheit sein … oder im Getto eine rechtslastige Sekte? Aber den Weg bestimmt, wie überall, auch in Frankreich der Klerus, nicht die synodale Gemeinschaft aller Glaubenden.

Christian Modehn hat als Journalist und Theologe viele Jahre, auch für PUBLIK-Forum und die ARD-Sender, über Frankreich berichtet. In seinem Buch „Religion in Frankreich“ (1993) fielen seine Analysen noch etwas zuversichtlicher aus.
COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Fussnoten:

1
Guillaume Cuchet „Le Catholicisme a-t-il de l avenir en France?“, Editions du seuil, Paris Sept. 2021

2
„Vers L implosion?“ Danièle Hervieu-Léger et Jean-Louis Schlegel, Editions du seuil, mai 2022,

3
Zit. S .165

4
https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391
Und :

Statistiques de l’Église catholique en France

5
So Jean-Louis Schlegel, in der Tages-Zeitung: „Ouest-France“, 28.3.2022,.
Zum Alter der Priester: L’âge médian des prêtres en France est supérieur à 75 ans. Autrement dit, il y a autant de prêtres ayant plus de 75 ans, que de prêtres ayant moins de 75 ans. Quelle: Quelle: https://synonyme-du-mot.com/les-articles/quel-est-lage-moyen-des-pretres-en-france

6
https://www.le figaro.fr/actualite-france/la-depression-n-epargne-pas-les-pretres-dans-l-eglise-catholique-20201126
Auch: https://www.la-croix.com/Religion/rapport-inedit-ausculte-sante-pretres-2020-11-25-1201126613

7
https://www.eurel.info/spip.php?article987&lang=fr

8
https://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/Dans-paroisses-salaries-comme-autres-2017-04-03-1200836870
Und:
https://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/Mieux-reconnaitre-role-laics-mission-ecclesiale-2020-03-16-1201084398

9
https://fr.aleteia.org/2023/03/28/vandalisme-deglises-en-ile-de-france-les-pilleurs-condamnes-jusqua-trois-ans-de-prison/

10
Zit. Seite 100 in „Vers l Implosion?

11
Viele Studien, Kommentare dazu, etwa: https://www.lemonde.fr/societe/article/2021/10/05/pedocriminalite-dans-l-eglise-330-000-victimes-estimees-depuis-1950-selon-les-travaux-de-la-commission-sauve_6097191_3224.html

12
Eine neue umfassende, aber oft persönlich gefärbte Studie über Missbrauch in den so genannten Geistlichen Gemeinschaften: Céline Hoyeau u.a., „Der Verrat der Seelenführer“, aus dem Französ., Herder – Verlag 2023.

13
Die beiden Brüder Philippe : beide Dominikaner. Viele Berichte, sogar kritisch vom Christlichen Radio RCF: https://www.rcf.fr/articles/actualite/les-freres-philippe-une-tragedie-chez-les-dominicains

14
Zur Gemeinschaft St. Jean, siehe etwa: S. 279 in Buch von C. Hoyeau.

15
Pater Anatrella: viele Berichte über diesen auch in Rom äußerst einflußreichen „Psychologen“ etwa: https://www.ouest-france.fr/faits-divers/violence-sexuelle/le-pere-tony-anatrella-psy-de-l-eglise-soupconne-d-abus-sexuels-condamne-mais-pas-defroque-f8891442-9697-11ed-a0e2-3c14145668d8
Auf Deutsch u.a.: https://vweb009.katholisch.de/artikel/43251-ordensmann-kirche-hat-ex-vatikan-berater-buchstaeblich-geschuetzt

16
Pater J.Fr. SIX, https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Jean-Francois-Six-definitivement-renvoye-letat-clerical-2022-06-21-1201221194, sehr viel mehr noch bei wikipedia France: https://fr.wikipedia.org/wiki/Jean-Fran%C3%A7ois_Six

17
Zu Jean Vanier siehe auch Fußn. 13, oder https://eglise.catholique.fr/espace-presse/communiques-de-presse/493611-revelations-jean-vanier/
Oder: BBC: https://www.bbc.com/news/world-51596516
Auch der Gründer der bekannten neuen Ordensgemeinschaft „Communauté de Jerusalem“ (etwa in der Kirche St.Gervais in Paris) Pater Pierre-Marie Delfieux wurde der sexuellen Belästigungen und des spirituellen Missbrauchs angeklagt…siehe: https://www.lavie.fr/christianisme/eglise/enquete-les-fraternites-de-jerusalem-affrontent-leur-histoire-marquee-par-les-abus-spirituels-69194.php

18
Zum Fall Kardinal Barbarin siehe auch das politische Magazin le Point 31.1.2021: https://www.lepoint.fr/religion/aumonier-en-bretagne-le-cardinal-barbarin-se-fait-oublier-31-01-2021-2411989_3958.php. Von 2019 auch interessant: Libération: https://www.liberation.fr/france/2019/03/07/cardinal-barbarin-un-retrograde-qui-a-pris-du-galon_1713721/

19
Der Film des bekannten Regisseurs Ozon: „Grace à Dieu“. Unter den vielen Würdigungen: https://www.leparisien.fr/societe/affaire-barbarin-le-film-grace-a-dieu-beni-par-le-clerge-06-03-2019-8026308.php. der Film lief auch in deutschen Kinos und im Fernsehen…

20
Kard. Richard : https://www.lepoint.fr/societe/le-cardinal-jean-pierre-ricard-au-coeur-d-une-nouvelle-affaire-07-11-2022-2496790_23.php

21.
Erzbischof Grallet, https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2022/11/27/qui-est-jean-pierre-grallet-l-ancien-archeveque-accuse-d-agression-sexuelle_6151824_4500055.html

22
Bischof Santier , https://www.liberation.fr/societe/religions/leglise-catholique-atterree-par-les-strip-confessions-de-leveque-santier-20221019_7HTTSYLIXNHT5IAL6IM5A67J4I/

23
Erzbischof Aupetit . Unter anderem: https://www.leparisien.fr/societe/comportement-ambigu-avec-une-femme-mgr-michel-aupetit-larcheveque-de-paris-a-presente-sa-demission-26-11-2021-OFB7SWTLRNGV7KEES3OWNGARTY.php

24
Nuntius Ventura . u.a.: https://www.liberation.fr/france/2020/07/28/affaire-du-nonce-ventura-un-proces-historique-a-paris_1795345/

25
Erzbischof Ravel https://www.la-croix.com/Religion/Diocese-Strasbourg-Mgr-Luc-Ravel-demissionne-2023-04-20-1201264241
Der Erzbischof vertritt die „Umvolkung“, Details https://religionsphilosophischer-salon.de/9423_rechtsextreme-ideen-werden-vom-strassburger-erzbischof-luc-ravel-propagiert_gott-in-frankreich. Beitrag von Christian Modehn

26
Bischof Rey ist eine Hauptfigur eines reaktionären Klerus, über seine Nähe zur damaligen Partei „Front National“wurde oft berichte . Er hat „sein“ Bistum Fréjus-Toulon zu einem Hauptquartier der extrem konservativen neuen geistlichen Gemeinschaft gemacht. Das wurde nun selbst dem Vatikan zu viel… https://www.liberation.fr/societe/religions/dominique-rey-eveque-reac-dans-le-collimateur-du-vatican-20220602_QVJD4K5UWVFEFHVVHSGNFLLYAA/
Auch: https://www.la-croix.com/Religion/Diocese-Frejus-Toulon-derives-locales-sanction-romaine-2022-06-13-1201219757

27
JOC, http://www.joc.asso.fr/

28
Die Gewerkschaftsführer Sophie Binet und Laurent Berger als Mitglieder der JOC:
https://www.ouest-france.fr/economie/social/la-joc-un-tremplin-pour-le-syndicalisme-lexemple-de-laurent-berger-cfdt-et-sophie-binet-cgt-5196b7e8-d2ba-11ed-8286-f025829e4b1d

29
Zu den „Observanten“, also den „strengen Beobachtern der Dogmen: Yann Raison du Cleuziou, „Le catholicisme observant, Une élite des familles engagées dans la restauration de l église et le la société française. In : „Ethnographies du catholicisme contemporain“ (Sammelband) Paris 2021, dort S.141 – 151.

30
Gemeinschaft St. Martin offizielle website sehr „hübsche“ Bilder. Diese konservative Kletiker-Gemeinschaft ist auch im Erzbistum Köln, in Nerviges, tätig, wie auch die oben genannte Gemeinschaft „Jerusalem“ in Köln.

Accueil – Communauté Saint Martin


Viele kritische Untersuchungen, etwa: https://www.rue89lyon.fr/2022/10/11/pas-si-tradi-la-communaute-de-saint-martin-le-progres-savance-un-peu-vite-et-se-corrige/
Auch: https://www.liberation.fr/societe/religions/les-cathos-identitaires-de-la-communaute-saint-martin-a-la-conquete-de-la-france-20220320_G4WJM2HQ2FHLXAM26IQVBGCM7A/

31
Zu Anselm Grün: Sie e dazu wiki France: ca. 40 Titel auf Französisch. https://fr.wikipedia.org/wiki/Anselm_Gr%C3%BCn

32
Theologinnen, Nonnen , u.a. Schwester Nathalie:. https://www.vaticannews.va/fr/eglise/news/2022-10/s-ur-nathalie-becquart-synode-synodalite-entretien.html

Den „Archaismus“ des synodalen Prozesses kritisiert Danièle Hervieu-Leger, s. 374 ff

33
Kulturkatholizismus, aktuell: https://www.vie-publique.fr/questions-reponses/286218-le-patrimoine-religieux-et-les-communes-le-point-en-cinq-questions

34
Pius Brüder in Frankreich: Offiziell:

Accueil

Unter vielen Kritiken: 
https://charliehebdo.fr/2022/11/societe/education/integrisme-fraternite-saint-pie-x-ecole/

https://www.nouvelobs.com/education/20170719.OBS2319/integrisme-racisme-j-ai-ete-eleve-a-la-fraternite-saint-pie-x.html

35

zu Bischof Gosselin:

https://www.la-croix.com/Religion/Mgr-Herve-Gosselin-accuse-davoir-couvert-abus-Foyer-Charite-Tressaint-2023-06-15-1201271664

36

zu Bischof Colomb:

https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Missions-etrangeres-Paris-chronologie-differentes-affaires-2023-06-14-1201271491

https://www.la-croix.com/Religion/Accuse-dagression-sexuelle-Mgr-Georges-Colomb-mettre-retrait-diocese-La-Rochelle-2023-06-13-1201271397

37 zu Bischof Reithinger:

https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Missions-etrangeres-Paris-chronologie-differentes-affaires-2023-06-14-1201271491

https://www.la-croix.com/Religion/Accuse-dagression-sexuelle-Mgr-Georges-Colomb-mettre-retrait-diocese-La-Rochelle-2023-06-13-1201271397

38

Junge Leute und Kirche:

https://www.la-croix.com/Religion/JMJ-jeunes-catholiques-fervents-contre-courant-notre-sondage-exclusif-2023-05-25-1201268810

39

Pater André Gouzes OP: https://fr.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Gouzes

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wozu gibt es einen „Heiligen Geist“? Der Geist des Menschen ist heilig!

Über die “Entrümpelung“ eines theologischen Dogmas.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Es findet jetzt – endlich – eine Art Entrümpelung dogmatischer kirchlicher Lehren im Katholizismus statt, und hoffentlich in allen Kirchen. Zum Beispiel: Das Dogma der Erbsünde in der klassischen Form (von Augustinus mit Gewalt durchgesetzt) ist zum Entstauben in einer Seitenkapelle abgestellt worden. Die Dogmen zur „Gottgewolltheit” der klerikalen Hierarchie glauben fast nur noch die in ihrem Klerus-Stand bevorzugten Priester. Hans Küng hat schon vor 50 Jahren am Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes heftig gekratzt. Und die lateinamerikanische Befreiungstheologie versteht Erlösung nicht (nur) als seelisches Geschehen, sondern auch als Erfahrung sozialer-politischer Gerechtigkeit für die Armen…

2.
Auch der Küng – Mitarbeiter, der kathoilische Theologe Prof. em. Hermann Häring (Tübingen), spricht Klartext: „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“, so in PUBLIK-FORUM Nr. 10/2023, Seite 36 f. Häring schreibt in dem Beitrag sehr treffend: „Die Trinität ist ein Glaubenskonstrukt“… „Fürs Verständnis Jesu braucht es keine Dreifaltigkeit…“ „Die Trinitätslehre ist ein unerträgliches Element“, Häring tritt für „eine Generalrevision unserer Glaubenskonstrukte ein“.

3.
Hier wird ein weiterer Beitrag zur dogmatischen Entrümpelung in gebotener Kürze publiziert: Meine Frage: Was passiert denn eigentlich mit dem „Heiligen Geist“, der so genannten dritten göttlichen „Person“ in der Dreifaltigkeit (Trinität), wenn nun das göttliche Mysterium auch ohne Dreifaltigkeit erlebt, verstanden, gedacht wird?“
Meine begründete These: Der Geist des Menschen – und das ist seine Freiheit und deswegen auch seine Vernunft und seine Sprache, klassisch auch seine „Seele“ – ist heilig. Eine eigenständige , imaginäre „Person“ Heiligen Geist (meist als Taube dargestellt) braucht man dann wirklich nicht zu glauben.

4. Soll es denn zwei Geister in einem Menschen geben?
Das muss gerade für theologische „Laien“ etwas entfaltet werden:
Der menschliche Geist als menschlicher (!) Geist ist heilig, weil er von Gott geschaffen ist. Und Gott, das Göttliche, der Ewige… ist im Menschen durch den von Gott geschaffenen endlichen, menschlichen Geist sozusagen als der Schöpfer von allem – indirekt – anwesend. Der Mensch hat also – schon aufgrund eigener Selbsterfahrung – einen einzigen Geist, und nicht etwa einen menschlichen und daneben oder darüber noch einen gelegentlich, bei besonderen Anlässen, wirkenden zweiten Geist, den göttlichen.
Zwei Geister in einem Menschen? Das ist Unsinn, stiftet Verwirrung, gibt Raum für Phantasie und wunderbare Gottes-Geistes-Verzückungen. Handelt ein Mensch wahrhaftig, gut, ethisch wertvoll, versucht er das göttliche Geheimnis zu erfahren und zu bedenken, dann ist es also immer der eine menschliche Geist, der von Gott dem Schöpfer gegeben, in dieser Fähigkeit lebt.

5. Biblische Erzählung: ein bilderreicher Mythos.
Warum aber wurde dann in der frühen Kirche (in der Apostelgeschichte nachzulesen) die Idee formuliert, es gebe einen eigenständigen heiligen Geist neben dem menschlichen Geist? Diese Frage berührt die exegetische und kirchenhistorische Forschung. Meine kurz gefasste Antwort: Die Gemeinde der Freunde des gekreuzigten Jesus von Nazareth kam gemeinsam zu der überraschenden Einsicht: Unser Freund Jesus von Nazareth lebt irgendwie „wunderbar“ in anderer Gestalt „weiter“: Und sie waren von dieser ihrer Einsicht so begeistert, dass sie meinten, nicht ihr eigener Geist in seiner schöpferischen Freiheit habe ihnen diese Einsicht geschenkt, sondern es sei ein zusätzliches wunderbares Eingreifen Gottes gewesen. Als wäre wegen dieser Einsicht vom „auferstandenen Jesus“ ein extra-heiliger Geist wirksam gewesen. Die Gemeinde misstraute also der schöpferischen Kraft ihres eigenen menschlichen, aber von Gott gegebenen menschlichen Geistes, also der Vernunft, der kreativen Freiheit des Denkens und Fühlens.

6.
Aber die Kirchen haben die schöpferische Kraft des Göttlichen IM menschlichen Geist immer übersehen und unterschätzt: Der Grund: Sie haben die Mythen der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis falsch verstanden und gemeint, der Mensch schlechthin und immer sei durch die Erbsünde verdorben, der Geist des Menschen sei durch die Erbsünde zerrüttet: Das bedeutet. Dann kann nur Gott immer wieder neu eingreifen mit seinem immer wieder willkürlich agierenden zusätzlichen göttlichen wunderbaren Geist. Weil diese Ideologie der Erbsünde nun aber endlich obsolet ist, im Rahmen der oben genannten Entrümpelungen, entfällt auch die Idee eines zweiten göttlichen Geistes, neben dem menschlichen Geist. Ohne Erbsünde kann es einen kreativen, auch guten menschlichen Geist geben und eine gute menschliche Vernunft, die nach dem Göttlichen fragt…

7. Wenn Charismatiker und Pfingstler “ausflippen”
Aber viele sich sehr fromm fühlende, „auserwählte“ Leute klammern sich noch immer an den zweiten Geist in sich selbst, sie verehren ihn als den separaten heiligen Geist. Es sind die so genannten Charismatiker und Pfingstler, die vom heiligen Geist öffentlich gern in „Zungen reden“, wie sie sagen, also in einer angeblich verzückten wunderbaren göttlichen Sprache des Blalaba und Trallatulla und so weiter. Und das Skandalöse ist, das die anderen Geist-Besessenen dann sagen: Auch wir verstehen das geistvolle Blalaba usw.
Ich habe diese Verzückungen erlebt in einer charismatischen Gebetsnacht der äußerst einflußreichen charismatischen Gemeinschaft Emmanuel in der Kirche „Trinité“ in Paris (9.Arrondissement). Dort hatte sich der charismatisch bekehrte, ziemlich bekannte Schauspieler Michel Lonsdale diesem Blalaba usw. sehr hingegeben, ich habe diese Szenen für meinen Film „Unter dem Himmel von Paris“ fürs ERSTE gedreht…

8.
Die Mehrheit der Christen wird sich wohl nun um ihren einen Geist, der als Geist und Freiheit heilig ist, kümmern. Das heißt: Der menschliche Geist und die Vernunft sind als das Auszeichnende aller Menschen absolut zu schützen und unbedingt als Gestaltungsprinzip des Lebens und der Politik durchzusetzen. In den Menschenrechten findet dieser Geist seinen lebendigen, leider eher selten respektierten Ausdruck. Aber das spricht gegen den Geist, sondern die Faulheit und den Egoismus vieler Menschen, den sie mit ihrem eigenen Geist auch überwinden können, wenn sie denn wollen.

9. Die uralten Pfingstlieder – eine unerträglich ferne Welt.
Bei dem immer noch klassisch, d.h. trinitarisch gefeierten Pfingstfest ist wenig bis gar nichts von dieser nachvollziehbaren, vernünftigen Deutung des menschlichen Geistes, des heiligen, zu spüren.
Man denke etwa an die Pfingstlieder im „Evangelischen Gesangbuch“: Darin sind von Nr. 124 bis Nr. 137, also 14 Pfingstlieder, versammelt. Die Texte haben Autoren verfasst, die zwischen 1524 und 1833 lebten, die jüngsten Pfingstlieder, es sind zwei, stammen aus dem 19.Jahrhundert! Alle anderen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Kein einziges Pfingstlied stammt aus dem 20. Jahrhundert. Wie schwer sich die „klassische“ dogmatische Kirche mit dem Dreifaltigkeitsfest (Trinitatis) tut, wird deutlich: Das Evangelische Gesangbuch von 1993 enthält zwei Trinitatislieder aus dem 16. und 18. Jahrhundert.
Das Katholische Gesangbuch „Gotteslob“ enthält 15 Pfingstlieder, sie stammen schon aus dem 10.Jahrhundert, aber auch aus dem Jahr 1941, getextet von Maria Luise Thurmeier. Sie verfasste den Text für das Lied Nr. 249 „Der Geist des Herrn erfüllt das All – mit Sturm und Feuersgluten“. Wie weltfremd und a-politisch (?) diese dichtende Dame war, ist deutlich: Sie schrieb ihr Gedicht im Jahr 1941, also schon mitten im 2. Weltkrieg… In der 4. Strophe heißt es: „Der Geist des Herrn durchweht die Welt, gewaltig und unbändig, wohin sein Feueratem fällt, wird Gottes reich lebendig“. Es geht also um Feuersgluten, um Sturm, und ein „gewaltiges und unbändiges Geschehen“… Die Kriegspropaganda der Nazis zeigt da ihre Wirkungen bis ins Gebet hinein. Was haben solche Poetinnen wie Frau Thurmeier in einem Gesangbuch zu suchen? Auf die gräßlichen Marienlieder von Frau Thurmeier habe ich schon früher hingewiesen. LINK.

10.
Zusammenfassung:
Es gibt also nur einen Geist im Menschen, er gehört zur Schöpfung des Menschen durch Gott/das Göttliche… Immer ist es der eine menschliche Geist des Menschen, der Leben gestaltet, Frieden schafft, Gerechtigkeit erkämpft. Wer auf Gottes direkten Eingreifen politisch hofft, will selbst tatenlos bleiben.
In der Praxis wird die unendliche Kreativität gespürt, die den menschlichen Geist auszeichnet, und es entsteht eine Dankbarkeit im Menschen, dass er in seiner Freiheit das Gute tun kann. In dieser Dankbarkeit kann sich der Mensch seinem Schöpfer, dem Göttlichen, zuwenden. Mit einem außergewöhnlichen und wunderbaren Eingreifen eines Heiligen Geistes rechnet dann kein spiritueller Mensch mehr: Gott ist ja immer schon „da“, in der Realität des Geistes, des menschlichen und seiner Freiheit.

11.
Die klassische Trinitätslehre ist also auch dadurch „überholt“, wie Hermann Häring sagt, weil es keine dritte Person in der Dreifaltigkeit – sehr anschaulich etwa in Gestalt einer Taube – geben kann.

12. Was wird aus “Gott Vater” mit dem Bart? Der Bart ist nun definitiv ab.
Aber was wird dann aus dem Bild, der Metapher, „Gott-Vater“, der ersten Person dieser drei Personen? Der mit dem Bart, sagen manche. Nun ist der Bart ab: Das Göttliche, Gott, der Ewige, die Göttin, Gott Vater , Gott – Mutter … wie auch immer: Diese Ideen sind nichts anders als Geist zu nennen, sie sind ja keine Materie, kein zu umgreifendes Etwas. Gott als Gott ist Geist. Mehr kann nicht gesagt werden. Aber der Bart des uralten Gottes ist ab. Endlich, ad aeternum hoffentlich. Kunsthistoriker werden dies bei ihren Barock-Studien berücksichtigen. Dieser Gott – Vater – Bart – Glaube ist jetzt vorbei.

13. Warum diese Reflexionen?

Einige LeserInnen fragen: Gibt es nichts Dringenderes? Natürlich, unmittelbar politisch, ökologisch, sozial…. gibt es sehr viele dringendere Themen. Aber der hier vorgeschlagene Verzicht auf einen religiös unkontrollierten Pfingst-Heilig Geist-Enthusiasmus, auf einen kindlichen Wunderglauben, der Verzicht auf ein schwärmerisches Ahnen  “Der heilige Geist wirkt ganz besonders (nur) in mir”: Dies kann zur Befreiung führen, im Sinne von Freimachen des eigenen Denkens für die genannten wirklich dringenden Aufgaben.

14.

Pfingsten und den Geist feiert man dann angemessen nicht mehr durch das Singen alter unverständlicher Pfingstlieder. Sondern in Gesprächen und Verabredungen, wie wir gemeinsam dem verheerenden Treiben, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, “Klerikalismus” in allen Religionen, Rechtsextremismus, Herrenmenschentum im Umgang mit den Arm-Gemachten in der “Dritten Welt” usw.  noch Einhalt gebieten können. Der wahre “Gottesdienst” (am Sonntag) wird dann zum Menschendienst.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Rabvier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Die Auferstehung Jesu: Ostern ist das Fest des Ewigen im Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (März 2023).

Ostern feiern und dabei die Frage stellen “Was bedeutet die Auferstehung Jesu von Nazareth?” kann alle Menschen berühren. Nicht nur die wenigen “Kirchgänger”.  Die entscheidende Einsicht: Der Mensch hat Anteil am Ewigen, am Göttlichen. Nur deswegen kann der Tod ein Übergang sein in eine neue geistige Wirklichkeit. Diese Überzeugung ist selbstverständlich NICHT an eine Kirchenmitgliedschaft gebunden.

1.

Ein wichtiges, aber schwieriges Thema, „die Auferstehung Jesu von Nazareth“. Das Thema verweist auf die genauso schwierige Frage: Gibt es eine Form der Überwindung des Todes, also ein „Weiterleben“ nach dem Tod?
Theologien und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können auf das Thema nicht verzichten, denn sie haben es mit der Lebensgestaltung, auch mit Sterben und Tod zu tun.
Hier wird eine dem Argument, also der Vernunft verpflichtete Interpretation des Auferstehung Jesu von Nazareth vorgestellt. Und diese vernünftige Deutung ist einfach, verglichen mit dem Wortschwall der vielen bloß subjektivistischen, fundamentalistischen Deutungen der Auferstehung Jesu.
Die universal geltende Vernunft ist also auch bei der Frage nach der Bedeutung der Auferstehung entscheidend. Vernünftiges Sprechen von Sterben, Tod und Auferstehung ist, dem Thema angemessenes, sozusagen sanftes, suchendes, fragendes Sprechen.

2.

Die Antworten auf die Frage „Was bedeutet die Auferstehung Jesu von Toten“ sind vielfältig. Am häufigsten wird bis heute in den Kirchen gelehrt und gepredigt: „Jesus ist seinem Grab entstiegen, und er ist als der leibhaftig Lebendige der Gemeinde erschienen. Er ließ sich sogar körperlich berühren (vgl. die Erzählung vom „ungläubigen Thomas“)… Und später ist der Auferstandene leibhaftig in den Himmel aufgefahren“. Diese sehr schlichte, aber regelmäßig bsi heute verkündete Lehre hat sich leider in den Köpfen festgesetzt. Und den christlichen Glauben zu einer mysteriösen Angelegenheit gemacht. Die üblichen Worte der Kirchen zur Auferstehung wecken kein nachvollziehbares Verstehen, sondern sie verbreiten den Nebel des Mysteriösen. So rutscht der christliche Glaube an die Auferstehung Jesu in den Bereich der Märchenerzählungen ab, aus Angst der Prediger und Theologen vor der Vernunft!

Man denke auch an die zahllosen Gemälde etwa aus der Barockzeit, die den Auferstandenen leibhaftig in der Welt herumlaufend zeigen oder das leere Grab mit schlafenden Grabeswächtern und siegreichen Engeln. Angesichts so viel wunderbaren Zaubers sagen dann viele Gläubige verzaubert: „Nach meinem Tod gibt es für mich im Himmel das große Wiedersehen mit den Eltern und dem lieben Onkel Heinrich und der Tante Charlotte“.
Man muss wohl diese private Spiritualität als Meinungsäußerung respektieren, aber es ist kein Ausdruck von Atheismus, wenn man sie theologisch und religionsphilosophisch für falsch hält. Sie hilft nicht zu einer reflektierten Spiritualität der Menschen im 21. Jahrhundert. Sie hilft nicht zu einer reifen Spiritualität reifer, d.h. kritisch nachdenklicher, vernünftiger Menschen des 21. Jahrunderts.

3.

Die Frage ist also: Soll die Auferstehung Jesu von Nazareth ein zauberhaftes Ereignis in einer wunderbaren Welt des Ostermorgens voller frommer Phantasien bleiben? Oder sollte die Auferstehung Jesu von Nazareth mit dem einen Satz erläutert werden: „Die Freunde Jesu erkennen bald nach seinem Tod: Wie Jesus als der “Auferstandene” haben alle Menschen in ihrem Geist Anteil am Ewigen, es ist der Geist des Ewigen, der göttliche Geist, der den Tod eines jeden, auch den Tod Jesu, überwindet. Es geht um ein ewiges, geistiges „Leben“, nicht um ein leibliches.“

4.

Ein Hinweis zu den Auferstehungs-Erzählungen im Neuen Testament:
Die zentrale Erkenntnis heißt: Nach seinem Tod wird Jesus von der Gemeinde, nach einer Phase der Trauer und des Entsetzens über seinen Tod am Kreuz, als der Lebendige erkannt.
In ihrem Nachdenken über Jesus von Nazareth wendet sich die Gemeinde noch einmal dem Leben und den Lehren ihres Propheten Jesus von Nazareth zu: Und sie entdeckt: Dieser Jesus von Nazareth war von außergewöhnlicher geistiger Kraft in seinem Umgang mit den Menschen, in ihm selbst wurde die göttliche Wirklichkeit deutlich. Die Gemeinde erkennt also das Göttliche, das Ewige im Leben Jesu von Nazareth. Und dieses Göttliche, dieses Ewige kann nur eine geistige Realität sein, sie kann als das Ewige im Menschen nicht sterben. Jesus nannte den Ewigen stets seinen Vater, er fühlte sich als sein „Sohn“, und lehrte zugleich: Ihr Menschen seid – im Bild gesprochen – ebenfalls Söhne und Töchter des Göttlichen, des Ewigen, meines und unseres „Vaters“ im Himmel. Weil die Menschen Anteil haben am Ewigen, sind sie in der Lage, Jesus als den Auferstandenen zu erkennen.
Im „Neuen Testament“ gibt es vier unterschiedliche Erzählungen über diese Einsicht der Gemeinde: „Unser Freund und Lehrer Jesus von Nazareth, der „Menschensohn“, ist nicht ins Nichts des Todes verschwunden. Wir erfahren und verstehen kraft unseres Geistes IHN als eine bleibende, geistige Präsenz über den Tod hinaus.“

5.

Diese Erzählungen von der Auferstehung Jesu im Neuen Testament sind keine Tatsachenberichte! Kein Journalist, kein Historiker, hat die Auferstehung Jesu gesehen. Die Auferstehungs-Erzählungen des Neuen Testaments beziehen sich nicht auf ein datierbares Ereignis. Sie sind Mythen, d.h. Erzählungen von Menschen, die mit diesem Jesus persönlich und voller Liebe verbunden waren und nach seinem Tod gemeinsam zu neuen, überraschenden Erkenntnissen kommen.

6.

Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind also Mythen. Der Theologe Rudolf Bultmann nannte sein Programm das „Entmythologisieren“ der biblischen Erzählungen, und er meinte damit überhaupt nicht die Zerstörung des Inhalts von Mythen, sondern die Übersetzung der Mythen in nachvollziehbare moderne Sprache. Nur dann können etwa die Mythen der Auferstehung als Lebensorientierung gelten.
Lebensorientierung anbieten – das ist der Sinn von christlichen Erlösung. Von Erlösung spricht die Kirche ständig, aber was Erlösung inhaltlich nachvollziehbar bedeutet, wird meist ins Imaginäre, Phantastische geschoben, etwa in die Ideologie der Befreiung von der sogenannten Erbsünde.
Die Erkenntnis vom „Ewigen“ in jedem Menschen kann als Erlösung verstanden werden, im Sinne der Befreiung von der Angst, im Tod ins Nichts zu versinken. Es ist der Geist als die Präsenz des Ewigen, der als Geist den Tod eines jeden Menschen überwindet. Weitere Details zum „himmlischen Weiterleben“ zu nennen, würde nur zu haltlosen phantasievollen Spekulationen führen.

7.

Es bleiben Fragen zu den Mythen der Evangelisten: Etwa zum leeren Grab Jesu: Das Grab Jesu kann gar nicht leer sein, Auferstehung ist, wie gerade betont, ein geistiges Geschehen. Jesu Körper blieb also im Grab, und er wurde – geistig – als der Lebendige erfahren. Die Kirchen erlauben seit einiger Zeit auch die Feuerbestattung, offenbar wissen sie: Der Verstorbene lebt, geistig, auch wenn sein Körper zu Asche wurde.
Und nebenbei: Wäre der Auferstandene mit seinem alten, gekreuzigten Körper „auferstanden“, hätte er ja als ein Mensch noch einmal sterben müssen, was wäre dann aber passiert? Ein erneuter Prozess gegen ihn, den Kritiker des strengen religiösen Systems? Sinnlose Spekulationen sind das.
Der katholische Theologe Hans Kessler, Autor einer umfassenden Studie zum Thema, schreibt: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu, ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet das Menschsein Jesu Christi. Aber dass Jesus ganz Mensch ist, bleibt eine unaufgebbare Einsicht der Christenheit“. Zum Buch von Hans Kessler: LINK

8.

Wann gibt es die ersten schriftlichen Zeugnisse vom Glauben der Gemeinde an die Auferstehung Jesu?
Die erste schriftliche Äußerung hat der Apostel Paulus im Jahr 50 in seinem „Ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich“ notiert, also knapp 20 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Auch Paulus nennt kein Datum der Auferstehung. Paulus kennt aber den bereits lebendigen Auferstehungsglauben der Gemeinde, er spricht von der gemeinsamen, alles entscheidenden Überzeugung: „Wenn Jesus gestorben ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zu Herrlichkeit führen“ (4. Kapitel, Vers 14). Mit anderen Worten: Die Verstorbenen werden wie Jesus „auferstehen“. Damit sagt Paulus in seinen Worten das aus, was oben gezeigt wurde: Weil alle Menschen im Geist mit dem Ewigen verbunden sind, werden auch sie – wie Jesus – zur Herrlichkeit Gottes gelangen. Der katholische Theologe Giuseppe Barbaglio von der Universität Mailand schreibt in der theologischen Zeitschrift CONCILIUM (2006): „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.

9.

Die Rede vom „Ewigen im Menschen“ hat als notwendigen theologischen Hintergrund eine vernünftige Deutung des biblischen Bildes von der „Schöpfung“ der Welten durch Gott oder das Göttliche oder den Ewigen.
Nur diese kurze Erläuterung: Wenn „Gott“, der Ewige, die Welten „schafft“, dann kann Gott, der Ewige, dies nur realisieren, wenn diese Welten mit ihm, dem Göttlichen, verbunden sind. Wären die geschaffenen Welten total selbstständig, also außerhalb der Wirklichkeit des Ewigen, dann wäre Gott nicht mehr der Göttliche, der Alles Stiftende und Umfassende. Die gottlose Welt wäre eine Konkurrenz zu einem Gott, der dann keine göttlichen Qualitäten mehr hätte.
Die Welt und die Menschen können also nur in einer tiefen geistigen Verbundenheit mit Gott, dem Ewigen, dem lebendigen GEIST, verstanden werden. Eine Überlegung, die vor allem der Philosoph Hegel energisch vorgetragen hat.

10.

Die Gegenwart des Ewigen wird inmitten des Lebens erfahren und nicht nur theoretisch gedacht. Das ist die Überzeugung der frühen Christengemeinde, die der  Autor des 1. Johannesbriefes im Neuen Testament ausspricht, es ist ein Text, der am Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde. Der Autor schreibt:
„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod”. (1 Joh 3, 14). Und im 4. Kapitel, Vers 12, heißt es: “Niemand hat Gott je geschaut, wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet”.

Mit anderen Worten: In der Liebe wird das Ewige in diesem menschlichen Leben erfahren.

Nur weil die Menschen lieben, also Liebe (er)leben (und Liebe ist immer mehr als Caritas, sie ist immer auch erotische Liebe), erfahren sie und denken sie das Göttliche, das im Menschen lebt. Dieses inmitten des Lebens präsente Göttliche wird den Tod überdauern. Diese Erkenntnis spricht der 1. Johannes Brief lapidar aus im Vers 6, Kap. 4: „Wir aber sind aus Gott”.

11.

Die Welt als eine „Schöpfung des lebendigen göttlichen Geistes“ verstehen: Dies ist das einzige Wunder, mit dem sich kritisches theologisches Denken auseinandersetzen muss. Andere „Wunder“ braucht kein Christ, kein religiöser Mensch. Der evangelische Theologe Prof. Stefan Alkier (Uni Frankfurt.M) schreibt in seinem Buch „Die Realität der Auferstehung“ (2009) diese entscheidenden Sätze: „Die Welt, alles Leben und auch das je meinige Leben entspringen […] nicht einem blinden Zufall, sondern der intentionalen Kreativität des sich liebevoll in Beziehung setzenden Gottes…Wer diese Hypothese nicht teilt, kann auch nicht mit den Schriften des Neuen Testaments […] von der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten sprechen“ (S. 238).

12.

Die Auferstehung Jesu sollte eine Lebensphilosophie inspirieren. Die Theologin Elisabeth Moltmann – Wendel schreibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.

13.

Man könnte fragen: Kann die hier angedeutete Interpretation der Auferstehung Jesu von Nazareth trösten?
Sterben und Tod gehören zwar zum „Wesen“ der Menschen, aber das Sterben wird verschieden erlebt und erlitten: Im Krieg viel brutaler genauso auch in Hungerkatastrophen, dieses Sterben ist gewalttätiger als in einem gepflegten Hospiz in Europa. Immer sollte es dabei um die gemeinsame Frage gehen: Wie hätte das vorzeitige Sterben noch verhindert werden können? Durch eine Friedenspolitik, durch eine solidarische Politik oder, möglicherweise durch den Respekt für einen gesunden Lebensstil im reichen Europa.
Aber selbst wenn diese Fragen durchgearbeitet sind, drängt sich die eine Frage auf: Ist mit dem Tod alles vorbei? Ist das Versinken im Nichts die Antwort? Waren die jungen Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine nichts als „Kanonenfutter“, nur „lebendes Fleisch“, das dann durch den „Fleischwolf“ des Krieges geschickt wurde, wie kürzlich ein Kriegsreporter in einer Talkshow sagte?
Wer an das Versinken des Verstorbenen im Nichts behauptet, verkündet seine Glaubensüberzeugung, genauso wie es eine Überzeugung, eine Glaubenshaltung ist, die Ewiges im Menschen, in jedem Menschen, erkennen kann.
Angesichts des Todes denken – dabei kann man, wie immer bei existentiellen Fragen, keine Evidenz erreichen, wie man sie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik gewöhnt ist. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit.

14.

Mystiker gehen soweit zu sagen: Die Menschen sind mit göttlichem Geist begabt, beschenkt, sie haben „den göttlichen Funken“ (Meister Eckart) ins sich. Viel mehr Worte sind dann nicht mehr nötig, um das Thema der Auferstehung anzusprechen, also das Thema „Das Ewige im Menschen, das den Tod überdauert“.

15.

Eine Frage bleibt: Gilt das auch für die schlimmsten Verbrecher, Kriegstreiber, Mörder, Diktatoren? Dass sie als Menschen die Chance hatten, der vernünftigen Kraft ihres Geistes und ihrem Gewissen zu folgen, steht außer Frage. Nur: Sie haben sich dann offenbar im Laufe des Lebens stets für das Böse entschieden. Und sie sind dabei selbst böse geworden und haben sich damit selbst bestraft. Was mit diesen Leuten sozusagen post mortem passiert, entzieht sich jeder ernsthaften philosophischen oder theologischen Aussage… Die klassische Theologie kennt die neutestamentliche Erzählung vom Endgericht – und da wird eine deutliche Sprache gesprochen.

16.

Diese Überlegungen sind keine abstrakten Spekulationen, sie haben auch politische Bedeutung. Wenn die Menschen wissen, sie sind mit dem Ewigen verbunden, dann haben alle Menschen eine besondere Würde. Dabei ist die wesentliche Gleichheit aller Menschen der Mittelpunkt der Menschenrechte, eine Gleichheit, die im Zusammenleben in einer gerechten Weltordnung realisiert werden muss.
Inspirierend bleibt dabei das „Auferstehungsgedicht“ des Schweizer Dichters Kurt Marti (1921-2017).
„Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!“

17.

Die klassische Lehre heißt: Jesus von Nazareth hat den Tod überwunden. Aber das muss man verstehen und deuten: Mit Jesus haben alle Menschen Anteil am ewigen göttlichen Geist: Aber dies ist nur eine Dimension von Ostern.

18.

Genauso wichtig ist das Eintreten für die Menschenrechte und die Menschenpflichten. Ostern ist also auch ein politisches Fest, das Fest der universalen gleichen Würde aller Menschen.
Dass diese gleiche Würde aller Menschen endlich Realität wird, ist die zentrale Aufgabe der Kirchen, wenn sie behaupten, dem Auferstandenen zu folgen. Aber die Kirchen sind zur Zeit fixiert auf sich selbst, zumal die katholische Kirche („Synodaler Weg“, Zölibat etc.), so dass sie ihre entscheidende Aufgabe der Weltgestaltung beinahe vergessen. Diese Weltgestaltung wird in dem schönen biblischen Symbol „Reich Gottes“ ausgedrückt, als einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Darin liegt der Lebenssinn für Menschen, die sich Christen nennen.

19.

Ich habe schon mehrfach Hinweise zum Thema “Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen” publiziert, etwa in einer Ra­dio­sen­dung für den RBB im April 2016, der TEXT: LINK

Ein etwas ausführlicher Essay (2021) zum Thema Ostern und die AuferstehungJesu: LINK

Und speziell ein Hinweis “Kant und die Auferstehung Jesu”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

„Verräterkind“: Ein Roman von Sorj Chalandon. Widerstand in Frankreich gegen ein autoritäres Regime.

Der Roman hat zwei „Protagonisten“: Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“ und einen Kollaborateur, den Vater des Autors.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein neuer Roman des französischen Autors und Journalisten Sorj Chalandon (geb.1952) mit dem Titel „Verräterkind“ (DTV, 2022, übersetzt von Brigitte Große): Über die Literaturkritik hinaus ist der Roman ein Anlass, weiter zu fragen. Was bedeutet die Kollaboration vieler Franzosen mit den Nazis? Warum sollte die Résistance in Deutschland (wieder) entdeckt werden? Wer unterstützte den „Schlächter von Lyon“, den SS-Mann und Gestapo-Chef Klaus Barbie, nach 1945? Und wie ist die Beziehung der Katholiken zu Pétain und der Résistance?

Teil 1: Hinweise zum Roman „Verräterkind“

1.
Der Roman spricht von Verbrechen der SS in Frankreich, besonders von den Untaten des Gestapo-Chefs Klaus Barbie in Lyon von Februar 1943 bis September 1944.
Im Mittelpunkt: Der Prozess gegen Barbie in Lyon im Jahr 1987.
Parallel dazu erzählt Sorj Chalandon von der Geschichte seines Vaters in der Zeit des Pétain – Regimes. Er war damals ein „salaud“, ein Dreckskerl, sagte der Großvater dem Enkel. Und dieser Typ, so will es der Autor, tritt dann im Roman als Beobachter des Barbie-Prozesses auf, während sein Sohn Sorj zugleich im Gerichts-Saal anwesend ist. Er berichtet als Journalist für die Pariser Tageszeitung „Libération“.
Sorj Chalandon muss gleichzeitig zwei unterschiedliche Prozesse verarbeiten: Den gegen Barbie und seinen privaten Prozess, den er nun gegen seinen Vater, den „Dreckskerl“, führen will. Er will ihm zeigen, dass er die Wahrheit über den „Verräter-Vater“ kennt.

2.
Der Roman ist unter dem Titel „Enfant de salaud“, also: „Kind eines gemeinen Kerls“, eines „Dreckskerls“, erschienen. Der französische Titel ist umfassender und deutlicher als „Verräterkind“. Der Vater des Autors hat sein Kind und die Mutter Jahre lang belogen, seine wahre Identität verschwiegen und riesige Lügenwelten, angeblich heldenhafter Taten, von sich selbst verbreitet. Die Realität ist: Er hat sich als Kollaborateur durchgeschlagen. Nach dem Ende des Pétain-Regimes wurde er angeklagt, verurteilt und zwei Jahre, von 1944 bis 1946, inhaftiert.
Erst im Jahr 2020 konnte Sorj Chalandon in die Strafakten seines Vater (Anklage: als Kollaborateur) einsehen, zwei Jahre später veröffentlichte er den Roman. Er lässt also seinen Vater mit diesem Wissen im Roman an dem Barbie-Prozess von 1987 teilnehmen.

3.
Diese kunstvolle Verbindung zweier unterschiedlicher Prozesse offenbart eine Gemeinsamkeit beider Täter: Weder Barbie noch sein Vater sind zum Bekenntnis der eigenen Schuld bereit und in der Lage. Beide sind seelisch erkaltete, moralisch „erstorbene“ Gestalten, selbst wenn die Bedeutung der Verbrechen Barbies sehr viel grausamer sind als die Lügen des Vaters.
Barbie ließ 44 jüdische Waisenkinder in Izieu deportieren, er gab sie dem sicheren Tod im KZ preis. Barbie war auch für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance, auch für den Tod des vorbildlichen Jean Moulin verantwortlich. „Barbie folterte mit Schneidbrennern, glühenden Schürhaken, Elektroschocks, kochendem Wasser und einer ganzen Sammlung an Peitschen, Werkzeugen und Knüppeln, die bei Verhören vor ihm auf dem Schreibtisch lagen“, berichtet wikipedia im Beitrag „Klaus Barbie“.

4.
„Dass der Barbie-Prozess überhaupt stattfand, ist in Frankreich schon als Erfolg und als Sieg über die Partei des Vergessens gewertet worden; nicht ganz ohne Grund, denn in den vier Jahren vor dem Prozess war vor einer öffentlichen Abrechnung mit der Vergangenheit gewarnt worden, die alte Wunden aufreißen und die Einheit der Nation gefährden könne“, schreibt der Journalist Lothar Baier, ein Spezialist für französische Politik, in seinem Buch „Firma Frankreich. Eine „Betriebs-Besichtigung“ (Berlin,1988, Seite 98 f.). Barbie wurde 1987 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, er starb 1991 im Alter von 77 Jahren im Lyoner Gefängnis an Krebs. Er war wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Zweiter Teil: Weiterführende Hinweise zur Politik und zu den Kirchen

5.
Barbie, 1913 in Bad Godesberg geboren, konnte sich gleich nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands niederlassen. Er wurde von den amerikanischen Behörden als Agent beschäftigt, als Mitarbeiter des CIC (Counter Intelligence Corps), gegen ein gutes Honorar suchte er angeblich untergetauchte Nazis.

6. Der Klerus hilft Klaus Barbie bei der Flucht
Im Jahr 1951 gelang Barbie die Flucht nach Bolivien, vor allem durch die großzügige Hilfe des katholischen Klerus. Bekannt ist diese Hilfsbereitschaft der Kirche für Nazi-„Größen“ als so genannte „Rattenlinie“, treffender wurde sie auch als „Klosterlinie“ bezeichnet, wegen der großzügigen Verstecks der flüchtenden Nazis in Klöstern, etwa in Südtirol: Führende Mitarbeiter der Kirche (allen voran der Österreicher Bischof Hudal, 1885-1963), halfen vom Vatikan aus Hunderten Tätern des Nazi-Regimes, etwa Adolf Eichmann oder Josef Mengele und eben auch Klaus Barbie.
Der Historiker Prof. Peter Hammerschmidt hat sich in seiner Dissertation (von 2013) auch ausführlich mit der Barbie-Flucht mit Hilfe des Klerus befasst. Hammerschmidt erwähnt die geradezu „vorzügliche“ Hilfsbereitschaft des aus Bosnien-Herzegowina stammenden Franziskaner-Paters Krunoslav Draganovovic (1903-1983) für Barbie und seine Familie in Genua: „Verunsichert, aber dennoch optimistisch betrat die Familie Barbie am 12. März 1951 italienischen Boden und wurde in Genua von Pater Krunoslav Draganovic empfangen: In seinen Memoiren schreibt Barbie: Ich schaute mich nach einem Geistlichen um und sah ihn nicht weit von uns entfernt stehen. Er kam auf uns zu, nannte mich beim Namen und zeigte mir ein Passfoto von mir, das er in der Hand versteckt hielt.“
Draganovic organisierte für die Familie „Altmann“ (dies war der neue Name Barbies) zwei entscheidende Dokumente: Ein bolivianisches Einreisevisum und eine Reiseerlaubnis des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Am 16. März begleitete der Priester die Neuankömmlinge zum bolivianischen Konsulat in Genua, wo Klaus Barbie die Anträge mit seinen neuen biographischen Daten ausfüllte…Barbie zeigte sich noch in seinen Memoiren tief beeindruckt von Draganovics Organisationstalent und seiner Hilfe bei der Beschaffung der begehrten Dokumente…„Draganovic bewerkstelligte diese Angelegenheit mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die ich bis heute noch bewundere. Alle Türen zu den Behörden standen ihm offen“, so Barbie in seinen Memoiren (S. 245 in Hammerschmidts genannten Buch). (Quelle:  LINK )

7. Barbie – der BND Mitarbeiter
In Bolivien war Barbie enger Mitarbeiter des Diktators Banzer, er war viele Jahren dort zuständig für Techniken der Unterdrückung und Folter, aber auch für Waffenhandel und Drogenschmuggel.1966 arbeitete er von dort aus sogar einige Monate für den Bundesnachrichtendienst BND, unter seinem Namen „Klaus Altmann“… “Dass Barbie überdies gute persönliche Kontakte in Westdeutschland hatte, ist erst 2011 bekannt geworden“, so Peter Hammerschmidt. „Dieses Aktenmaterial legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen, die nachweislich bis 1980 in die Bundesrepublik durchgeführt wurden, eben auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz protegiert wurde, zu einem Zeitpunkt, als Barbie identifiziert war, und – so zeigt das Aktenmaterial – offenbar hat Barbie in Deutschland auch neofaschistische Organisationen aufgebaut und hat eben dort auch Waffendeals abgewickelt.“ (Quelle: LINK )

Barbie wurde in Bolivien, auch aufgrund der Recherchen des Ehepaars Klarsfeld, entdeckt und, nun unter demokratischen Verhältnissen in Bolivien, 1983 nach Lyon ausgeliefert…

8. Die Organisation „Die stille Hilfe“ (der Nazis) in der BRD

Nach 1945 sammelten sich in der BRD Nazi-Freunde in einem Verein, um ihre geliebten Nazi-Verbrecher zu schützen und zu stützen. Sie nannten ihren Verein „Stille Hilfe“. Zu den „Betreuten“ der „Hilfe“ gehörte auch Klaus Barbie. In ihrem zweiten Rundbrief aus dem Jahr 1991 meinten die „Stillen Helfer“ , Barbie habe „im Kriege seinen Dienst für die deutschen Besatzungsaufgaben getan“.(Quelle: DER RECHTE RAND, Nr. 15 vom  Januar / Februar 1992, S. 3 ff.).
Die Gründung der „Stillen Hilfe“ fand 1949 in München statt, im Haus der Erzbischöflichen Ordinariates München mit Weihbischof Neuhäusler unter dem Titel »Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe«, aus dem dann 1951 die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V“ hervorging, gegründet von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg. Neuhäuslers Rechtsberater und Geschäftsführer des Komitees, Rudolf Aschenauer, vertrat vor Gericht Kriegsverbrecher und war im rechtsextremen Milieu aktiv..
Präsidentin des Nazi-Vereins „Stille Hilfe“ war Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg (* 6. April 1900 in Darmstadt als Gräfin von Korff genannt Schmising-Kerssenbrock; † 24. Januar 1974 in Heiligenhaus)
Sie hatte am 30. April 1930 Wilhelm Prinz von Isenburg und Büdingen (1903–1956) geheiratet, der 1937 Professor für Sippen- und Familienforschung in München wurde und die Rassenideologien des NS Regimes vertrat. Sie selbst wurde von der Hitler Partei als „politisch zuverlässig“ eingestuft.
Auch hohe protestantische Geistliche (wie Bischof Theophil Wurm, 1888-1953) gehörten zur „Stillen Hilfe“, aber der hohe katholische Klerus ließ sich seine Hilfsbereitschaft für Nazis nicht nehmen: Im Jahr 1955 wurde der Kölner Weihbischof Wilhelm Cleven (1893-1983) ins Präsidium der „Stillen Hilfe“ berufen.
Der Nazis fördernde Verein wurde als „gemeinnützig“ anerkannt: „Bis 1993 war der Verein, der in dieser Zeit 27 Mitglieder und ein paar Hundert Spender zählte, als gemeinnützig anerkannt. Der Verfassungsschutz stufte ihn als “harmlos” ein. Nach außen sprach Gudrun Burwitz (die Tochter Heinrich Himmlers) nicht darüber: Sie helfe, wo sie könne, sagte sie 1998 der “Times”. Mehr gab sie nie preis, SPIEGEL am 29.6.2018 (Quelle: LINK

9. Die Résistance:
Unter den vielen Aspekten der Résistance wird hier an das in Deutschland weithin unbekannte, vorbildliche Engagement der Bewohner der kleinen Stadt Cambon-sur-Lignon (Département Haute Loire, Auvergne) erinnert.

In Chambon-sur-Lignon (2.400 Einwohner heute) leben vor allem Protestanten, die sich in der entlegenen Gegend vor der Verfolgung durch das katholische Königreich zeitweise schützen konnten. Die Bewohner dieser „protestantischen Insel“ in Frankreich haben den Geist des Widerstandes bewahrt … und während des Pétain-Regimes Juden geholfen, die der Willkür der deutschen Besatzer und der Kollaboration der Franzosen hilflos ausgesetzt waren. Die Protestanten dort haben in ihren Häusern und Wohnungen ingesamt 5.000 Juden versteckt, eine unglaubliche Leistung in dieser Zeit. Es waren vor allem die protestantischen Pastoren André Tocmé und Edouard Theis, die zu dieser Hilfsbereitschaft aufriefen. Sie erinnerten an die Verfolgungen, die die Vorfahren im 18. Jahrhundert unter den katholischen Herrschern erlebt hatten: Und diese Erinnerung war mehr als eine rein geistige, spirituelle Idylle. Die Bürger von Chambon-sur-Lignon begleiteten unter großen Gefahren Juden bis zur Schweizer Grenze, auf Wegen, die ihre Vorfahren im 18.Jahrhundert schon gehen mussten.
1990 hat der Staat Israel die damaligen Bewohner des Stadt Chambon-sur-Lignon und die benachbarten Dörfer als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Diese „kollektive Ehrung“mit dem herausragenden Titel „Gerechte unter den Völkern“ ist einmalig… 2007 wurden diese ungewöhnlichen Menschen auch vom französischen Staat durch eine Zeremonie im Pariser Pantheon geehrt. Einer der Juden, der dort im Versteck überleben konnte, Erich Schwam hat dem Dorf eine Erbschaft von 3 Millionen Euro hinterlassen. Damit will er helfen, dass die Kinder des Städtchens eine gute Zukunft haben…. Jerome Lévy hat über Erich Schwam einen Dokumentarfilm realisiert. LINK

Nebenbei: Auch Albert Camus hatte enge Verbindungen zu dieser kleinen Stadt: Er lebte seit 1942 öfter dort, um zu schreiben und der guten Luft wegen, um seine Tuberkulose zu heilen. Und er erfuhr wohl von der Hilfsbereitschaft der Menschen dort. Die Geschichte seines Romans „Die Pest“ verdankt sich vielen Eindrücken dort, dem Ort des Widerstandes.. (Siehe das Stichwort Chambon-sur-Lignon in: „Dictionnaire Albert Camus“, ed. Laffont, Paris 2009, S. 127f.)
Informationen zu Chambon-sur-Lignon:LINK  

10. Die katholische Kirche im Pétain-Regime und die katholische Résistance.

Die Verehrung der Katholiken für Pétain, besonders in den ersten Jahren des Regimes, war sehr umfassend. Die meisten Bischöfe waren froh, dass Pétain eine „révolution nationale“ repräsentierte, in einem autoritären Staat, das den Namen Republik oder Demokratie nicht mehr beanspruchte. Die von Katholiken so sehr gefürchtete Dominanz der Freimauer, Sozialisten und „Laizisten“ war mit Pétain überwunden. Dass er und seine Minister mit Hitler sehr eng verbunden waren, wurde in Kauf genommen. Pétain gewährte den katholischen Schulen endlich wieder alle finanziellen Vorteile; Kreuze schmückte die öffentlichen Räume, das autoritäre Motto „Arbeit, Familie, Vaterland“wurde als Inbegriff des Christlichen interpretiert. Die meisten Bischöfe schwiegen, als Juden deportiert wurden. „Wegen eines unmittelbaren und letztlich nebensächlichen Vorteils für die Kirche opferten die Bischöfe die Proklamation der wichtigsten Prinzipen des Christentums, der menschlichen nämlich“, so die Historiker Francois und Renée Bédarida, zit. in Christian Modehn,“ Religion in Frankreich“, Gütersloh 1993, s. 83). Einige katholische Priester und Laien waren auch in der Résistance aktiv, aber vergleichen mit der kommunistischen Résistance waren es doch kleine Gruppen. Es ist bezeichnend, dass General de Gaulle die Befreiung Frankreichs in der Pariser Kathedrale Notre Dame ohne die Anwesenheit des politisch belasteten Kardinals Suchard feiern wollte. Neun Bischöfe wurden im Rahmen der „Reinigung“ aus ihren Ämtern entfernt, de Gaulle hatte eine viel umfassendere Befreiung von bischöflichen Pétain- Sympathisanten verlangt. Aber, vom Vatikan unterstützt, setzte sich in der Kirchenführung der Wille durch, das Schweigen der Bischöfe und die hohe Anzahl der Priester als Kollaborateure für die Zukunft zu ignorieren. „Die Kirche versuchte nicht, ihre eigene Vergangenheit anzunehmen und mit Mut ihre Verfehlungen anzuerkennen. Staat dessen hat sie es vorgezogen, Winkelzüge zu machen und zu spintisieren und tausend Rechtfertigungen zu finden“ (F. Und R. Bedarda, a.a.O, s 84).

11. Der Chef der Milice in Lyon, Paul Touvier, findet Zuflucht in Klöstern, bloß weil er „so katholisch erschien“…

Paul Touvier war 1943-1944 Chef der (mit dem Vichy-Regime Pétains kollaborierenden) Milice in Lyon. Er hat dort systematisch Juden verfolgt und Mitglieder der Résistance. „Der Judenmord war ihm ein persönliches Anliegen“, betonen Historiker übereinstimmend. Schon am 10.9. 1946 wurde er in Lyon – in Abwesenheit – zum Tode verurteilt.
Der Fall Touvier ist etwas Besonderes: Der katholische Miliz-Chef konnte sich viele Jahre, bis zum 24.Mai 1989, den Gerichten entziehen, weil er auf die Hilfe von Klerikern zählen konnte und in verschiedenen französischen Klöstern der offiziellen katholischen Kirche Zuflucht und Unterkunft fand. Von der Polizei entdeckt wurde er in Nizza, im dortigen Priorat der traditionalistischen Pius-Bruderschaft, der Gemeinschaft des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre.
Paul Touvier wurde 1915 geboren, er wuchs in einer streng-katholischen Familie auf. Wie sehr viele französische Katholiken zu der Zeit lehnte er die republikanischen, „laizistisch“ genannten Werte Frankreichs ab zugunsten des autoritären, nazifreundlichen Pétain-Regimes.
Als 1966 das Todesurteil verjährte (nach 20 Jahren, so war das damals in Frankreich üblich), setzte sich Erzbischof Villot von Lyon für Touvuier ein, 1971 wurde Touvier sogar von Staatspräsident Pompidou begnadigt. Dies löste weite Empörung aus, zumal bekannt war, dass Touvier „das meiste des von ihm beanspruchten Vermögens tatsächlich von deportierten Juden geraubt hatte.“ (Quelle: wikipedia, Paul Touvier).
Ein weites Netzwerk aus Klerus und Klöstern unterstützte Touvier auf seiner Flucht vor der Justiz weiterhin. Vor allem das Hauptkloster der Kartäuser „La Grande Chartreuse“ muss erwähnt werden, das mit dem flüchtenden Touvier „enge und ausdauernde Verbindungen“ unterhielt (zit. in „Paul Touvier et l église“, Ed. Fayard, 1992, S. 136): Ähnliche enge Verbindungen gab es mit dem Benediktinerkloster Hautecombe und dem Trappistenkloster Tamié. Touvier verbreitete bei seinen, manchmal sogar ahnungslosen Gastgebern diese Lüge, unschuldig zu sein, er habe nur der legitimen Macht gedient und dabei versucht, das Schlimmste von einen Mitbürgern abzuwehren.
Um 1957 fand Touvier entschieden Hilfe von Monsignore Charles Duquaire, dem Sekretär des Lyoner Kardinals Gerlier. „Monsignore Duquaire hat im wahrsten Sinne Paul Touvier und seine Familie adoptiert. Er hat sich in dessen Dienst gestellt, er wurde sein Beschützer, sein Stratege. Die vielen Unternehmungen Duquaires zwischen 1959 und 1973 waren nicht nur seine Hauptsorge, sondern seine wichtigste Aktivität. Duquaire, 1907 geboren, hat als Priester in Rom Kirchenrecht studiert und wurde in dem Fach promoviert. Seit 1950 arbeitete er als Sekretär von Kardinal Gerlier, 1956 wurde er Prälat seiner Heiligkeit, des Papstes. „Die Verteidigung Touviers wurde in gewisser Weise Duquaires zweite Berufung“ (S. 159). In dem Buch „Paul Touvier et l église“ wird Duquaire eine „komplexe Persönlichkeit genannt (S. 161), er fühlte sich allen Ausgegrenzten gegenüber als der „barmherzige Samariter“. So ist für ihn der Paul Touvier „ein Opfer der Ungerechtigkeit“. Und das sagte Duquaire im Wissen, dass die Milice, die Touvier leitete, „einen widerwärtigen Charakter hatte.“ (S.162).
1994 wurde Touvier wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslanger Haft verurteilt, er starb an Krebs 1996 im Gefängnis Fresnes.
In der traditionalistischen Haupt-Kirche St.Nicolas du Chardonnet (Paris) wurde ein Requiem für Paul Touvier gefeiert. Auch das ist bezeichnet für die rechtsextremen Sympathien der Pius-Bruderschaft in Frankreich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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Die Bestattung und das Requiem der Traditionalisten und ihrer reaktionären Freunde zugunsten des Milice-Chefs Paul Touvier, ein Bericht der Tageszeitung „Liberation“, Paris, 26. Juli 1996. Als Beispiel für die unglaubliche Präsenz reaktionärer rechtsextremer Gruppen in Frankreich.

„Requiem pétainiste pour Touvier. Messe intégriste à Paris et inhumation à Fresnes pour l’ancien milicien“.
par Renaud DELY et Jean HATZFELD
publié le 26 juillet 1996 à 7h48   LINK

Quelle: https://www.liberation.fr/france-archive/1996/07/26/requiem-petainiste-pour-touvier-messe-integriste-a-paris-et-inhumation-a-fresnes-pour-l-ancien-milic_176198/)