Die Erklärung der Menschenrechte – Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion? Von Prof. Wilhelm Gräb

Die Erklärung der Menschenrechte – Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion? Ein Interview mit Prof.WEilhelm Gräb, Theologe an der Humboldtb -Universität in Berlin. 

Veröffentlicht am 19. Jan. 2013. Die Fragen stellte Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Sie halten am 28. Januar 2013 einen Vortrag über die Menschenrechte mit dem Titel: “Die Erklärung der Menschenrechte –  Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion”. Soll das heißen, dass die vielen konkreten Religionen unwichtig werden angesichts einer neuen universalen Religion?

Die vielen konkreten Religionen werden weder unwichtig noch können sie die neue Religion universaler Menschlichkeit schlicht ersetzen. Ich meine jedoch in der Tat, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (= AEMR, UN-Charta 1948) nicht nur mit einem universalen Anspruch auftritt, sondern diesen auch religiös verstärkt. Um den religiösen Charakter der Erklärung der Menschenrechte zu erkennen, genügt es, auf die unbedingte Geltung, die sie beansprucht, hinzuweisen. Die unbedingte Geltung der Menschenrechte stützt sich auf die „angeborene Menschenwürde“. Nun kann man sagen, das ist eine anthropologische, aber keine religiöse Begründung. Indem diese angeborene Menschenwürde jedoch jedem Menschen zugeschrieben wird, und dies gerade unabhängig von seinen Taten, seinen Rollen und seinen Funktionen, wird er als ein solcher angesehen, der alle gegebenen Bedingungen seines Daseins transzendiert. Der Mensch, dessen angeborene Würde unantastbar ist, ist der, der in dem, was von ihm vorhanden ist, nie aufgeht. Er kann sich deshalb zu allen Bedingungen seines Daseins selbst verhalten. Er besitzt Freiheit, die er wiederum nur dann recht versteht, wenn er sie zugleich auch allen anderen Menschen gleichermaßen zugesteht. Weiterlesen ⇘

Wenn ein Heiliger einen pädophilen Priester schützt. Ein Hinweis zu einer Studie über den „Piaristenorden“ im 16. Jahrhundert

Wenn ein Heiliger einen pädophilen Priester schützt.

Ein Hinweis zu einer Studie über den „Piaristenorden“ im 17. Jahrhundert.

Siehe auch einen umfassenderen historischen Beitrag zum sexuellen Missbrauch im Klerus, veröffentlicht am 22.7.2023: LINK.

Am Ende dieses Beitrags lesen Sie eine Stellungnahme von Matthias Katsch, Sprecher der Initiative “Eckiger Tisch”.

Der Beitrag von Christian Modehn, veröffentlicht 2013.

1.

Über Pädophilie im Klerus kann es, von der Sache her, eigentlich keine genauen historischen Studien geben. Wenn dieses offiziell „schwerste aller Vergehen“ (so die katholoische Moral) überhaupt dokumentiert wurde: Entweder wurden die Akten später vernichtet oder sie sind unter Verschluss, so dass kein Historiker Zugang hat. Gelegentlich kann doch etwas mehr Licht in die „verdunkelte“ und offiziell verwischte bzw. „geglättete“ Kirchengeschichte gebracht werden. Die Historikerin Karin Liebreich (Cambridge) hat eine Fallstudie aus dem 17. Jahrhundert publiziert. Sie wurde im deutschsprachigen Raum bisher nicht beachtet. Wir bieten einige zentrale Forschungsergebnisse von Karin Liebreich.

2.

Die englische Historikerin hat 2004 ihre Studie über einen prominenten und äußerst einflussreichen pädophilen Priester innerhalb des katholischen Ordens der Schulpriester, auch Piaristen genannt (hergeleitet von schola pia, fromme Schule) veröffentlicht: Das Buch „Fallen Order“ hat den Untertitel „Intrigue, Heresy and Scandal in the Rome of Galielo and Caravaggio“. Das Buch hat 336 Seiten; es ist im Verlag Grove Presse in New York erschienen. Immerhin hatte Karin Liebreich Zugang zu einigen Dokumenten. Die berühmte Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong  lobt das Buch als „ a piece of investigative writing“.

3.

Der Orden der Piaristen zählt heute  ca. 1.500 Mitglieder weltweit, sie arbeiten in Schulen und Pfarrgemeinden. Erst seit einigen Jahren publiziert der Orden selbst über dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte, freilich eher in entlegenen Fachpublikationen. Über die Anwesenheit  pädophiler Priester gleich nach der Ordensgründung im 17. Jahrhundert wird in den offiziellen websites der Piaristen geschwiegen.

Es kommt einem auch im 21. Jahrhundert sehr vertraut vor, wenn Karen Liebreich mehrfach betont: Der Ordensgründer José Calasanz wollte mit seinem Schweigen über die Untaten seines öffentlich hoch angesehenen Paters „nur dem öffentlichen Ansehen der Kirche dienen“. Immerhin müssen die pädophilen Verbrechen im Orden so erheblich gewesen sein, dass die Päpste die Piaristen im Jahr 1646 für einige Jahre auflösten, eine äußerst seltene Entscheidung in Rom. Erst 1669 wurde er als Orden wieder zugelassen.

Erstaunlich bleibt, dass der gegenüber Pädophilen Priestern durchaus duldsam – schweigsame Ordensgründer, José Calasanz (1557 – 1648) im Jahre 1767 heilig gesprochen wurde, er kann also als heiliges Vorbild verehrt werden. Etwas irritierend scheint, dass Papst Pius XII., der ja angeblich so hoch gebildet war, nicht sehr viel von diesem eher belasteten Ordensgründer wusste und ihn sogar zum weltweiten Patron aller christlichen Volksschulen ernannte. In der Piaristenkirche in Krems an der Donau wird der Heilige auf einem Gemälde zur Verehrung empfohlen. Dabei hält er ein nacktes Baby in den Händen und schaut zur Jungfrau Maria im Himmel auf. Martin Johann Schmidt hat 1784 das Gemälde geschaffen.

4.

Aus der umfangreichen Studie können wir nur einige zentralen Aussagen erwähnen: Der Piaristenorden hatte im 17. Jahrhundert durchaus den Ruf, moderne Wissenschaftler in seinen Reihen nicht nur zu dulden, sondern zu fördern, etwa Freunde und Mitarbeiter Galileo Galileis.

Aus einer gewissen Angst heraus hatte der Ordensgründer in seinen Ordensregeln verfügt, dass ein einzelner Schul-Priester nicht allein mit Schülern, Knaben, sich aufhalten dürfe. Übergriffe waren, so kann man schließen, offenbar keine Seltenheit…

Aber es ist typisch für die damalige Mentalität, die sich bis heute bekanntermaßen durchgehalten hat: Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass die Kirche oder der Orden als heilige, besonders würdige Institutionen in einen schlechten Ruf kommen. Die öffentliche Geltung ist alles, die Fragen der interessieren nicht direkt! Nur aus diesem Grund, so die Studien der Historikerin Karen Liebreich, hat der Ordensgründer Jose Calasanz die pädophilen Vergehen seines Mitbruders Pater Stefano Cherubini ( 1600 – 1648) nicht gerichtlich verfolgt, sondern stillschweigend geduldet. Er bediente sich dabei der bis heute beliebten Methode: Der betroffene pädophilen Priester wurde einfach an einen anderen Ort versetzt. So war ihm der gute Ruf des Ordens als der Schutz der Kinder. Roland Machatschke (Wien), Journalist und Mitarbeiter der Wiener Piaristen, meint in einem Vortrag: “Ein Teil der Akten, der den so genannten Cherubini-Skandal betrifft, wurde vernichtet. Ebenso weitere Unterlagen, als der damals aufgelöste Orden 1659 seine Archive bereinigte“.

Der betreffende Pater Stefano stammte aus einer berühmten, angesehenen römischen Familie. Zur Zeit seiner Leitung der Piaristenschule in Neapel wurden pädophile Vergehen von ihm in der kirchlichen Öffentlichkeit bekannt. Der Ordensgründer griff ein … und entfernte ihn aus dem direkten Schuldienst: Er ernannte ihn zum Aufseher aller Piaristenschulen in Italien! So konnte Pater Stefano weiter reisen, sich in Schulen aufhalten und seinen „Interessen“ nachgehen. Von einer Entschuldigung wenigstens bei den Opfern keine Spur! Als belastende Informationen über Pater Stefano verbreitet wurden, betonte Pater Calasanz: „Um noch größeren Schaden in der Öffentlichkeit zu verhindern, sagte ich: Pater Stefano sollte nicht belästigt (und verdächtigt) werden“.

Schließlich baute dieser Pater Stefano sein Netzwerk so weit aus, dass er sogar zum Generaloberen des Ordens ernannt wurde; auch dagegen konnte der (heilige) Ordensgründer offenbar nichts unternehmen, so sehr war sein Einfluss gesunken angesichts der Machenschaften im Orden. Aber unter dem neuen Generaloberen Pater Stefano geriet der Orden in eine tiefe Krise; es gab sogar viele Proteste gegen Pater Stefano vonseiten anderer Piaristen, sie waren auch empört darüber, dass „allen Ordensregeln zuwider, Pater Stefano Cherubini und seine Unterstützer im Orden im Luxus lebten“. ( S. 229).

Aber die Kritik zeigte letztlich doch gewisse Wirkungen beim Papst: Es durften schließlich keine Novizen mehr aufgenommen werden, den Piaristen – Patres wurde es freigestellt, den Orden zu verlassen (S. 232). Die Schulpriester hatten keine zentrale Leitung mehr, der Orden zerfiel. Auch die berühmte Familie di Stefani konnte ihr Familienmitglied nicht länger verteidigen, als der Skandal sich immer mehr herumsprach. „Aber seine Connections schützten Pater Stefano vor Gerichtsverfahren und Gefängnisstrafen“ (S. 248).

5.

Von 1646 an existierte der durch die pädophilen Vergehen  belastete Orden der Piaristen nicht mehr, er war de facto päpstlich „verboten“. Erst 1669 wurde er wieder errichtet. Karen Liebreich fasst ihre Studien zusammen: „In jeder Hinsicht war es die oberste Priorität von dem Ordensgründer Calasanz,  für den guten Ruf des Ordens nach außen zu sorgen … und den des betroffenen Paters (Stefano)“.

Später erlebte der Orden wieder eine gewisse Blüte, die „Belastungen“ von einst schienen vergessen: „Berühmte Männer“ zählten zu den Piaristenschülern: Goya, Haydn, Mozart, Anton Bruckner, Franz Schubert , später Antonio Gaudí und sogar der Gründer des Opus Dei, José Maria Escriva. Auch er stellte den guten Ruf der Kirche nach außen hin in der Gesellschaft über alles!

copyright: Religionsphilosophischer Salon.

Matthias Katsch schreibt zu diesem Text: (Matthias Katsch ist Sprecher der Initiative „Eckiger Tisch“, in der sich Opfer des sexuellen Missbrauchs vor allem an Jesuiten – Einrichtungen zu Wort melden)

„Vielen Dank für den interessanten Hinweis. Tatsächlich wundert uns dieser Beleg für eine historische Tradition keineswegs. Der Priesterstand ist geradezu prädestiniert dafür, Menschen mit pädophilen Neigungen anzuziehen.

Allerdings hat sich seit dem 17. Jahrhundert gesellschaftlich einiges geändert. Damals bot der Priesterberuf auch eine Versorgung für die jüngeren Brüder der erbberechtigten Erstgeborenen. Damit entsprach der Anteil heterosexueller Männer im Priesterstand wohl der Verteilung in der Allgemeinbevölkerung – was sich mit der reichen Spottliteratur über Priester und ihre amourösen Abenteuer mit Frauen belegen lässt. Seit dem diese profanen  Gründe für eine „Berufung“ weggefallen sind, steigt der Anteil der homosexuellen Priester dementsprechend an. Denn für diese Gruppe von Männern hatte dieser Beruf eine Anziehungskraft bis in die jüngste Zeit bewahrt. Seit der Emanzipation der 70er Jahre ist dies nun auch weggefallen. Entsprechend klein ist die Zahl der Berufungen geworden und umso genauer muss man auch hingucken, wie es mit der psychischen Reife der Kandidaten aussieht.

Wir haben jedenfalls beobachtet, und die Leyengraf-Studie bestätigt dies, dass es sich in der Regel bei „unseren“ Tätern  aus den 60er, 70er und 80er Jahren nicht um Pädophile im klassischen Sinn handelte, sondern eher um sexuell unreife Menschen mit einem Hang zum Machtmissbrauch, vielleicht zum Zwecke der Kompensation.

Aber die Analogie des  Pater Stefano Cherubini zu Marcial Maciel oder Ludger Stüper SJ, der das Bonner Aloisiuskolleg über 40 Jahre beherrschte, ist schon frappierend. P. Riedel und W. Statt am Canisius Kolleg waren demgegenüber kleine Lichter, die aber immer noch dreistellige Opferzahlen produziert haben. Die Verbindung von fehlgeleiteter Sexualität und Macht ist jedenfalls auch hier klar gegeben“.

copyright: Matthias Katsch

Der Elysée Vertrag und die katholische Kirche in Deutschland

Von Frankreich nichts gelernt – Der Elysée Vertrag und die katholische Kirche in Deutschland

Ein Kommentar von Christian Modehn

Der Elysée – Vertrag (22. Januar 1963) versteht sich ausdrücklich als Freundschaftsvertrag. Er will die deutsch – französische Zusammenarbeit fördern, möchte für menschliche Begegnungen und Partnerschaften sorgen, etwa auch zwischen Schulen und Vereinen. Der Elysee – Vertrag will mit anderen Worten auch die Gesellschaft von falschen Vorstellungen und Feindbildern befreien. Deswegen ist es normal, auch die Kirchen und Religionen mit dem Thema „Elysée – Vertrag“ zu konfrontieren, sind sie doch Teil der Gesellschaft.

Sind Franzosen und Deutsche in den letzten 50 Jahren einander näher gekommen? Wurden tief sitzende Missverständnisse überwunden? Sind Freundschaften über die Grenzen hinweg entstanden? So pauschal gefragt, wird man diese Fragen als journalistischer Beobachter – 50 Jahre nach dem Elysée Vertrag – sicher positiv beantworten.

Schwieriger wird es, wenn man einen Sektor der deutschen Gesellschaft näher anschaut, z.B. die katholische Kirche in Deutschland: Haben Katholiken hierzulande von ihren französischen Freunden gelernt? Gab es Austausch, der über das muntere Feiern und kulturell „hoch interessierte“ Besichtigen (etwa von Klöstern, Gemeinden) hinausging? Hat man sich vom französischen (katholischen) Freund anregen oder verunsichern lassen im eigenen Selbstverständnis? Diese Fragen werden im Umfeld der „Elysée – Feierlichkeiten“ nicht gestellt. Darum einige Hinweise, die dokumentieren: Wirkliches Lernen in der Begegnung mit den Religionen in Frankreich fand in Deutschland offenbar nicht statt. Was französische Katholiken von deutschen gelernt haben, ist eine eigene Frage, die später beantwortet werden kann.

Aber zuerst ein Wort in eigener Sache: Die Fragen nach der konkreten Gestalt einer bestimmten Religion gehören auch zu einem weiten religionsphilosophischen Interesse. Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie etwa bietet genaue Analysen der damaligen faktischen Religionen und Konfessionen… Mit Frankreich (und mit Franzosen) verbindet mich recht viel: Ich habe als Journalist und Theologe von 1989 bis 2005 im Saarländischen Rundfunk (SR2) ca. 50 Halbstunden – Sendungen unter dem Titel: „Gott in Frankreich“ gestaltet, Redakteur war Norbert Sommer. Diese Sendungen verstand ich als Form des Dolmetschens, also des Erklärens, was jenseits des Rheins religiös lebt. Die Ausgangsthese war, die immer wieder bestätigt wurde: Religiöses Leben ist dort –vergleichsweise – vielfältiger und experimentierfreudiger als in Deutschland, das galt auch für die katholische Kirche… Außerdem habe ich 1993 das Buch „Religion in Frankreich“ (Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht sowie etliche Filme für die ARD über die katholische Kirche in Frankreich realisiert, u.a. zwei Halbstundenfilme über Bischof Jacques Gaillot (in Evreux, dann nach der Absetzung durch den Papst im imaginären Wüstenbistum Partenia) oder über eine Gemeinde in Ivry, in der Banlieue von Paris, geleitet von der „Mission de France“ (2005).

Aufgrund dieser und vielfältiger anderer Arbeiten über die Religionen, vor allem den Katholizismus, in Frankreich, versuche ich anlässlich der Erinnerungen an den Elysée – Vertrag (22.1. 1963) zu dokumentieren: Ein echter Dialog, im Sinne der Lernbereitschaft zwischen der katholischen Kirche in Frankreich und der in Deutschland ist öffentlich nicht sichtbar geworden, obwohl doch gerade der Elysée – Vertrag gesellschaftliche Kräfte mobilisieren wollte, offen dem „anderen“ zu begegnen und lernbereit aufeinander zuzugehen.

Es gab bescheidene Initiativen, die auf den (finanziellen) Austausch setzten, wie die Aktion „Contact Abbé“, vor allem in Speyer: Sie war entstanden, um dem (finanziell) äußerst bescheiden lebenden französischen Klerus beizustehen. Tatsächlich erhalten französische Priester und Bischof einheitlich ein Gehalt, das dem Mindestlohn entspricht, momentan etwa 1.000 Euro monatlich.

Aber der Eindruck herrscht vor: Es gab immer – auch nach dem Elysée – Vertrag – eine starke Abwehr in katholischen Kreisen Deutschlands, das französische Modell von Kirche als Anregung zu diskutieren und wahrzunehmen. Immer lief es auf die Behauptung hinaus: Die französische Kirche ist ganz anders, da gibt es nichts zu lernen. Vor allem in grundlegenden Fragen der Kirchenfinanzierung gab und gibt es eine heftige Abwehr in führenden katholischen Kreisen: Da wird die Kirchensteuer wie ein hochheiliges Gut verstanden und verteidigt, und man bedauert eher die französische Kirche, ohne Kirchensteuer auskommen zu müssen. Das Vertrauen ins (viele) Geld ist hierzulande so stark, dass man gar die heutige offenkundige  Schwäche französischer Theologie auf die schlechte finanzielle Ausstattung zurückführt. Dabei sieht man nicht, dass von 1950 bis 1975 viele französische katholische Theologen weltweit hoch angesehen waren, wie Pater Chenu oder Pater Congar: Auch sie lebten bereits in einer „armen“, kirchensteuerfreien Kirche: Die Gründe für die Produktivität der Theologie ist eher in einem Klima der Freiheit zu suchen; dieses gibt es im katholisch – theologischen Raum bekanntlich nicht (mehr)…

Jedenfalls haben viele maßgebliche Beobachter in Deutschland nie wahrnehmen wollen: Die französische Kirche und der französische Klerus wünschen für selbst ausdrücklich kein anderes Modell der Kirchenfinanzierung als über Spenden, also ohne Kirchensteuer. Die Priester und Theologen wollen heute die Gesetze der Laicité (1905), also die Gesetze, die die Trennung von Kirchen und Staat formulieren, beibehalten. Dabei wurden diese Gesetze im Laufe der Jahre weiter entwickelt, meist zugunsten der Kirche: Staatspräsident Sarkozy sprach etwa von einer „milden“, reformierten laicité: Aber bis jetzt verbietet es sich der französische Staat, dass religiös geprägte Vorstellungen unmittelbar staatliches Gesetz werden. D.h. es herrscht nach wie vor ein gewisser Abstand, manchmal Misstrauen, zwischen der Regierung und der Kirche. Man trifft sich zum Dialog, verbietet sich aber wechselseitiges Sich Einmischen. Es wurde in Deutschland nie darüber im positiven Sinne diskutiert, ob nicht dieser „skeptische“ Abstand für die ganze Gesellschaft und den Staat hilfreich ist: Die katholische Kirche mag ja ihre eigenen Gesetze und eigenen religiös motivierten ethischen Vorstellungen haben. Aber diese dürfen niemals allgemeines Gesetz für alle werden (angesichts der religiösen Pluralität und des zunehmenden Atheismus eigentlich eine Selbstverständlichkeit). Es wäre an der Zeit, auch in Deutschland dieses Modell der laicité in Frankreich unverstellt zu diskutieren…

Gerade beim Thema Kirchensteuer wurde und wird auf deutscher Seite auch immer rühmend und stolz kundgetan, dass die Kirchensteuer doch ein viel besseres kirchliches Leben ermögliche. Dabei ist z.B. die Statistik der Teilnehmer an den Messen etwa im Kirchensteuer finanzierten Köln oder im kirchensteuerlosen Paris praktisch identisch, vor allem, was die Teilnahme jüngerer Menschen angeht. Auch die Milliarden Kirchensteuereinnahmen in Deutschland machen die Gottesdienste nicht „attraktiver“ und „voller“; die reiche  deutsche Kirche ist genauso erfolgreich bzw. erfolglos wie die arme französische. Diese Erfolglosigkeit beider Modelle hat offenbar nicht so sehr mit der Geldmenge zu tun, sondern mit der heute mangelnden geistigen Offenheit, der offiziellen römischen Abweisung von Freiheit, der Bindung an Dogmatismen usw.

Dabei wird auch übersehen, dass es zumindest bis ca. 1990 zahlreiche Initiativen in Frankreich gab, die weltweit als wegweisend empfunden wurden: Etwa die Arbeiterpriester und die Ordenskommunitäten, vor allem von Frauen, die mitten in der Stadt, oft unter den Armen, leben und den Alltag der Menschen (Ausländer usw.) teilen. Diese „typisch französischen Experimente“ wurden in Deutschland nicht aufgegriffen. In Frankreich lebten im Jahr 2000 etwa 500 Arbeiterpriester, in Deutschland 20. Es wurde hierzulande auch übersehen, dass es in Frankreich den lange Jahre andauernden Versuch gab (und gibt), neue, moderne Gemeindeformen einzurichten, mit einer Gleichberechtigung der Laien, demokratischen Leitungsstrukturen usw. (etwa die Gemeinden St. Merri in Paris oder die Chapelle St. Bernard in Paris). Es wurde in Deutschland niemals als Anregung wahrgenommen, eine halbwegs offene und wenigstens halbwegs objektive katholische Presse zu gestalten, die auch am Kiosk „für alle“ erreichbar ist, wie etwa La Croix (Tageszeitung) oder La Vie (wöchentliches Magazin) in Frankreich. Und das funktioniert ohne Kirchensteuer! Die Experimente neuer Kirchenmusik (Sylvanès etwa mit Pater Gouzes OP) wurden in Deutschland nicht wahrgenommen; es wurde kaum gesehen, dass gerade die Klöster in Frankreich Ortes des Gesprächs mit so genannten Nichtglaubenden sind. Man interessierte sich in Deutschland etwas für das Modell der Gemeindeleitung durch Laien im Erzbistum Poitiers, aber man war in Deutschland doch schnell mit dem Urteil: „Das passt doch für Deutschland nicht“. Man hat gern den vom Papst abgesetzten progressiven Bischof Jacques Gaillot eingeladen, aber seinen Ansatz einer Solidarität mit Menschen in größter Not (les sans papiers etwa) nicht übernommen. Es ist bezeichnend, dass viele Bischöfe, allen voran Kardinal Meisner, mehrfach Redeverbot für Bischof Gaillot erteilt haben. Ein Zeichen deutsch – französischer Freundschaft? Ein Zeichen dafür, den anderen als anderen zu respktieren? Die meisten Gemeinden beugten sich der autoritären Willkür Meisners, dieses „Herren der Kirche“, die Laien gingen jedenfalls nicht auf die Barrikaden.

Kurzum, es wurde viel gesprochen über den Katholizismus in Frankreich, aber es blieb so zusagen bei der Neugier, um nicht zu sagen beim interessierten Geplauder. Von wirklichen Lernschritten also keine sichtbare Spur. Mag ja sein, dass der eine oder andere mal privat einen Text von Pater Chenu gelesen hat…

Zusammenfassend kann gesagt werden: Im Bereich der katholischen Kirche in Deutschland hat der Elysée Vertrag, als Einladung zu tieferer Kenntnis und Freundschaft, keine Wirkungen gezeigt.

Und heute steht die französische katholische Kirche sozusagen ohne ésprit da: Die modernen, progressiven Ansätze sind fast verschwunden oder wurden gar verboten. Auch in Frankreich nimmt die Zahl reaktionärer Bischöfe stetig zu, man denke etwa an das Bistum Fréjus – Toulon, wo sich alle nur denkbaren äußerst konservativen „neuen Bewegungen“ sammeln. Längst sind die meisten jungen Priester mit den neokonservativen Bewegungen (Charismatiker, Communauté St. Jean usw.) verbunden: Das bis ca. 1985 noch pluralistische Gesicht des französischen Katholizismus ist zuungunsten von Gleichförmigkeit und Strenge und Dogmatismus verschwunden. „Ein trauriger Zustand“, sagt etwa der frühere Pfarrer von St. Eustache in Paris, Gérard Béneteau in seinem lesenswerten, sehr realistischen Buch „Journal d un curé de Ville“, Fayard, Paris 2011. So darf man wohl mit gutem Grund sagen: Die progressiven Kreise wurden ausgegrenzt, sie wurden ermüdet, durch immer neue Verbote in die Resignation getrieben, mundtot gemacht (Kardinal Lustiger von Paris hat darin enorme „Verdienste“, er hat das konservative, autoritäre Gesicht der französischen Kirche bestimmt, beinahe wöchentlich weilte er bei Papst Johannes Paul II). Die am Konzil noch lebhaft interessierten Kreise führen jedenfalls heute ein marginales Dasein, sind ohne Einfluss. Die traditionsreiche linke und progressive Wochenzeitung Témoignage Chrétien wird jetzt noch einmal wiederbelebt. Es gibt einige Klöster als Treffpunkte der Progressiven; es gibt die progressiven „Reseau du Parvis“, eine Bündelung kleiner Gruppen; immerhin gibt es noch die konsequent aufklärerischen Publikationen von „GOLIAS“ (Lyon): Aber die sind so unbeliebt in offiziellen Kreisen, dass selbst die große und angesehene Buchhandlung „La Procure“ in Paris die Golias Zeitschriften nicht mehr verkauft (vor einigen Jahren waren sie wenigstens noch als sogen. Bückware, ganz unten im Regal unsichtbar plaziert). Es breitet sich – wie überall im Katholizismus – eine Angst vor der Freiheit aus.

So bleibt als Gesameinschätzung: Die katholische Kirche in Frankreich ist jetzt auch von Angst besessen, sperrt sich ein, sie verliert deswegen immer mehr kreative Mitglieder. Iin manchen Regionen, wie in Centre, Burgund oder im Limousin, wird das kirchliche Leben in den nächsten 20 Jahren fast ganz verschwinden, weil dann praktisch alle Priester ausgestorben sind und niemand mehr zur Kirche geht. Die Diskussionen um den Pflicht – Zölibat, seit 1960 Dauerthema französischer Theologen, wurden von Rom, später auch von den Bischöfen, abgewürgt. Jetzt sehen diese rigoros dogmatischen Bischöfe, wie sie alsbald fast die einzigen Priester in ihren Bistümern sein werde (siehe etwa die ehrlich und mutigen Äußerungen des Bischofs von Moulins). Auch der Niedergang der französischen Kirche ist sozusagen amtlich verursacht.

Zu lernen gibt es jetzt also eigentlich nicht mehr viel, höchstens, was die Verwaltung des Niedergangs angeht. Natürlich: Einige Klöster halten sich tapfer, sind offen und einladend, und manch ein Pfarrer bemüht sich um moderne Verkündigung. Aber diese kleinen Kreise (zu denen immer noch die hoch interessante und wegweisende „Mission de France“ gehört) sind alles andere als tonangebend. Es herrscht der raue Wind des Autoritären. Und ein Frühling ist nicht in Sicht.

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

Das überforderte Selbst: Belastungen durch den “Druck, sich selbst zu verwirklichen”. Ein Salonabend

Weiter führende Hinweise zum Thema des Salon Abends im Februar 2013 finden Sie, wenn Sie hier klicken.

Liberale Theologie: Was für sie zählt, ist der Mensch. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Die liberale Theologie: Wo sie lebt, was sie fordert, was ihr wichtig ist: Ein Interview mit Professor Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 31. 12. 2012

Die aktuellen Religionsstatistiken weltweit zeigen, dass die christlichen Kirchen zahlenmäßig zunehmen, vor allem auch in Afrika. Aber es sind Kirchen, die dem sehr konservativen, “orthodoxen”, wenn nicht dem sogen. fundamentalistischen Bereich angehören.
Woran liegt es, dass die eher liberalen und progressiven Kirchen weltweit zahlenmäßig ins Abseits geraten?

Die Kirchen, die wachsen, sind ganz selten „orthodox“, auch nicht „konservativ“ und längst nicht immer in dem Sinn fundamentalistisch, dass sie auf einem starren Wort-Glauben und einer patriarchalen Moral beharren. Die Kirchen, die wachsen, sind in ihrer Lehre undogmatisch, geben aber klare Weisung in der Lebensführung. Es sind solche Kirchen, die die religiösen, ethischen und ökonomischen Lebensbedürfnisse der Menschen zu befriedigen in der Lage sind. Weiterlesen ⇘

“Ich bin multireligiös”: Thesen für ein Salongespräch

Selbstbestimmung auch in meiner Religion.

Zum Salon am 11. 1. 2013

Von Christian Modehn

Wir haben in den beiden vergangenen Salonabenden/Nachmittagen das Thema Selbstbestimmung besprochen, bezogen auf das Buch von Peter Bieri „Wie wollen wir leben?“ (Residenz Verlag). Wir werden im April 2013 mit einer Amsterdamer Gruppe gemeinsam über das 3. Kapitel „Wie entsteht kulturelle Identität“ sprechen, am Freitag 19.4. 2013.

Heute wollen wir das Thema Selbstbestimmung weiter zuspitzen zu der Frage: Wie steht es mit Selbstbestimmung in meiner Religion. Dabei wird Religion sehr weit verstanden, als grundlegende Lebensorientierung, als wichtigste Spiritualität (zu der auch der Atheismus gehören kann). PS: Am 16. 1. 2013 erreicht uns ergänzend eine mail, die wir gern wiedergeben: Wieder und wieder und in zunehmender angstbesetzter Heftigkeit behaupten römischen Kirchenführer, diesmal Herr Schwaderlapp in Köln, nur die Glaubensform, die dem vorgebenen Dogma entspricht, sei katholisch. Herr Schwaderlapp wehrt sich, so wörtlich,  gegen den religiösen “Gemischtwarenladen”. Mit diesen polemischen Äußerungen wird er die vielen multireligiösen Menschen sicher nicht in die römische Kirche (zurück)holen (Quelle zu Schwaderlapp: Zeitung Christ und Welt 17.1.2013).

Unser Gespräch wird dabei immer philosophisch bleiben, also konfessionell neutral, immer aber selbst – kritisch.

Das Thema ist kein exklusives Sonderthema „am Rande“. Es berührt den weltweiten Umbruch der Religionen bzw. der Bindungen von Menschen an Religionen.

 

1. These:
Der früher oft von Soziologen angekündigte Tod der Religionen ist nicht eingetreten. Das ist empirisch erwiesen. Die meisten Menschen bleiben spirituell interessiert. Sie folgen dabei nur nicht mehr automatisch den familiär vermittelten, angelernten religiösen Haltungen. Sie wollen religiös sein, wo wie sie es selbst für richtig und hilfreich halten. Früher waren Konversionen – etwa zu einer anderen christlichen Kirche – noch problematisch. Es herrschte das autoritäre Denken vor: Cuius regio, eius religio: Wo ich gerade geboren wurde, da habe ich die Religion anzunehmen. Das ist ein sehr europäisches, christliches Denken. In Asien ist das ganz anders.

Und in Europa und Amerika ist dieses religiös fixierende Denken überholt.

2. These

In der Übernahme von Weisheit, Praxis, usw. aus anderen Religionen: Damit wird meine eigene „angestammte“ Religiosität relativiert. Relativität wird also als Wert anerkannt: Jede Person lebt die eigene Religion relativ, sie kann dabei aber für sich subjektiv überzeugt sein, das ist meine „absolute“ Wahrheit. Sie wird diese ihre Wahrheit aber anderen nicht „aufdrängen“.

3. These

Es wird die andere Religion, Spiritualität, als nicht mehr befremdliches und Störendes wahrgenommen. Ich will von diesen anderen Religionen usw. lernen.

4. These
Damit wird die Relativität der Religionen (aller) insgesamt eingestanden.

5. These

Der einzelne ist der Maßstab, was er sich auswählt. Es gibt Zen- Christen; es gibt Sufi – Juden, es gibt katholische Shintoisten, es gibt Jesus – begeisterte Atheisten. Diese Vielfalt wächst, sie ist ein Zeichen und eine Herausforderung für ein tolerantes, respektvolles Miteinander der Unterschiedlichen Menschen und Gruppen. Das schließt nicht aus, dass es tatsächlich auch religiös – ästhetische Schleckermäulchen gibt, die mal hier, mal da probieren und im ewigen Probieren und Schleckern ihren religiösen Sinn sehen.

6. These

Der einzelne weiß, dass er auswählt, also im klassischen Sinne „häretisch“ ist.  Dabei weiß er aber auch, dass religiöses Leben individuell gestaltet, immer schon häretisch war. Beispiel: Ein Katholik kann z.B. mehr an Maria und Pater Pio glauben als an die göttliche Trinität. Häresie wird heute nur offenkundiger und sozusagen erlaubter (auch wenn die Kirchlichen Autoritäten dagegen sind und diese expliziten Häretiker verteufeln und ausgrenzen).

7.These

Wir müssen den Begriff Patchwork neu definieren und wohl von einem negativ gefärbten Verständnis befreien. Wer andere als patchworker bezeichnet (Patchwork – Familien etwa), geht aus von einem traditionellen, uniformen Familien begriff).

8. These

Religion à la carte: Man muss nicht immer das vorgeschriebene Menu bestellen.

9. These

Religion soll (mich) erlösen, d.h. mir meinen Lebenssinn zur eigenen Prüfung oder Verwerfung vorschlagen: Menschen mit multireligiösen Bindungen suchen sich diesen Lebenssinn. Das ist ein Zeichen für eine tiefe Nachdenklichkeit über das eigene Dasein. Dabei wird Gott als „göttlich“ erlebt und nicht festgelegt auf einen einzigen Modus.

10. These

Die Frage bleibt, wo und wie die zunehmende Gruppe multireligiöser Menschen ihren Austausch, ihre Zusammenkünfte, feiert. Die alten Strukturen sind noch nicht offen genug für diese neueste religiöse Entwicklung. Finden Sie die gemeinsame Kraft, die wirklich dringenden Aufgaben der Weltgesellschaft aufzugreifen, Hunger, Öko – Katastrophen, Armut….

11. These

Die multireligiöse Bindung kann ein Beitrag sein für den Frieden, für den Respekt der „anderen“, die dann ja nicht mehr die anderen sind, sondern Freunde, die mir wesentliches geben.

…..Der Roman von Yann Martel „Schiffbruch mit Tiger“, jetzt als Kino Film, Life of Pi, ist ein Bekenntnis zur multireligiösen Bindung. Bezeichnenderweise lehnen die religiösen Führer das multireligiöse Interesse von Pi ab.

Zum Thema empfehlen wir als Vertiefung: „Multiple religiöse Identität“. Theologischer Verlag in Zürich, 2008.

copyright: Christian Modehn