“Ökumene jetzt”: Für und Wider zu einem Dokument

„Ökumene jetzt“. Für und Wider zu einem Dokument

Von Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin. Der Beitrag wurde am 6.9.2012 veröffentlicht.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Was spricht dafür, “Ökumene jetzt”, also auch Gottesdienst – Abendmahls – Gemeinschaft der getrennten Christen und Kirchen, zu fordern?

Ich finde es höchst bemerkenswert, dass hochrangige Politiker, prominente Fernsehleute und namhafte Künstler mit einem solchen Aufruf an die Öffentlichkeit gehen. Ganz offensichtlich wächst die Einsicht, dass die Religion zu wichtig ist als dass man sie den Kirchen überlassen dürfte. Einigermaßen unverständlich bleibt zwar, dass die Erstunterzeichner immer noch meinen, sie könnten die kirchliche Hierarchie in ihre Richtung bewegen. Im Blick auf die Frage, wie man sich diese sichtbare Einheit der Kirche sollte vorstellen können, bleibt das Papier ja auch ziemlich vage. Dennoch, es freut mich, dass solche Kontroversen um die Religion von namhaften Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft angestoßen und in den Medien ausgetragen werden. Noch glücklicher wäre ich freilich, wenn dabei die religiösen Themen angesprochen würden, die nicht nur von kirchlicher, sondern gesellschaftlicher, ja globaler Relevanz sind. Ob das noch diese Fragen sind, die mit der Gottesdienst- und Abendmahlsgemeinschaft von katholischen und evangelischen Christen zusammenhängen, wage ich zu bezweifeln.

Warum haben die (vor allem katholischen Kirchenführer) Angst, “Ökumene jetzt” zu unterstützen?

Der Aufruf sagt ja deutlich genug, warum die Kirchenführer, vor allem auf katholischer Seite, aber keineswegs nur dort, die Ökumene blockieren. Es geht ihnen um die Macht der Institution, um die Bewahrung derjenigen Traditionen, die die eigene institutionelle Identität sichern. Die Theologie wird immer nur vorgeschoben. Mit der Substanz des christlichen Glaubens, der Sinngrundierung, die er unserem Leben gibt, haben die Lehrstreitigkeiten über das kirchliche Amt oder das Abendmahl schon lange nichts mehr zu tun. Deshalb ist es auch völlig illusorisch von theologischen Lehrgesprächen Fortschritte in der Ökumene zu erwarten. Weil der Aufruf „Ökumene Jetzt“ aus dieser längst enttäuschten Erwartung die Konsequenzen zieht und auf das Versprechen, auf dem Wege theologischer Verständigung zum Ziel zu kommen, nichts mehr gibt, deshalb reagieren die Kirchenführer so verärgert. Weiterlesen ⇘

Wege der Kunst – Wege zu Gott?

Wege der Kunst – Wege zu Gott?

Von Prof. Wilhelm Gräb. Der Beitrag wurde am 6. August 2012 publiziert.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Das Interesse an Kunst, wie es sich etwa im Besuch von Kirchen, Kathedralen und Museen zeigt, ist ungebrochen groß. Zeigt sich da Ihrer Meinung nach mehr als ein „übliches Kulturinteresse“, etwa ein „Ausstieg“ aus dem Alltag?

Wenn wir eine gotische Kathedrale wie etwa den Kölner Dom betreten, spüren wir unwillkürlich, dass wir an einem anderen Ort sind. Der Raum öffnet sich ins Hohe wie in die Tiefe. Wir machen in der Tat die Erfahrung des Eingang in eine dem Alltag enthobene Wirklichkeit. Das besondere dieser anderen Wirklichkeit ist, dass sie uns auf eigentümliche Weise berührt. Wir fühlen uns angesprochen, in etwas ausgesetzt, das uns sagt: „Tua res agitur“, „Deine eigene Sache wird hier verhandelt“.

Das ist die Erfahrung, die wir in Kirchen machen können, auch modernen Kirchen wie etwa in der berühmten Walfahrtskirche, die Le Corbusier in Ronchamp, Frankreich, gebaut hat. Dort sind es die kubischen Fensteröffnungen in einem alles Rechteckige und Quadratische von sich abweisenden, in sich zurück gebogenen Raum, die die Erfahrung geradezu einer Lichtoffenbarung machen lassen. Die ganz besondere Raumatmosphäre macht es, dass wir aus unserer Selbstbezüglichkeit herausgeführt werden. Es kann uns aufgehen, dass wir, diese in selbst verkrümmten Wesen, doch zu einer sehr viel größeren Wirklichkeit gehören, ja Teil eines unendlich Ganzen sind. Doch das Universum ist – entgegen aller physikalischen Erkenntnis – nicht stumm, nicht abweisend. Im Gegenteil, es spricht uns an, es hebt uns über uns selbst hinaus, lässt uns aufatmen, gibt uns neue Kraft.

Was ich so zu beschreiben versucht habe ist eine ästhetische Erfahrung, die zugleich auf ihr innewohnende religiöse Momente hin durchsichtig wird, eine ästhetische Erfahrung, die zur Gotteserfahrung werden kann.

Wir können sie überall machen, wo uns ästhetische Erfahrungen, also sinnlich beeindruckenden Sinnerfahrungen geschehen, nicht nur in Kirchen, auch vor großen Werken der Kunst und im Musikerleben, auch vor dem Naturschönen, bei einem Waldspaziergang, am Meeresstrand, oder auf einer Bergwanderung. Immer hat unser ästhetisches Erleben die Chance, ein religiöses Empfinden zu wecken und zu stärken. Religiös ist dieses Empfinden, weil es den meditativen Gedanken bei sich hat, leicht jedenfalls auf sich ziehen kann, dass wir doch in die letztlich fremde, verkehrte Welt passen, dass es ein Glück ist, da zu sein und das Leben genießen zu können. Voll Dankbarkeit! Wem das Religiöse im ästhetischen Erleben bewusst wird, der wird dem empfundenen Dank auch Ausdruck geben wollen – indem er vor seinem Schöpfer auf die Knie fällt. Weiterlesen ⇘

Beschneidung – Eine offene Diskussion. Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Eine Information vorweg:

Eine neue Kategorie im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: „Fundamental vernünftig“ heißt der Titel, unter dem Sie in Zukunft regelmäßig Interviews mit Wilhelm Gräb finden. Er ist Theologieprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin. Als „praktischer Theologe“  interpretiert er aktuelle Zeitfragen aus dem weiten Feld von Religionen und Kirchen, Kulturen und Philosophien. Der Untertitel unserer neue Kategorie „Religiös aus freier Einsicht“ zeigt an, dass es in den Beiträgen nicht um Wiederholungen dogmatischer Lehren geht, sondern um die Einladung, sich auch in religiösen Fragen seiner eigenen Vernunft anzuvertrauen. So wird allem unvernünftigen Fundamentalismus gegengesteuert und die Freiheit der einzelnen und der Gesellschaft gefördert. Die Freunde und Mitglieder des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin“ freuen sich sehr, dass durch die Beiträge Wilhelm Gräbs den Diskussionen über die Rolle der Religionen in der heutigen Gesellschaft neue Perspektiven erschlossen werden.

Der erste Beitrag:

Beschneidung – Eine offene Diskussion

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, zuerst veröffentlicht am 20. Juli 2012

Die Fragen stellte Christian Modehn

Die jüngsten Diskussionen über die gesetzliche Legitimität religiös begründeter Beschneidungen an Jungen werden offenbar von einem Tabu bestimmt: Darf man wirklich nicht über uralte religiöse Traditionen kritisch nachdenken und offen diskutieren?

Die offene Diskussion findet ja statt. Wann ist zuletzt so viel über religiöse Riten, über das Recht, sie nach den Gesetzen der Religionsgemeinschaft auszuüben, diskutiert worden wie jetzt nach dem Kölner Landgerichtsurteil? Das merkwürdige allerdings ist: Die öffentliche Diskussion wird nur von einer Seite aus geführt. Die Säkularen bestimmen die Debatte, Politiker und Politikerinnen, Juristen und Juristinnen, Soziologen und Kulturwissenschaftlerinnen, dann noch Religionsphilosophen. Aber bei Theologen und Theologinnen? Eher Fehlanzeige!

Die Vertreter der Religionsgemeinschaften erwecken tatsächlich den Eindruck, als habe das Kölner Gerichtsurteil ein Tabu verletzt. Wütende Proteste von Seiten jüdischer und muslimischer Organisationen waren die Folge. Absurde Vergleiche bis hin zum Holocaust wurden gezogen. Theologisch erklärt haben die Religionsvertreter aber nichts. Kein Wort dazu, worin der religiöse Sinn dieser in der Tat auf uralte, frühgeschichtliche Kulturen zurückgehenden Beschneidungspraxis denn heute noch besteht. Allenfalls, dass Gott solches zu tun geboten habe, ist von religiöser Seite zu hören.

Bloß auf uralte Traditionen  zu verweisen, ist also kein stichhaltiges Argument?

Das Traditionsargument trägt nicht weit. Traditionen können ihren Sinn verlieren. Traditionen können verändert werden. Von Seiten der jüdischen Religionsgemeinschaft wird deshalb auch  gar nicht so sehr das Traditionsargument ins Feld geführt. Es wird auf das jüdische Religionsgesetz verwiesen, das wiederum eine klare biblische Begründung habe. Sie ist im Alten Testament auch der christlichen Bibel leicht nachzulesen (vgl. Gen 17, 10).

Auf Traditionen und Bräuche zu verweisen, entspringt im Grunde bereits einer säkularen Denkweise. Mit dem Traditionsargument operieren auch eher die Muslime. Denn die Beschneidung wird im Koran nicht befohlen. Sehr wohl aber in der Thora. Aus orthodoxer jüdischer Sicht geht es im jetzigen Beschneidungsfall um das Verhältnis von Religionsrecht und säkularem Recht oder eben Gottesgesetz und Menschengesetz.

Deshalb die Schärfe in der Auseinandersetzung von bestimmten Vertretern der jüdischen Religionsgemeinschaft. Dahinter steht freilich ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel: Gott hat die Beschneidung als das ins Fleisch eingeschriebene Zeichen seines Bundes mit dem Volk Abrahams geboten. So steht es in der Bibel. Was in der Bibel steht, gilt unbedingt und in alle Ewigkeit. Doch das ist die Argumentationsform aller Bibelfundamentalisten, die freilich von Juden genauso wenig wie von Christen wirklich dann für alle Bibelstellen in Anwendung gebracht wird. Weiterlesen ⇘